The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 11: Autobiographische Schriften, by Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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Title: Sämtliche Werke 11: Autobiographische Schriften

Author: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Editor: Arthur Moeller van den Bruck
Translator: E. K. Rahsin
Contributor: Dmitri Mereschkowski
Release Date: October 15, 2021 [eBook #66543]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 11: AUTOBIOGRAPHISCHE SCHRIFTEN ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Zweite Abteilung: Elfter Band

F. M. Dostojewski

Autobiographische
Schriften

R. Piper & Co. Verlag, München

R. Piper & Co. Verlag, München, 1921
4. bis 8. Tausend

Copyright 1921 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München.

Inhalt

  Seite
Dostojewski als Publizist IX
Vorbemerkung XV
Zur Lebensgeschichte Dostojewskis.
Von Orest Miller
Kindheit und Jugend 1
Der Anfang seiner literarischen Tätigkeit 51
Die Katastrophe 78
Verbannung und Befreiung 132
Petersburg 151
Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke
Erstes Kapitel: Statt eines Vorworts 179
Zweites Kapitel: Im Waggon 188
Das dritte und vollkommen überflüssige Kapitel 196
Das vierte und für Reisende nicht überflüssige Kapitel 221
Fünftes Kapitel: Baal 229
Sechstes Kapitel: Ein Versuch über den Bourgeois 244
Siebentes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden 264
Achtes Kapitel: Bribri und Mabisch 282
„Tagebuch eines Schriftstellers“
aus dem Jahre 1873
Einführung 302
Menschen von damals 313
Eine der zeitgemäßen Fälschungen 323
„Tagebuch eines Schriftstellers“
aus dem Jahre 1876
George Sands Tod 352
Ein paar Worte über George Sand 357
„Tagebuch eines Schriftstellers“
aus dem Jahre 1877
Alte Erinnerungen 370

Ich muß gestehen, daß ich diese Aufsätze nicht nur für meine Leser schreibe, sondern auch für mich selbst.

Aus dem „Tagebuch eines Schriftstellers“.

Dostojewski als Publizist.
Zur Einführung in die Bände 11, 12, 13 sowie 23, 24, 25 der Ausgabe.

Die früheste publizistische Tätigkeit Dostojewskis fällt in die Zeit nach seiner Rückkehr aus Sibirien im Herbst 1859. Im Jahre 1860 begann er mit den Vorarbeiten für eine politisch-literarische Monatsschrift „Die Zeit“ („Wremjä“), die er dann seit dem Januar 1861 in Gemeinschaft mit seinem älteren Bruder Michail herausgab, bis die Zeitschrift im Mai 1863 infolge eines Irrtums der Zensoren verboten wurde. Ihre Fortsetzung „Die Epoche“ („Epocha“ erschien vom März 1864 bis zum Frühjahr 1865) war finanziell, im Gegensatz zur „Zeit“, ein vollkommener Mißerfolg und hinterließ Dostojewski nach ihrem Eingehn noch eine erhebliche Schuldenlast.

Die rein publizistischen Artikel, die von Dostojewski aus diesen Jahren vorliegen – fünf kritische Artikel aus dem Jahre 1861 und der Reisebericht „Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke“, den er nach seiner ersten Auslandsreise im Sommer 1862 schrieb und in der „Zeit“ veröffentlichte – bezeugen deutlich die Aufnahme und Verarbeitung der Ideen seiner Mitarbeiter an der „Zeit“ Apollon Grigorjeff und N. N. Strachoff: der Idee des Slawophilentums und der Hegelischen Idee vom Staat, sowie der ideellen Auffassung Alexander Herzens von Westeuropa.

Diese erste publizistische Tätigkeit, die Dostojewski durch den täglichen Verkehr mit dem Naturwissenschaftler und Philosophen Strachoff und den literarischen Kreisen Petersburgs zwar einerseits die wichtigsten Anregungen eintrug – ganz abgesehen von denjenigen, die er auf seinen zwei ersten Sommerreisen nach Europa empfing, die ihn 1862 nach Deutschland, Paris, London, Genf, Florenz, 1863 u. a. auch nach Rom führten –, nahm andererseits seine Zeit doch so in Anspruch, daß er in diesen Jahren bis zum Frühjahr 1865 an künstlerischen Arbeiten nur die Anekdote „Eine dumme Geschichte“, die Novelle „Aus dem Dunkel der Großstadt“ und die kleine Satire „Das Krokodil“ geschrieben hat. Nun folgte, nach einer dritten Reise nach Deutschland und Kopenhagen im Herbst 1865, eine Zeit der äußeren Einsamkeit bei größter künstlerischer Produktivität. Zunächst begann er (1865) seinen ersten großen Roman: „Rodion Raskolnikoff“, der 1866 erschien und dem schon zu Ende des Jahres der kleinere Roman „Der Spieler“ folgte. Nach seiner zweiten Verheiratung – er vermählte sich am 15. Februar 1867 mit Anna Grigorjewna Ssnitkina – reiste er am 14. April zum vierten Male ins Ausland. Diese vierte Reise dehnte sich infolge der erwähnten Schuldenlast, die abzutragen umso schwerer war, als er außer für seinen Stiefsohn aus erster Ehe auch noch die Familie seines im Juni 1864 verstorbenen Bruders Michail zu unterstützen hatte, zu einem mehr als vierjährigen Aufenthalte in der Fremde aus. Dostojewski und seine Frau reisten über Baden-Baden, wo der Dichter des „Spielers“ wiederum spielte und diesmal empfindlich verlor, nach Genf, von dort später nach Mailand und Florenz, von wo sie im August 1869 über Venedig, Wien und Prag nach Dresden übersiedelten. Im Juli 1871 kehrte Dostojewski trotz der noch unabgetragenen Schulden nach Petersburg zurück, da der Russe in ihm das Leben im Auslande nicht mehr ertrug. In diesen Jahren aber, die er mit seiner Frau in der Fremde ganz einsam, ohne Beziehung zu den russischen Emigranten, meist in größten Geldsorgen verbrachte, entstanden: 1867–68 der zweite große Roman „Der Idiot“, 1869 der kleinere Roman „Der ewige Gatte“ und 1870–72 „Die Dämonen“. Mithin hat Strachoff nicht so Unrecht, wenn er den Bankrott der „Epoche“, der Dostojewskis publizistischer Tätigkeit 1865 vorläufig ein Ende machte, ein Glück für den Künstler Dostojewski nennt.

Das Jahr 1873 sieht dann Dostojewski zum zweitenmal als Publizisten, jetzt als offiziell bestätigten Schriftleiter des „Bürger“ („Grashdanin“, s. S. 302 Anm.), den er bis zum Frühjahr 1874 leitete und in dem er in der ersten Hälfte des Jahres unter dem Gesamttitel „Tagebuch eines Schriftstellers“ – als handelte es sich um Blätter aus einem Tagebuch, das er, wie er einmal bemerkt, nicht nur für seine Leser, sondern auch für sich selbst schrieb – fünfzehn Beiträge und im Dezember noch einen sechzehnten Beitrag über verschiedene Themata unter entsprechenden Sondertiteln, u. a. auch zwei dichterische Skizzen, veröffentlichte. In der zweiten Hälfte des Jahres 1873 schrieb er sodann für den „Bürger“ „Überblicke über die auswärtigen Ereignisse“ – im ganzen zwölf Artikel –, die er jedoch nicht mit seinem Namen zeichnete. Im März 1874 wurde er wegen einer Verletzung der Zensurvorschriften vorübergehend verhaftet, worauf er die Schriftleitung niederlegte und sich später auf sein Landhaus in Staraja Russa (am Ilmen-See, südlich von Petersburg) zurückzog. Dort verblieb er auch den ganzen folgenden Winter und schrieb in dieser Stille seinen vierten großen Roman: „Der Jüngling“, der 1875 erschien.

Erst hierauf beginnt dann seine wichtigste publizistische Tätigkeit: in den Jahren 1876 und 77.

Dostojewski war nun in der Lage, im Selbstverlage eine Monatsschrift herauszugeben, die er ganz allein schrieb und für die er den 1873 für seine Beiträge im „Bürger“ gewählten Gesamttitel „Tagebuch eines Schriftstellers“ als Titel beibehielt, da dieser dem Inhalt den weitesten Spielraum ließ und den Artikeln über alles, was ihn gerade beschäftigte, den Charakter einer persönlichen Aussprache gab. Und da er nun einmal für seine Schriften dieser Art die Möglichkeit einer Veröffentlichung im Selbstverlage besaß, veröffentlichte er 1876 und 77 auch die künstlerischen Skizzen, Novellen und Erzählungen, die er in diesen Jahren zwischendurch schrieb, in diesen monatlich erscheinenden Heften.

Im Jahre 1878 zog sich Dostojewski aus diesem zweijährigen unmittelbaren Kampfe der Tagesmeinungen, den er als Publizist namentlich in dem aufregenden Kriegsjahre 1877 für die Balkanslawen mit Leidenschaft geführt hatte, abermals zurück und schrieb nun, wiederum fern aller Publizistik, sein größtes und letztes Werk: „Die Brüder Karamasoff“, in dem er zum Teil zur Ausführung brachte, was er schon 1868 für einen Roman „Der Atheismus“ geplant hatte. „Die Brüder Karamasoff“ waren das letzte Wort des Dichters. Als Publizist aber hat er dann noch im letzten halben Jahr seines Lebens zwei weitere Hefte des „Tagebuch eines Schriftstellers“ herausgegeben: im August 1880 und im Januar 1881.

Von diesen letzten gelegentlich herausgegebenen Einzelheften enthält das erstere vom Jahre 1880 die berühmte Puschkinrede, die Dostojewski am 8. Juni zur Puschkinfeier in Moskau gehalten hatte und die er mit dem alsbald darauf erfolgten Angriff eines Westlers sowie seiner eigenen Abwehr, die nun seinerseits zu einem scharfen Angriff wurde, im August als Einzelheft herausgab (in „Literarische Schriften“, Band 12 der deutschen Ausgabe). Und das letzte, rein politische Heft, das am Tage seiner Beerdigung, am 31. Januar 1881, erschien, und zwar ohne Zensurlücken, trotz der von Dostojewski mehrfach ausgesprochenen Befürchtung, daß ihm wohl manches gestrichen werden würde, enthielt vier Artikel, in denen er erstens nicht für die Einberufung eines Parlaments (einer „Schwatzbude mit Schwätzern“), sondern eines Bauernrates (der „grauen Kittel“, wie er sich vorsichtigerweise umschreibend ausdrückt) eintrat; zweitens der von Peter ausgebauten Bürokratie die Zweckmäßigkeit nicht absprach; und in zwei letzten Kapiteln sich von der früher von ihm verfochtenen Großmachtpolitik Rußlands in Europa abwandte und Rußland „nach Asien“ rief (in „Politische Schriften“, Band 13 der deutschen Ausgabe, die Artikel: „Russische Finanzen“, „Die Meinung eines geistreichen Bureaukraten über unsere Liberalen und Westler“, „Was ist Asien für uns?“ und „Fragen und Antworten“).

Aus diesem ganzen überaus umfangreichen Material, das von Dostojewski in publizistischer Form vorliegt (also aus seinen Beiträgen in der Monatsschrift „Die Zeit“, wie aus den Beiträgen im „Bürger“ und den Monatsheften „Tagebuch eines Schriftstellers“) wurden für die deutsche Ausgabe zunächst die erwähnten ausgesprochen dichterischen Arbeiten ausgeschieden und die Erzählungen den entsprechenden Novellenbänden, Band 20 und 22, zugewiesen. Ferner wurden die „Kleinen Bilder“, Skizzen und Beobachtungen aus dem russischen Volksleben und europäischen Völkerleben zu einem 24. Bande vereint. Schließlich wurde für die kriminalpsychologischen Studien, die Dostojewski in den Jahren seiner publizistischen Tätigkeit verfaßt hat, Band 23 der deutschen Ausgabe vorgesehen: „Russische Prozesse“. Der ganze große verbleibende Rest des nunmehr nur publizistischen Materials wurde sodann nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet. Auf diese Weise wurden die „Autobiographische Schriften“, Band 11, „Literarische Schriften“, Band 12 und „Politische Schriften“, Band 13 der deutschen Ausgabe gewonnen, während ein letzter, der 25. Band der deutschen Ausgabe denjenigen Aufsätzen vorbehalten blieb, die im wesentlichen als Studien oder Vorläufer späterer Artikel zu betrachten sind.

E. K. R.

Vorbemerkung

Für die „Autobiographischen Schriften“ wurden diejenigen Aufsätze Dostojewskis aus den Jahren 1863, 1873, 1876 und 1877 herausgezogen, die lebensgeschichtliche Erinnerungen des Dichters enthalten. Die Anordnung dieses Materials geschah jedoch nicht in der Reihenfolge, in der sich diese Erinnerungen zeitlich aneinanderknüpfen, sondern in derjenigen, in der die Aufsätze entstanden sind. Auf diese Weise ließ sich die entwicklungsmäßige, nicht unwesentliche Veränderung der Stellungnahme Dostojewskis zu Menschen und Ideen am besten veranschaulichen.

Dem Bande vorangestellt wurden die „Materialien zur Lebensbeschreibung Dostojewskis“, die der Literaturhistoriker Orest Miller 1882, nach dem Tode des Dichters, zusammengestellt hat. Miller, dem von der Geheimpolizei zum erstenmal ein allerdings bedingter Einblick in die Akten des Petraschewski-Prozesses gewährt wurde, hat alle ihm erreichbaren Briefe Dostojewskis, sowie Aussagen und Aufzeichnungen über Dostojewski zu einem umfangreichen Bericht zusammengetragen, der einen Überblick über das Leben des Dichters von seiner frühesten Jugend bis in den Anfang der sechziger Jahre gibt. Dieser Bericht findet seine Fortsetzung in dem Überblick über die zweite Hälfte von Dostojewskis Leben, von 1861–81, den damals, 1882, N. N. Strachoff gab, der dieses Leben zunächst als mehrjähriger publizistischer Mitarbeiter Dostojewskis geteilt, später als Freund miterlebt hatte. Dieser zweite Teil der Lebensgeschichte Dostojewskis wurde den „Literarischen Schriften“, Band 12 der deutschen Ausgabe, beigegeben.

Von Dostojewskis Briefen – die intimeren sind noch unveröffentlicht im Besitze seiner Witwe –, aus denen Miller manche Stellen anführt, ist eine Auswahl in dem Sonderbande „F. M. Dostojewski. Briefe. Mit Bildnissen und Berichten der Zeitgenossen“ erschienen. Zu diesen Berichten der Zeitgenossen gehören unter anderen auch die von Miller erwähnten und benutzten Erinnerungen an Dostojewski, die D. W. Grigorowitsch, A. P. Miljukoff und Baron Alexander Wrangel aufgezeichnet haben.

E. K. R.

Zur Lebensgeschichte Dostojewskis.

Kindheit und Jugend.

Fjodor Michailowitschs Geburtstag war der 30. Oktober, doch sein Geburtsjahr war nicht, wie er selbst irrtümlicherweise glaubte und angab, das Jahr 1822, sondern, wie wir aus dem Kirchenbuch ersehen, das Jahr 1821. Am 4. November wurde er getauft und erhielt den Namen seines Großvaters mütterlicherseits, des Moskauer Kaufmanns Fjodor Timofejewitsch Netschajeff.

Eine der ersten Kindheitserinnerungen Fjodor Michailowitschs war: wie eines Abends die Kinderfrau ihn als ungefähr Dreijährigen ins Besuchszimmer zu den Gästen geführt, vor den Heiligenbildern hatte hinknien und sein Abendgebet hatte hersagen lassen: „Alle Zuversicht, Herr, lege ich auf dich. Mutter Gottes, behalte mich unter deinem Schutz.“ Den Gästen gefiel das sehr, und sie sagten, indem sie ihn streichelten: „Was für ein kluger Junge!“ Dieses Erlebnis hatte sich für immer seinem Gedächtnis eingeprägt und jenes Gebet hat er später seine eigenen Kinder als Abendgebet sprechen gelehrt. Auch behielt er immer in der Erinnerung, wie streng er und seine Geschwister von klein auf erzogen worden waren und wie früh schon das Lernen begonnen hatte. Bereits als Vierjährigen setzte man ihn vor ein Buch und dann hieß es: „Lerne!“ – während es draußen so schön war, so warm, und der große schattige Garten des Hospitals so lockte! Doch wenn der Vater seine Kranken in der Stadt besuchte, dann pflegte es wohl zu geschehen, daß die Mutter die Kinder befreite und wieder spielen ließ.

Die anschaulichste Vorstellung von der Kindheit Fjodor Michailowitschs geben uns die Aufzeichnungen seines jüngeren Bruders Andrei Michailowitsch, die deshalb im Wortlaut hier eingeschaltet seien.

„Mein Bruder Fjodor Michailowitsch war drei Jahre und viereinhalb Monate älter als ich, da er aber – zusammen mit meinem ältesten Bruder – erst im Mai 1837 von meinem Vater nach Petersburg gebracht wurde, so habe ich seine Kindheit ungefähr von meinem 5. bis 12. oder von seinem 8. bis 15. Lebensjahr miterlebt und kann mich ihrer noch sehr gut erinnern.

„Unser Vater, der Stabsarzt Michail Andrejewitsch Dostojewski, war nach Absolvierung der damals in Moskau bestehenden Medizinischen Akademie im Jahre 1812 als Arzt in den Militärdienst getreten und hatte nach dem Kriege eine Anstellung am Moskauer Militärhospital erhalten.

„Im Jahre 1819 heiratete er die Tochter des Moskauer Kaufmanns Fjodor Timofejewitsch Netschajeff, Marja Fjodorowna. Im Jahre 1820 wurde unser ältester Bruder Michail geboren. Ende desselben Jahres trat unser Vater aus dem Militärdienst in den Zivildienst über und kam als Arzt, mit dem Titel eines Stabsarztes, an das Moskauer Marienhospital. Dort ist dann unser Bruder Fjodor und sind nach ihm alle übrigen Geschwister, mit Ausnahme der jüngsten Schwester, zur Welt gekommen.

„Die Wohnung, die unser Vater daselbst erhielt, lag im Erdgeschosse. Wenn man die heutigen Dienstwohnungen beamteter Personen von gleichem Range mit den damals gewährten Räumlichkeiten vergleicht, so fällt es einem unwillkürlich auf, wieviel sparsamer man in der Beziehung früher war. Unsere Wohnung bestand eigentlich nur aus zwei Zimmern, außer dem Vorzimmer und der Küche. Das dem Eingange zunächst liegende, wie gewöhnlich einfenstrige Vorzimmer wurde durch eine vom Tischler hergestellte Scheidewand in zwei Räume geteilt; in dem auf diese Weise gewonnenen zweiten halbdunklen Zimmerchen schliefen die beiden ältesten Brüder, Michail und Fjodor. Aus dem Vorzimmer trat man in den sogenannten Saal: ein ziemlich großes Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße und drei Fenstern auf den Vorhof. Das folgende zweite Zimmer hatte zwei Fenster zur Straße und war gleichfalls durch eine Scheidewand in zwei Hälften geteilt, von denen die halbdunkle den Eltern als Schlafraum diente. Späterhin, als unsere Familie größer wurde, erhielten wir noch ein Zimmer. Die Einrichtung der Wohnung war sehr bescheiden. Das Vorzimmer mit dem abgeteilten Schlafraum der Brüder war mit dunkelgrauer, der Saal mit hellgelber und das elterliche Schlafzimmer mit blauer Leimfarbe angestrichen. An Möbeln standen im Saal zwei Lhombre-Tische (obgleich in unserer Familie nie Karten gespielt wurde), an denen die älteren Brüder lernten, ein Eßtisch und ein Dutzend Stühle aus Birkenholz mit weichem Sitz (aber natürlich ohne Sprungfedern), der mit grünem Saffian bezogen war. Dieser Saal war unser Wohnzimmer, wo wir lernten und spielten, zu Mittag speisten und Tee tranken. Das andere Zimmer dagegen war unser Erholungsraum. Hatten wir unsere Aufgaben beendet, so saßen wir dort bei den Eltern.“

Nach den Aussagen anderer Verwandter versammelte die Familie sich dort um einen runden Tisch, die Mutter arbeitete und die Kinder lasen vor. Fjodor Michailowitsch hat mehrfach davon gesprochen, daß sie, die Kinder, jedesmal fortgeschickt wurden, wenn an diesem Tisch geschneidert oder Stoff zugeschnitten werden sollte, weshalb ihm Schneiderei im Hause sein Leben lang unangenehm war.

Andrei Michailowitsch erzählt weiter: „Meine Brüder Michail und Fjodor, meine Schwester Warwara und ich, wir vier bildeten sozusagen die erste Serie der Geschwister.“ Nach Fjodor Michailowitschs eigenen Worten hat er in der Kindheit „Schwester Warjä“ besonders geliebt. „Die übrigen Geschwister, Wera, Nikolai und Alexandra, waren noch zu klein, um an unseren Beschäftigungen oder Spielen teilnehmen zu können. Wir vier dagegen waren fast immer zusammen. So geschah alles, was meine Brüder taten oder sprachen, vor meinen Augen und Ohren, und nur in den seltensten Fällen schickten sie mich fort; dann nannten sie mich ihr ‚Schwänzchen‘. Michail und Fjodor standen ja fast im gleichen Alter, sie wuchsen zusammen auf und waren große Freunde. Diese Freundschaft dauerte bis zum Tode des älteren Bruders. Und doch waren sie zwei ganz verschiedene Charaktere. Michail war auch in der Kindheit weniger mutwillig, weniger unternehmend, weniger lebhaft im Gespräch, kurz, er war nicht so heiß wie Fjodor, der in allem, was er tat, ‚das wahre Feuer‘ war, wie unsere Eltern zu sagen pflegten.

„Da ich nun einmal von unserer Familie spreche, möchte ich hier auch eine Person erwähnen, die mit ihrem ganzen Leben und Denken in unserer Familie aufging. Das war unsere Kinderfrau Aljona Frolowna. Ich erwähne sie nicht deshalb, weil sie etwa, wie die Kinderfrau Puschkins, auf die Entwicklung Fjodors einen großen Einfluß gehabt hätte; – nein, sie war nur ein gütiger Mensch, der uns liebte. Als Moskauer Kleinbürgerin hatte sie das Recht, sich eine ‚Städterin‘ zu nennen, was sie denn auch immer mit einer gewissen Wichtigkeit tat. (Übrigens war sie noch nicht alt, aber ziemlich dick.) Doch ich erwähne sie hauptsächlich deshalb, weil ich darauf hinweisen möchte, wie teuer meinem Bruder später die Erinnerung selbst an unsere Dienstboten war. So habe ich auch in seinen Werken sehr oft Namen unserer ehemaligen Dienstboten in der Stadt und auf dem Lande wiedergefunden.“[1]

Nach der Behauptung Andrei Michailowitschs habe Aljona Frolowna nicht gut zu erzählen verstanden, was den Aussagen anderer und auch Fjodor Michailowitschs zum Teil widerspricht. Vielleicht hat sie nur nicht so schöne Märchen erzählt, wie die Ammen aus dem Dorf.

„Von allen ihren Kindern hat unsere Mutter nur ihren ältesten Sohn selbst gestillt,“ (den sie nach Fjodor Michailowitschs Äußerung am meisten geliebt haben soll), „– wir anderen hatten Ammen. Diese Ammen pflegten uns alljährlich (gewöhnlich im Winter) zu besuchen. Ihr Besuch war für uns Kinder immer ein richtiges Fest. Sie kamen aus den nächsten Dörfern und blieben meist zwei bis drei Tage bei uns. Unter meinen Erinnerungen hat sich eine Bilderreihe noch so deutlich erhalten, als sähe ich sie leibhaftig: Es ist ein Wintermorgen; Aljona Frolowna tritt aus der Küche ins Wohnzimmer und meldet der Mutter: ‚Die Amme Lukerja ist gekommen‘. Kaum haben wir Jungen das vernommen, da stürmen wir auch schon aus dem Saal ins Wohnzimmer, und es fehlt nicht viel, daß wir vor Freude in die Hände klatschen. ‚Führe sie herein,‘ sagt die Mutter. Und Lukerja erscheint, eine Bäuerin in Bastschuhen. Zuerst betet sie vor dem Heiligenbilde, dann begrüßt sie die Mutter, dann küßt sie alle Kinder der Reihe nach und dann verteilt sie unter uns die als Gastgeschenk mitgebrachten, mit Buttermilch gebackenen Pfannkuchen; darauf aber begibt sie sich wieder in die Küche, – wir Kinder haben jetzt keine Zeit, am Vormittag müssen wir lernen. Doch dann ist die Dämmerung da. Es dunkelt. Die Mutter ist im Wohnzimmer beschäftigt, der Vater gleichfalls – er trägt die Rezepte in die Krankenbücher ein, die ihm täglich stoßweise gebracht werden –, und nun warten wir Kinder in dem abendlichen unbeleuchteten Saal auf die Amme. Sie kommt, wir setzen uns alle in der Dunkelheit auf Stühlen zurecht, und nun beginnt das Märchenerzählen. Dieses Vergnügen dauerte manchmal drei, manchmal vier Stunden. Erzählt wurde möglichst leise, fast flüsternd, um die Eltern nicht zu stören; es ist so still, daß man das Kratzen des Gänsekiels hört, mit dem der Vater im Nebenzimmer schreibt. Und was für Geschichten wurden da erzählt – ich kann mich nicht einmal all der Namen entsinnen. Außer den russischen Sagen und Märchen hörten wir auch die Geschichte vom Blaubart und noch viele andere. Ich weiß nur, daß manche dieser Geschichten uns sehr gruselig erschienen.“ (Vielleicht ist es auf diese im Dunkeln erzählten gruseligen Geschichten zurückzuführen, daß Fjodor Michailowitsch nach seiner eigenen Aussage in der Kindheit die Dunkelheit gefürchtet hat?)

„Im übrigen aber verhielten wir uns zu diesen Märchenerzählerinnen doch auch kritisch und stellten z. B. fest, daß ‚Warwaras Amme zwar mehr Märchen kenne, dafür aber nicht so gut zu erzählen verstehe wie Andrjuschas Amme‘ – oder etwas ähnliches.

„Die Tage verliefen in unserer Familie immer gleichmäßig nach der einmal eingeführten Ordnung. Man stand früh auf, ungefähr gegen sechs Uhr. Nach sieben Uhr begab sich der Vater ins Hospital, von wo er um neun Uhr zurückkehrte, um dann sofort in die Stadt zu seinen übrigen Kranken zu fahren. Während seiner Abwesenheit mußten wir lernen. Um 12 Uhr kehrte er gewöhnlich zurück und dann wurde sogleich zu Mittag gespeist. Um 4 Uhr tranken wir Tee, worauf der Vater sich wieder zu den Kranken ins Hospital begab. Die Abende wurden im Wohnzimmer am runden Tisch verbracht, und wenn der Vater nicht mit den Krankheitsberichten beschäftigt war, so wurde vorgelesen. An den Feiertagen spielten wir Kinder in demselben Zimmer zuweilen harmlose Kartenspiele, an denen die Eltern sich gleichfalls beteiligten. Bei diesen Spielen versuchte Fjodor infolge seiner Gewandtheit immer irgend einen kleinen Betrug zu machen, wobei er aber mehr als einmal ertappt wurde. Zwischen 8 und 9 Uhr aßen wir zu Abend, und nachdem wir Knaben vor den Heiligenbildern das Gebet gesprochen und den Eltern Gute Nacht gewünscht hatten, gingen wir zu Bett.

„Fremde oder Gäste kamen sehr selten zu uns. Der ganze Verkehr unserer Eltern beschränkte sich fast ausschließlich auf kurze Besuche im Laufe des Tages. Kam es aber einmal vor, daß die Eltern gegen Abend zu einem Besuche fuhren, so wurden unsere Spiele sogleich bedeutend geräuschvoller und abwechslungsreicher. Übrigens blieben die Eltern niemals sehr lange fort; schon gegen neun oder zehn Uhr kehrten sie unfehlbar zurück.

„Unter den Familienfesten war der Geburtstag des Vaters das wichtigste. Dann mußten die älteren Brüder unbedingt irgend etwas auswendig lernen, natürlich in französischer Sprache. Das Gelernte wurde hübsch sauber auf Postpapier geschrieben, dieses zu einem Röllchen zusammengerollt und dem Vater am Morgen überreicht: dann ward das auswendig Gelernte aufgesagt. Einmal war es irgend etwas aus der Henriade – Gott weiß was. Das rührte den Vater sehr und er küßte die beiden Knaben mit aufwallender Herzlichkeit. An diesem Tage waren immer viele Gäste bei uns, besonders zum Mittagessen. Später, als wir Kinder schon heranwuchsen, wurde etwa zweimal auch ein Tanzabend veranstaltet, doch so viel ich mich erinnere, hat kein einziger von uns Knaben gern getanzt, vielmehr sahen wir uns zum Tanz wie zu einer notwendigen und schweren Arbeit gezwungen.

„Im Sommer wurde fast regelmäßig gegen 7 Uhr ein Abendspaziergang zum nahegelegenen Marienhain gemacht. Außer uns Kindern und unseren Eltern beteiligten sich gewöhnlich noch andere Einwohner des Marienhospitals an diesen Spaziergängen, die sehr ruhig verliefen. Man benahm sich äußerst wohlerzogen und selbst im Hain, also schon außerhalb der Stadt, wagten wir Kinder nicht, etwa zu laufen oder gar Mutwillen zu treiben. Während dieser Spaziergänge unterhielt sich der Vater mit uns immer über Gegenstände, die uns belehren konnten. So entsinne ich mich noch seiner wiederholten anschaulichen Erklärungen geometrischer Begriffe, z. B. was spitze, stumpfe und rechte Winkel sind, oder krumme und gebrochene Linien, wie man sie in den Moskauer Straßen fast auf Schritt und Tritt sieht.

„In jedem Sommer wurde auch eine Fahrt zu dem 60 Werst entfernten Troitzki-Kloster unternommen. Diese Fahrten brachten eine gewisse Abwechslung in unser Sommerleben; sie dauerten fünf bis sechs Tage, weshalb der Vater sich nicht an ihnen beteiligen konnte und wir nur mit der Mutter und irgend jemandem von unseren Bekannten hinfuhren. Das Theater besuchten unsere Eltern fast nie. Nur ein- oder zweimal während meiner ganzen Kindheit wurde zur Feier eines großen Festtages für die ganze Familie eine Loge genommen. Bei der Wahl des Stückes war man sehr vorsichtig. Einmal sahen wir die Aufführung eines Stückes, das ‚Jacko, oder Der brasilianische Affe‘ hieß. Den Inhalt des Stückes habe ich vergessen, ich erinnere mich aber, daß der Schauspieler, der den Affen spielte, sich als ein erstaunlicher Equilibrist erwies, so daß Fjodor hernach wie besessen von ihm war und lange Zeit sich mühte, die Kunststücke nachzumachen.“

Von dem ungeheuren Eindruck einer Theateraufführung allerdings ganz anderer Art, die Dostojewski als zehnjähriger Knabe gesehen hat, weiß Anna Grigorjewna, Dostojewskis Witwe, nach seinen eigenen Worten zu berichten: Das war die Aufführung von Schillers „Räubern“, mit dem berühmten Schauspieler Motschaloff in der Hauptrolle.

„Aber wenn wir auch selten ins Theater gingen,“ erzählt Andrei Michailowitsch weiter, „so besuchten wir doch regelmäßig die Schaubuden der Moskauer Festmärkte, besonders in der Butterwoche, und zwar besuchten wir diese immer mit einem leiblichen Onkel unserer Mutter, Wassili Michailowitsch Kotelnitzki. Der Vater dieses W. M., also der Großvater meiner Mutter, Michail Fjodorowitsch Kotelnitzki, war Ende des achtzehnten Jahrhunderts Korrektor an der Moskauer Geistlichen Druckerei und soll, wie unsere Mutter erzählte, ein sehr kluger Mensch gewesen sein. Sein Sohn (unser Großonkel Wassili Michailowitsch) war Professor an der Moskauer Universität (an der medizinischen Fakultät), war kinderlos und liebte uns sehr. Unseren Eltern, die ihn überaus achteten, hatte er vermutlich ein für allemal das Versprechen abgenommen, daß wir Kinder in der Butterwoche alle auf einen ganzen Tag zu ihm kommen durften, und dann besuchte er mit uns, die wir ihm ohne weiteres anvertraut wurden, jedesmal verschiedene Aufführungen, deren Wahl er selbst traf.

„Unsere Eltern waren beide sehr religiös, besonders die Mutter. An jedem Sonn- und Feiertage mußten wir pflichtgetreu zum Frühgottesdienste gehen und am Abend vorher zur Abendmesse.

„Zum Marienhospital gehörte ein großer schöner Garten mit zahlreichen Lindenalleen und sehr sauber gehaltenen Wegen. Im Sommer hielten wir uns fast nur in diesem Garten auf. Dort spazierten wir artig mit unserer Kinderfrau Aljona Frolowna oder saßen auf einer Bank, und so verbrachten wir Stunden um Stunden. Dort fanden auch unsere Kinderspiele statt. Übrigens durften wir nur Pferdchen spielen; Ballspiele und ähnliche, besonders solche mit Stöcken oder Schlägeln, waren uns als gefährlich und unschicklich aufs strengste verboten.

„Im Krankenhause wohnten außer uns noch viele Familien, verheiratete Ärzte und andere Angestellte; doch soweit ich mich erinnere, befanden sich unter deren Kindern keine Altersgenossen und so hatten wir gar keine anderen Spielgefährten, weshalb unsere Spiele denn auch recht eintönig waren. Einmal sahen wir auf einem Volksfest einen Schnelläufer, der für Geld sein Können zeigte; während des Laufens hielt er den Zipfel eines Tuches im Munde, das wohl mit einer kräftigenden Flüssigkeit getränkt war. Nachdem Fjodor diesen Läufer gesehen hatte, lief er lange Zeit täglich mit unermüdlichem Eifer in den Gartenalleen hin und her, wobei er gleichfalls einen Zipfel seines Taschentuches im Munde hielt.“ – Eine Erklärung hierfür dürften wir in Dostojewskis eigenen Äußerungen finden, nach welchen er sich in seiner Kindheit gerne durch Körperkraft, Gewandtheit u. ä. hervorgetan habe.

„In diesem Garten ergingen sich auch die Genesenden, je nach dem Wetter in elefantenbraunen Tuchmänteln oder in Zwillichanzügen, jedoch immer in schneeweißen Zipfelmützen und in Schuhen oder Pantoffeln ohne Absätze. Fjodor liebte es sehr, mit diesen Kranken heimlich, d. h. wenn es sich irgendwie unbemerkt machen ließ, Gespräche anzuknüpfen, besonders wenn Knaben unter ihnen waren; das aber war uns ein für allemal streng verboten, und der Vater war äußerst ungehalten, wenn ihm etwas von einem derartigen Ungehorsam zu Ohren kam.“

Nach den Aussagen anderer Verwandten ist der Vater Dostojewskis überhaupt sehr streng gewesen, und die Wärterin Aljona Frolowna hat oft genug die Vergehen der Kinder verheimlichen oder diese vor der väterlichen Strafe schützen müssen.

„Im Jahre 1831 kauften unsere Eltern im Gouvernement Tula, 150 Werst von Moskau, ein kleines Landgut, wohin von nun an in jedem Frühjahr unsere Mutter mit uns Kindern übersiedelte. Den Vater hielt der Dienst in Moskau zurück. Nur im Hochsommer kam er auf ein paar Tage hinaus. In den ersten Jahren, als meine älteren Brüder noch nicht im Pensionat waren, nahm die Mutter sogleich alle Kinder mit und wir verbrachten den ganzen Sommer auf dem Lande. Die Fahrt hinaus aufs Gut war für uns Kinder ein Ereignis, das wir mit heißer Ungeduld herbeisehnten. Wir fuhren mit unseren eigenen Gutspferden und dem Kutscher Ssemjon Schiroki, der im Rufe stand, der beste Pferdekenner und Kutscher zu sein.“ (Auch diesen Namen hat Dostojewski später benutzt.)

„Die Fahrt dauerte zwei Tage, am dritten langten wir an. Während der Fahrt war Fjodor immer in einem geradezu fieberhaften Zustande. Er wählte sich auch immer den Platz auf dem Bock, neben dem Kutscher, und so oft der Wagen hielt, und war’s auch nur auf eine Minute, sprang er ab, um sich alles, was in der Nähe war, anzusehen, oder er guckte gleichfalls an den Pferden herum, wenn der Kutscher Ssemjon, der Breite genannt, an ihnen etwas zu schaffen hatte.

„Die Gegend, in der unser Landgut lag, war sehr anheimelnd und malerisch. Das kleine mit Lehm bestrichene Häuschen, das aus drei Zimmern bestand, lag in einem Lindenhain, der ziemlich groß und schattig war. Ihn trennte nur ein schmales Feld von einem dichten Birkenwalde, in dem es eine recht unheimliche, wilde, von kleinen Schluchten oder Erdklüften durchzogene Stelle gab. Dieser Wald hieß Brykowo (den Namen finden wir gleichfalls, und zwar in den ‚Dämonen‘) und wurde von meinem Bruder sehr geliebt, weshalb wir ihn unter uns bald nur noch ‚Fedjäs[2] Wald‘ nannten. Doch die Mutter erlaubte uns nur ungern, in diesen Wald zu gehen, da es hieß, dort seien Schlangen, und sogar Wölfe kämen dorthin.“

Hier hätten wir vielleicht eine Erklärung des Schreies „Ein Wolf kommt!“ den Fjodor Michailowitsch dort einmal als Kind zu hören geglaubt hat und von dem er in seiner Erzählung vom Bauern Marei spricht.

„Fjodor, der damals bereits lesen konnte, hatte offenbar schon Indianergeschichten in die Hand bekommen, und so war denn seine Lieblingsbetätigung Indianer zu spielen. Das Spiel bestand darin, daß wir uns im Lindenhain eine Stelle mit dichterem Buschwerk aussuchten, dort ein Zelt herstellten und dieses dann für das Hauptzelt einer Niederlassung wilder Völker erklärten. Wir kleideten uns aus und bemalten unsere Körper mit Farben: was wir dann tätowieren nannten. Wir machten uns aus Blättern einen Lendenschurz und aus gefärbten Gänsefedern einen Kopfschmuck, und nachdem wir uns dann noch mit selbstgefertigten Pfeilen und Bögen bewaffnet hatten, schritten wir zum Überfall auf Brykowo (den Birkenwald). Natürlich war Fjodor, als der Erfinder dieses Spieles, auch der Häuptling und Anführer des wilden Stammes. Michail dagegen beteiligte sich nur selten unmittelbar an diesem Spiele: es paßte nicht zu seinem Charakter. Dafür war er, da er schon zu zeichnen begann und Farben besaß, derjenige, der uns anmalte und kostümierte. Doch die Hauptsache bei diesem Spiele bestand darin, daß wir als ‚Wilde‘ nicht von irgend jemandem, der älter als wir war, beaufsichtigt wurden und von allem Gewohnten, von allem Nichtwilden, vollkommen abgesondert waren. Einmal, an einem heißen, trockenen Tage, ließ uns die Mutter nicht zum Essen rufen, sondern schickte das Essen zu uns hinaus und ließ es unter einem Busch am Zelt hinstellen. Das machte uns einen Riesenspaß und wir verzehrten natürlich alles ohne Messer und Gabel, einfach mit den Händen, wie es sich für richtige Wilde schickt. Doch als wir auch die Nacht als Wilde im Freien verbringen wollten, wurde uns das nicht erlaubt. Ein anderes Spiel, das nur wir zwei spielten, war ‚Robinson und Freitag‘, bei dem ich den Freitag spielen mußte, da Fjodor selbstredend Robinson war. Dann mühten wir uns schrecklich, in unserem Lindenhain alle die Entbehrungen zu erdulden, die jene beiden auf der unbewohnten Insel zu ertragen gehabt hatten.

„Auf dem Lande waren wir fast den ganzen Tag im Freien, und wenn wir nicht spielten, verbrachten wir Stunden um Stunden auf den Feldern, wo wir der schweren Feldarbeit der Bauern zusahen. Die Bauern liebten uns alle, aber Fjodor liebten sie doch ganz besonders. In seiner Lebhaftigkeit wollte er alles selbst mitmachen. Bald bat er, das Pferd mit der Egge führen zu dürfen, bald ging er neben dem Pflug einher und trieb das Pferd an, u. a. m. Auch liebte er, mit den Bauern Gespräche anzuknüpfen, und sie unterhielten sich gern mit ihm. Doch das größte Vergnügen war für ihn, irgend einen Auftrag ausführen oder irgend eine Gefälligkeit erweisen oder sich sonstwie nützlich machen zu können. Einmal hatte eine Bäuerin in der Erntezeit aus Versehen den Wasserkrug umgeworfen, den sie für ihr kleines Kind mitgenommen hatte. Da nahm mein Bruder sofort den Krug und lief ins Dorf (etwa 1½ Werst weit) und brachte zur Freude der Mutter den Krug mit frischem Wasser zurück. Er wußte es auch selbst, daß man ihn liebte.

„Unser Landgut bestand aus zwei kleinen Dörfern, die 1½ Werst voneinander lagen. In dem einen, in Darowoje, wohnten wir, das andere hieß Tschermaschnjä[3], und dorthin gingen wir oft zu Fuß. Fjodor ritt manchmal hinüber, und erbot sich immer als erster dazu, wenn die Mutter einen Auftrag zu erteilen hatte.

„Zum Schluß dieser Erinnerungen an unser Landleben möchte ich noch die Agrafena erwähnen, die das ‚Dummchen‘ genannt wurde. Sie gehörte zu keiner der Bauernfamilien und trieb sich immer im Freien umher; nur im Winter, und auch dann nur bei sehr großer Kälte, konnte man sie mit Gewalt in einer Hütte zurückhalten. Sie war damals 20–25 Jahre alt; sprach sehr wenig, nur ungern und unverständlich; aus ihrem zusammenhanglosen Gerede konnte man nur so viel entnehmen, daß sie beständig mit dem Gedanken an ein kleines Kind umherging, das auf dem Friedhofe begraben sei. Als ich in den ‚Brüdern Karamasoff‘ die Geschichte der ‚stinkenden Lisaweta‘ las, fiel mir sofort dieses Dummchen Agrafena ein.

„Den ersten Unterricht erteilte uns unsere Mutter, und wir alle hatten ein und dasselbe erste Lesebuch. Es hieß: ‚Hundert und vier heilige Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament‘. Wenn ich mich nicht irre, war es eine Übersetzung nach einem deutschen, von Hübner zusammengestellten Schulbuche. – Dieses Buch war mit einigen schlechten Steindrucken versehen –, die die Erschaffung der Welt, Adam und Eva im Paradiese, die Sintflut und andere biblische Geschehnisse darstellten. Als ich vor nicht langer Zeit, Ende der siebziger Jahre, mit meinem Bruder Fjodor auf unsere Kindheit zu sprechen kam und u. a. auch dieses Buch erwähnte, erzählte er mir geradezu begeistert, daß es ihm gelungen sei, dieses alte Buch, aus dem wir gelernt hatten, wiederzufinden, und daß er es nun wie ein Heiligtum aufbewahre.

„In jenem ersten Jahre, dessen ich mich gerade noch erinnern kann, konnten meine Brüder bereits lesen und schreiben und bereiteten sich zum Eintritt in das Pensionat vor. Damals kamen zwei Lehrer zu uns ins Haus. Der erste war ein Diakon, der auch am Katharineninstitut unterrichtete. Bevor er kam, wurde jedesmal der Lhombretisch aufgeklappt, an den wir vier Kinder uns dann zusammen mit dem Lehrer setzten. Die Mutter saß immer weiter ab und war mit einer Handarbeit beschäftigt. Ich habe später viele Religionslehrer gehabt, aber nie wieder einen solchen wie diesen. Der hatte wirklich, was man so nennt, die Gabe des Wortes, und während der ganzen Stunde (die noch nach alter Sitte etwa zwei Stunden dauerte) tat er nichts anderes als erzählen oder, wie bei uns gesagt wurde, die Heilige Schrift auslegen. Nur wenige Minuten zu Anfang der Stunde gebrauchte er zum Abfragen der Aufgaben, dann begann er selbst ... von der Sintflut, von Joseph, von der Geburt Christi erzählte er ganz besonders schön – so daß die Mutter oft die Arbeit aus der Hand legte, ihm zuhörte und die Augen von dem begeisterten Erzähler nicht abwenden konnte. Ich darf wohl ohne weiteres behaupten, daß er mit seinen Erzählungen wie kein anderer unsere Kinderherzen ergriff. Doch ungeachtet alles dessen verlangte er von uns, daß wir die Aufgaben buchstäblich auswendig lernten und nicht eine Silbe ausließen. Es tut mir sehr leid, daß ich mich auf den Namen dieses verehrten Lehrers nicht mehr besinnen kann.

„Der andere Lehrer, der in dieser Zeit zu uns ins Haus kam, war der Lehrer der französischen Sprache Suchard, der sich nach der Erfüllung seiner Bitte an Kaiser Nikolai I., seinen Namen umdrehen und ihm die Endung off anhängen zu dürfen, Draschussoff nannte, da es sein glühendster Wunsch war, ein echter Russe zu sein. Zu diesem Draschussoff fuhren nun meine beiden älteren Brüder, als der Unterricht im Lesen und Schreiben, in der Religion und der französischen Sprache nicht mehr genügte, ein ganzes Jahr lang oder noch länger, jeden Morgen als sogenannte Halbpensionäre und kehrten zum Mittagessen zurück. Draschussoff hatte eine kleine Vorschule oder ein Pensionat für auswärtige Schüler, er selbst unterrichtete in der französischen Sprache, seine zwei erwachsenen Söhne in der Mathematik und in anderen Fächern. Dagegen gab es an dieser bescheidenen Schule keinen Lehrer der lateinischen Sprache, und so übernahm denn unser Vater selbst den Unterricht in diesem Fach. Ich erinnere mich noch des Morgens, an dem er von der Fahrt zu seinen Patienten in der Stadt eine lateinische Grammatik mitbrachte und sie den Brüdern übergab. Seit diesem Tage wurden sie jeden Abend in dieser Sprache unterrichtet. Der Unterschied zwischen dem Unterricht beim Vater und dem bei den anderen Lehrern bestand vor allem darin, daß sie bei letzteren die ganze Stunde saßen, beim Vater dagegen, dessen Unterricht oft über eine Stunde dauerte, durften sie nicht nur nicht sitzen, sondern nicht einmal sich an den Tisch stützen. So standen sie denn wie kleine Götzenbilder da, wenn sie, der eine nach dem anderen, ‚mensa, mensae‘ usw. deklinierten oder ‚amo, amas, amat‘ konjugierten. Die Brüder fürchteten sich denn auch sehr vor diesen Stunden. Der Vater war bei all seiner Güte äußerst anspruchsvoll und sehr ungeduldig, und dazu noch überaus jähzornig.“

(Nach den Aussagen anderer soll der Vater ein finsterer, nervöser, mißtrauischer Mensch gewesen sein.) „Kaum machte einer von den Brüdern einen Fehler – da schrie er ihn schon an. Hier muß ich aber bemerken, daß unsere Eltern, ungeachtet der Heftigkeit des Vaters, uns Kinder sehr human behandelten; nie sind wir körperlich bestraft worden, und ich kann mich auch nicht erinnern, daß einer von den älteren Brüdern einmal auf die Knie befohlen oder in den Winkel gestellt worden wäre. Die größte Strafe bedeutete für uns eben dieses Aufbrausen des Vaters. So war es auch in den Lateinstunden: bei dem geringsten Fehler der Brüder ärgerte er sich, nannte sie Faulpelze, Dummköpfe, und im äußersten Falle warf er sogar das Buch hin, ohne die Stunde zu beenden, und das war für uns immer die schlimmste Strafe.

„Diese Humanität unserer Eltern war offenbar auch der Grund, weshalb sie sich zu ihren Lebzeiten nicht entschließen konnten, uns in ein Gymnasium zu geben, obgleich das bedeutend weniger gekostet hätte. Die Gymnasien standen damals in keinem guten Rufe und die Schüler wurden in ihnen für jedes geringste Vergehen körperlich bestraft. Deshalb zogen die Eltern eine Privatschule vor, und als die Vorbereitung der Brüder beendet war, kamen sie zu Anfang des Lehrjahres 1834 in das Pensionat von L. I. Tschermak, das zu den ältesten Privatlehranstalten Moskaus gehörte und damals schon seit mindestens zwanzig Jahren bestand. Das Haus lag in der Neuen Basmannajastraße, neben dem Polizeiamt dieses Reviers. Ich kam zwar erst später in dieses Pensionat, als meine Brüder es bereits verlassen hatten, aber da es dort zu ihrer Zeit nicht viel anders gewesen sein dürfte, will ich kurz die Verhältnisse schildern.

„Die Privatschule von L. I. Tschermak kam dem Ideal einer geschlossenen Lehranstalt recht nahe. Ihr fehlte nicht der Charakter des Heims, der Familie. Die Lehrer waren durchweg gute Kräfte, die ausnahmslos von den staatlichen Schulinspektoren empfohlen waren, und in der letzten Klasse unterrichteten späterhin sogar Universitätsprofessoren. Der Unterricht begann täglich um 8 Uhr: die erste Stunde war von 8 bis 10, die zweite von 10 bis 12; dann kam das Mittagessen. Von 2 bis 4 und von 4 bis 6 gab es wieder Unterricht. Nach dem Tee hatte man die Aufgaben zu lernen und um 9 Uhr aß man zu Abend; und dann gingen alle ins Schlafzimmer. Tschermak war ein schon bejahrter Mann und eigentlich wenig oder gar nicht gebildet, aber er besaß jenen Takt, der oft den gebildetsten Schuldirektoren abgeht. Zu Anfang jeder Stunde ging er durch alle Klassen, und wenn er in einer Klasse den Lehrer noch nicht antraf, blieb er dort so lange, bis der Lehrer kam, dem er dann mit dem gütigsten Lächeln die Hand reichte, während er mit der Linken seine Taschenuhr hervorzog, gleichsam um für sich selbst festzustellen, welche Zeit es denn sei. Bei solchen Gepflogenheiten tat natürlich ein jeder sein möglichstes, um nicht zu spät zu kommen. Doch vor allen Dingen war unser Alter ein Gemütsmensch. Er ging auf alle, auch auf die geringsten Bedürfnisse der ihm anvertrauten Kinder ein. Wenn ein Schüler sich ausgezeichnet und eine Vier erhalten hatte (damals war Vier die beste Note), so rief er ihn ganz ernst zu sich ins Kabinett und händigte ihm dort ein kleines Bonbon ein. Es kam vor, daß er mit dieser Belohnung auch Schüler der höheren Klassen auszeichnete, doch niemals machte sich auch nur einer von ihnen darüber lustig. Wenn jemand von den Pensionären erkrankte, schickte Tschermak ihn sofort zu seiner Frau: ‚Geh zu Awgusta Franzowna‘. Die steckte den Erkrankten sogleich ins Bett und sandte unverzüglich nach dem Hausarzt – damals Doktor W. W. Treiter.“

Andrei Michailowitsch führt auch die Namen einzelner bedeutender Männer an, die Tschermaks Pensionäre gewesen sind; und auch Fjodor Michailowitsch hat darauf hingewiesen, daß mehrere namhafte Persönlichkeiten, u. a. auch Mühlhausen, der nachmalige Rektor der Moskauer Universität, mit ihm zusammen bei Tschermak Unterricht genommen haben.

„Also in dieses Pensionat,“ fährt Andrei Michailowitsch fort, „traten meine Brüder im Jahre 1834 ein. Auch meine älteste Schwester war damals in einem Mädchenpensionat. An den freien Tagen, die sie zu Hause verbrachten, mußten sie mich auf Wunsch der Eltern unterrichten: Michail in Arithmetik und Geographie, Fjodor in Geschichte und Russisch, und Warwara in der französischen und deutschen Sprache. Schon am Morgen des letzten Wochentages begann man die Rückkehr der Kinder ins Elternhaus zu empfinden. Auch die Eltern wurden ein wenig heiterer und zum Mittagessen wurde noch irgend etwas Besonderes hinzugefügt, kurz, es lag etwas Feiertägliches in der Luft. Ja, an diesem Tage wurde sogar die ewig feststehende Tischzeit (12 Uhr) verschoben, denn bis der Wagen hinfuhr, die Brüder sich zurechtmachten usw. vergingen gute 1½–2 Stunden. (Die Schwester wurde erst gegen Abend abgeholt.) Doch kaum waren die Brüder angelangt, da kam schon, noch bevor man sich richtig begrüßt hatte, das Essen auf den Tisch, und noch bevor sie ihren ersten Hunger gestillt hatten, begann das Erzählen. Zuerst wurden wahrheitsgetreu alle Noten gemeldet, die sie im Laufe der Woche erhalten hatten, dann wurde von den Lehrern erzählt, von den anderen Schülern, von verschiedenen, manchmal nicht ganz harmlosen Streichen der Kameraden. Darüber verging die Zeit und die Mahlzeit dauerte bedeutend länger als sonst. Die Eltern hörten befriedigt zu und schwiegen, indem sie die Kinder sich aussprechen ließen. Ich kann wohl versichern, daß die Brüder alles mit vollkommenster Aufrichtigkeit den Eltern erzählten. Aber es kam nie vor, daß der Vater bei der Gelegenheit den Söhnen Moral gepredigt hätte. Wenn sie von den Streichen der Kameraden erzählten, sagte er nur hin und wieder: ‚so ein Schlingel‘, oder ‚so ein Raufbold‘, oder ‚so ein Taugenichts‘ und ähnliches, doch niemals fügte er hinzu, etwa: ‚Hört! daß ihr mir nicht dasselbe tut!‘ Ich glaube, mit diesem Verhalten wurde zu verstehen gegeben, daß der Vater sogar die Möglichkeit für ausgeschlossen hielt, auch seine Söhne könnten ähnliche Streiche verüben. Nach Tisch wurde noch ein wenig geplaudert, und dann setzten sich die Brüder an die Lhombretische und gaben sich ganz der Lektüre der Bücher hin, die sie regelmäßig aus dem Pensionat mitbrachten. Selten habe ich gesehen, daß sie sich am Sonnabend oder Sonntag mit dem Lernen ihrer Aufgaben beschäftigten oder überhaupt ihre Schulbücher mitgenommen hatten. Später, etwa im Jahre 1836, sprachen sie mit besonderer Begeisterung von ihrem Lehrer der Literatur und russischen Sprache, der förmlich ihr Abgott zu sein schien, da sein Name beständig in ihrem Munde war. Leider kann ich mich auch auf diesen Namen nicht mehr besinnen.

„Ich habe schon erwähnt, daß bei uns abends, wenn wir uns im Wohnzimmer versammelten, immer vorgelesen wurde. Die Eltern lasen abwechselnd vor, und später taten es auch die Brüder, wenn die Eltern müde waren. Es wurden hauptsächlich Geschichtswerke vorgelesen, wie die ‚Geschichte des russischen Reiches‘ von Karamsin, desgleichen seine ‚Briefe eines russischen Reisenden‘; ferner Gedichte von Derschawin, Übersetzungen von Shukowski, von Puschkin vornehmlich die Erzählungen und noch vieles andere.“

Nach Fjodor Michailowitschs eigenen Aussagen hat er mit Vorliebe Reisebeschreibungen gelesen, und unter dem Eindruck solcher Lektüre ist es alsbald sein Traum, sein glühendster Wunsch gewesen, einmal nach Venedig zu reisen (wie Iwan Karamasoff), und nach Konstantinopel und überhaupt nach dem Orient, der sein Vorstellungsvermögen gewaltig beschäftigte.

„Die älteren Brüder lasen beständig, ja jeden Augenblick ihrer freien Zeit verbrachten sie mit Lektüre. In Fjodors Händen sah ich am häufigsten die Romane von Walter Scott, ‚Quentin Durward‘ und ‚Waverley‘, die er trotz der altmodischen und schwerfälligen Übersetzung immer wieder las. Dasselbe tat er auch mit allen Werken von Puschkin. Ob er damals auch Gogol schon kannte, vermag ich nicht zu sagen. Aber Karamsins ‚Geschichte Rußlands‘ lag bei ihm ständig auf dem Tisch: die konnte er immer wieder lesen, wenn er gerade nichts Neues hatte. Außerdem brachten die Brüder die bunten kleinen Monatserscheinungen der ‚Lesebibliothek‘ mit nach Hause, die damals zu erscheinen begann. Die Eltern lasen übrigens diese Bücher nie. Fjodor bevorzugte im allgemeinen ernste Prosalektüre, im Gegensatz zu Michail, der Poesie liebte und damals bereits selbst dichtete (womit Fjodor sich nicht abgab). Aber für Puschkin schwärmten sie beide, und wenn ich nicht irre, konnten sie alle seine Gedichte auswendig. Puschkin lebte damals noch. Sein Name wurde in der Literaturgeschichte kaum erwähnt und seine Werke wurden in den Schulen noch nicht durchgenommen, geschweige denn auswendig gelernt, wie dies jetzt geschieht. Puschkins Ansehen als Dichter war eben damals viel geringer als das Ansehen Shukowskis, sogar bei den Literaturhistorikern, und ebenso natürlich bei unseren Eltern, was von seiten der Brüder, besonders von Fjodor, mehrfach den lebhaftesten Widerspruch hervorrief. Ich erinnere mich noch, wie sie damals gleichzeitig jeder ein Gedicht auswendig lernten: Michail die Shukowskische Übersetzung des ‚Grafen von Habsburg‘ und Fjodor – gleichsam als Gegenstück – Puschkins Ballade ‚Oleggs Tod‘. Als sie die Gedichte den Eltern vorgetragen hatten, gaben diese dem ersteren den Vorzug, gewiß nur deshalb, weil es von Shukowski war. Unsere Mutter hatte übrigens seitdem eine besondere Vorliebe für diese beiden Gedichte, und oft bat sie die Brüder, sie vorzutragen; sogar während ihrer letzten Krankheit, als sie schon ganz zu Bett lag (sie starb an der Schwindsucht) hörte sie ihnen immer noch mit Genuß zu.

„Die Brüder pflegten überhaupt keinen Verkehr, auch nicht mit ihren Schulkameraden. Nur einmal besuchte ein Klassenkamerad, ein gewisser Kudrjäwzoff, meinen Bruder Michail, worauf diesem erlaubt ward, den Besuch zu erwidern, doch damit war auch dieser Verkehr abgetan. Nur Wanitschka Umnoff, der Sohn einer Bekannten unserer Eltern, kam hin und wieder zu uns, aber der war Gymnasiast und etwas älter als meine Brüder. Von ihm hörten sie einmal eine Satire von Wojeikoff[4] auf die literarischen Größen der Zeit, ‚Das Irrenhaus‘, ein Spottgedicht, das damals nur in Abschriften verbreitet war und das Wanitschka Umnoff auswendig gelernt hatte. Doch als die Brüder es gleichfalls auswendig konnten und dem Vater vortrugen, mißfiel es diesem sehr: zunächst hielt er es für einen Gymnasiastenstreich, doch selbst als man ihn überzeugte, daß der Dichter Wojeikoff es verfaßt habe, erklärte er dennoch, daß es unanständig sei, weil es beleidigende Ausdrücke gegen anerkannte literarische Größen enthielt, besonders gegen Shukowski.“

Der Grund, weshalb sie mit keinem ihrer Mitschüler verkehrten, ist wohl allem Anscheine nach in dem anspruchsvollen Mißtrauen der Eltern, namentlich des Vaters, zu suchen, der in einer so wichtigen Sache, wie es die Wahl von Freunden ist, offenbar nicht wählerisch genug sein konnte. Fjodor Michailowitsch aber hat selbst mehrfach erzählt, daß er beständig das Verlangen nach Freunden gehabt habe, doch infolge seiner überaus großen Empfindlichkeit sei es ihm nicht gegeben gewesen, Freundschaft zu pflegen. Es ist anzunehmen, daß seine Feinfühligkeit die unter Jungen üblichen derben Späße nicht ertrug. Dafür hat er, wie einer seiner Mitschüler sich erinnert, immer andere, besonders Neulinge, gegen die gleichfalls in allen Schulen üblichen Anrempelungen oder rüden Ausfälle der älteren Schüler verteidigt.

„Unser Vater,“ berichtet Andrei Michailowitsch weiter, „war von größter Achtsamkeit in der Aufsicht über die Sittlichkeit seiner Kinder, besonders als die älteren Brüder zu Jünglingen heranzuwachsen begannen. Ich erinnere mich nicht, daß meine Brüder auch nur einmal allein irgendwohin ausgegangen wären; der Vater hielt das für unpassend, obgleich Michail schon fast 17, Fjodor fast 16 Jahre alt war. Aus dem Pensionat wurden sie immer mit dem Wagen abgeholt und ebenso wieder dorthin gebracht. Unsere Eltern waren keineswegs geizig – eher sogar freigebig –, aber es galt offenbar nach damaligen Begriffen für unpassend, daß Jünglinge ihr eigenes Taschengeld hatten, und wenn es auch noch so wenig gewesen wäre. Ich erinnere mich nicht, daß meine Brüder auch nur etwas Kleingeld zu ihrer Verfügung gehabt hätten; wahrscheinlich lernten sie erst in Petersburg den Wert des Geldes kennen, als der Vater sie dort allein zurückließ. Ich habe bereits erwähnt, daß der Vater es nicht liebte, uns Moral zu predigen, aber wie mir jetzt scheint, hatte er in der Beziehung doch eine kleine Schwäche: er wiederholte nämlich ziemlich oft, daß er arm sei, daß seine Kinder, besonders die Söhne, sich darauf vorbereiten müßten, sich selbst ihren Weg zu bahnen, daß sie nach seinem Tode mittellos dastehen würden, und dergleichen mehr. All das zeichnete ein düsteres Bild! – Ich erinnere mich auch noch anderer Worte meines Vaters, die gleichfalls keine Predigt, sondern eher eine Warnung waren. Wie ich schon gesagt habe, war Fjodor überaus hitzig; seine Überzeugungen verteidigte er stets mit großer Heftigkeit, und überhaupt war er in seinen Äußerungen sehr scharf. In solchen Fällen hörte ich den Vater oft sagen: ‚Ei, Fedjä, zügele dich, nimm dich in Acht, so kannst du noch übel anlaufen ... wirst noch unter die rote Mütze kommen!‘“ (d. h. zum gemeinen Soldaten degradiert werden).

„Unser Priester am Krankenhause hatte zwei schon erwachsene Söhne, die nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande auch unseren Eltern ihren Besuch machten. Sie hatten sich als Studenten besonders ausgezeichnet und die Reise ins Ausland auf Staatskosten gemacht; sie sind später bekannte Professoren der Rechtswissenschaft geworden. Damals sagte unser Vater oft genug: ‚Wenn doch auch ich es noch erleben würde, daß meine Söhne sich so auszeichneten!‘

„Zum Schluß möchte ich noch wiedergeben, welcher Meinung mein Bruder Fjodor Michailowitsch von unseren Eltern war. Er äußerte sie vor nicht langer Zeit – Ende der siebziger Jahre. Ich kam auf unsere Kindheit zu sprechen und erwähnte den Vater. Da ergriff mein Bruder plötzlich lebhaft meinen Arm oberhalb des Ellenbogens (das war so seine Angewohnheit, wenn er beim Sprechen seine Seele zu öffnen begann) und sagte mit Inbrunst: ‚Ja, weißt du auch, Bruder, das waren doch die vorbildlichsten Menschen, die Fortgeschrittensten, ja, selbst heute noch wären sie die Fortgeschrittensten! ... Und solche Mustereltern, solche Väter könnten wir, Bruder, nie sein!‘

„Im Herbst des Jahres 1836 erkrankte unsere Mutter. Die Zeit ihrer Krankheit war die traurigste unserer Kindheit. Sie wurde von vielen und sogar berühmten Ärzten behandelt, die alle ihrem Kollegen bereitwilligst beistanden, aber der Ausgang der Krankheit war unvermeidlich, und so verloren wir denn unsere Mutter am 27. Februar 1837.

„Nach ihrem Tode begann der Vater ernsthaft daran zu denken, seine beiden ältesten Söhne nach Petersburg zu bringen (wo er selbst noch nie gewesen war), um sie dort in die Ingenieurschule zu geben. Übrigens hatte er schon viel früher durch den Chefarzt des Marienhospitals, Dr. A. Richter, das Gesuch um Aufnahme seiner Söhne auf Staatskosten in dieses Institut eingereicht, und die Antwort, die sehr günstig lautete, war noch zu Lebzeiten der Mutter eingetroffen, so daß schon damals die Reise nach Petersburg beschlossen worden war.“

Inzwischen war Puschkin gestorben, der Dichter, den die Jünglinge so leidenschaftlich liebten – und selbständig liebten, nicht nach dem Beispiel älterer Leute.

„Ich weiß nicht,“ erzählt Andrei Michailowitsch, „infolge welcher Umstände wir erst nach der Beerdigung der Mutter von seinem Tode erfuhren. Vielleicht weil wir unser eigenes Leid hatten und die ganze Familie beständig zu Hause war. Als meine Brüder von seinem Tode erfuhren und noch alle schrecklichen Einzelheiten[5] hörten, glaubten sie, den Verstand zu verlieren. Fjodor sagte mehrmals in seinen Gesprächen mit Michail, daß er, wenn wir nicht schon Familientrauer hätten, den Vater bitten würde, um Puschkin Trauer tragen zu dürfen. Damals kannten wir Lermontoffs Gedicht auf Puschkins Tod noch nicht, aber es gab ein anderes von einem unbekannten Verfasser – das deklamierten meine Brüder in ihrem Schmerz so oft, daß ich es noch heute, nach 45 Jahren, lückenlos auswendig kann.

„Die geplante Reise nach Petersburg hätte beinahe eine Verzögerung erfahren, da Fjodor Michailowitsch plötzlich erkrankte.“ – Wie man seiner Witwe in Moskau erzählt hat, sei die Schwester der verstorbenen Mutter, Frau A. Kumanina (F. M. hing mit besonderer Liebe an dieser Tante und ihrem Mann), mit beiden Jünglingen zur Sergiuskirche gefahren, um dort vor der Reise noch zu beten, unterwegs aber hätten ihr die beiden Neffen die ganze Zeit Gedichte vorgetragen – vielleicht haben wir hier einen Hinweis auf die Ursache der Heiserkeit, von der der Bruder spricht und die vielleicht nur eine Erkältung war?

„Es stellte sich bei Fjodor nämlich ganz plötzlich und ohne jede erklärliche Ursache eine Halskrankheit ein: er verlor fast ganz die Stimme und konnte nur mit Mühe flüsternd sprechen, so daß er schwer zu verstehen war. Man versuchte es mit allen Mitteln, doch keines half – es wurde bald besser, bald wieder schlechter – bis schließlich andere Ärzte dem Vater rieten, die Reise dennoch anzutreten, da die Luftveränderung in der schönen Jahreszeit nur gut wirken könne. Und so geschah es auch. Trotzdem scheint es mir, daß mein Bruder sein Leben lang die Folgen dieser Erkrankung nicht ganz losgeworden ist. Wer sich seiner Art zu sprechen erinnert, wird zugeben, daß seine Stimme nicht ganz natürlich klang, – sie kam sozusagen mehr aus der Brust, als dies bei anderen Menschen der Fall ist.

„Der Vater hatte die Absicht, nach seiner Rückkehr aus Petersburg auf sein Landgut überzusiedeln (er hatte bereits sein Abschiedsgesuch eingereicht). Endlich kam der Tag der Abreise. Der Geistliche des Marienhospitals, Vater Joann Barscheff, las das Gebet, dann setzten sich der Vater und die Brüder in die Postkutsche (sie fuhren mit Postpferden und wechselnden Fuhrleuten) und traten die Reise nach Petersburg an. Von einem Erlebnis während dieser Reise hat mein Bruder Fjodor 40 Jahre später in seinem ‚Tagebuch eines Schriftstellers‘[6] erzählt (die Begegnung mit einem Feldjäger), und bei der Gelegenheit, wenn auch nur kurz, so doch sehr dichterisch, seine und seines Bruders Stimmung während der Reise geschildert.“

Soweit die Erinnerungen Andrei Michailowitsch Dostojewskis.


In Petersburg kamen die beiden Brüder zunächst in das Pensionat von K. F. Kostomaroff, der sie zum Eintritt in die höhere Militär-Ingenieurschule vorbereiten sollte. Aus diesem Vorbereitungspensionat schrieben Fjodor und Michail am 23. Juli 1837 an den Vater, daß Kostomaroff von ihnen mehr erwarte, als von den übrigen acht Schülern, die er mit ihnen zusammen vorbereitete, und daß sie nun bald anfangen würden, Frontübungen zu machen – die seien sehr wichtig. Aber wie beschäftigt sie mit den eigenen Vorbereitungen auch waren, sie vergaßen nicht, „Schwesterchen Warjä“ daran zu erinnern, daß sie Karamsins „Russische Geschichte“ lesen solle und „Bruder Andrjuscha“ das wiederholen müsse, was er manchmal schlecht gelernt hatte. Zum Schluß erwähnten sie noch, daß sie mit Schidlowski (ihrem Mitschüler aus dem Pensionat Tschermak, den der Vater kannte) soeben eine Stunde in der Kasanschen Kirche verbracht hätten – „das wollten wir schon lange, besonders vor dem Examen“.

Nach den Aussagen Dr. Riesenkampfs hatte der Vater, als er beschloß, seine Söhne in diese Ingenieurschule zu geben, u. a. auch auf seinen Verwandten, den Generalleutnant Kriwopischin gerechnet, der im Armee-Inspektorat eine wichtige Stellung einnahm. Doch die Pläne des Vaters zerstörte zum Teil das ärztliche Gutachten, das der Chefarzt der Ingenieurschule, Dr. Wolkenau, ausstellte: er erklärte nämlich den völlig gesunden älteren Bruder für schwindsüchtig und den kränklichen jüngeren für gesund. Infolgedessen wurde Michail Michailowitsch nicht aufgenommen. Er begab sich im Juni 1838 nach Reval, um dort als Konduktor[7] in die Sappeur-Kompagnie einzutreten. So wurden denn die Brüder ganz unerwartet getrennt. Nun konnte Fjodor Michailowitsch sich über seine eigene Aufnahme in die höhere Militär-Ingenieurschule wohl nur insofern freuen, als durch sie der Wunsch des Vaters wenigstens zur Hälfte in Erfüllung ging; denn an sich dürfte dieses Institut – mit dem vielen Mathematikunterricht, dem Zeichnen und dem Frontdienst – ihm, der von Dichtungen träumte, keineswegs verlockend erschienen sein. Der Vater hatte sich für diese Laufbahn entschieden, weil sie so günstige Aussichten für weiteres Fortkommen bot, was für ihn, der nur über beschränkte Mittel verfügte, begreiflicherweise sehr ins Gewicht fallen mußte. Allein man darf hierbei doch nicht außer acht lassen, daß dieses Petersburger Ingenieurinstitut sich hinsichtlich seines wissenschaftlichen Wertes sehr vorteilhaft von allen ähnlichen Militärinstituten unterschied. Vor allem stand die Wissenschaft dort in einem ganz anderen Ansehen und auch die Aufnahme der Schüler hing nicht nur von ihrer Herkunft ab, sondern davon, ob sie das Examen bestanden. Dennoch ist es verständlich, daß für eine Veranlagung, wie sie F. M. Dostojewski mitbrachte, die dort gebotene geistige Weiterbildung nicht genügte, während der andere größere Teil des Unterrichts ihm geradezu eine Plage war – so auch der Frontdienst und das Lagerleben.


Ein Bild von seinem Leben in den nun folgenden Jahren geben uns außer seinen Briefen an den Vater und den Bruder und seinen in späteren Jahren gelegentlich niedergeschriebenen Erinnerungen an einzelne Erlebnisse vor allem die Aufzeichnungen ihm damals nahestehender Menschen[8].


Ein Brief an seinen Vater vom 10. Mai – er dürfte im Jahre 1838 geschrieben worden sein, nachdem der Vater die beiden Brüder im Frühjahr 1837 nach Petersburg gebracht hatte und Fjodor Michailowitsch am 16. Januar 1838 in die Ingenieurschule eingetreten war – zeichnet uns seine materielle Lage, die ihn zwingt, den Vater um eine kleine Beihilfe zu bitten.

„Mein lieber, guter Vater,“ schreibt er, „können Sie denn wirklich denken, daß Ihr Sohn zu viel verlangt, wenn er Sie um eine Unterstützung angeht? ... Wäre ich frei und selbständig, so hätte ich auch nicht eine Kopeke verlangt; ich hätte mich selbst an die bitterste Not gewöhnt ... Jetzt bitte ich Sie, lieber Papa, zu berücksichtigen, daß ich im wahren Sinne des Wortes diene ...“ Offenbar hatte der Vater angenommen, sein Sohn werde als Zögling der Krone von dieser auch mit allem versorgt; das war aber nicht der Fall. Das Notwendigste, fügt der Sohn hinzu, das jeder Zögling in ihrem Lager brauche, würde ihm alles in allem 40 Rubel kosten, – „ich will aber Ihre Notlage,“ schreibt er dem Vater zum Schluß, „berücksichtigen und gänzlich auf Tee verzichten.“ ... Am 9. August desselben Jahres schreibt er an den Bruder nach Reval: „... Nun, Bruder, Du klagst über Deine Armut. Auch ich bin nicht reich. Du wirst mir wohl gar nicht glauben wollen, daß ich beim Auszug aus dem Lager nicht eine Kopeke hatte; unterwegs habe ich mich erkältet (es regnete den ganzen Tag und wir waren ohne Obdach), bin auch vor Hunger erkrankt, und hatte dabei kein Geld, um mir die Kehle mit einem Schluck Tee anzufeuchten. Ich habe mich später erholt, litt aber im Lager die bitterste Not, bis endlich das Geld von Papa kam“ (am 20. Juli – sein Brief vom 10. Mai hatte den Vater erst auf Umwegen erreicht). „Ich zahlte meine Schulden und verbrauchte den Rest. Doch die Schilderung Deiner Lage übersteigt alles. Kann man denn wirklich nicht einmal 5 Kopeken besitzen, sich von Gott weiß was ernähren und nur mit lüsternen Augen die ganze Süße der herrlichen Beeren kosten, die du doch so gern ißt! Wie leid Du mir tust!“ Dieser Brief zeugt auch sonst von einer trüben Stimmung. „Ich weiß nicht, ob meine traurigen Ideen je verstummen werden ... Unsere Erde erscheint mir als ein Fegefeuer für himmlische Geister, die vom sündigen Gedanken umnebelt sind ... Mir scheint, unsere Welt hat einen negativen Sinn bekommen und aus einer hohen, vornehmen, Geistigkeit ward eine Satire.“ Ja, in demselben Brief schimmert aus einer mystischen Unklarheit sogar der Gedanke an Selbstmord hervor, der natürlich auf literarischem Wege entstanden sein wird: „... nur die rauhe Hülle zu sehen, unter der das Weltall sich quält, zu wissen, daß eine einzige Explosion des Willens genügt, um diese Hülle zu sprengen und sich in die Ewigkeit zu ergießen, eins mit ihr zu werden, dies alles zu wissen und dabei wie die letzte der Kreaturen zu sein ... Schrecklich! Wie kleinmütig ist der Mensch! Hamlet! Hamlet!“ Nach Shakespeare erwähnt er Pascal: „Pascal hat einmal gesagt: ‚Wer gegen die Philosophie protestiert, der ist selbst ein Philosoph.‘ Arme Philosophie!“ ruft Dostojewski aus – den übrigens in dieser Zeit auch der Glaube nicht vollkommen befriedigt. Der Brief schließt mit einer Aufzählung der Bücher, die er im Lager gelesen hat: „... den ganzen Hoffmann russisch und deutsch (d. h. den noch nicht übersetzten Kater Murr) und fast den ganzen Balzac. (Balzac ist groß! Seine Charaktere sind Schöpfungen des Weltgehirns! Nicht der Zeitgeist, sondern ganze Jahrtausende haben mit ihrem Ringen eine solche Lösung in der Seele des Menschen vorbereitet.) Ferner Goethes Faust, seine kleineren Gedichte. Polevojs Geschichte, Ugolino und Undine ... schließlich Victor Hugo (außer Cromwell ...).“ Und am Rande hat dieser Brief noch eine Nachschrift, die mit dem Ton des ganzen übereinstimmt: „Ich habe ein Projekt: mich verrückt zu stellen ... Mögen die Leute sich nur ärgern, mögen sie versuchen, mich wieder vernünftig zu machen. Wenn Du den ganzen Hoffmann gelesen hast, so kannst Du Dich gewiß an Alban erinnern, wie gefällt er Dir? Es ist schrecklich, einen Menschen zu sehen, der das Unfaßbare in seiner Macht hat, der nicht weiß, was tun, und mit einem Spielzeug spielt, welches – Gott ist!“

Doch eine solche Hingabe an literarische Lektüre hatte zunächst zur Folge, daß Dostojewski nicht versetzt wurde und noch ein ganzes Jahr in derselben Klasse bleiben mußte. Das tat ihm, wie er dem Bruder schreibt, besonders des Vaters wegen bitter leid.[9] In eben diesem Brief vom 31. Oktober 1838, in dem er, nach dem Ausbruch seines Ärgers über dieses Unglück, auf die Philosophie des Bruders ausführlich eingeht, schreibt er am Rande die kennzeichnende Bemerkung über den Vater: „... Aber weißt Du auch? Papachen kennt ja die Welt überhaupt nicht. Hat 50 Jahre in ihr gelebt und ist bei derselben Meinung von den Menschen geblieben, die er vor dreißig Jahren hatte. Glückliche Ahnungslosigkeit. Aber er ist doch sehr enttäuscht, von ihr. Das ist, glaube ich, unser gemeinsames Los.“

Im November dieses Jahres (1838) kam A. E. Riesenkampf, der in Reval Michail Michailowitsch kennen gelernt hatte, nach Petersburg, um hier in die Medizinisch-Chirurgische Akademie einzutreten. Michail Michailowitsch hatte ihn gebeten, seinem Bruder einen Brief zu überbringen. Bei dieser Gelegenheit lernte Riesenkampf Fjodor Michailowitsch kennen. Das Folgende entnehmen wir seinen Aufzeichnungen über seine Bekanntschaft mit F. M. Dostojewski.

„Im Empfangssaal des Ingenieur-Palais verbrachten wir damals (bei der ersten Begegnung) einige unvergeßliche Stunden. Dostojewski trug mir mit dem ihm eigenen hinreißenden Temperament Puschkins ‚Ägyptische Nächte‘ vor, Shukowskis ‚Baron von Smalholm‘ u. a., erzählte mir von seinen eigenen literarischen Versuchen, und bedauerte nur, daß die im Institut eingeführte strenge Zucht ihm nicht erlaubte, auszugehen. Doch mich hinderte nichts, ihn an den Sonntagvormittagen zu besuchen. Außerdem trafen wir uns an den Freitagen in der Turnanstalt des Schweden de Ron, die sich in einem der Pavillons des Ingenieurpalais befand.“

Das Äußere Fjodor Michailowitschs schildert Dr. Riesenkampf folgendermaßen:

„... ziemlich rundlich, blond, mit einem rundlichen Gesicht und einer etwas aufgestülpten Nase ... Seine hellkastanienfarbenen Haare waren kurz geschoren; unter der hohen Stirn und den undichten Augenbrauen verbargen sich nicht große, ziemlich tiefliegende graue Augen[10]; die Wangen waren blaß und hatten Sommersprossen; die Gesichtsfarbe war krankhaft, erdfarben, die Lippen etwas wulstig. Er war bedeutend lebhafter, beweglicher, hitziger als sein gemessener Bruder ... Er liebte die Poesie leidenschaftlich, aber er selbst schrieb nur in Prosa, da er zur Durchbildung der Form keine Geduld hatte ... Die Gedanken entstanden in seinem Kopf gleich den Spritzern in einem Wasserstrudel ... Sein angeborener wundervoller Vortrag überschritt oft die Grenzen der künstlerischen Selbstbeherrschung.“

Über die Zeit, die Fjodor Michailowitsch in der Ingenieurschule verbrachte (1838–1841), hat uns A. I. Ssaweljeff, der in diesen Jahren als Offizier vom Dienst die Zöglinge des Instituts täglich zu beobachten Gelegenheit hatte, seine ausführlichen Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt.

„Im Jahre 1838,“ so berichtet A. I. Ssaweljeff, „bildete die sogenannte Konduktorenkompagnie der Ingenieurschule ihrer inneren Einrichtung nach durchaus eine Welt für sich. Es war das eine Korporation junger Leute von 14 bis 18 Jahren und darüber, die ihre eigenen Überlieferungen, Regeln und Sitten hatte. Die jungen Leute galten als im Militärdienst stehend und hatten bei ihrem Eintritt den Treueid zu leisten. Die Mehrzahl von ihnen hatte im Elternhause eine gute Erziehung erhalten, einzelne besaßen sogar schon Hochschulbildung. Jedenfalls beobachteten sie durchaus die Formen der guten Gesellschaft, liebten das Institut und waren stolz auf den Titel Konduktor – manche bisweilen allerdings in einem Grade, der die Grenze der Schicklichkeit wie die der Vernunft überstieg.

„In dieser kleinen Welt für sich hielt man ganz besonders auf Anstand, Ehre, Uneigennützigkeit, Achtung der Persönlichkeit und andere Eigenschaften eines Menschen, der sich seiner moralischen Rechte und Pflichten bewußt ist ...“

Die Schilderung des Verhältnisses zwischen den höheren und niedrigeren Klassen – die Jüngeren waren den Älteren unbedingten Gehorsam schuldig – schließt A. I. Ssaweljeff mit der Bemerkung, daß Dostojewski im ersten Jahre wohl gleichfalls die unangenehme Seite dieses Verhältnisses kennen gelernt habe, da mit keinem Neuling eine Ausnahme gemacht wurde.

„... Ich hatte oft Gelegenheit,“ berichtet er, „F. M. Dostojewski zu beobachten. Wenn er nicht allein war, so war er mit keinem anderen zusammen als mit dem Konduktor der höheren Klasse Iwan Bereshetzki. Ich habe nie gesehen, daß diese beiden jungen Leute an den Lieblingsspielen der Kameraden teilnahmen, oder gar an deren Streichen. In die Tanzstunde gingen sie nie ... Häufig blieben sie unter dem Vorwande, sich nicht wohl zu fühlen, entweder beim Tischchen am Bett sitzen und lasen, oder sie spazierten zusammen durch die Schlafräume. Dabei gehörte Bereshetzki, der ein Jahr früher eingetreten war, schon zu den ‚Alten‘. Überdies war sowohl zwischen ihren Charakteren wie zwischen ihrer häuslichen Erziehung ein großer Unterschied: Bereshetzki galt für wohlhabend, verfügte über reiche Mittel, hatte ein gesellschaftlich geschultes Auftreten, gab viel auf gewählte Kleidung, und besonders auffallend war seine Liebenswürdigkeit im Verkehr mit anderen. F. M. Dostojewski dagegen war der Sohn eines armen Stabsmedicus, ein Jüngling mit guter wissenschaftlicher Bildung, mit einem festen Charakter und dem Gefühl der eigenen Würde. Er hielt sich sehr fern von den Vorgesetzten und den älteren Kameraden, scheute jedoch keineswegs jene, die ihn, obschon sie seine Vorgesetzten waren, nicht ihre Macht über ihn und seinesgleichen fühlen ließen, und besonders freundlich war er zu jenen, die ihrer Stellung gemäß im Institut weder etwas zu sagen hatten, noch unter jemandes Schutz standen. Nach den Äußerungen einzelner seiner Kameraden erschien ihnen Fjodor Michailowitsch als Mystiker oder Idealist. Er fügte sich ohne zu murren allen Anforderungen des militärischen Dienstes, obwohl er gar keine Neigung dazu hatte. Von Natur eigenartig, doch nicht eigenwillig, gehörte er zu jenen seltenen Menschen, die sich mit den Gedanken und Handlungen der Gesellschaft, falls diese ihren eigenen Überzeugungen widersprechen, nicht leicht aussöhnen. Menschen dieses Schlages sind durch nichts unterzukriegen, selbst wenn ihnen ihre Hartnäckigkeit noch so teuer zu stehen kommt.“

Im Anschluß an diese Ausführungen A. I. Ssaweljeffs sei hier ein Auszug aus einem Brief Fjodor Michailowitschs an seinen Bruder angeführt.

In diesem Brief (vom 1. Januar 1840) schreibt er außer von seinem Freunde Schidlowski[11] noch von einem anderen Freunde: „Ich hatte damals an meiner Seite einen Freund, einen Menschen, den ich so liebte.“ Mit diesem Freunde dürfte jener Bereshetzki gemeint sein, den Ssaweljeff in seinen Aufzeichnungen erwähnt. „Du schriebst mir, Bruder,“ fährt Fjodor Michailowitsch in seinem Briefe fort, „ich hätte Schiller nicht gelesen. Du irrst! Ich habe ihn auswendig gelernt, habe in seiner Sprache gesprochen und in seinen Bildern geträumt; ich glaube, es war wohl ein besonders gütiges Geschick, das mir die Bekanntschaft mit diesem großen Dichter gerade zu jenem Zeitpunkt meines Lebens verschaffte; nie hätte ich Schiller besser kennen lernen können, als gerade in jenen Tagen. Während ich mit ihm“ – gemeint ist offenbar Bereshetzki – „Schiller las, prüfte ich an ihm den edlen, feurigen Don Carlos nach, den Marquis Posa und Mortimer. Diese Freundschaft hat mir viel sowohl Leid wie Genuß gebracht! Jetzt will ich ewig davon schweigen; doch der Name Schiller ist mir seitdem etwas Verwandtes, ist nun gleichsam ein Zauberton, der so viele Träume wachruft; sie sind bitter, Bruder. Nur aus diesem Grunde habe ich in meinen Briefen von Schiller, von den Eindrücken, die er auf mich gemacht hat, nie gesprochen; ich fühle Schmerz, wenn ich nur den Namen Schiller höre.“ In demselben Briefe ist auch ihr Vormund erwähnt. Inzwischen, 1839, war nämlich ihr Vater, Michail Andrejewitsch Dostojewski, gestorben, und zum Vormund der Kinder war der Mann der ältesten Tochter, Herr Karepin, gewählt worden. Der Tod des Vaters wird natürlich einen besonderen Briefwechsel zwischen den Brüdern veranlaßt haben, doch leider ist von ihren Briefen zwischen dem 31. Oktober 1838 und 1. Januar 1840 kein einziger erhalten ... Was jedoch die vorliegenden Briefe betrifft, so wird wohl niemand bestreiten können, daß sie von einer großen literarischen Belesenheit und einer Bildung zeugen, wie sie nicht jeder besitzt, der ein Universitätsstudium beendet hat.

Es ist nicht anzunehmen, daß in dem Freundschaftsverhältnis zwischen Bereshetzki und Dostojewski ersterer den „Beschützer“ gespielt hat, da er zu den „Alten“ gehörte. Bereshetzki hatte gar keinen Einfluß auf die übrigen Kameraden, und Dostojewski wurde als „Sonderling“ bald von allen in Ruhe gelassen. Ja, wie A. I. Ssaweljeff berichtet, hat Bereshetzki selbst unter dem Einfluß Dostojewskis gestanden, hat sich nach ihm gerichtet und ihm gehorcht, wie ein ergebener Schüler seinem Lehrer.

„Im Jahre 1840 wurde Bereshetzki zum Leutnant befördert und kam in die untere Offiziersklasse (jetzt Ingenieurakademie), Dostojewski aber verblieb in der Konduktorenkompagnie und wurde in die höhere Klasse versetzt. Auch da schloß er sich keiner der Parteien an und blieb nach wie vor der unerschütterliche und schweigsame Jüngling, der von den Kameraden nie zu einer Beteiligung an gleichviel welch einer ‚gemeinsamen Sache‘ zu bewegen war. Vielleicht hatte er unter den Kameraden auch Feinde, denen gerade das an ihm nicht gefallen mochte, daß er sich so ferne von ihnen hielt und sich immer nur seiner Phantasie hingab. Auch während dieses Jahres in der höheren Klasse sah man ihn gewöhnlich allein – entweder an seinem Tischchen sitzend, lesend oder sonstwie beschäftigt, oder man sah ihn durch die Räume schlendern, immer mit gesenktem Kopfe, die Hände auf dem Rücken.“

Ende des Jahres 1840 sahen sich die Brüder in Petersburg, wohin der ältere gekommen war, um sein Examen abzulegen, worauf er im Januar 1841 zum Fähnrich der Feldingenieure befördert wurde. Am Abend vor seiner Rückreise nach Reval (am 17. Februar) lud Michail Michailowitsch, wie Dr. Riesenkampf berichtet, seine Freunde zu einem Abschiedsfest ein. Natürlich war auch Fjodor Michailowitsch zugegen, und er las Abschnitte aus seinen zwei dramatischen Entwürfen vor (zu denen ihn offenbar die Lektüre von Schiller und Puschkin inspiriert hatte). Die Dramen hießen „Maria Stuart“ und „Boris Godunoff“. Mit dem ersteren Stoffe hat sich Fjodor Michailowitsch, wie Dr. Riesenkampf bezeugt, auch noch im Jahre 1842 eifrig befaßt, als die deutsche Tragödin Lilly Loewe in der Rolle der Maria Stuart einen starken Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er wollte dieses tragische Thema, zu dem er eine neue Anregung durch die Schauspielerin empfangen haben mag, nach seiner Auffassung bearbeiten, weshalb er sich zunächst an ein sorgfältiges Lesen der historischen Quellen machte. Wo diese Entwürfe schließlich geblieben sind, ist unbekannt.

In einem Briefe vom 27. Februar 1841 kommt Fjodor Michailowitsch auf die Absicht des Bruders zu sprechen, nach seiner Beförderung zum Offizier die Revalenserin Fräulein Emilie Dietmar zu heiraten. Diese Wahl sagte jedoch dem Vormunde der Brüder, dem Generalleutnant Kriwopischin (jener Verwandte, auf den der alte Dostojewski so sehr gehofft hatte), keineswegs zu, und er weigerte sich wegen dieses Ungehorsams, dem älteren Bruder die jedem von ihnen nach der Beförderung zum Offizier jährlich zustehenden 4000 Papierrubel auszuzahlen. In diesem Brief klagt Fjodor Michailowitsch über das viele Lernen: „Ich sitze auch an den Feiertagen über den Büchern, und dabei ist es schon bald März, – draußen Frühling, es taut, die Sonne ist wärmer, heller, es weht von Süden – eine wahre Wonne! Doch was hilft’s! Es ist auch nicht mehr viel zu lernen.“ Der Schluß des Briefes zeugt von glühender Ungeduld: „schneller zum Ziel, schneller in die Freiheit! Freiheit und Beruf sind eine große Sache. Mir träumt davon, und ich träume davon wieder wie früher, ich weiß nicht wann. Es weitet einem gleichsam die Seele und läßt uns die ganze Größe des Lebens erfassen.“


Kehren wir jetzt zu den Erinnerungen A. I. Ssaweljeffs an diese Zeit zurück.

„Im Jahre 1841 stand Fjodor Michailowitsch bereits im letzten Semester. Wie früher war er nachdenklich, ja, fast kann man sagen, griesgrämig, verschlossen – so schloß er sich selten einem seiner Kameraden an, wenn er sie auch nicht gerade mied, ja ihnen sogar oft seine Nachschriften lieh, die er während der Vorlesungen machte; auch kam es häufig vor, daß er ihnen die russischen Aufsätze schrieb. Doch nie sah man ihn müßig oder lustig. Der von ihm bevorzugte Arbeitsplatz war die Fensternische des runden Schlafzimmers, der sogenannten Rotunde: es war das ein Eckzimmer, dessen Fenster auf den Fontankakanal hinausgingen. Auf diesem von den anderen Tischen abgesonderten Platze konnte man F. M. Dostojewski beständig sitzen und mit irgend etwas beschäftigt sehen; manchmal nahm er offenbar nichts von alledem wahr, was um ihn herum geschah. Zu gewissen Stunden stellten sich seine Kameraden in Reih’ und Glied auf, z. B. wenn sie sich zum Essen begaben, und gingen durch das runde Eckzimmer in den Speisesaal, um dann mit Lärm in den Erholungsraum zurückzuströmen, oder zum Gebet in den Saal, oder um sich in die Schlafsäle zu verteilen. Dostojewski räumte immer erst dann seine Bücher und Hefte in das Schubfach des Tischchens, wenn der Trommler, der die Abendtrommel schlug, ihn bei seinem Gang durch die Räume zur Beendigung seiner Beschäftigung nötigte. Es kam aber auch vor, daß man Dostojewski in tiefer Nacht an demselben Tischchen bei der Arbeit antraf. Er saß dann im Hemd, die Bettdecke umgenommen, und spürte offenbar gar nicht, daß es dort am Fenster entsetzlich zog. Auf meine Bemerkung, daß es doch wohl gesünder sei, früher aufzustehen und sich angekleidet mit seiner Arbeit zu beschäftigen, gab er mir freundlich recht, räumte seine Hefte weg und ging anscheinend zu Bett; doch nach einer Weile konnte man ihn schon wieder, und wieder in demselben Aufzuge, an seinem Tischchen bei der Arbeit sehen. Der Angewohnheit, in der Nacht zu arbeiten, ist Dostojewski sein Leben lang treu geblieben ... Vierzig Jahre später, als wir bei einem Wiedersehen auf seine nächtlichen schriftlichen Arbeiten zu sprechen kamen – und im besonderen darauf, daß ich ihn so manches Mal dabei gestört hatte –, sagte er mir, er habe damals tatsächlich an seinem ersten Roman ‚Arme Leute‘ geschrieben, der bereits vor seinem Eintritt in die Anstalt angefangen worden sei.

„Wenn ich die Wache hatte, unterhielt ich mich gern mit denjenigen unter den jungen Leuten, deren Zuneigung ich besaß. Aber ich muß gestehen, keine einzige dieser Plaudereien hat einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, wie meine Unterhaltungen mit Dostojewski. Er sprach immer leise, langsam, mit Pausen, und zwar tat er das aus anscheinend physischen Gründen – vielleicht infolge einer organischen Eigenart seines Brustbaues oder seiner Atmungsorgane,“ (es sei hier an die plötzliche Heiserkeit erinnert, von der sein Bruder Andrei berichtet) „und keineswegs etwa deshalb, weil er sich rhetorisch schön, gewählt und überzeugend ausdrücken wollte. Auch die einfachste Erinnerung aus seiner Kindheit, wie irgend eine unwichtige geschichtliche Begebenheit wurden von ihm langsam, doch vorzüglich wiedergegeben, eben mit dieser besonderen ihm eigenen Beseelung. Ich glaube, er war sich auch selbst bewußt, welch einen Eindruck seine Erzählungen auf den Zuhörer machten, und sprach deshalb gerne von allem mit dem gleichen gefangennehmenden Zauber, – obschon nicht selten in seinen Worten eine gewisse Galle zu bemerken war, aber dafür lag in Dostojewskis Erzählungen ebensoviel Wärme wie Wahrheit.

„Der Ort unserer Unterhaltungen war größtenteils das sogenannte Dujour-Zimmer, dessen Fenster auf den kleinen Hof gingen: Der Dienstraum des wachthabenden Offiziers. Ich muß bemerken, daß sich damals über die Vorgeschichte des Ingenieur-Palais (des ehemaligen Michail-Palais) noch manches Interessante als mündliche Überlieferung erhalten hatte. Dieses Palais war denn auch oft der Gegenstand meiner Unterhaltung mit Dostojewski, in dessen Erinnerung sich die historische Topographie des Gebäudes, dessen Architektur ihm sehr gefiel, mit aller Deutlichkeit erhielt[12]: so daß er wußte, wo früher der Thronsaal gewesen war, wo sich eine geheime Wendeltreppe befand, oder ein längst vermauerter Gang zu einer Tür unten am Kanal, auf dem einst an dieser Stelle ein Boot befestigt war ...

„Doch am häufigsten unterhielten wir uns über das Gegenwärtige, über das Leben in der Schule, den sogenannten Geist der Anstalt, das Erziehungssystem und Ähnliches. War doch dieses ausschließlich militärische System, dieses rauhe Verhalten der älteren Schüler zu den jüngeren, die Strenge der Vorgesetzten – bei völliger Ausschaltung eines zusammenfassenden Verfahrens in der Beurteilung der allgemeinen Werte eines Schülers – der Hauptgrund jenes geheimen Mißtrauens, ja Hasses der Schüler gegen ihre Lehrer, der jede Beziehung zwischen ihnen zerstörte. Bei Dostojewski konnten es schließlich noch andere, mir unbekannte Umstände oder Lebenserfahrungen gewesen sein, die jedes Zutrauen zu den Menschen in ihm vernichteten – all das lastete wohl schwer auf der Seele des äußerst feinfühligen Jünglings, der in den Menschen vor allem Barmherzigkeit und Rechtlichkeit suchte ... Nichtsdestoweniger erinnerte er sich gerne jener Zeit in der Anstalt und jener ehemaligen Lehrer, deren Namen von allen mit Dankbarkeit genannt werden, – tat es selbst dann noch, als in seiner Stimme schon der Ton des scheidenden Menschen mitklang: in seinen Augen erschien dann plötzlich der frühere Glanz, wenn auch nur auf eine kurze Zeit.“

Jedenfalls dürfte man nach richtiger Abschätzung alles Guten und alles Bösen, das Dostojewski in der Ingenieurschule erlebte, wohl kaum jener Auffassung zustimmen können, nach der die Worte des Helden der „Aufzeichnungen aus dem Dunkel der Großstadt“ („Fluch dieser Schule, diesen schrecklichen Sträflingsjahren!“ usw.) sich unmittelbar auf Dostojewskis persönliche Erinnerung an seine in der Ingenieurschule verbrachten Jahre beziehen sollen. Und dasselbe ließe sich wohl auch von den Äußerungen dieses Helden über seine Mitschüler sagen; – ausgenommen vielleicht die eine Schilderung des lebensklugen Strebens der Mitschüler nach Erfolg und „Laufbahn“, – und im Gegensatz dazu die eigene schweigsame Einsamkeit mitten unter ihnen ... Im übrigen ist der Held des „Dunkel“ doch in nur sehr geringem Grade Dostojewski selbst ähnlich.

Am 5. August 1841 wurde er zum Fähnrich ernannt, mit Belassung in der Anstalt, um den Offizierskursus zu vollenden. In einem Briefe vom 22. Dezember 1841 schreibt er an den Bruder, der trotz seiner schwierigen Vermögenslage im Begriff steht, zu heiraten: „Lieber, mein Lieber! Wenn du wüßtest, wie glücklich es mich macht, Dir wenigstens ein wenig helfen zu können. Mit welcher Wonne schicke ich Dir diese Kleinigkeit[13], die Dir vielleicht etwas Ruhe geben kann. Es ist wenig, ich weiß. Aber was soll ich tun, wenn ich mehr, bei Gott, Bruder, wirklich nicht schicken kann ... Ich habe ja noch Andrjuscha bei mir und habe für ihn zu sorgen; nach Moskau zu schreiben geht aber so bald nicht an – die denken sonst Gott weiß was[14] ...“ Weiter spricht er von angestrengtem Lernen – „man will doch nicht seine Reputation verlieren und so paukt man denn, zwar mit Ekel, aber man paukt ... Andrjuscha ist krank, ich selbst bin äußerst zerrüttet ... Daß ich ihn zum Examen vorbereiten muß, daß er überhaupt bei mir lebt[15], bei mir, der ich frei sein, allein sein, unabhängig sein will, ist für mich unerträglich. Mit nichts kann man sich beschäftigen, mit nichts zerstreuen“ ...

Aus diesem Briefe geht hervor, daß Fjodor Michailowitsch damals bereits in einer eigenen Wohnung lebte und von dort aus die Vorlesungen der Offiziersklassen besuchte, mit denen das erwähnte Lernenmüssen in Zusammenhang steht. Seine wirtschaftliche Lage hätte gut sein können, denn sein Vormund schickte ihm, in auffallendem Gegensatz zu seinem Verhalten dem älteren Bruder gegenüber, seit seiner Beförderung zum Offizier stets pünktlich die ihm zukommende Summe.

Nach den Aussagen Dr. Riesenkampfs erhielt Dostojewski damals, sein Gehalt mitgerechnet, gegen 5000 Rubel im Jahre. Doch da er fürs Praktische äußerst wenig Sinn hatte, war er meist ohne Geld. Er begann seine eigene Wirtschaft damit, daß er sich in der Wladimirstraße im Hause des Postdirektors Prjänischnikoff eine große Wohnung für 1200 Rubel mietete, bloß weil der Besitzer ihm gefiel. In dieser großen Wohnung aber gab es dafür an Möbeln nur einen alten Diwan, einen Schreibtisch und ein paar Stühle. Übrigens gefiel ihm auch der gutmütige Gesichtsausdruck seines Burschen Ssemjon so sehr, daß er trotz aller Warnungen vor dessen langen Fingern seelenruhig immer nur antwortete: „Mag er doch stehlen; davon werde ich schon nicht bankrott werden.“ Aber schließlich war dies doch der Fall und Dostojewski geriet buchstäblich in Schulden. Infolgedessen sah er sich gezwungen, seine Neigung zur Literatur zu verwerten, und das tat er denn auch, mit prosaischer Berechnung des Verdienstes, zum Teil in gemeinsamer Arbeit mit seinem Bruder.

Nachdem Dostojewski am 11. August 1842 nach bestandener Prüfung zum Unterleutnant befördert worden war, wurde er im folgenden Jahre, am 12. August 1843, nach Beendung des ganzen wissenschaftlichen Lehrplanes in der oberen Offiziersklasse, zum aktiven Dienst im Ingenieurkorps des Petersburger Ingenieurkommandos abkommandiert und der Abteilung für Zeichner im Ingenieur-Departement zugeteilt.

Aber der Widerspruch zwischen der Pflicht, zeichnen zu müssen, und dem Drang, schriftstellerisch tätig zu sein, begann sich alsbald geltend zu machen.

Der Anfang seiner literarischen Tätigkeit.

Von dem Briefwechsel zwischen Fjodor Michailowitsch und seinem älteren Bruder sind leider gerade die Briefe aus den ersten Jahren seines freien Lebens außerhalb der Anstalt verloren gegangen. Doch diese Lücke wird zum Teil durch die um so wertvolleren Aufzeichnungen des Arztes Dr. A. E. Riesenkampf ausgefüllt.

Nachdem Dr. Riesenkampf im Juli 1842 mit dem älteren Dostojewski in Reval wieder zusammengewesen war, begann er im Herbst, nach seiner Rückkehr nach Petersburg, den jüngeren Bruder, über dessen wenig günstige wirtschaftliche Lage er von Michail Michailowitsch schon zur Genüge gehört hatte, häufiger zu besuchen. Er stellte fest, daß von der ganzen großen Wohnung, die F. M. Dostojewski gemietet hatte, tatsächlich nur das Arbeitszimmer geheizt wurde. Auf Vergnügungen hatte Fjodor Michailowitsch bereits vollkommen verzichtet, nachdem er 1841 und zu Anfang des Jahres 1842 nicht wenig für das zu der Zeit glänzende Alexandertheater ausgegeben hatte, zum Teil auch für das Ballett, das er damals aus irgend einem Grunde liebte, und für teure Konzerte solcher Berühmtheiten, wie Ole Bull und Franz Liszt u. a. Jetzt jedoch (im Herbst 1842) saß er tagaus tagein, nach dem Besuch der Offiziersklassen am Vormittage, eingeschlossen in seinem Arbeitszimmer und beschäftigte sich nur mit Literatur. Seine Gesichtsfarbe war fahl; ein trockener Husten quälte ihn beständig, besonders am Morgen; an seiner Stimme fiel die ständige starke Heiserkeit auf; zu diesen Krankheitszeichen gesellten sich dann noch geschwollene Halsdrüsen. Doch all dies wurde von Dostojewski hartnäckig verheimlicht oder abgeleugnet, und selbst dem Arzt und Freunde Riesenkampf gelang es nur mit Mühe, ihm wenigstens einige Mittel gegen den Husten aufzudrängen und ihn dazu zu bewegen, doch ein wenig mäßiger zu rauchen. Von seinen Freunden besuchte ihn damals des öfteren nur D. W. Grigorowitsch[16], der in vieler Beziehung sein größter Gegensatz war.

„Jung, gewandt, eine schöne Erscheinung,“ so schildert ihn Dr. Riesenkampf, „elegant, hübsch und geistreich, der Sohn eines reichen Husarenobersten, dessen Frau eine französische Aristokratin war, Freund des Leutnants Todleben, der schon damals die Anlagen zu seinen späteren Leistungen verriet, Freund berühmter Künstler, Liebling und Verehrer des schönen Geschlechts, der sich nur in den besten Kreisen der Petersburger Gesellschaft bewegte – dieser Grigorowitsch also hatte sich aus Leidenschaft zur Literatur dem menschenscheuen Dostojewski angeschlossen, der wie ein Einsiedler lebte.“ Nach Dr. Riesenkampf hat Grigorowitsch damals ein französisches Drama, das in China spielte, übersetzt, Dostojewski aber hat sich, nachdem er die Fortsetzung seiner „Maria Stuart“ aufgegeben, mit Eifer an seinen „Boris Godunoff“ gemacht, der freilich gleichfalls nie beendet worden ist. Außerdem beschäftigten ihn schon damals verschiedene Novellen und Erzählungen, Pläne, die sich in seiner fruchtbaren Phantasie nur so drängten und einander ablösten. Diese Fruchtbarkeit der Phantasie wurde bei Dostojewski durch unausgesetzte Lektüre natürlich noch mehr angeregt und aufs äußerste gesteigert. (Dr. Riesenkampf hat übrigens nie etwas davon gehört, daß Dostojewski angeblich schon in der Ingenieurschule an seinen „Armen Leuten“ gearbeitet habe.) Von russischen Schriftstellern las Dostojewski damals mit besonderer Vorliebe Gogol, aus dessen „Toten Seelen“ er gern ganze Seiten auswendig vortrug. Von französischen Schriftstellern las er, außer Balzac, George Sand und Victor Hugo, die er schon früher besonders gern gelesen hatte, nach Dr. Riesenkampf: Lamartine, Frédéric Soulié (dessen „Mémoires du diable[1] er besonders liebte), ferner Emile Souvestre und hin und wieder sogar Paul de Kock. So ist es wohl zu verstehen, daß Dostojewski, bei seiner stetig wachsenden Neigung zur Literatur, den Besuch der Offiziersklassen als Last empfinden mußte. Er hätte sich von dieser Fessel wohl schon viel früher befreit, wenn sein Vormund nicht gedroht hätte, ihm in dem Falle die Rente nicht mehr auszuzahlen – Dostojewski aber befand sich fortwährend in Geldnot.

Zur Zeit der großen Fasten im Jahre 1842 war, wie Dr. Riesenkampf noch zu berichten weiß, wieder ein Geldzufluß bei Dostojewski bemerkbar, und er gönnte sich Erholung von der Arbeit durch den Besuch von Konzerten (Liszt, Rubini u. a.). Nach Ostern traf ihn Dr. Riesenkampf in einer Aufführung von Puschkins „Ruslan und Ludmila“. Doch schon im Mai versagte er sich wieder alle Vergnügungen, um sich nun zur letzten Prüfung – vom 20. Mai bis zum 20. Juni – vorzubereiten. In derselben Zeit hatte auch Dr. Riesenkampf sein Schlußexamen zu bestehen, erkrankte aber, infolge von Überanstrengung, und mußte noch am 30. Juni das Bett hüten. An diesem Tage erscheint nun plötzlich Dostojewski bei ihm, in einer Weise verändert, daß er kaum wiederzuerkennen ist. Heiter, gesund aussehend, zufrieden mit dem Schicksal, – so teilt er ihm mit, daß er das Examen bestanden hat und aus dem Institut mit dem Range eines Leutnants entlassen worden ist (als Feldingenieur), ferner daß er vom Vormund eine Summe erhalten habe, die es ihm möglich gemacht, alle seine Schulden zu bezahlen, und schließlich, daß er einen Urlaub auf 28 Tage in der Tasche trage, den er bei seinem Bruder in Reval verbringen werde, wohin er am nächsten Tage reisen wolle. Dann zog er den Freund mit Gewalt aus dem Bett, setzte ihn in eine Droschke und fuhr mit ihm ins Restaurant Lerch am Newski-Prospekt. Dort verlangte er ein Zimmer mit einem Klavier, bestellte ein großartiges Mittagessen mit Weinen und zwang den Kranken zum Mitessen und Mittrinken. Wie unmöglich das diesem zu Anfang auch erschien: das Beispiel Dostojewskis wirkte so ansteckend, daß er schließlich mit Vergnügen aß, sich dann an den Flügel setzte und – gesund war.

Am folgenden Tage begleitete er ihn zum Dampfschiff, und drei Wochen später fuhr er selbst nach Reval, wo er ihn, in der Familie seines Bruders seine Freiheit genießend, antraf. Inzwischen war Dostojewski auch mit der Revalenser Gesellschaft in Berührung gekommen und die hatte, wie Dr. Riesenkampf berichtet, „mit ihrem überlieferten Kastengeist, ihrer Scheinheiligkeit, ihrem Nepotismus und Pietismus, der noch durch die fanatischen Predigten des damaligen Modepastors, des Herrnhuters Hunn, geschürt wurde, sowie durch ihre Unduldsamkeit besonders dem russischen Militär gegenüber“ auf Dostojewski einen überaus schlechten Eindruck gemacht. Dieser Eindruck ist ihm für sein ganzes späteres Leben geblieben. Damals fühlte er sich hierdurch um so mehr enttäuscht, als er mit der Erwartung hingekommen war, in dieser so gepflegten Gesellschaft gesunde Anzeichen von Kultur zu finden. „Nur mit Mühe konnte ich ihm klar machen,“ erzählt Dr. Riesenkampf, „daß all dies ein rein örtliches Kolorit war und eben nur die Revalenser kennzeichnete ... Doch bei seiner Neigung zur Verallgemeinerung blieb in ihm seitdem ein gewisses Vorurteil gegen alles Deutsche.“

Michail Michailowitsch hatte inzwischen mit Hilfe seiner Frau den Bruder mit Wäsche und Kleidern, die in Reval so billig waren, vollkommen ausgestattet. Doch da er wußte, daß sein Bruder niemals auch nur ahnte, was und wieviel er eigentlich besaß, bat er den Freund Riesenkampf, in Petersburg doch mit Fjodor Michailowitsch zusammen zu wohnen und dann nach Möglichkeit mit seinem Beispiel deutscher Ordnungsliebe auf den Bruder einzuwirken. Das versuchte Riesenkampf denn auch, nachdem er im September 1843 nach Petersburg zurückgekehrt war. Dostojewski saß, als Riesenkampf ihn dort aufsuchte, ohne eine Kopeke zu Hause und lebte nur von Milch und Brot, die er auf Borg aus dem nächsten kleinen Laden bekam. „Fjodor Michailowitsch,“ bemerkt Dr. Riesenkampf, „gehörte zu jenen Menschen, mit denen zu leben für alle angenehm ist, die aber selbst beständig in Not sind. Er wurde jämmerlich bestohlen, doch bei seiner Vertrauensseligkeit und Güte wollte er sich das nicht eingestehen oder gar die Dienstboten und deren Krippenreiter, die seine Arglosigkeit mißbrauchten, des Diebstahls überführen“. So kam es, daß selbst das Zusammenleben mit dem Doktor für Dostojewski dauernd Veranlassung zu neuen Ausgaben wurde, denn er war bereit, jeden Armen, der um ärztlichen Rat zum Doktor kam, wie einen teuren Gast zu empfangen. „Da ich mich daran mache, das Leben der armen Menschen zu schildern,“ pflegte er dann, gleichsam zu seiner Rechtfertigung, zu sagen, „so freue ich mich der Gelegenheit, das Proletariat der Großstadt näher kennen zu lernen“. Doch die riesigen Rechnungen, die am Ende des Monats selbst ein einzelner Bäcker schickte, standen, wie sich bei einer Untersuchung herausstellte, weniger mit der erwähnten Gastfreundschaft Fjodor Michailowitschs in Zusammenhang, als mit seinem Bedienten Ssemjon, der innige Beziehungen zur Wäscherin unterhielt und nicht nur diese, sondern auch deren ganze Familie und sogar ihren Freundeskreis auf Rechnung seines Herrn versorgte. Auf ähnliche Weise erklärte sich bald auch die schnelle Abnahme des Wäschebestandes, der übrigens alle drei Monate von Dostojewski ergänzt wurde, nämlich jedesmal, wenn er das Geld aus Moskau erhielt. Und sein Ssemjon war nicht der einzige, der sein Vertrauen so mißbrauchte. Dasselbe taten auch der Schneider, der Schuster, der Barbier usw.; und ebenso mußte man ihn zu der ernüchternden Erkenntnis bringen, daß durchaus nicht alle von ihm bewirteten Patienten Dr. Riesenkampfs eine solche Teilnahme verdienten.

Seine völlige Geldlosigkeit dauerte damals gegen zwei Monate. Da, eines Tages, begann er plötzlich ganz anders in seinem Saal umherzugehen: laut, selbstbewußt, beinahe stolz. Er hatte aus Moskau 1000 Rubel erhalten. „Doch schon am nächsten Morgen,“ erzählt Dr. Riesenkampf, „kam er wieder in seiner leisen, schüchternen Art in mein Schlafzimmer und bat mich, ihm 5 Rubel zu leihen.“ Der größte Teil der erhaltenen 1000 Rubel war zur Tilgung der Schulden draufgegangen, das übrige hatte er zum Teil verspielt, und die letzten 50 Rubel waren ihm dann noch gestohlen worden: von einem unbekannten Spielpartner, den er – als bemerkenswertes Subjekt für seine Beobachtungen – am Abend zu sich eingeladen und einen Augenblick im Zimmer allein gelassen hatte.

Ein besonderes Interesse hatte er, aus dem gleichen Grunde, namentlich für einen der Patienten des Doktors: für den Bruder des Klavierlehrers Keller. Es war das ein kleiner, unruhiger, schmeichlerischer, ziemlich heruntergekommener Deutscher, von Beruf Agent, doch in Wirklichkeit eigentlich nur ein Schmarotzer. Nachdem dieser Keller nun die arglose Gastfreundschaft Dostojewskis sozusagen entdeckt hatte, wurde er für eine Zeitlang sein täglicher Gast: er kam zum Tee, blieb zum Mittagessen, blieb zum Abend, und Dostojewski hörte geduldig seine Erzählungen von dem Petersburger Großstadtproletariat an. Oft schrieb er sich das Gehörte auf, und wie Dr. Riesenkampf später feststellen konnte, spiegelte sich manches aus diesem ursprünglich von Keller stammenden Material in den Romanen „Arme Leute“, „Der Doppelgänger“, „Njetotschka Neswanowa“ u. a. wieder.

Im Dezember 1843 war Dostojewski abermals ganz mittellos. Am 1. Februar 1844 erhielt er aus Moskau wieder 1000 Rubel, doch schon am Abend desselben Tages besaß er nur noch 100 Rubel und dieses Hundert wanderte noch vor der Nacht in die Tasche eines gewandten Spielers, der ihm ein angeblich „ganz unschuldiges, ehrliches Spiel“ (es handelte sich um Domino) hatte beibringen wollen. Am folgenden Tage begann dann von neuem das Geldborgen, oft gegen die ungeheuerlichsten Prozente. Im März dieses Jahres mußte Riesenkampf Petersburg verlassen – ohne daß es ihm gelungen war, Dostojewski deutsche Genauigkeit und etwas mehr Wirklichkeitssinn anzugewöhnen.

Vom Jahre 1844 an haben sich wieder Briefe Dostojewskis an den Bruder erhalten. Sie bestätigen nur, was Dr. Riesenkampf berichtet. In einem dieser Briefe ist u. a. die Rede davon, daß er in den Weihnachtsfeiertagen „Eugénie Grandet“ übersetzt habe, und daß die Übersetzung im Selbstverlage erscheinen solle: sein Freund Potton werde 700 Rubel geben, dessen Mutter werde dem Sohn 2000 Rubel (zu 40%!!) leihen und er selbst wolle sich aufs äußerste einschränken, um 500 Rubel beisteuern zu können. Seine Phantasie verheißt ihm einen Gewinn von 4000 Rubel. Doch zum Schluß des Briefes gesteht er, daß er kein Geld – zum Abschreiben der „Eugénie Grandet“ habe; und er bittet den Bruder „um der himmlischen Engel willen“, ihm 35 Rubel zu senden. „Ich schwöre dir beim Olymp,“ so schließt er, „und bei meinem Juden Jankel (im soeben beendeten Drama)[17] und wobei noch? – es sei denn bei dem Schnurrbart, der mir irgend einmal, wie ich hoffe, doch wachsen wird, daß die Hälfte von dem, was ich für die ‚Eugénie‘ bekomme, Dein sein soll“. Doch schon am 14. Februar 1844 schreibt er, daß aus der Sache wohl nichts werde. „Wie leid mir das tut, mein Freund, und wie leid du mir tust. Verzeih, Liebster, auch mir Armen ...“

Dann folgen Briefe, in denen von der Übersetzung des „Don Carlos“ die Rede ist, die der Bruder begonnen hatte, sowie davon, daß er selbst George Sand übersetze und 25 Rubel für den Druckbogen erhalte. Eine Nachschrift am Rande sagt: „Der Dienst ist mir zuwider. Er widersteht mir schon wie Kartoffeln ... Im September komme ich zu euch, wenn ich den Abschied genommen habe.“ Am 30. September 1844 schreibt er, daß er sein Abschiedsgesuch eingereicht habe, „ich nehme den Abschied, weil ich nicht länger dienen kann ... Warum soll ich meine besten Jahre verlieren? Die Hauptsache aber ist, daß man mich in die Provinz abkommandieren wollte; sage doch bitte selbst, was könnte ich ohne Petersburg anfangen? Wozu würde ich noch taugen? Du wirst mich sicher begreifen. Ich werde immer meinen Lebensunterhalt verdienen können,“ fügt er hinzu, wie um etwaigen Einwendungen zuvorzukommen. „Ich werde furchtbar viel arbeiten. Ich bin ja jetzt frei.“ Doch unmittelbar darauf folgt eine Aufzählung seiner Schulden und die Klage, daß man ihm aus Moskau immer nur ein Drittel von der Summe sende, um die er bäte. „Noch weiß niemand,“ schreibt er, „daß ich den Abschied nehme ... Ich habe nicht einmal Geld, um mir Zivilkleider zu kaufen. Ich quittiere den Dienst am 14. Oktober ... Wenn ich nicht sofort Geld aus Moskau bekomme, bin ich verloren. Man wird mich in allem Ernst ins Gefängnis sperren (das ist klar).“ Und er ist bereit, auf seinen Anteil am väterlichen Gut zu verzichten, wenn man ihm sofort 500 Rubel als runde Summe auszahlt und die anderen 500 zu je 100 Rubel im Monat. „Bitte, sage du für mich gut, Liebster, ... daß ich dann keine Forderungen mehr erheben werde.“ Der Brief hat an den Seiten wieder Nachschriften, die sich auf seine Geldnot beziehen, und zum Schluß heißt es: „Chlestakoff[18] war schließlich bereit ins Gefängnis zu gehen, jedoch nur wenn es ‚auf vornehme Weise geschah.‘ Wenn ich aber nicht einmal Hosen haben werde, wird es dann auch noch ‚auf vornehme Weise‘ geschehen können?“ Doch aus seiner beigefügten Anschrift ersehen wir, daß er seine kostspielige große Wohnung noch nicht aufgegeben hat. Eine Nachschrift am Rande lautet: „Ich bin mit meinem Roman außerordentlich zufrieden. Ich bin außer mir vor Freude. Für den Roman werde ich sicher Geld bekommen; was aber weiter kommt ...“

Es handelt sich hier um seine erste Arbeit, den Roman „Arme Leute“. Von nun an ist in seinen Briefen immer wieder von diesem Werke die Rede: wie die Arbeit vorwärts geht, wie er – das schreibt er am 24. März 1845 –, nachdem der Roman im November fertig geworden, ihn im Dezember wieder umgearbeitet, im Februar aber wieder vieles gestrichen und anderes hineingebracht habe ... Doch schon am 4. Mai berichtet er, daß er ihn von neuem umgearbeitet habe – „er hat dadurch, bei Gott, sehr viel gewonnen“. Wir ersehen daraus, wieviel Mühe ihm dieses erste Werk gemacht hat und wie für ihn trotz seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage der künstlerische Wert dieses seines entscheidenden Versuches doch das wichtigste war. Neben derartigen Mitteilungen wiederholen sich immer wieder Erörterungen der Frage, wie und wo und wann es am besten und am vorteilhaftesten wäre, das Erstlingswerk zu veröffentlichen, das ja zugleich sein finanzieller Rettungsanker sein soll. Und zwischen all diesen Sorgen stehen Sätze wie: „... soeben las ich ... von den deutschen Dichtern, die an Hunger, Kälte oder in Irrenhäusern gestorben sind. Es sind im ganzen an die zwanzig und was für Namen sind darunter!“ oder „Wenn mir der Roman nicht gelingt, werde ich mich vielleicht erhängen ...“. In einem anderen Briefe: „Wenn ich den Roman nicht unterbringe, so gehe ich vielleicht in die Newa. Was soll ich denn tun? Ich habe mir schon alles überlegt. Ich werde den Tod meiner idée fixe[2] nicht überleben.“

Über das weitere Schicksal seines Erstlingswerkes – wie er das Manuskript zum erstenmal aus der Hand gab, welchen Eindruck es auf die ersten Leser (den Freund Grigorowitsch und den Dichter Njekrassoff[19]) machte, und wie er seinen ersten Erfolg und die begeisterte Anerkennung des großen Kritikers Bjelinski[20] damals (Mai 1845) erlebte, erzählt Dostojewski selbst 32 Jahre später in den „Erinnerungen“, die er dem Dichter Njekrassoff widmet[21]. Aber auch in dem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ (geschrieben 1860) finden wir im I. Teil (Kap. V, VI, X) und im III. Teil (Kap. V) mehrere autobiographische Stellen. Doch sowohl hier wie dort hat Dostojewski, wo er von der begeisterten Aufnahme seines ersten Werkes spricht, den Leser nicht darauf hingewiesen, daß wenigstens Bjelinski längst nicht das in dem Roman gesehen hat, was der Autor selbst in ihm sah. Und im Grunde hat die ganze damalige Kritik, bei aller Begeisterung, die „Armen Leute“ überhaupt nicht in der ganzen Tiefe ihrer Bedeutung gewertet. Aber Dostojewski hat das damals, wie es scheint, gar nicht bemerkt – oder nicht bemerken wollen –, vielleicht weil er noch zu sehr unter dem lebendigen Eindruck eines Lobes stand, das seinem Ehrgeiz schmeichelte. Sein Ehrgeiz aber meldete sich bereits stark. Natürlich brauchte Dostojewski nach einem so schmeichelhaften Urteil des berühmten Kritikers Bjelinski sich das Geschimpfe, mit dem viele andere über ihn herfielen, nicht weiter zu Herzen zu nehmen, vielmehr konnte er sogar stolz darauf sein. Und das war er denn auch tatsächlich in nicht zu geringem Maße, wie aus seinen weiteren Briefen an den Bruder hervorgeht.

In einem Brief ohne Datum, doch ersichtlich aus dieser Zeit, schreibt er – offenbar nach der Rückkehr von einem Sommeraufenthalt beim Bruder –: „Wie traurig war mir zu Mute, als ich nach Petersburg hineinfuhr ... Wenn mein Leben in diesem Augenblick aufgehört hätte, so wäre ich, scheint mir, mit Freuden gestorben.“ Sein Roman, der als Manuskript so viel Aufsehen erregt hatte, ist noch nicht gedruckt, doch schon schreibt er an seinem „Doppelgänger“, denn seine finanziellen Verhältnisse sind noch äußerst traurig. „Wie schade,“ schreibt er, „daß man arbeiten muß, um leben zu können. Meine Arbeit duldet keinen Zwang.“ Auch am 16. November 1845 ist sein Roman noch immer nicht erschienen, aber seine Stimmung ist nun nicht mehr düster, denn auch ungedruckt hat der Roman seinen Ruhm schon so verbreitet, daß er, wie er schreibt, „ganz berauscht“ ist. „... Man bringt mir überall unglaubliche Achtung und kolossales Interesse entgegen. Ich habe eine Menge höchst anständiger Menschen kennen gelernt. Fürst Odojewski bittet mich um die Ehre meines Besuches und Graf Ssollogub rauft sich vor Verzweiflung die Haare aus: Panajeff hat ihm erklärt, es gäbe ein neues Talent, das sie alle in den Staub träte. Als Krajewski (ein Verleger) neulich hörte, daß ich kein Geld habe, bat er mich ganz ergebenst, von ihm ein Darlehen von 500 Rubel anzunehmen ... Ich habe eine Menge neuer Ideen; aber wenn ich auch nur etwas irgend jemandem, z. B. Turgenjeff, anvertraue, wird es schon morgen an allen Ecken und Enden von Petersburg heißen, daß Dostojewski jetzt dies und das schreibt ... Ich glaube, daß ich bald viel Geld haben werde ... gestern war ich zum ersten Male bei P. und habe mich, wie mir scheint, in seine Frau verliebt ...“

Kurz, aus seinen Briefen, besonders aus seiner maßlosen Überschätzung seiner weiteren Arbeiten, an denen er nun schreibt (den „Doppelgänger“ erklärt er schon für sein „Chef-d’œuvre[3]) oder die er in einer Nacht geschrieben hat („Roman in 9 Briefen“), ist zu ersehen, daß das große Lob dem jungen Schriftsteller entschieden zu Kopf gestiegen war. Das hat er schließlich wohl auch selbst empfunden, denn derselbe Brief schließt mit einer Nachschrift, die durch ihre Offenherzigkeit anzieht:

„Ich habe diesen Brief durchgelesen und festgestellt, daß ich erstens ungrammatisch schreibe und zweitens ein Prahlhans bin.“

In einer weiteren Randbemerkung dieses Briefes spielt, wie man annehmen darf, die Phantasie gleichfalls eine größere Rolle. Es steht da:

„Alle die Mienchen, Clärchen, Mariannen u. dgl. sind so schön geworden wie nur denkbar, kosten aber fürchterliches Geld. Turgenjeff und Bjelinski haben mich neulich wegen meines unordentlichen Lebens ausgescholten ...“

Hier dürfte zur Richtigstellung eine Bemerkung Dr. Riesenkampfs am Platze sein, der ja, wie wir wissen, mehrfach über Dostojewskis Unordentlichkeit berichtet hat, über sein Unvermögen, einen Haushalt zu führen und mit dem Gelde sparsamer umzugehen. An einer anderen Stelle seiner Aufzeichnungen sagt nun Dr. Riesenkampf: „Junge Leute pflegen in ihren zwanziger Jahren gewöhnlich hinter weiblichen Idealen her zu sein und an hübschen Frauenzimmerchen zu hängen. Merkwürdigerweise war aber bei Fjodor Michailowitsch nichts Ähnliches zu bemerken. Zu weiblicher Gesellschaft schien er sich immer gleichgültig zu verhalten und fast hatte er sogar eine gewisse Abneigung gegen sie.“ Übrigens fügt er gleich einen Vorbehalt hinzu und sagt: „Aber vielleicht hat er auch in der Beziehung manches verheimlicht; wenigstens wunderte es mich, daß er sich so sehr für die Gedichte des verliebten P. Ssuschkoff einsetzte, die bekanntlich an die Schauspielerin Assenkowa gerichtet waren, und daß er besonders die eine Romanze liebte: ‚Vergib mir, wunderbares Wesen‘, die er fortwährend vor sich hinsummte.“

Am 1. Februar 1846 schreibt Dostojewski selbst:

„Für den Goljädkin habe ich genau 600 Rubel bekommen. Ich habe auch sonst noch eine Menge Geld verdient, so daß ich nach unserer letzten Begegnung mehr als 3000 Rubel verlebt habe. Ich lebe eben sehr unordentlich, das ist die Sache! Meine Wohnung habe ich aufgegeben und lebe jetzt in zwei sehr schön möblierten Zimmern. Ich lebe sehr gut.“ (In demselben Hause ist Dostojewski später gestorben, doch als er dorthin ein paar Jahre vor seinem Tode umzog, hat er sich merkwürdigerweise nicht erinnert, daß er schon früher einmal in diesem Hause gewohnt hat.) „Ich bin so liederlich, daß ich gar nicht mehr ordentlich leben kann,“ schreibt er, – d. h. natürlich in dem Sinne liederlich, wie Dr. Riesenkampf ihn schildert, denn nur von einer solchen Liederlichkeit kann man so offen und so ruhig sprechen ...

Zwei Monate später (am 1. April 1846) schreibt er, daß die schlechte Kritik, die sein „Doppelgänger“ nunmehr erfahre, ihn inzwischen ganz mutlos gemacht und so furchtbar gequält habe, daß er erkrankt sei. „Ich habe ein entsetzliches Laster: ich bin unerlaubt ehrgeizig und eitel.“ ... Doch trotz der zeitweiligen „Hölle“, die er wegen seines „Doppelgängers“ durchgemacht, ist das Selbstvertrauen des jungen Schriftstellers nach dem glänzenden Erfolge der „Armen Leute“ immer noch sehr groß – zumal es von jenen gestützt wird, die er in seinen Briefen an den Bruder „die Unseren“ nennt – und erreicht bisweilen allerdings einen gefährlichen Grad. Das gab natürlich seinen verschiedenen Neidern – wie hätten die ausbleiben sollen? – Anlaß, sich alle möglichen Übertreibungen auszudenken und als Ansprüche Dostojewskis in Umlauf zu bringen. Zu diesen Geschichten gehört auch die angebliche Forderung einer besonderen Schmuckleiste, ohne die er den Roman „Arme Leute“ in Njekrassoffs „Petersburger Almanach“ (er erschien am 15. Januar 1846) nicht habe veröffentlichen lassen wollen ...

Am 1. Februar desselben Jahres erschien dann „Der Doppelgänger“ in den „Vaterländischen Annalen“, die der Verleger Krajewski herausgab. Die anderen Arbeiten, von denen er in seinen Briefen während dieser Zeit spricht, der nicht beendete „Rasierte Backenbart“ und „Die Geschichte von den abgeschafften Kanzleien“ sind nicht erhalten geblieben, – wenn er die letztere nicht etwa in seinem „Herrn Prochartschin“ verarbeitet hat?

In demselben Brief vom 1. April 1846 berichtet Dostojewski dem Bruder, daß viele neue Schriftsteller aufgetaucht seien, und nennt als die bedeutendsten, in denen er seine Nebenbuhler sieht, Alexander Herzen[22] und Gontscharoff[23] – „beide werden über alle Maßen gelobt“ –, doch sagt er selbstbewußt, trotz aller nunmehr sehr absprechenden Kritiken über ihn: „Ich habe aber vorläufig den Vorrang und hoffe, ihn für immer zu behalten. Im literarischen Leben war noch nie so viel los wie jetzt. Das ist ein gutes Zeichen ...“

Einen Monat später – am 16. Mai – schreibt er aber schon recht bedrückt in einem Briefe, der an viele seiner früheren melancholischen Briefe erinnert: „Mich quält Langeweile, Trauer, Niedergeschlagenheit und eine fieberhafte, krampfhafte Erwartung von etwas Besserem.“

Im Sommer reist er wieder zum Bruder. Nach seiner Rückkehr teilt er ihm (am 17. September 1846) mit, daß er für 14 Silberrubel zwei kleine möblierte Zimmer gegenüber der Kasanschen Kathedrale gemietet habe, jedoch noch nicht umgezogen sei[24]. Auch aus anderen Bemerkungen geht hervor, daß er sich nun nach Möglichkeit einschränkt: „Krajewski gab mir 50 Rubel, ich konnte aber schon von seinem Gesicht ablesen, daß er mir nichts mehr geben wird; ich werde es ziemlich schwer haben.“

Aus den gleichzeitigen Klagen über die Zensoren, die ihm die an sich ganz unschuldige Novelle „Herr Prochartschin“ so zusammengestrichen haben, daß er sich von diesem Werk lossagt, ist zu ersehen, daß die Richtung Dostojewskis bereits die Aufmerksamkeit der Zensoren auf sich gelenkt hatte. Man wird bei der Beurteilung der erwähnten Novelle die zerstörende Arbeit der Zensoren natürlich nicht vergessen dürfen ... Der Schluß dieses Briefes (vom 17. September 1846) verrät wieder Unzufriedenheit: „Bei uns herrscht entsetzliche Langeweile. Die Arbeit geht daher schlecht vorwärts. Ich habe bei euch wie im Paradiese gelebt; wenn es mir gut geht, muß ich immer alles mit meinem verdammten Charakter verderben ...“

In den folgenden Briefen spricht er wieder von Plänen und Berechnungen, wie er seine Arbeiten im Selbstverlage herausgeben könnte, von den Unannehmlichkeiten mit den Verlegern Njekrassoff und Krajewski ... Er denkt an eine Buchausgabe der „Armen Leute“ und des „Doppelgängers“, die ihm die Mittel zum Leben verschaffen soll ... Am 26. November schreibt er jedoch, daß aus allen seinen Absichten nichts geworden sei und er auch die Arbeit an dem „Rasierten Backenbart“ aufgegeben habe, da er eingesehen, daß „alles nur eine Wiederholung des Alten und längst von mir Ausgesprochenen ist.“

Inzwischen scheint er in einem nicht mehr vorhandenen Briefe die Absicht geäußert zu haben, ins Ausland zu reisen – am 7. Oktober schreibt er gleichsam zu seiner Rechtfertigung: „Ich reise nicht zum Vergnügen, sondern zur Kur. Petersburg ist eine Hölle für mich,“ – dasselbe Petersburg, ohne das er vor noch nicht langer Zeit glaubte, nicht leben zu können und „verloren“ zu sein!

In einem Brief vom 26. November 1846 teilt er seinen Bruch mit Njekrassoff mit und daß sich Krajewski darüber so sehr gefreut hat, „daß er mir Geld gab und außerdem alle meine Schulden zum 15. Dezember zu bezahlen versprach. Dafür muß ich bis zum Frühjahr für ihn arbeiten.“

Trotz aller Sorgen finden wir Dostojewski nicht mutlos, offenbar weil eine neue Arbeit („Das junge Weib“) ihm „wieder so leicht und frisch“ gelingt, wie ehedem die „Armen Leute“: „mein Herz bebt jetzt wie noch nie vor all den neuen Gestalten ... Ich mache jetzt nicht nur eine moralische, sondern auch eine physische Wandlung durch ... ich verdanke dies in hohem Grade meinen guten Freunden ... Ich machte ihnen schließlich den Vorschlag, zusammen zu wohnen. Wir mieteten uns eine große Wohnung und teilen alle Auslagen, sodaß höchstens 1200 Rubel für das Jahr auf den Kopf kommen. So groß sind die Segnungen des Genossenschaftsprinzips! Ich habe ein eigenes Zimmer und arbeite den ganzen Tag.“

Zu den hier erwähnten guten Freunden – den Brüdern Beketoff, Saljubezki und anderen –, die einen so günstigen Einfluß auf ihn gehabt hätten, gehörte auch S. D. Janowski, an den Dostojewski 1872 in einem Brief, in dem er auf diese Jugendjahre zu sprechen kommt, u. a. schreibt: „Sie liebten mich und gaben sich mit mir ab – der ich damals seelisch krank war (dessen bin ich mir ja jetzt bewußt), krank, bis zu meiner Reise nach Sibirien, wo ich dann gesund wurde.“

Von dieser nervösen Krankhaftigkeit spricht Dostojewski auch 1861 in seinem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ offenbar aus eigener Erinnerung, wo er den jungen Schriftsteller Iwan Petrowitsch von sich sagen läßt, daß er jedesmal mit Beginn der Dämmerung einer Stimmung verfalle, die er ... sein mystisches Grauen nenne. (Im I. Teil, Kapitel 10 folgt dann eine ausführliche psychiatrische Charakterisierung dieses Zustandes.)

Die Bemerkung „so groß sind die Segnungen des Genossenschaftsprinzips“ verrät schon seine wohl auf den Verkehr mit Bjelinski zurückzuführende Beschäftigung mit dem Sozialismus und seine damalige Begeisterung für ihn.

In seinen weiteren Briefen an den Bruder – bis zu seiner „Reise nach Sibirien“, wie er sich ausdrückt – schreibt er am 17. Dezember 1846, daß er mit Arbeit überhäuft sei: „Zum 5. Januar habe ich Krajewski versprochen, ihm den ersten Teil des Romans ‚Njetotschka Neswanowa‘ zuzustellen“. Er schreibt Tag und Nacht, gönnt sich nur hin und wieder Erholung in der Italienischen Oper, wo er einen Platz auf der Galerie hat (wohl ein Hinweis auf seine Sparsamkeit). Seine Gesundheit ist gut. „Es scheint mir immer, daß ich einen Kampf gegen unsere gesamte Literatur aufgenommen habe ... mit diesem Roman stelle ich auch für dieses Jahr meinen Vorrang zum Ärger meiner Feinde fest.“

Der Gedanke an eine Reise ins Ausland ist aufgegeben; statt dessen will er im Sommer wieder zum Bruder. Er lebt dann zusammen mit Beketoffs auf einer der Newa-Inseln – „nicht langweilig, gut und sparsam“. Er besucht Bjelinski, „der immer kränkelt“.

„Ich bezahle meine Schulden durch Krajewski,“ schreibt er weiter. „... Wann werde ich jemals aus den Schulden herauskommen: es ist ein Elend, als Tagelöhner zu arbeiten! Damit verdirbt man alles – Begabung, Jugend, Hoffnung, die Arbeit wird leblos und man selbst wird schließlich zum Schmierer und nicht zum Schriftsteller.“

Diese materielle Seite seines damaligen Zustandes hat Dostojewski später gleichfalls in seinen „Erniedrigten und Beleidigten“ geschildert: wenn er auch den Fürsten in der Schilderung der Lage des armen Iwan Petrowitsch das Selbsterlebte ein wenig übertreiben läßt, so stimmt doch die Hoffnung des letzteren, für die beendete Novelle vom Verleger, trotz seiner Verschuldung bei ihm, „wenigstens fünfzig Rubel“ zu bekommen, buchstäblich: auf 50 Rubel hofft F. M. auch in seinen Briefen. Auf die Bemerkung der Heldin des Romans, daß bei anderen Schriftstellern alles so sorgsam durchgearbeitet sei, erwidert Iwan Petrowitsch, daß jene eben materiell sichergestellt seien und nicht zu einem bestimmten Termin fertig werden müßten, er aber müsse wie ein Postgaul arbeiten. (III. Teil, 10. Kap. und im Schlußkapitel „Letzte Erinnerungen“.)

Im nächstfolgenden Briefe, zu Anfang des Jahres 1847, bedauert er den Bruder, daß er, zwar in einer geliebten Familie, doch „ohne Menschen in der Umgebung“ lebe. „Verliere aber nicht den Mut, Bruder!“ ermuntert er ihn. „Es werden noch bessere Tage kommen ... Natürlich, schrecklich ist die Dissonanz, schrecklich die Ungleichheit des Gewichts zwischen uns und der Gesellschaft ... Mein Gott! Es gibt so viele widerliche, gemeine und beschränkte graubärtige Weltweise, Kenner und Pharisäer des Lebens, die auf ihre Erfahrenheit, das heißt auf ihre Unpersönlichkeit (denn sie sind alle nach einer Schablone gearbeitet) stolz sind, nichtswürdig, die ewig Zufriedenheit mit dem Schicksal, einen Glauben an irgend etwas, Beschränkung im Leben und Zufriedenheit mit dem eigenen Platz predigen – eine Zufriedenheit, die der klösterlichen Selbstkasteiung und Beschränkung gleichkommt, und die mit unerschöpflicher, kleinlichster Gehässigkeit jede starke, glühende Seele verurteilen, die ihr triviales Tagesprogramm und ihren Lebenskalender nicht erträgt. Schurken sind sie mit ihrem vaudevillehaften irdischen Glück! Schurken sind sie! ...“

Diese Zeilen enthalten zweifellos jenen Protest in verneinendem Sinne, den Bjelinski aus dem Roman „Arme Leute“ vor allem herauslesen wollte. Hier wird die klösterliche Selbstbeschränkung bereits verurteilt, während Dostojewski dort noch zweifellos einen positiven Zug darin sah, daß der arme Beamte Makar Djewuschkin sich schämte, Tabak zu rauchen, während Warenjka nicht einmal das Notwendigste besaß. Nach den angeführten Zeilen dieses Briefes ist anzunehmen, daß Bjelinski einen entscheidenden Einfluß auf Dostojewski erlangt hatte.

Es folgt wieder ein Hinweis auf seine Geldlosigkeit. „Wenn es nicht gute Menschen gäbe, wäre ich verloren. Die Zerfetzung meines Ruhmes in den Zeitschriften gereicht mir mehr zum Vorteil als zum Nachteil. Um so schneller werden meine Verehrer, die, wie ich glaube, sehr zahlreich sind, nach dem Neuen greifen und mich verteidigen. Ich lebe in großer Armut: habe, seit ich Euch verließ, 250 Rubel verbraucht und 300 Rubel Schulden“ (welch ein Unterschied zu dem, was er früher ausgab). „Am schlimmsten hat mich Njekrassoff hineingelegt, dem ich seine 150 Rubel zurückgab. Zum Frühjahr hin nehme ich einen großen Vorschuß von Krajewski und schicke Dir dann bestimmt 400 Rubel.“ Ferner spricht er von einer Wasserkur im Sommer bei Prießnitz, mit dem Vorbehalt, das sei erst nur so „in der Phantasie“. Mit Reue denkt er daran zurück, wie schwerfällig und eckig er sich beim Bruder in Reval benommen habe, „ich war damals krank ... ich habe ja wirklich einen so schlechten, abstoßenden Charakter. Ich habe Dich aber immer über mich gestellt ... Ich kann mich nur dann als ein Mensch von Herz und Gemüt zeigen, wenn die äußeren Umstände mich gewaltsam aus dem ewigen Alltag herausreißen ... Der Roman ‚Njetotschka Neswanowa‘ wird wie der ‚Goljädkin‘ meine Beichte sein, wenn auch anders im Ton. Über ‚Goljädkin‘ bekomme ich oft solche Äußerungen zu hören, daß mir ganz bange wird ... Manche sagen, dieses Werk sei ein wirkliches, doch unverstandenes Wunder ... Nun fange ich schon wieder an, mich zu loben. Wie angenehm ist es aber, Bruder, richtig verstanden zu werden! ... Wünsche mir Erfolg. Ich arbeite jetzt an dem ‚Jungen Weibe‘.“

In seiner Beurteilung dieses Werkes sehen wir wieder eine Überschätzung, wie seinerzeit in der seines „Romans in neun Briefen“. „Eine Quelle von Begeisterung, die meiner Seele entspringt, leitet meine Feder. Es ist ganz anders als beim ‚Prochartschin‘, an dem ich den ganzen Sommer gelitten habe ...“

Nach einem solchen Entzücken mußte das vollkommen absprechende Urteil Bjelinskis begreiflicherweise einen sehr schweren Eindruck auf ihn machen. Doch aus seinen Briefen erfahren wir nichts davon.

In einem Briefe ohne Datum – vermutlich im Frühjahr 1847 geschrieben – schreibt er an den Rand: „Es ist nun schon das dritte Jahr meiner literarischen Tätigkeit, und ich bin wie im Rausche. Ich sehe das Leben um mich herum gar nicht, habe keine Zeit, zur Besinnung zu kommen; ich habe auch keine Zeit, um etwas zu lernen ... Sie haben mir einen zweifelhaften Ruhm geschaffen, und ich weiß nicht, wie lange noch diese Hölle, diese Armut und die vielen eiligen Arbeiten dauern werden; o könnte ich einmal Ruhe haben!!“

Eine Schuld, die er Maikoffs nicht wiedergeben kann, quält ihn, „obgleich sie mich nicht daran erinnern“. Im Herbst hofft er nach dem beendeten Roman „Njetotschka Neswanowa“ von Krajewski 1000 Rubel als unbefristeten Vorschuß zu erhalten. Njekrassoff und die anderen vom „Zeitgenossen“ wollten ihn schon endgültig begraben – um so mehr werde sie dieser Roman verblüffen. In diesem Briefe denkt er auch wieder an Übersetzungen, doch – „in zehn Jahren wird man nicht mehr an sie zu denken brauchen“.

In dem Briefe erwähnt er zum erstenmal die Familie Maikoff. Nach den Aufzeichnungen S. D. Janowskis versammelten sich im Hause des bekannten Malers Nikolai Apollonowitsch Maikoff an jedem Sonntagabend „jene jungen Leute, die von Gott mit einer gewissen Dosis Begabung ausgestattet waren, deren Herz von Geburt an in Liebe zum Nächsten, zum Guten und zur Wahrheit brannte und deren Verstand in allem und überall Licht und nur Licht suchte. Neben dem Hausherrn und seiner Gattin Jewgenia Petrowna nahm den ersten Platz in diesem Kreise der an Jahren bereits etwas ältere I. A. Gontscharoff ein. Außer ihm erschienen gewöhnlich S. S. Dudyschkin (der Kritiker der ‚Vaterländischen Annalen‘ nach Bjelinskis Tode) und Walerian Maikoff[25], die Brüder Drushinin, der Dichter M. A. Jasykoff u. a.“

In diesem Kreise geschah es nun nicht selten, daß Fjodor Michailowitsch „mit der ihm eigenen bis ins Kleinste eindringenden Analyse die Charaktere der Werke Gogols und Turgenjeffs auseinandersetzte und dann auch seinen ‚Herrn Prochartschin‘ erklärte, der damals den meisten Lesern unverständlich blieb, bis schließlich alle Zuhörer nicht nur die an und für sich vollendeten Charaktere begriffen, sondern auch die Beziehung jeder kleinsten Einzelheit zu diesem oder jenem Charakter erkennen lernten“.

Mit dem Sohn des Hausherrn, dem bekannten Dichter A. Maikoff[26], hat Dostojewski in späteren Jahren einen umfangreichen Briefwechsel geführt.

Doch außer diesen Sonntagabenden bei Maikoffs gab es in jener Zeit noch andere Kreise, die sich gleichfalls an bestimmten Tagen versammelten, und die von Fjodor Michailowitsch mit nicht minderem Eifer besucht wurden.

Über seinen Verkehr in diesen Kreisen geben uns seine Briefe an den Bruder gar keinen Aufschluß. Der Briefwechsel weist hier eine große Lücke auf. Der letzte aus dieser Zeit noch vorhandene Brief Fjodor Michailowitschs an den Bruder nimmt Bezug auf Michail Michailowitschs Absicht, den Dienst zu quittieren. Er rät dem Bruder, nicht auf diejenigen zu hören, die ihm davon abraten, und sich nicht dadurch abschrecken zu lassen, daß ihm, Fjodor Michailowitsch, „der erste Pfannkuchen mißriet“ ... „Warte nur, Bruder, wir werden uns schon durchschlagen ... es ist doch unmöglich, daß wir beide nicht auf den Weg kämen ...“. Er erwähnt auch sein jüngstes Werk, das er soeben beende, sagt, daß er keine Zeit habe, den Roman „Arme Leute“ in Buchform herauszugeben, obgleich er es durch eine Druckerei auf Kredit würde machen können. „Wie schade, daß du Schillers Dramen nicht zu Ende übersetzt hast.“ Eine Randbemerkung lautet: „Erkennst du nun, was Zusammenschluß bedeutet? Wenn wir jeder für sich arbeiteten – würden wir fallen ... Aber beide zusammen und für ein gemeinsames Ziel – das ist etwas ganz anderes.“

Inzwischen bereiteten sich im Leben Fjodor Michailowitschs mehr und mehr die Ereignisse vor, denen bestimmt war, in diesem Leben eine entscheidende Erschütterung hervorzurufen.

Die Katastrophe.

In den „Hellen Nächten“[27] finden wir die folgende Schilderung:

„... Es gibt hier in Petersburg recht merkwürdige Winkel ... Es ist, als schiene in diese Winkel niemals dieselbe Sonne, die sonst für Petersburger Menschen leuchtet, sondern als komme dorthin das Licht einer anderen, einer neuen Sonne, die gleichsam nur für diese Winkel bestellt ist, und ... als schiene sie auf alles mit einem ganz anderen, einem besonderen Lichte. In diesen Winkeln ... wird gleichsam ein ganz anderes Leben gelebt, eines, das gar nicht jenem Leben gleicht, das uns sonst umgibt, sondern eines, das es in einem tausend Meilen fernen unbekannten Staate geben könnte, nicht aber bei uns, in unserer so ernsten, so überernsten Zeit ... In diesen Winkeln leben seltsame Menschen ... Wesen, die man Träumer nennt.“

In unserer Presse ist die Ansicht vertreten worden, daß Dostojewski selbst ein solcher „Träumer“ gewesen sei. Ich erlaube mir dagegen die Annahme, daß in den angeführten Zeilen eine Anspielung auf jene besondere Art von „Träumerei“ enthalten ist, die Dostojewski schließlich nach „Sibirien“ gebracht hat.

Aber schon hier verhält Dostojewski sich einigermaßen kritisch zu der rätselhaften Bevölkerung in den von ihm erwähnten Winkeln. Er sieht in ihrem Leben „eine Mischung von etwas rein Phantastischem, glühend Idealem und zugleich trüb Prosaischem und Gewöhnlichem, um nicht zu sagen: bis zur Unglaublichkeit Gemeinem“.

„Eine traurige, für mich verhängnisvolle Zeit,“ nennt Dostojewski später jene Jahre, die am Ende seines ersten Lebensabschnittes stehen, als auch er sich infolge von Einflüssen, denen er seit seinem ersten literarischen Hervortreten ausgesetzt war, an gewissen Zusammenkünften beteiligte ... Diese Beeinflussung geht zunächst von der bezaubernden Persönlichkeit des „großen Kritikers“ aus (Bjelinski), der Dostojewski das zu erklären suchte, was dieser, wie Bjelinski meinte, von sich aus nicht begriff. „Ich nahm damals mit Leidenschaft seine Lehre an,“ erzählt Dostojewski später, und wohl deshalb nennt er jene Zeit „eine traurige, für mich verhängnisvolle Zeit“[28]. Nach dieser klaren Aussage sind die Zweifel, ob wirklich Bjelinski es war, der Dostojewski mit den sozialistischen Lehren bekannt gemacht hat, wohl nicht mehr berechtigt. Andererseits geht aus Bjelinskis im Jahre 1847 veröffentlichtem „Überblick über die russische Literatur“ ebenso unzweifelhaft hervor, daß die Beeinflussung eine gegenseitige war: daß die Unterhaltungen mit Dostojewski ihn dazu gebracht haben, die von ihm so leidenschaftlich übernommenen antichristlichen Theorien einer Prüfung zu unterziehen und sich mit Begeisterung wenigstens über den sittlichen Einfluß des Christentums im sozialen Sinne zu äußern.

In den vierziger Jahren hatten sich in Petersburg, unabhängig voneinander, gewisse Kreise gebildet. So war einer an der Universität entstanden, und zwar war er ursprünglich als Gegengewicht zu den damals an ihr bestehenden Korporationen gedacht, die ihr Vorbild in Dorpat hatten. Das überlieferte flotte Burschenleben mit den üblichen Mensuren erschien manchen unserer jungen Leute schließlich als gar zu abgeschmackt. Man wollte lieber Lesekreise einführen, plante die Gründung einer besonderen Studentenbibliothek u. a. m. Man besuchte die Vorlesungen Poroschins, deren Gegenstand man heute „Soziologie“ nennen würde, und so kam es, daß die Studenten – allerdings nicht besonders viele – sich überhaupt für ökonomische Fragen zu interessieren begannen. Allmählich machten sie sich auf eigene Faust mit den Werken von L. v. Stein[29] und Haxthausen[30] einerseits, wie andererseits mit denen von Louis Blanc[31], Fourier[32] und Proudhon[33] bekannt. Alsbald bildeten sich solche Kreise auch außerhalb der Universität. Ihre Mitgliederschaft war nach Bestand und Zusammensetzung eine äußerst bunte. Wie es zuging, daß diese verschiedenen Kreise nach und nach einen politisch-oppositionellen Charakter annahmen, erklärt uns A. P. Miljukoff[34] folgendermaßen:

„... Für unsere damalige gebildete Jugend war es eine schwere Zeit ... In ganz Europa schien neues Leben zu keimen ... Doch in Rußland herrschte in der gleichen Zeit die schwerste Reaktion; Wissenschaft und Presse konnten unter dem harten Drucke der Regierung kaum atmen und jede Äußerung des geistigen Lebens wurde unterdrückt. Aus dem Auslande wurden eine Menge freiheitlicher Schriften eingeschmuggelt.“

Eben diese verbotene Frucht wurde schließlich zur Hauptnahrung in jenen wissenschaftlich-literarischen Kreisen. Es war nun Petraschewski, der diese Kreise, über deren Vorhandensein er unterrichtet war, für seine Pläne zu benutzen gedachte. Der Titularrat Michail Butaschewitsch-Petraschewski hatte zunächst ein Lyzeum besucht, dann (1841) sein Studium an der Universität beendet, und war schließlich im Ministerium des Äußern angestellt worden, trug aber gleichwohl – was eine für jene Zeit erstaunliche Nachsicht seiner Vorgesetzten einer solchen „Schrulle“ gegenüber bezeugt – einen Bart und einen Hut mit einer riesigen Krempe. Diesem Petraschewski nun erschien es wünschenswert, daß sich möglichst viele Kreise von der bezeichneten Art bildeten, damit sie dann von verschiedenen Seiten her ihre Propaganda machen konnten – wobei es nicht nur unnötig, sondern nicht einmal erwünscht war, daß diese einzelnen Kreise sich persönlich kannten oder auch nur um einander Bescheid wußten: es genügte vielmehr, daß er, Petraschewski, allein mit den einzelnen Kreisen in Fühlung stand und sie alle kontrollierte[35].

„Unsere Sozialisten sind aus den Petraschewzen hervorgegangen. Die Petraschewzen haben viele Samen ausgestreut“ – hat Dostojewski selbst einmal in seinen letzten Lebensjahren gesagt. Wie aber der Boden zur Aufnahme dieses Samens vorbereitet wurde, darauf weist Dostojewskis Frage hin: „Kann denn der russische Jüngling dem Einfluß – des fortschrittlichen europäischen Gedankens – und besonders der russischen Seite ihrer Lehren gegenüber gleichgültig bleiben? ... Eine solche russische Seite dieser Lehren gibt es tatsächlich. Sie besteht aus Schlußfolgerungen in Gestalt unerschütterlicher Axiome, wie sie nur in Rußland gezogen werden.“ Diese russischen Schlußfolgerungen aus den europäischen Lehren waren immer deren äußerste Konsequenz, waren Folgerungen, die schließlich, wie Dostojewski 1876 schreibt, „zur Verneinung Europas und seiner Kultur führten, dieser Kultur, die in vielem, in gar zu vielem der russischen Seele fremd ist.“

In der neuesten europäischen Lehre – dem Sozialismus – erfordert nach L. von Stein unsere größte Aufmerksamkeit „die Kritik der gegenwärtigen Zivilisation“ ... – „Aber diese gegenwärtige Zivilisation ist ja ... eine europäische Zivilisation,“ folgerten alsbald einzelne bei uns, „sie wurzelt ja in der europäischen Vergangenheit, in den Grundlagen der europäischen Geschichte. Bei uns aber“ – so entschlossen sich einige, weiterzudenken – „bei uns sind die Grundlagen der geschichtlichen Vergangenheit ganz andere; um so weniger Wert hat für uns diese Zivilisation, und um so mehr Wert hat für uns das, was sich gegen sie erhebt.“

So sah Dostojewski in der Geschichte unserer sozialistischen Bewegung – als einer, der zu Anfang an derselben unmittelbar beteiligt gewesen war und als tiefer Psychologe – einerseits eine rückhaltlose Hingabe an Europa, und andererseits die geheime Gegenwehr unserer russischen Natur gegen dieses Europa, das uns überwältigen wollte. In dieser Doppelseitigkeit der Beziehung liegt vielleicht die Erklärung dafür, daß die Bewegung, wie Dostojewski sagt, „sich bis heute fortsetzt und keineswegs die Absicht zu haben scheint, stehen zu bleiben ...“

Und nun – nach so viel verehrten europäischen Namen und von uns aufgenommenen Ideen – vernimmt man plötzlich von einem Manne wie Louis Blanc diesen Ausbruch des Unwillens gegen eine solche europäische Koryphäe wie Voltaire: „Non, Voltaire n’aimait pas assez le peuple“,[5] usw. Als Bjelinski das las, entfuhr ihm unwillkürlich der Ausruf: „Alle Heiligen! Das ist ja Schewyreff!“[36] Denn Bjelinski war und blieb bei all seinem Sozialismus bis an sein Lebensende ein glühender Verehrer der europäischen Kultur, weshalb ihn ein solches Urteil abstoßen mußte. Andere dagegen konnte dieser Umstand, daß Louis Blanc an „Schewyreff“ gemahnte, nur um so mehr anziehen – den einen bewußt und offen, den anderen unbewußt und in Unklarheit über sich selbst[37].

A. P. Miljukoff, der im Winter 1848 gleichfalls zu dem kleinen Kreise gehörte, der bei dem Kollegienassessor a. D. und Schriftsteller Duroff[38] zusammenkam, erzählt, daß man aus Dostojewskis Urteilen immer den Verfasser der „Armen Leute“ erkennen konnte, und daß er sich stets gegen alle Maßnahmen, die geeignet waren, irgendwie das Volk zu bedrücken, ausgesprochen habe. Als man einmal die Frage erörterte, ob die Befreiung der Bauern „von unten oder von oben kommen werde, und jemand die Ansicht äußerte, die Aufhebung der Leibeigenschaft auf gesetzlichem Wege sei höchst zweifelhaft, äußerte Fjodor Michailowitsch schroff, daß er an keinen anderen Weg glaube“. An diese Erinnerung schließt sich die Aussage des Leutnants der Leibjäger A. Palm[39] an, nach der Dostojewski, als die Debatte sich zu der Frage zugespitzt hatte: „Nun, wenn es sich aber zeigt, daß man die Bauern nicht anders als durch einen Aufstand befreien kann?“ mit der ihm eigenen Empfänglichkeit für jeden Eindruck ausgerufen habe: „Dann, meinetwegen, auch durch einen Aufstand!“

Überhaupt scheint der Kreis um Duroff aus recht hitzköpfigen jungen Leuten bestanden zu haben. Diese Tollköpfigkeit verleitete sie u. a. zu der unvorsichtigen Absicht, eine geheime Druckerei zwecks Vervielfältigung und Verbreitung von Reden und Schriften anzulegen, – eine Unvorsichtigkeit, mit der Petraschewski sehr unzufrieden war, da sie bei den damaligen Zensur- und Polizeiverhältnissen durchaus nicht als ein unschuldiges Unterfangen angesehen werden konnte. Im übrigen schildert der erwähnte Leutnant A. Palm in seinem Roman „Alexei Sslobodin“ nicht nur eben diesen Kreis, sondern er hat auch, wie er mir selbst sagte, der Gestalt des Sslobodin einzelne Züge des jungen F. M. Dostojewski verliehen. So finden wir in der Wiedergabe der Debatten die folgende Stelle:

„Die einen traten mutig für die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen ein; die anderen sahen das ganze Heil in der Freiheit der Presse; die dritten proklamierten das Wahlrecht“ usw. „... Da sagte Sslobodin leise und langsam: ‚Die Befreiung der Bauern wird zweifellos der erste Schritt in unsere große Zukunft sein‘. Diese Worte, die in dem ruhigen Tone einer schon längst gewonnenen und abgeklärten Überzeugung gesagt wurden, wirkten stark auf die erhitzten Streiter und versöhnten alle Meinungen.“

Und an einer anderen Stelle des Romans, wo der Streit den politischen Umschwung in Frankreich berührt, äußert Sslobodin:

„... politische Fragen interessieren mich wenig ... es ist mir, offen gestanden, ganz gleichgültig, wen sie dort bekommen – Louis Philippe oder irgend einen Bourbonen, oder meinethalben auch die Republik ... Wem ist damit geholfen? Das Volk gewinnt ein paar wohltönende Phrasen, wird auf der Liste seiner Märtyrer ein paar neue Namen hinzufügen können, und am Ende wieder dieselbe Arbeit aufnehmen, die nur dem Bourgeois einen Gewinn einbringt, – folglich wird das Leben nicht um ein Haar dadurch besser werden ... Nein, ich glaube nicht, daß dieses Spiel mit alten politischen Formen irgendwelchen Nutzen bringen kann.“

Es entspricht dies übrigens der Lehre Fouriers und stimmt mit dem überein, was Miljukoff in seinen Erinnerungen an Dostojewski berichtet. Nur seiner Bemerkung, daß Dostojewski die sozialistischen Schriftsteller zwar gelesen, sich aber kritisch zu ihnen verhalten habe, muß die Aussage von I. Desbut[40] gegenübergestellt werden, nach der Dostojewski jene Schriften gar nicht selbst studiert hat, vielmehr nur mit ihrem Inhalt durch Chanykoff[41] bekannt geworden ist.

Aus manchem geht hervor, daß Dostojewski eine Gefahr für das russische Volk nicht nur in den offiziellen Regierungskreisen sah. Wie von anderer Seite verlautet, soll er sogar zu einer unmittelbaren Annäherung an die Unzufriedenen im Volk bereit gewesen sein. „Sslobodin“ knüpft in dem erwähnten Roman von Palm Beziehungen zu der Sekte der Raskolniki an. Auch nach der Aussage eines „Petraschewzen“ (d. h. eines der in dem Fall Petraschewski Mitverhafteten) hat Dostojewski tatsächlich an eine Annäherung an die Raskolniki gedacht. Aus den Untersuchungsakten geht nur hervor, daß Dostojewski „eingesteht, sich an Gesprächen über die Möglichkeit einzelner Veränderungen und Verbesserungen beteiligt zu haben, jedoch aussagt, daß sein Vorsatz gewesen sei, die Einführung dieser Veränderungen und Verbesserungen von der gesetzmäßigen Regierung abzuwarten“. Welche Veränderungen und Verbesserungen er eigentlich anstrebte, ist nicht gesagt, aber daß sie für die meisten hauptsächlich auf die Befreiung der Bauern hinausliefen, ist aus dem Verhör Golowinskis[42] zu ersehen, der „zwar einmal in der Hitze gesagt hat, daß zu diesem Zweck jedes Mittel recht sei, im allgemeinen sich aber über die Bauernbefreiung in dem Sinne geäußert haben will, daß die Regierung diese ja kraft ihres autokratischen Rechts einfach verfügen könne“.

Nun war aber in den Augen mancher Mitglieder der Untersuchungskommission schon der Wunsch, die Bauern befreit zu sehen, ein Verbrechen, selbst wenn man die Tat von der gesetzmäßigen Regierung erwartete; und überdies mögen manche Aristokraten unter ihnen wie auch unter den Richtern sich von gewissen Gefühlen des Adels zu besonderer Strenge haben verleiten lassen, von Gefühlen, denen gerade die hierbei der Autokratie als solcher zugewiesene Machtvollkommenheit in der Frage der Bauernbefreiung unerwünscht war[43].

Dagegen hätte man an Petraschewski selbst einzelne Züge entdecken können, die geeignet waren, den Landadel zu bestechen (und vielleicht hatte es Petraschewski gerade darauf abgesehen). Eine 1848 von ihm verfaßte und bei Gelegenheit der Adelswahlen unter vielen Adligen verteilte Denkschrift war offiziell als schädlich anzusehen, da sie immerhin die Absicht verfolgte, den Adel aufzuwiegeln. Aber dieselbe Denkschrift fand bei vielen der Petraschewzen selbst nicht den geringsten Anklang – besonders bei den Offenen und Unverfälschten nicht, die unfähig zu einer Handlung waren, die man heute Opportunismus nennt.

Einer von ihnen, Kaidanoff, äußerte sich denn auch sogleich über diese Denkschrift in einem Briefe: „... ich kann mit Petraschewskis Plan nicht sympathisieren, ebensowenig mit allem, was zu Merkantilfeudalismus und zur Finanzaristokratie führt ... mich interessiert die Preissteigerung der Adelsgüter nicht im geringsten“ (davon handelte nämlich die Denkschrift), „vielmehr sollten die Preise mehr und mehr zurückgehen, damit der Staat auf diese Weise die Möglichkeit erhält, die Güter von den Gutsbesitzern zu erwerben“. Und Chanykoff rief ohne weiteres aus: „Das ist ja Verrat!“ Petraschewskis Erklärungen, er habe durch die Verquickung des agrarischen Problems mit den finanziellen Interessen des Adels zunächst nur erreichen wollen, daß auch Personen der anderen Stände das Recht zum Erwerb von Gütern mit Leibeigenen erhielten, was dann, nach seiner Meinung, die Lösung des Bauernproblems nur erleichtern konnte, – diese Erklärungen befriedigten die „Fourieristen“ ganz und gar nicht. Jedenfalls weist Petraschewski darauf hin, daß „dieses Problem (die Bauernemanzipation) nicht gelöst werden kann ohne vorhergehende Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Gerichtsverfahrens“. Achscharumoff[44] dagegen war der Ansicht – und soll, wie verlautet, auch Petraschewski zu ihr bekehrt haben –, daß alle diese Probleme an ein und demselben Tage gelöst werden müßten.

Auch die früheren Verschwörer hatten ein „Vorstadium“ im Auge gehabt – zunächst eine vollkommene Änderung der Regierungsform. Nicht grundlos hat Dostojewski gesagt: „Die Idee der Dekabristen war, die Autokratie zu beschränken: Lords zu werden. Sie wollten“ – das erkennt er an – „die Bauern befreien, aber ohne Zuteilung von Land“. Und natürlich wäre es auch so gekommen, wenn sie ihr „Vorstadium“ erreicht hätten.[45]

Zur Kennzeichnung des Unterschiedes der Stellungnahme Petraschewskis sei hier angeführt, wie in dem von ihm (unter dem Pseudonym Kirilloff) herausgegebenen Fremdwörterbuch das Wort „Konstitution“ erklärt ist, – wobei dahingestellt bleiben muß, ob die Erklärung von ihm selbst oder von seinem Mitarbeiter, dem verstorbenen Walerian Maikoff, verfaßt wurde:

Konstitution: diese Regierungsform war in den westlichen Staaten die Folge einer starken Ständeentwicklung ... Ihre Anhänger behaupten, sie gründe sich auf das Recht jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft, an der Verwaltung jenes Ganzen, wovon er ein Teil ist, mitbeteiligt zu sein; doch in der Praxis ist dieser Grundsatz in großen Staaten nicht zu verwirklichen. Überall zwingt die Notwendigkeit, die Zahl der Personen zu begrenzen, die das Recht haben, einen Abgeordneten einer Provinz oder eines Standes zu wählen. Da aber das einzige Maß, an das man sich überall hält, die Größe des Besitzes des Staatsbürgers ist, so ist diese gepriesene Regierungsform in der Praxis nichts anderes als eine Aristokratie des Reichtums ... Die Anhänger der Konstitution vergessen, daß der Charakter des Menschen nicht im Besitz, sondern in der Persönlichkeit enthalten ist, und daß sie, indem sie die politische Macht der Reichen über die Armen anerkennen, damit die größte Despotie verteidigen. 200000 Reiche, die 33 Millionen Unbemittelte und Arme regieren, ist dasselbe wie die Kaste der atheniensischen oder römischen Bürger, die in Luxus und Wohlleben schwelgten, indem sie die Persönlichkeit von Millionen von Menschen niedertraten.“

Merkwürdigerweise findet sich eine Art „Vorstadium“ auch bei dem Gegner der Dekabristen, Karamsin: für ihn lag es in der Volksbildung und ging zurück auf Rousseaus „Zuerst muß man die Seelen befreien, dann die Leiber“. So haben denn bei uns die Anhänger verschiedener Richtungen die Notwendigkeit eines sogenannten „Vorstadiums“ anerkannt.

Doch daran dachten die „Durowzy“, zu denen auch Dostojewski gehörte, ganz und gar nicht, wie es auch die Folgerichtigen der „Fourieristen“ nicht taten, und wie daran im XVIII. Jahrhundert auch Radischtscheff[46] nicht gedacht hat (deshalb hat sich wohl auch unsere junkerlich-bürokratische Opposition an ihm, dem schon längst Verstorbenen, gerächt, indem sie in einer Zeit, als die Bauern bereits befreit waren, seine Werke offiziell verbrannte).

Ich erwähne das alles, weil ich es für notwendig halte, den Standpunkt Dostojewskis sowie vieler anderer unter den „Petraschewzen“ von dem Standpunkt desjenigen Mannes abzusondern, der dem ganzen Prozeß den Namen gegeben hat: Petraschewskis selbst. Dostojewski hatte alle Ursache zu sagen, der Inhalt des in Leipzig erschienenen kleinen Buches „Über die Propagandagesellschaft“ sei zwar „richtig, aber nicht vollständig. Ich sehe da nicht meine Rolle ...“ „Viele Umstände,“ fügt er hinzu, „sind der Darstellung vollständig entglitten; die ganze Verschwörung ist in dieser Darstellung verschwunden.“

In der Tat, wenn es in dem Bericht der Geheimpolizei heißt, daß es sich „hierbei weniger um eine kleine, abgesonderte Verschwörung handle, als um den allumfassenden Plan einer allgemeinen Bewegung des Umsturzes und der Zerstörung“, so geht doch aus der Sache selbst hervor, daß eine Verschwörung eigentlich gar nicht vorhanden war, und zwar „infolge der Verschiedenheit der Anschauungen der Beteiligten“. Petraschewski leitete sie gewissermaßen an. Gleichwohl war er vielen von ihnen recht unsympathisch. In der Erinnerung Dostojewskis hat sich aber augenscheinlich die Empfindung erhalten, daß in der Absicht eine Verschwörung bereits bestand – will sagen bevorstand, d. h. in der Zukunft sicher war. Sie ging allem Anscheine nach aus der allgemeinen Unzufriedenheit hervor, und diese Unzufriedenheit war schließlich das Hauptbindemittel zwischen den einzelnen Vertretern der „Propagandagesellschaft“, wie die ganze Bewegung in dem Leipziger Büchlein sehr richtig benannt worden ist. Man beabsichtigte, Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge überall zu propagandieren, zunächst in den Lehranstalten, sodann Beziehungen anzuknüpfen überall dort, wo schon Unzufriedenheit herrschte – also Beziehungen zu den Raskolniki und zu den leibeigenen Bauern.

Und nun berichtet uns Ippolit Desbut, daß den Mitgliedern der verschiedenen Kreise die leidenschaftliche Natur Dostojewskis als für die Propaganda besonders geeignet erschien, da er auf die Zuhörer einen hinreißenden Eindruck machte.

„Ich sehe Fjodor Michailowitsch noch vor mir,“ berichtet Desbut, „und glaube noch jetzt zu hören, wie er bei Petraschewski von einem Feldwebel erzählt, der sich an seinem Kommandeur für seine und seiner Kameraden barbarische Behandlung gerächt hatte und dafür Spießruten laufen mußte; oder wenn er schilderte, wie Gutsbesitzer mit ihren Leibeigenen umgehen ... Nicht minder lebendig habe ich in der Erinnerung, wie er seine Geschichte von der ‚Njetotschka Neswanowa‘ erzählte – viel ausführlicher, als sie im Druck erschienen ist; und ich weiß noch, mit wie lebendig empfundener Menschlichkeit er sich auch damals zu jenem öffentlichen ‚Prozentsatz‘ verhielt, als dessen Verkörperung später seine Ssonetschka Marmeladowa erschien“ (natürlich nicht ohne Einfluß der Lehre Fouriers). „Begreiflicherweise wurde Dostojewski deshalb auch von den ‚Fourieristen‘ besonders geschätzt, und gerne hätten sie ihn unter den Ihrigen gesehen. Die Möglichkeit, ihn zu sich hinüberzuziehen, war nicht ausgeschlossen bei seiner Empfänglichkeit für Eindrücke und seiner noch unfesten Stellungnahme.“

Nach der Aussage Speschnjoffs hat Petraschewski auf Fjodor Michailowitsch dadurch einen abstoßenden Eindruck gemacht, daß er gottlos war und sich über den Glauben lustig machte. Er sei auch nicht oft zu Petraschewski gekommen.

Wie wir schon sahen, hätte Petraschewski es nicht verschmäht, als Mittel zum Zweck auch „merkantile und feudale Instinkte“ auszunutzen, und einzelne der Propagandisten waren bereit, zwecks Erhöhung der Unzufriedenheit den Pauperismus zu verbreiten (wenn man dem Bericht der Geheimpolizei trauen darf) – oder sie haben in den Verhören über die eigenen Gefährten falsche, belastende Aussagen gemacht: vermutlich um das Ganze als weit gefährlicher darzustellen, als es war, und um die Regierung zu erschrecken oder einzuschüchtern. Diesen Elementen aber standen andere gegenüber, die bezüglich der Mittel und Wege sittlich wählerischer waren, und zu diesen gehörte zweifellos Dostojewski.

Ganz abgesehen von seiner persönlichen Antipathie gegen Petraschewski, hat er schon damals darauf hingewiesen, daß alle diese sozialistischen Theorien für Rußland gar keinen Wert hätten, daß bei uns in der Dorfgemeinde (Mir), der Einrichtung der Genossenschaft (Artel) und der gegenseitigen Bürgschaft schon längst Grundlagen geschaffen seien, die sicherer und natürlicher waren als alle Träume Saint-Simons und seiner Schule. Später hat er seine eigene Richtung einen „Christlichen Sozialismus“ genannt, – aber schon damals haben sich an ihm, wie uns Miljukoff berichtet, die ersten Anzeichen von Slawophilentum bemerkbar gemacht. Nur vollzog sich die weitere Entwicklung dieser ersten Ansätze sowie ihr schließlicher Sieg über die aufgepfropften Theorien, wie Dostojewski 1873 selbst sagt, „nicht so schnell, sondern allmählich und erst nach längerer Zeit.“[47]

Doch diese ganze Besonderheit der Richtung Dostojewskis ist in den Untersuchungsakten mit keinem Worte erwähnt. Nur von A. Palm heißt es, daß aus seinen Schriften „eine große Liebe zu Rußland“ zu ersehen sei.

Von den Petraschewzen selbst verhielten sich einzelne sogar feindlich zu den Slawophilen. Toll[48] meinte: „... ihre Gesellschaft baut sich auf den dümmsten Grundsätzen auf, denn sie verneint die Verdienste Peters des Großen ... Die Regierung verfolgt sie, weil sie daran denken, einen Staat von der Art, wie er im mittelalterlichen Nowgorod bestand, einzuführen, mit einem Wjetsche“ (beratende Volksversammlung) „und mit Statthaltern“. Und A. Pleschtschejeff[49] schreibt aus Moskau von den Führern der Slawophilen: Chomjäkoff sei „ein Mensch ohne ernste Überzeugungen“, und Akssakoff „ein Fanatiker, der einen Bart bis zu den Knieen trägt, wie in der Sage Zar Berendei, dazu altrussischen Kittel, die Hosen in die Stulpstiefel gesteckt, fast täglich in die Kirche geht und alles für Sünde hält, auch das Theater, auch die Literatur (!!).“ Ja, es ist möglich, daß Pleschtschejeff gerade deshalb, weil er um das Vorhandensein gewisser slawophiler Keime in Dostojewski wußte, sich beeilte, ihm aus Moskau eine Abschrift des berühmten Briefes von Bjelinski an Gogol zu senden. In diesem Brief Bjelinskis an den religiös gewordenen Gogol sah man damals geradezu ein Manifest des siegenden Westlertums.

Dostojewski, der mit sehr vielem in Gogols Briefen ebensowenig zufrieden war, wie die bekannten Slawophilen, und der ihre Unzufriedenheit mit den Anschauungen Gogols über die Leibeigenschaft vollkommen teilte, las diesen Brief Bjelinskis bei Petraschewski mit ganzer Sympathie vor: und eben dies wurde nun zu einem der Hauptpunkte der Anklage gegen ihn (in den Akten wird dieser Brief bezeichnet, als „ein Schreiben voll von frechen Ausdrücken gegen die rechtgläubige Kirche und die oberste Macht“).

An dem betreffenden Abende war auch I. L. Jastrshemski[50] anwesend und hörte Dostojewski zum ersten Male vorlesen. Er erinnert sich lebhaft des starken Eindrucks, den die angenehme Stimme Dostojewskis auf ihn machte. „Er war ein Meister im Vorlesen“ bezeugt er. „Doch diese Vorlesung war der Grund, weshalb Dostojewski verurteilt wurde, und auch ich, weil ich zu den in dem Briefe ausgesprochenen Gedanken Beifall und Zustimmung geäußert und sogar mit dem Kopfe genickt hatte.“

Dostojewski hat selbst noch auf eine andere gegen ihn erhobene Anklage hingewiesen, auf die aber in dem Material, das von der Untersuchungskommission veröffentlicht worden ist, keine Hinweise zu finden sind.

„Ich bin unter anderem auch dafür verurteilt worden, daß ich gesagt hatte, Rußland diene der Politik Metternichs.“ Dieser Ausspruch wird zweifellos gleichfalls mit seinen frühen slawophilen Neigungen in Verbindung gestanden haben.

Wenn aus den Akten überhaupt nicht zu ersehen ist, daß die in ihnen erwähnte Verschiedenheit in den Anschauungen der Petraschewzen zum Teil auf den Unterschied zwischen zwei Typen hinauslief – auf die Westler einerseits und die Selbständigen oder Slawophilen andererseits –, auf Typen, die sich damals schon in ihren Anfängen zu unterscheiden begannen, so ist man sich über ihre religiösen Anschauungen noch weniger klar gewesen: in der Beziehung sind alle übereinstimmend als nicht religiös oder sogar als antireligiös dargestellt. In Wirklichkeit war nur Petraschewski ein Atheist. Wenn man den Akten folgen will, so hätten Toll, Achscharumoff u. a. sich „feuerbachisch“ zur Religion verhalten. Dagegen wissen wir, daß z. B. Duroff und Dostojewski unbedingt religiös waren, ersterer nach Dostojewskis Worten sogar „bis zur Lächerlichkeit“. Derselbe Duroff soll, nach Dostojewski, „klug, doch nach einer Seite hin auch gutmütig“ gewesen sein, nach Jastrshemski: „von großer Zartheit, sowohl seelisch wie physisch, dabei in Pflege und Verzärtelung aufgewachsen“. Das alles erinnert natürlich wenig an einen Verschwörer. Dagegen bemerkt ein Bekannter Speschnjoffs[51], daß nach dem Äußeren der echte Typ des Verschwörers in Dostojewski zu sehen gewesen sei: er war schweigsam, sprach mit Vorliebe unter vier Augen und war eher verschlossen als aufrichtig. Zudem wirkte er – nach Speschnjoff – niemals eigentlich jung, da er krank aussah (dabei war er damals erst 27 Jahre alt). Ähnlich schildert ihn auch Jastrshemski: „er war still, bescheiden, anscheinend ein sehr angenehmer und liebenswerter junger Mann. Seinem Gesicht sah man Kränklichkeit an. Er sprach wenig und immer leise.“ Wir alle sahen in ihm einen weichen, nervösen Menschen, fähig der zartesten Empfindungen. In vertraulichem Gespräch konnte man in ihm stets den Verfasser der ‚Njetotschka Neswanowa‘ erkennen. Doch dieser selbe stille und bescheidene Mensch war imstande, wie Desbut sagt, seinen Reden ein erschütterndes Pathos zu geben.

Seit wann waren denn nun diese „Verschwörer“ bei uns aufgekommen, oder wie Dostojewski sie in seinen „Hellen Nächten“ nennt, diese „Träumer“?

Wenn man den Angaben der Geheimpolizei folgen will, so hat es die „Propagandagesellschaft“ bereits im Jahre 1842 gegeben. Doch die Aussagen im Prozeß bezeugen übereinstimmend, daß man erst Ende des Jahres 1845 bei Petraschewski zusammenkam. Dostojewski hat diese Abende drei Jahre lang, also seit dem Winter 1846 besucht, wenn auch nur ziemlich selten. Somit gehörte er zu den älteren Besuchern, da die meisten erst seit 1848 kamen. Im Winter 1846–47 hatte auch Leutnant N. Mombelli[52] solche Zusammenkünfte eingeführt, Kaschkin[52] seit Ende 1848, Duroff aber erst seit dem März 1849. Briefe von Dostojewski aus dieser wichtigsten Zeit, von 1846–49, haben sich nicht erhalten, d. h. es ist sehr möglich, daß sie mit Absicht vernichtet worden sind. Wie mir N. Mombelli mündlich mitteilte, hatte man bei Petraschewski nach und nach das Verfahren eingeführt, daß die Debatten über die Referate (u. a. über den Atheismus, über die Bauernreform und ähnliche) von einem Präsidenten geleitet wurden.

Nun sollte man meinen, daß all dies schon längst die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich hätte lenken müssen – besonders in jener Zeit. Die Verzögerung lag aber zum Teil daran, daß die Polizei ein ganzes Jahr lang vergeblich einen passenden Spion suchte, d. h. einen, der, wie der Chef der Geheimpolizei Liprandi schreibt, „nicht nur auf der Bildungsstufe der versammelten Gesellschaft stand, sondern auch über das Vorurteil erhaben war, das in dem Ruf eines Angebers so ungerechterweise ... einen Schandfleck sieht. Solche Agenten findet man nicht für Geld“. Schließlich aber fand man doch so einen „über das Vorurteil Erhabenen“ in dem Sohn eines Künstlers, Antonelli, der die Petersburger Universität besucht hatte und, gleich Petraschewski, eine Anstellung im Auswärtigen Amt hatte. Dieser Antonelli erschien nun vom 11. März bis 15. April jeden Freitag bei Petraschewski. Wie Dostojewski später erzählte, hätten sie alle, als Antonelli zum ersten Male auftauchte, sofort gewußt, daß es ein Spion sei, und dies auch Petraschewski gesagt; und als Antonelli sie zu sich einlud, habe niemand der Einladung Folge geleistet.

Allem Anscheine nach hat ein am 7. April zu Ehren Fouriers veranstaltetes Diner den letzten Anlaß zur Verhaftung der Petraschewzen gegeben. Dostojewski hat an diesem Diner nicht teilgenommen.

Wie er verhaftet wurde, erzählt er später – 1860, bereits nach seiner Rückkehr aus Sibirien – nicht ohne einen gewissen Humor. Er hat diesen Bericht der Tochter seines Freundes A. P. Miljukoff ins Album geschrieben:

„Am 22., oder richtiger gesagt, am 23. April (1849) kam ich gegen halb vier Uhr morgens von Grigorjeff nach Hause, legte mich zu Bett und schlief sofort ein. Nicht später als nach ungefähr einer Stunde merkte ich, noch im Schlaf, daß in mein Zimmer irgendwelche verdächtige und jedenfalls ungewöhnliche Besucher eingedrungen waren. Es klirrte plötzlich ein Säbel, der an irgend etwas anstieß. Sonderbar! Was hatte das zu bedeuten? Mit Anstrengung schlage ich die Augen auf und höre eine weiche, freundliche Stimme: ‚Stehen Sie auf!‘ – Ich sehe: ein Polizeioffizier? ein Pristaw – jedenfalls ein Polizeimensch mit einem hübschen Backenbart. Doch nicht er hatte gesprochen: gesprochen hatte ein Herr in hellblauer Uniform mit Oberstleutnants-Epauletten.

„‚Was ist geschehen?‘ fragte ich, mich aufrichtend.

„‚Auf Befehl.‘ ... – Ich sehe: Tatsächlich ‚auf Befehl‘. In der Tür stand ein Soldat, gleichfalls in Hellblau. Sein Säbel war es, der geklirrt hatte.

„‚Aha! also das ist es,‘ dachte ich ...

„‚Ja erlauben Sie mir ...‘ begann ich.

„‚Macht nichts, macht nichts! kleiden Sie sich nur an. Wir warten so lange,‘ fügte der Oberstleutnant mit noch freundlicherer Stimme hinzu. – Während ich mich also ankleidete, verlangten sie von mir meine Bücher und begannen zu suchen; – sie fanden nicht viel, aber sie durchwühlten alles. Die Papiere und Briefe banden sie sorgfältig mit einem Schnürchen zusammen. Der Pristaw legte hierbei viel Umsicht an den Tag; er steckte die Nase in meinen Ofen und scharrte mit meinem Pfeifenrohr in der alten Asche herum. Der Gendarmerieunteroffizier stieg auf seinen Wunsch auf einen Stuhl und versuchte, auf den Ofen zu klettern, glitt aber vom Gesimse ab, fiel mit einem Krach auf den Stuhl und dann mit dem Stuhl auf den Fußboden. Da waren denn die scharfsinnigen Herren überzeugt, daß sich auf dem Ofen nichts befand. Aber auf dem Tisch lag ein Fünfkopekenstück, ein altes, verbogenes. Der Pristaw betrachtete es aufmerksam und gab dem Oberstleutnant mit einer Kopfbewegung einen Wink.

„‚Ist’s am Ende eine falsche Münze?‘ fragte ich.

„‚Hm ... Das muß man noch untersuchen‘ ... brummte der Pristaw und erledigte die Frage zunächst damit, daß er auch die Münze den anderen beschlagnahmten Sachen hinzufügte.

„Wir traten hinaus. Uns begleiteten die erschreckte Hausfrau und ihr Diener Iwan, der zwar auch sehr erschrocken zu sein schien, aber mit einer gewissen stumpfen Feierlichkeit, wie sie dem Ereignis angemessen war, dreinschaute; übrigens – einer nicht gerade festtäglichen Feierlichkeit. Vor dem Hause hielt eine Kutsche, in die stieg zuerst der Soldat ein, dann ich, dann der Pristaw und der Oberstleutnant. Wir fuhren zur Fontanka, zur Kettenbrücke am Sommergarten. Dort gab es ein großes Kommen und Gehen von vielen Menschen. Ich sah eine Reihe von Bekannten. Alle waren verschlafen und schweigsam. Irgend ein Herr, ein Zivilbeamter, doch von hohem Rang, besorgte den Empfang ... ununterbrochen kamen hellblaue Herren mit neuen Opfern herein. – ‚Da hast du nun, Mütterchen, den Georgstag!‘[53] sagte mir jemand ins Ohr. Der 23. April war ja richtig Georgi! Nach und nach umringten wir den hochgestellten Herrn, der eine Liste in der Hand hielt. Auf dieser Liste war vor den Namen Antonelli mit einem Bleistift geschrieben: ‚Agent in der aufgedeckten Sache‘.

„‚Also Antonelli,‘ dachten wir.

„Man verteilte uns in den Räumen, um uns auseinander zu halten, und wartete auf den endgültigen Bescheid, wo man einen jeden unterbringen sollte. In dem sogenannten weißen Saal befanden sich siebzehn von uns. Da kam Leonti Wassiljewitsch herein.“ (Dubbelt, der Untersuchungsrichter.) „Doch hier breche ich lieber ab. Das ist zu lang zum Erzählen. Ich versichere nur noch, daß Leonti Wassiljewitsch ein überaus angenehmer Mensch war.“

Irrtümlicherweise hatte man statt Michail Michailowitsch, der nach Quittierung seines Dienstes nach Petersburg übergesiedelt war, den jüngeren Bruder Andrei, der in Petersburg Architektur studierte, mit verhaftet.

Auch ihn hatten Gendarmen und Polizeileute geweckt und in die Dritte Abteilung Seiner Majestät Privatkanzlei (d. h. auf die Geheimpolizei) gebracht.

Dort fand er im Saal schon ungefähr zwanzig andere vor, – erzählt Andrei Michailowitsch in seinen Aufzeichnungen von diesem Erlebnis und der Haft in der Peter-Paulsfestung. – Sie unterhielten sich laut wie Bekannte unter einander; die einen verlangten Tee, die anderen Kaffee. „Plötzlich sehe ich meinen Bruder Fjodor, der eilig auf mich zukommt:

„‚Warum bist du hier, Bruder?‘ fragte er mich, aber da kamen schon zwei Gendarmen: und wir wurden in verschiedene Säle geführt.

„Den ganzen 23. April verbrachten wir fast bis zur Nacht in der Dritten Abteilung[54]. Das war ein Tag quälender Ungewißheit. Man verteilte uns zu 8 oder 10 in den verschiedenen Sälen. Gegen Mittag erschien der Chef der Gendarmerie, Fürst Orloff, und hielt eine kurze Ansprache an die Verhafteten, des Inhalts, daß wir durch unser Verhalten die Regierung gezwungen hätten, uns der Freiheit zu berauben; nach sorgfältiger Prüfung der Angelegenheit werde das Gericht das Urteil über uns fällen, doch die letzte Entscheidung hinge von der Gnade Seiner Kaiserlichen Majestät ab.

„Man gab uns Tee, ein Frühstück, Kaffee, ein Mittagessen, kurz, wir wurden glänzend versorgt.“ Das bestätigen auch die Aussagen der anderen, denen sogar Zigarren angeboten worden sein sollen. „Gegen 11 Uhr abends begann man, uns einzeln aufzurufen. Keiner, der hinausgegangen war, erschien wieder. Schließlich wurde auch ich hinausgerufen und in das Kabinett zu Dubbelt geführt. Der frug mich nach meinem Namen und befahl mir, dem Herrn Leutnant zu folgen, der sich mit einem Gendarmen und mir in die Kutsche setzte ... Sonderbarerweise kam es mir gar nicht in den Sinn, daß man mich nach der Festung bringen könnte.“ Erst als sie dort anlangten, wurde ihm klar, um was es sich handeln mochte. Das Zimmer, in das man ihn führte, war kaum-kaum erhellt: von einer kleinen Tranlampe, die auf einem hohen Vorsprung über dem Fenster stand. Dieses Zimmer erwies sich als sehr feucht, so daß der Festungskommandant am nächsten Morgen bei seinem Rundgange sagte: „Ja, hier ist es nicht schön, ganz und gar nicht schön, – man muß sich beeilen.“ Mit diesen letzten Worten hatte er wohl nur sagen wollen, daß man sich mit der Instandsetzung der neuen Kasematten beeilen müsse – was Andrei Michailowitsch sich damals freilich nicht so zu deuten verstand. Auf seine Frage: ‚Weshalb bin ich verhaftet worden?‘ antwortete ihm der Kommandant: „Das wird man Ihnen beim Verhör erklären.“

„Und von nun an,“ erzählt Andrei Michailowitsch weiter, „verlief mein Leben von einem Tag zum anderen in vollkommenem Nichtstun. Weder Bücher, noch Schreibpapier! Die einzige Zerstreuung bestand darin, daß die Tür meiner Kasematte sich fünfmal am Tage öffnete: um 7 Uhr morgens, wenn man das Waschwasser brachte und aufräumte; um 10 Uhr, wenn die Vorgesetzten ihren Rundgang machten – fast immer der Kommandant in eigener Person; um 12, wenn man das Essen brachte (Kohl- oder eine andere Suppe mit bereits kleingeschnittenem Rindfleisch[55] und einen Brei; Brot so viel man wollte); um 7 Uhr abends, wenn man das Abendbrot brachte (eine warme Speise); und schließlich, wenn es dunkel wurde, um das Tranlämpchen aufs Fenster zu stellen.“

So vergingen zehn Tage. Erst am 2. Mai kam der jüngere Dostojewski vor die Untersuchungskommission, und es stellte sich heraus, daß er von der ganzen Angelegenheit in der Tat nichts wußte. Ihm half besonders, daß er auf die Frage nach Butaschewitsch-Petraschewski, im Glauben, es handele sich um zwei Personen, ganz naiv antwortete: „Nein, Petraschewski kenne ich nicht, aber wie nannten Ew. Exzellenz den anderen?“

Daraufhin ließ ihn der Kommandant aus der feuchten Kasematte in einen neuen Raum führen und schließlich nahm er ihn bis zur Erledigung aller Formalitäten sogar in seine Privatwohnung. Der Irrtum hatte sich aufgeklärt, und in der Nacht vom 5. zum 6. Mai wurde Michail Michailowitsch verhaftet, worauf man dann erst, am 6. Mai, Andrei Michailowitsch entließ.

Über die Haltung seines älteren Bruders während der Haft schreibt Fjodor Michailowitsch im Jahre 1876 gelegentlich der Zurückweisung einzelner versteckter Vorwürfe in einer privaten Angelegenheit des Verstorbenen:

„Mein Bruder war weder an der organisierten Geheimgesellschaft Petraschewskis, noch an der Duroffs beteiligt. Aber er hatte die Abende bei Petraschewski besucht und aus der gemeinsamen geheimen Bibliothek, die sich im Hause Petraschewskis befand, Bücher entliehen. Er war damals Fourierist und studierte mit Leidenschaft dessen Lehre. Das war bekannt geworden. So konnte er sich während dieser zwei Monate seiner Haft durchaus nicht für ungefährdet halten oder damit rechnen, daß man ihn entlassen werde. Ja, er konnte sogar, wenn nicht Sibirien, so doch die Verbannung nach einer fernen Gegend Rußlands erwarten ... dabei hatte er eine Frau und drei kleine Kinder, die er zärtlich liebte und die gänzlich mittellos zurückgeblieben waren. Ich kann mir denken, was er in diesen zwei Monaten durchgemacht hat. Indessen hat er sich nicht zu den geringsten Angaben, die andere hätten bloßstellen können, verleiten lassen, um dadurch sein eigenes Los zu erleichtern, obgleich er manches hätte aussagen können; denn wenn er auch selbst nicht beteiligt war, so war er doch von manchem unterrichtet. Ich frage nun: hätten viele an seiner Stelle so gehandelt? Ich stelle kühnlich diese Frage, denn ich weiß, was ich sage. Ich weiß und habe gesehen, als was sich Menschen in solchen Unglücksfällen erweisen, und urteile darüber nicht etwa abstrakt.“

Außer Andrei und Michail Michailowitsch wurden von den im ganzen 34 Verhafteten noch andere entlassen. Es blieben 23: der Titularrat Michail Butaschewitsch-Petraschewski (27 Jahre alt); der Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Kursk Nikolai Speschnjoff (28 Jahre alt); der Leutnant des Moskauer Leibgarderegiments N. Mombelli (27 Jahre alt); der Leutnant des Gardegrenadierregiments N. Grigorjeff (27 Jahre alt); der Stabskapitän des Gardejägerregiments F. Lwoff (28 Jahre alt); der Student der Petersburger Universität P. Filippoff (24 Jahre alt); der im Asiatischen Departement angestellte Kandidat d. Petersb. Universität D. Achscharumoff (26 Jahre alt); der Student A. Chanykoff (24 Jahre alt); die im Asiatischen Departement angestellten Brüder Konstantin Desbut (38 Jahre alt) und Ippolit Desbut (25 Jahre alt); der gleichfalls dortselbst angestellte N. Kaschkin (20 Jahre alt); der Kollegien-Assessor a. D. und Schriftsteller S. Duroff (33 Jahre alt); der Ingenieur-Leutnant a. D. und Schriftsteller F. M. Dostojewski (27 Jahre alt); der unbeamtete Adlige und Schriftsteller A. Pleschtschejeff (23 Jahre alt); der im Justizministerium beamtete Titularrat W. Golowinski (20 Jahre alt); der Lehrer an der Hauptingenieurschule F. Toll (26 Jahre alt); der Gehilfe des Inspektors an dem Technologischen Institut I. Jastrshemski (34 Jahre alt); der Leutnant des Garde-Jäger-Regiments A. Palm (27 Jahre alt); der im Ministerium des Inneren angestellte Titularrat K. Timkowski (35 Jahre alt); der Kollegiensekretär A. Jewropéus (22 Jahre alt); der Kleinbürger P. Schaposchnikoff (28 Jahre alt); der Sohn eines Ehrenbürgers W. Kateneff (19 Jahre alt); der Leutnant a. D. R. Tschernosswitoff (39 Jahre alt).

Ein so gemischter Bestand der Gesellschaft gab der Polizei den Anlaß zu folgenden Erwägungen: „Die gewöhnlichen Verschwörungen pflegen aus gleichartigen oder gleichgestellten Mitgliedern zu bestehen – z. B. waren an der Dezemberverschwörung 1825 ausschließlich Adlige, und zwar vornehmlich Offiziere beteiligt. Hier dagegen, bei dieser Verschwörung, gab es neben Gardeoffizieren und Beamten des Ministeriums des Auswärtigen, Seite an Seite mit ihnen, Studenten, die die Universität nicht beendet hatten, gab es kleine Künstler, Kaufleute, Kleinbürger, sogar Händler, die sonst Tabak verkauften. Augenscheinlich begann man hier an einem Netz zu spinnen, das die ganze Bevölkerung umfassen und demgemäß nicht nur an einer Stelle, sondern überall ausgelegt werden sollte.“

Die Petraschewzen selbst zogen die Parallele mit den Dezembermännern in einem anderen Sinne: „Deren Vergehen waren wichtiger,“ sagten sie sich während ihrer Einzelhaft in der Festung, „da sie ins Heer eindrangen und über Kanonen und Gewehre verfügten.“ So hat Dostojewski gedacht. Speschnjoff aber hatte sich gesagt: „Die Dekabristen kämpften auf der Straße und auf den Plätzen, wir aber haben nur in einem Zimmer miteinander gesprochen.“ Dennoch sagt Dostojewski später aus, daß eine ganze Verschwörung vorgelegen habe, mit allem, was auch zu den späteren Verschwörungen gehörte, außer den Attentaten.

Von den Vorsitzenden der Untersuchungskommission wird mancherlei berichtet. Sie bestand, unter dem Vorsitz des Festungskommandanten General Nabokoff, aus dem Fürsten Dolgorukoff, Generalleutnant Dubbelt, Fürsten Gagarin und General Rostowzeff. Dubbelt soll den politischen Verbrechern alle möglichen Erleichterungen verschafft haben. Fürst Gagarin soll sich bei den Verhören ganz ungezwungen und wohlwollend verhalten und gesagt haben, auch er habe sich mit den Lehren Fouriers beschäftigt, er müsse aber darauf bestehen, daß nach dem Jahre 1848 ein solcher Schriftsteller nicht mehr für unschädlich gehalten werden könne. Im übrigen habe er den Angeklagten geraten, zu bereuen und alles freimütig einzugestehen. Doch Desbut beispielsweise hat nicht das geringste eingestanden und nicht einmal die Tatsache zugegeben, daß Dostojewski jenen Brief Bjelinskis vorgelesen hatte.

Wie Dostojewski sich erinnert, hat General Rostowzeff ihn aufgefordert, den ganzen Sachverhalt zu erzählen. Dostojewski gab statt dessen auf alle Fragen der Kommission nur ausweichende Antworten. Da soll sich nun Rostowzeff mit folgenden Worten an ihn gewandt haben: „Ich kann es nicht glauben, daß derselbe Mensch, der das Buch ‚Arme Leute‘ geschrieben hat, mit diesen lasterhaften Menschen eines Sinnes gewesen ist. Das ist unmöglich. Sie sind in die Sache nicht allzu verwickelt, und ich bin ermächtigt, Sie im Namen des Kaisers der Begnadigung zu versichern, wenn Sie sich bereit finden, den ganzen Hergang zu erzählen.“

„Ich schwieg,“ erzählte Dostojewski.

Da wandte sich Generalleutnant Dubbelt mit einem Lächeln zu Rostowzeff:

„Ich habe es Ihnen ja gesagt.“

Und Rostowzeff sprang auf – „Ich kann Dostojewski nicht mehr sehen!“ – damit stürzte er aus dem Zimmer und schloß die Tür mit dem Schlüssel hinter sich zu. „Ist Dostojewski noch da?“ fragte er dann von dort aus eine Weile später. „Sagen Sie mir, wenn er hinausgegangen ist, – ich kann ihn nicht sehen.“ Dieses Gebaren machte auf Dostojewski den Eindruck des Unechten.

Speschnjoff hat von seiten des Vorsitzenden der Untersuchungskommission die Bemerkung hervorgerufen: „Ich höre hier nur Phrasen und Phrasen, aber ich sehe keine Tat.“ Derselbe Speschnjoff hat dem jungen Kaschkin zugeflüstert: „Sagen Sie, daß Sie mich nicht kennen,“ – offenbar, um diesen ohnehin nur wenig in die Sache verwickelten Angeklagten noch mehr von ihr abzusondern. Speschnjoff wußte, daß man in ihm selbst einen der Hauptbeteiligten sah. Dagegen hat er über zwei andere, die er für bereits stark bloßgestellt hielt, doch einiges ausgesagt, und dasselbe hat, wenn man den Akten trauen darf, auch Petraschewski getan. Ich nehme an, daß beide damit die Sache als gefährlicher hinstellen wollten, um die Vertreter der Regierung zu verblüffen. Speschnjoff schließt mit den Worten: „Jetzt habe ich meine Pflicht erfüllt. Das war meine ganze Beichte. Ich bin schuldig und man muß mich strafen.“ Jedenfalls klingt aus diesen Worten schon etwas wie eine Erkenntnis der eigenen Schuld. Dasselbe ist auch bei manchen anderen der Fall. Einer von ihnen nennt sich sogar einen „verabscheuenswerten Liberalen“. Ein anderer bittet den Kaiser um Gnade, er sei verirrt gewesen, ein dritter glaubt, die Verzeihung nicht verdient zu haben, und ein vierter bittet nur um die Möglichkeit, unserem gemeinsamen Vater auf Erden beweisen zu können, daß er in ihm noch einen treuen Sohn finden werde. Ob sie wirklich ehrlich bereuten oder nur, weil sie sahen, daß sie sich zwecklos ins Unglück gebracht hatten, mag dahingestellt bleiben.

Anders verhält es sich mit Dostojewski, wenn er in seiner Rechtfertigungsschrift[56] von sich sagt, er sei weder ein Freidenker, noch ein Gegner der Selbstherrschaft gewesen und bekenne sich zu keinem der sozialistischen Systeme, da er überzeugt sei, daß ihre Anwendung nicht nur in Rußland, sondern selbst in Frankreich die Menschen unfehlbar ins Verderben führen werde.

Auch wenn Jastrshemski sich einen „überzeugten Monarchisten“ und gleichzeitig einen „überzeugten Anhänger der Lehre Fouriers“ nennt, so ist das nicht so unvereinbar, wie es scheinen mag und zweifellos auch den Mitgliedern der Untersuchungskommission erschienen ist. Sie wußten natürlich nicht, daß Fourier sich mit einem Schreiben einmal tatsächlich an Kaiser Alexander I. gewandt hatte, in dem er auf die Selbstherrschaft als auf das zuverlässigste Mittel zur Durchführung einer radikalen sozialen Reform hinwies. Erinnern wir uns auch jenes absprechenden Urteils über Konstitution in dem von Petraschewski herausgegebenen Fremdwörterbuch.

Ich komme auf Dostojewski zurück und bemerke, daß in seiner Rechtfertigungsschrift in manchen Äußerungen doch schon der Ton einer erzwungenen Konzession der quälenden Lage gegenüber durchklingt; so z. B. wenn er sagt, er sei fest überzeugt gewesen, daß dieser von ihm vorgelesene Brief Bjelinskis niemanden überzeugen könnte, aber er sähe jetzt ein, daß er einen Fehler begangen habe, als er ihn vorlas, usw. Wir wissen auch, daß Dostojewski auf die mündlichen Fragen ausweichend geantwortet hat, da er nicht die verheißene Gnade benutzen wollte, so daß der über diese Verstocktheit aufgebrachte Rostowzeff sogar das Zimmer verließ. Also hat Dostojewski keinen seiner Mitangeklagten verraten. Später wurde von ihm wie auch von den anderen eine schriftliche Aussage verlangt. In dieser Aussage nun hat er – wie übrigens auch die anderen Angeklagten – ermüdet, bei zerquälten Nerven, (bei seiner besonderen Nervosität von jeher!) sich schließlich – doch wieder ohne jemanden hinein zu ziehen – in etwas übertriebenem Maße selbst beschuldigt: vielleicht einfach damit man sich endlich zufrieden gab und ihn in Ruhe ließ. Wenigstens sagt er in seinem Tagebuch von 1873 ganz offen, daß in dem Augenblick, als ihnen ihr Todesurteil vorgelesen wurde, in keinem von ihnen so etwas wie Reue gewesen sei. In demselben Bericht sagt er weiter, daß sein eigenes Urteil über diese ganze Angelegenheit sich erst später geändert habe.

Seine Untersuchungshaft in der Peter-Paulsfestung dauerte acht Monate. In den zwei ersten Monaten tat er nichts, dann aber erhielten die Angeklagten Bücher religiösen Inhalts und durften schreiben. Man ließ sie eine Viertelstunde lang auf dem kleinen Hof spazieren, jeden einzeln, und unter militärischer Bewachung. Mit seinem Zellennachbarn, dem Studenten Filippoff, konnte Dostojewski sich ein wenig durch Klopfen an die Wand verständigen. Nach der Aussage Jastrshemskis, der die Haft in demselben sogenannten Alexejewschen Außenwerke verbrachte, sind die Lebensbedingungen in hygienischer Hinsicht zufriedenstellend gewesen: „gute Luft, Sauberkeit, gesunde Kost“. Tatsächlich ist von den Petraschewzen niemand an der Cholera, die in jenem Sommer äußerst heftig in Petersburg auftrat, erkrankt; doch die gute Luft hinderte nicht, daß Jastrshemskis Filzhut in der Feuchtigkeit der Zelle verschimmelte. Am schwersten war wohl die Einsamkeit zu ertragen. Nach Desbut hat diese Einsamkeit das Mitleid ihres Korridorwächters (eines älteren Garnisonsoldaten) erweckt. Dann und wann öffnete er vom Korridor aus das kleine Fenster in der Kasemattentür und sagte zu dem einsamen Gefangenen: „Ihr habt wohl Langeweile? Haltet aus! Auch Christus hat gelitten. Wofür man euch nur eingekerkert haben mag? Alle seid ihr so still, und sonst ist hier doch lauter so stürmisches Volk.“

Aus dieser Zeit haben sich ein paar Briefe Fjodor Michailowitschs an seinen älteren Bruder, der inzwischen aus der Haft entlassen worden war, erhalten. Am 18. Juli schreibt er auf den Zuspruch hin, nicht zu verzagen: „... aber ich verzage ja gar nicht ... Manchmal hat man sogar das Empfinden, als habe man sich an ein solches Leben schon gewöhnt und als sei einem alles eins ... aber ... manch anderes Mal kommt das frühere Leben wieder mit all seinen Eindrücken und flutet nur so in die Seele hinein ... Ich habe drei Erzählungen und zwei Romane ausgedacht, an dem einen schreibe ich jetzt ...“ Es war das die Erzählung „Der kleine Held“. Damals nannte er sie eine Kindergeschichte; in späteren Jahren sagt er einmal zur Erklärung: „man konnte dort nur das Unschuldigste schreiben“. Am 27. August teilt er dem Bruder mit: „... man hat mir wieder erlaubt, im Garten zu spazieren, in dem es fast siebzehn Bäume gibt. Das ist für mich ein großes Glück. Außerdem bekomme ich jetzt abends eine Kerze: Dies ist mein zweites Glück. Das dritte Glück werde ich erleben, wenn du mir möglichst bald antwortest und das nächste Heft der ‚Vaterländischen Annalen‘ schickst ...“ Am 14. September dankt er dem Bruder für die zugesandten zehn Rubel und die Bücher: „Die geben mir doch wenigstens Zerstreuung. Jetzt sind es schon bald fünf Monate, daß ich nur von eigenen Mitteln lebe, d. h. nur von meinem Kopf ... Das ewige Denken und immer nur Denken ist schwer! Ich befinde mich gleichsam unter einer hermetisch abschließenden Glocke, aus der die Luft herausgepumpt wird ...“

Die mutige Ruhe, die Fjodor Michailowitsch in seiner Lage bewahrte, seine Geduld und Ausdauer sind um so bemerkenswerter, als er, nach seinen eigenen Worten, vor dieser Katastrophe „bis zur Krankhaftigkeit hypochondrisch“ war, alle möglichen Leiden in sich vermutete, vor lauter Argwohn tatsächlich kränkelte und sich mit Senfpflastern zu kurieren suchte. Aus Andrei Michailowitschs Aufzeichnungen wissen wir, daß Fjodor Michailowitsch oft vor dem Einschlafen einen Zettel hinlegte, auf dem etwa geschrieben stand: „Heute kann ich in lethargischen Schlaf verfallen, darum – mich nicht vor so und so viel Tagen beerdigen“. Und zu seiner Frau hat er später gesagt, daß er wohl wahnsinnig geworden wäre, wenn diese Katastrophe nicht in sein Leben eingegriffen hätte. Von den übrigen Verhafteten dagegen erging es dreien umgekehrt: Der Gardegrenadieroffizier Grigorjeff wurde bereits in der Festung halb irrsinnig; der neunzehnjährige Kateneff kam von dort aus in die Irrenanstalt und somit überhaupt nicht vor das Militärgericht; und bei dem älteren Desbut stellte sich vorübergehend eine gewisse geistige Umnachtung ein.

Von der Untersuchungskommission ging die Angelegenheit Petraschewski auf Allerhöchsten Befehl an eine Gerichtskommission unter dem Vorsitz des Generals Perowski über. Diese Gerichtskommission beschloß, infolge ungenügender Beweise alle Verhafteten wieder in Freiheit zu setzen. Doch nun wurde die Sache am 16. November dem General-Auditoriat übergeben und kriegsrechtlich behandelt. Zu dieser Übergabe lag juridisch gar keine Veranlassung vor, da jene auf Allerhöchsten Befehl eingesetzte Gerichtskommission nach der hierarchischen Stufenleiter höher stand, und so ist es wohl verständlich, daß, wie I. Desbut mitteilt, selbst der Festungskommandant mit größtem Befremden davon Kenntnis nahm und den Verhafteten in sichtlich höchster Erregung davon Mitteilung machte.

Natürlich konnte auch das General-Auditoriat die Tatsache nicht übersehen, daß von den Angeklagten keineswegs alle in gleichem Maße beteiligt oder schuldig waren – zumal einzelne in ihren Aussagen die weniger Bloßgestellten noch besonders zu entlasten versucht hatten; da aber die in dem vorliegenden Falle anzuwendenden Gesetze betreffs Staatsverbrechen zwischen den Hauptschuldigen oder Anstiftern und den Mitbeteiligten keinen Unterschied machen, so wurden sämtliche Angeklagten mit Ausnahme eines einzigen (Tschernosswitoffs, den man nur nach Wjätka verbannte) „zum Tode durch Füsilieren verurteilt“. Indes wurden vom General-Auditoriat selbst die mildernden Umstände hervorgehoben (die aufrichtige Reue vieler, die freiwilligen Geständnisse weiterer Vergehen, die sonst unbekannt geblieben wären, ferner die große Jugend einzelner, sowie schließlich, daß ihre verbrecherischen Absichten, dank dem rechtzeitigen Eingreifen der Regierung, ohne schädliche Folgen geblieben waren), und auf Grund dieser mildernden Umstände nahm sich das General-Auditoriat „die Freiheit, die Anwendung der kaiserlichen Gnade hinsichtlich der Entscheidung über das Los der Angeklagten und die Umwandlung der Todesstrafe in Strafen nach Maßgabe ihrer Schuld alleruntertänigst zu befürworten.“ Die im Anschluß hieran vom General-Auditoriat unterbreiteten Urteilssprüche wurden vom Kaiser durch handschriftliche Bemerkungen an den Rand der Aktenblätter teils bestätigt, wie z. B. das Urteil über Petraschewski (er wurde zum Verlust aller Rechte und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken verurteilt), teils verschärft, wie u. a. die Jastrshemski zudiktierten vier Jahre Zwangsarbeit in sechs Jahre verwandelt wurden, größtenteils aber gemildert, so u. a. auch die Strafen für Duroff und F. M. Dostojewski, die beide zu achtjähriger Zwangsarbeit verurteilt waren, letzterer wegen „Teilnahme an verbrecherischen Absichten, Verbreitung eines vom Schriftsteller Bjelinski geschriebenen Briefes, der voll ist von frechen Ausdrücken gegen die rechtgläubige Kirche und die oberste Gewalt, sowie wegen des Planes, in Übereinstimmung mit Anderen, Schriften gegen die Regierung mittels einer geheimen Druckerei zu verbreiten“. Dieses Urteil wurde – ebenso wie das gleichlautende für Duroff: „zur Zwangsarbeit auf acht Jahre“ – vom Kaiser durch eigenhändige Randbemerkung geändert in Zwangsarbeit „auf vier Jahre und dann als Gemeiner“.

Dostojewski hat später diese Art seiner Verurteilung als einen Präzedenzfall bezeichnet, da bislang jeder in Rußland zur Zwangsarbeit Verurteilte (gleichviel auf wieviel Jahre) damit seine bürgerlichen Rechte für immer verlor. „Dostojewski aber sollte“ – so diktierte er von sich in der dritten Person, als er einmal um biographische Daten für ausländische Leser gebeten wurde – „nach Ablauf der Frist der Zwangsarbeit als Soldat eingereiht werden, d. h. es wurden ihm die Bürgerrechte wieder zuerkannt. Später sind ähnliche Vergünstigungen des öfteren vorgekommen, damals aber geschah es zum ersten Male nach dem Willen des verstorbenen Kaisers Nikolai I., ‚dem es um Dostojewskis Jugend und Talent leid tat.‘“ Wie wir wissen, geschah das aber nicht nur mit Dostojewski, sondern auch mit Duroff. An sich ist diese Tatsache umso beachtenswerter, als weder von Dostojewski noch von Duroff irgend welche „freiwilligen Geständnisse“ erfolgt sind, wie wir aus den Akten ersehen.

Eine noch größere Milderung des Urteils ließ der Kaiser dem Dichter Pleschtschejeff zuteil werden: Dieser sollte nur in das Orenburger Linienregiment als Gemeiner eingereiht werden. Zieht man nun in Erwägung, daß Pleschtschejeff, ganz wie Dostojewski und Duroff, besonders für die Befreiung der Bauern eintrat und diese Befreiung von der Regierung erwartete, so fragt es sich, ob nicht die Milderung ihrer Strafe zum Teil auf eine alte Absicht des Kaisers Nikolai I., die Bauern zu befreien, zurückzuführen war, eine Absicht, die sich infolge der Entgegenwirkung des Adels nicht verwirklichte? ...

Im übrigen sollte einzig der Leutnant des Leibgardejäger-Regiments Alexander Palm, „aus dessen Schriften,“ wie es in dem Bericht des General-Auditoriats heißt, „eine große Liebe zu Rußland spricht,“ ohne Degradation mit dem gleichen Rang als Leutnant aus der Garde in die Linie versetzt werden: und dieses Urteil ward vom Kaiser bestätigt.

Am 22. Dezember 1849 wurde im „Russischen Invaliden,“ dem Regierungsorgan, das Urteil über die Petraschewzen veröffentlicht und der ganze Fall wie folgt gekennzeichnet:

„Die verderblichen Lehren, die im ganzen westlichen Europa Unruhen und Aufstände erzeugt haben, und die mit dem Sturz und der Zertrümmerung jeglicher Ordnung und jedes Wohlstandes der Völker drohen, haben bedauerlicherweise auch in unserem Vaterlande einen gewissen Widerhall gefunden ... Eine Anzahl unbedeutender, meist junger und sittenloser Menschen träumte von der Möglichkeit, die heiligsten Rechte der Religion, der Gesetzlichkeit und des Eigentums niederzutreten ... Der Titularrat Butaschewitsch-Petraschewski versammelte an bestimmten Tagen in seiner Wohnung einen Kreis jüngerer Leute aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten. Gotteslästerungen, dreiste Worte gegen die geheiligte Person Seiner Majestät des Kaisers, Auslegung der Regierungsmaßnahmen in tendenziös entstellender Weise und Schmähung der Staatsvertreter – das waren die Waffen und Mittel, die Petraschewski zur Aufwiegelung seiner Versammlung benutzte ... Ende des Jahres 1848 schritt er zur Bildung einer geheimen Gesellschaft ... Darauf wurde der Plan zur Hervorrufung eines allgemeinen Aufstandes im Reich niedergeschrieben.“

Von den Angeklagten wußte indes niemand, wann das Urteil in ihrem Prozeß verkündet werden, geschweige denn, wie es lauten würde. Am frühen Morgen des 22. Dezember fiel ihnen nur ein ungewohnter Lärm, ein Kommen und Gehen im Korridor auf, und sie begannen zu vermuten, daß etwas Besonderes vorgehe. Das erzählte mir der verstorbene Speschnjoff; er sagte, es sei um 6 Uhr gewesen. Um 7 aber setzte man sie in die Wagen und führte sie fort. Nach Fjodor Michailowitschs Worten hatte man sie vorher veranlaßt, ihre eigenen Kleider anzuziehen ... Speschnjoff, der sich nicht zu erklären vermochte, wohin die Fahrt ging, nahm schließlich an, man wolle ihnen den Urteilsspruch verlesen, und da man kriegsrechtlich über sie abgeurteilt hatte, mußte das wohl im Ordonnanzhause geschehen. Aber die Fahrt dauerte lange. Da fragte Speschnjoff den Soldaten: „Wohin führt man uns?“ Dieser antwortete: „Es ist nicht befohlen, das zu sagen.“

Es war starker Frost und durch die beeisten Fenster konnte man nicht erkennen, durch welche Straßen die Fahrt ging. Speschnjoff glaubte, sie seien von der Festung aus über die Newa gefahren und befänden sich nun auf dem Liteinyj Prospekt. Um sich davon zu überzeugen, versuchte er, mit dem Finger das Eis an der Fensterscheibe zu entfernen, aber der Soldat sagte: „Tun Sie das nicht, sonst schlägt man mich.“ Da unterließ Speschnjoff den Versuch und verzichtete auf die Befriedigung seiner so begreiflichen Neugier. Der Gedanke an ein Todesurteil, an eine sofortige Hinrichtung kam ihnen, wie gesagt, überhaupt nicht in den Sinn. Und ebensowenig konnten sie darauf verfallen, daß das Urteil, das auf „Tod durch Füsilieren“ lautete, vom Kaiser aber schon geändert worden war, ihnen gleichwohl in seiner ganzen Schärfe verkündet werden würde, einzig zu dem Zweck, um Eindruck auf sie zu machen, um sie zu erschüttern, zu entsetzen.

Nach einer ihnen endlos scheinenden Fahrt hielten schließlich die Wagen: es war auf dem Ssemjonoffschen Platz. Man stellte sie in einer bestimmten Ordnung auf und führte sie dann auf das Schafott. Nach Speschnjoffs Aussage wollten sie sich nun begrüßen und miteinander unterhalten, aber das wurde ihnen nicht erlaubt, und so konnten nur die Nächststehenden einander ein paar Worte zuraunen. Hier nun muß es wohl geschehen sein, daß Dostojewski, der neben Mombelli stand, diesem den Inhalt einer Novelle, die er in der Festung geschrieben hatte, in aller Kürze erzählte. Diese Tatsache, die mir Mombelli selbst mitgeteilt hat, bestätigt die Möglichkeit jener gemischten, vielseitigen, ruhig-erregten Gemütsverfassung in solchen Minuten, die wir aus Schilderungen Dostojewskis in manchem seiner Werke kennen lernen. Es hat ihn also bei diesen Schilderungen außer tiefem, psychologischem Scharfsinn auch die eigene Erfahrung geleitet. (Er selbst hat allerdings niemals davon gesprochen, daß er damals Mombelli seine Novelle erzählt habe; er hat also den Vorfall wohl vergessen, aber in seinem Bewußtsein ist offenbar doch eine Spur des Eindrucks der Stimmung zurückgeblieben.)

Als sie auf dem Schafott zu beiden Seiten aufgestellt waren, auf der einen Seite 9, auf der anderen 11, trat der Auditor in die Mitte der Richtstätte und verlas das Todesurteil. Plötzlich brach Sonnenschein durch die Wolken, und Dostojewski, der neben Duroff stand, sagte zu diesem: „Das kann doch nicht sein, daß man uns hinrichtet.“ Als Antwort darauf wies Duroff auf einen Lastwagen, auf dem, wie ihm schien, Särge aufgeladen und mit einer Bastmatte bedeckt waren (wie es sich später herausstellte, befanden sich auf diesem Wagen ihre Sträflingskleider mit den Halbpelzen für die Reise). Nunmehr, so erzählte Dostojewski, war jeder Zweifel ausgeschlossen, und für sein ganzes Leben prägten sich ihm die Worte ein, die sich in diesem verhängnisvollen Schriftstück so oft wiederholten: „zum Tode durch Füsilieren verurteilt.“ Doch bei alledem prägte sich ihm ebenso deutlich auch etwas so Nebensächliches ein, wie z. B., daß der Auditor nach der Verlesung des Urteils das Schriftstück zusammenfaltete, in die Seitentasche seines Mantels schob und dann von dem erhöhten Schafott hinabstieg. Nach ihm kam der Geistliche auf das Schafott, das Kreuz in der Hand, und forderte zur Beichte auf. Doch nach Dostojewskis Aussage hat sich von ihnen keiner zur Beichte gemeldet, außer Schaposchnikoff (seines Standes Kleinbürger), aber das Kreuz haben sie alle geküßt. Also auch Petraschewski, von dem wir doch mit Bestimmtheit wissen, daß er überzeugter Atheist war? Wenn hier nicht ein Irrtum Dostojewskis vorliegt, so bleibt diese Tatsache gerade so unerklärt, wie die andere: weshalb nur Schaposchnikoff beichtete, während doch mehrere von ihnen zweifellos religiös waren (Duroff sogar „bis zur Lächerlichkeit“)? Im übrigen dürfte alles, was Dostojewski im „Idiot“ von dem zum Tode Verurteilten erzählt, und somit auch, wie der Verurteilte das Kreuz küßt, mit jenem eigenen Erlebnis in Verbindung stehen, ja zum Teil einfach autobiographisch sein.

Das Erscheinen des Geistlichen zur Beichte zwang die Verurteilten, bestimmt zu glauben, daß die Hinrichtung tatsächlich vollstreckt werden würde: Denn das Abendmahl, so sagten sie sich, würde man doch nicht zu einer dekorativen Zutat machen. N. Kaschkin war es, wie er mir erzählte, allerdings aufgefallen, daß der Geistliche die geweihten Gaben zum heiligen Abendmahl gar nicht bei sich hatte, und so wagte er denn, da er am Ende der Reihe und gerade in der Nähe des Ober-Polizeimeisters stand, diesen leise auf französisch zu fragen: „Wird man uns denn, wenn wir beichten, nicht das heilige Abendmahl empfangen lassen?“, worauf ihm General Galachoff gleichfalls auf Französisch zuflüsterte: „Sie werden alle begnadigt“. So erfuhr denn nur ein einziger von ihnen, daß die Hinrichtung garnicht stattfinden werde.

Inzwischen aber wurden bereits die ersten drei an die Pfähle gebunden. Es waren das Petraschewski, Mombelli und Grigorjeff. Vor jedem Pfahl stand ein Offizier mit einer Anzahl Soldaten und das Kommando zur Bereitschaft war schon gegeben. Dostojewski erinnerte sich später, daß ihn die Trennung von den ihm lieben Menschen, die er nun im Leben zurücklassen mußte, damals gar nicht schmerzte; es war ja auch viel zu wenig Zeit, darüber nachzudenken. Er empfand nur eine mystische Angst und stand ganz unter dem Einfluß des Gedankens, daß er in irgend welchen fünf Minuten in ein anderes, unbekanntes Leben übergehen werde (also war in ihm der Glaube an die Unsterblichkeit doch nicht im geringsten erschüttert). Aber wie erschüttert er sonst auch war, er verlor nicht die Fassung. Wie ein Augenzeuge berichtet, war Dostojewski nicht bleich; er ging ziemlich schnell aufs Schafott und erschien eher eilfertig als bedrückt. Ganz anders dagegen wirkte all das auf einige seiner Gefährten. Der Gardeoffizier Grigorjeff war, wie wir wissen, schon in der Festung geistig unzurechnungsfähig geworden. Nun gaben ihm das Angebundenwerden an den Pfahl und das Kommando an die Soldaten, die Gewehre bereit zu machen, den Rest. Es fehlte nur noch der Befehl „Feuer!“ und alles wäre zu Ende gewesen. Doch da wurde mit einem Tuch gewinkt – und die Hinrichtung ward aufgehalten. Als man aber Grigorjeff vom Pfahl losband, war er bleich wie der Tod. Sein Geist war endgiltig zerstört.

Nach der Aussage von I. Desbut erschien vielen von ihnen die Mitteilung der Begnadigung durchaus nicht als etwas Freudiges, sondern nahezu als etwas Beleidigendes: mit solcher Feindseligkeit hatte dieses ganze gegen sie angewandte Verfahren sie erfüllt.

In seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ vom Jahre 1873 kommt Dostojewski ausführlich auf seine und seiner Gefährten allgemeine Stimmung zu sprechen[57]. Doch was er selbst damals im Innersten empfunden hat, das finden wir – abgesehen von gelegentlichen kurzen Vergleichen oder Bemerkungen, so im „Raskolnikoff“ – hauptsächlich in den zum Teil buchstäblich autobiographischen Schilderungen des Fürsten Myschkin im Roman „Der Idiot“. Diese enthalten – in Personen vorgeführt – eine ganze empirische Psychologie in Verbindung mit der religiös-philosophischen Frage nach der Berechtigung der Todesstrafe überhaupt ...

Noch an demselben Tage schrieb Dostojewski einen Brief an den Bruder, in dem er diesem nur kurz die Tatsachen mitteilte[58]. „... Ich hatte noch Zeit,“ schreibt er, „Pleschtschejeff und Duroff, die neben mir standen, zu umarmen und Abschied von ihnen zu nehmen. Schließlich wurde Retraite[6] getrommelt. Die, welche bereits an die Pfähle gebunden waren, wurden zurückgeführt und man las uns vor, daß Seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenkte. Darauf wurden die endgiltigen Urteile verlesen. Palm allein ist begnadigt worden“ ...

Der Gedanke an die bevorstehende Zuchthausstrafe erschien ihm zunächst furchtbar. „Lieber fünfzehn Jahre in der Kasematte mit der Feder in der Hand,“ schreibt er in einem Brief, aus dem bald nach seinem Tode einzelne Stellen veröffentlicht wurden (das Original ist nachher leider verloren gegangen), und fügt hinzu: „Der Kopf, der schuf, der das höhere Leben der Kunst lebte, der sich mit den erhabenen Bedürfnissen des Geistes eingelebt hatte, der Kopf ist bereits von meinen Schultern geschlagen!“

In dem Bewußtsein Dostojewskis, des Psychologen, hat sich wohl hauptsächlich die innerliche Seite des Erlebnisses vom 22. Dezember erhalten, dagegen scheint er die Kälte von 21 Grad Réaumur, bei der sich das alles zutrug, spurlos vergessen zu haben. Nach Speschnjoffs Aussage hatten die Verurteilten ungeachtet dieser Temperatur ihre Oberkleider ablegen und während der ganzen Zeit der Verlesung des Urteils, des Anbindens an die Pfähle und dann des zweiten Verlesens der Urteilssprüche im Hemde stehen müssen. Das dauerte nach seiner Behauptung über eine halbe Stunde. (Dostojewski gibt im „Idiot“ als Zeitspanne 20 Minuten an.) „Reiben Sie die Wangen“; „reiben Sie das Kinn,“ sagten sie zu einander. Nach ihrer Rückkehr in die Festung gingen der Kommandant Nabokoff und Doktor Okel die Zellen der Reihe nach durch, um festzustellen, ob sich nicht jemand erkältet hatte. Doch erst in Tobolsk, (West-Sibirien) erkannte der Arzt der Dekabristen, Dr. Wolf, bei Speschnjoff das Anfangsstadium der Schwindsucht, von der er sich aber in der Luft der Nadel- und Laubwälder allmählich erholte.

Nach Sibirien wurden sie nicht alle zugleich verschickt, sondern täglich je zwei oder auch nur einer. Petraschewski war gleich auf dem Richtplatz in den Sträflingspelz gesteckt und nach Minussinsk verschickt worden. Bis Tobolsk hatten sie alle den gleichen Weg zurückzulegen, von dort aus aber wurden sie dann verteilt. Dostojewski hat gerade am heiligen Weihnachtsabend die Reise antreten müssen. Das war für ihn, der an der Familie und allen Kindheitserinnerungen hing, der nie aufhörte, Christ zu sein, ein Tag ganz anderer Empfindungen. Doch die Obrigkeit sah natürlich in allen Verurteilten nur geschworene Atheisten.

„Wenn ich mich nicht irre,“ schreibt A. P. Miljukoff in seinen Erinnerungen[59], „war es am dritten Tage nach der Exekution auf dem Ssemjonoffschen Platz, daß Michail Michailowitsch Dostojewski zu mir gefahren kam und mir mitteilte, sein Bruder werde noch am selben Abend verschickt und er fahre nun zu ihm, um Abschied von ihm zu nehmen“. Miljukoff schloß sich ihm natürlich an. In einem großen, nur von einer Lampe erhellten Zimmer im Erdgeschoß des Kommandanturgebäudes mußten sie ziemlich lange warten ... Zweimal verstrich eine Viertelstunde und erklang das holländische Glockenspiel mit seinen vielstimmig abgetönten Klängen vom Turme der Festungskirche. „Endlich ging die Tür auf, draußen klappten Handgriffe an Gewehren, und geleitet von einem Offizier traten Dostojewski und Duroff ins Zimmer ... beide schon in den Reisekleidern der Sträflinge, in Halbpelzen und hohen Filzstiefeln. Der Festungsoffizier setzte sich taktvoll auf einen Stuhl nicht weit vom Eingang und behinderte uns nicht im geringsten.“ Miljukoff unterhielt sich nun mit Duroff, der ihm noch sein letztes Gedicht einhändigte ... „Beim Anblick des Abschieds der Brüder von einander,“ erzählt Miljukoff, „hätte wohl ein jeder bemerkt, daß von ihnen derjenige mehr litt, der hier blieb. In den Augen des älteren Bruders standen Tränen, seine Lippen bebten, Fjodor Michailowitsch aber war ruhig und tröstete ihn noch: ... ‚Auch im Zuchthause sind nicht Tiere, sondern Menschen, vielleicht sogar bessere als ich, vielleicht würdigere als ich‘ ... Es ist möglich,“ bemerkt Miljukoff zum Schluß, „daß ihn gerade der ihm gleichsam angeborene und immer in ihm gegenwärtige Gedanke lockte, in den am tiefsten gesunkenen Verbrechern ... jenen tief unter der Asche sich versteckenden, aber doch nicht erloschenen Funken des göttlichen Feuers zu finden, jenen Funken, der, wie er immer glaubte, selbst im verstocktesten Übeltäter und dem letzten Verstoßenen lebt.“

Sie waren über eine halbe Stunde zusammen, doch die Zeit erschien ihnen kurz. Man sagte ihnen, daß sie sich nun trennen müßten. Zum letztenmal umarmten sie sich und drückten sie einander die Hände. Miljukoff und Michail Michailowitsch hörten aber, daß die Abfahrt in einer Stunde, nicht später, erfolgen werde, und so blieben sie vor dem Tor der Festung und warteten ... Die Nacht war nicht kalt und sternhell ... Wieder erklang das Glockenspiel vom Turme, es war neun Uhr, als zwei Schlitten herausfuhren, und auf jedem saß ein Sträfling mit einem Gendarmen. „Lebt wohl!“ riefen die Zurückbleibenden ihnen nach. „Auf Wiedersehen!“ wurde ihnen geantwortet.

Den einen sollte Miljukoff erst nach zehn Jahren, den anderen überhaupt nicht wiedersehen.

Das Folgende erzählt Iwan Jastrshemski:

„Man wird sich wohl kaum eine Vorstellung davon machen können, wie erfreut ich war, daß man mich mit Dostojewski und Duroff zusammen transportierte. Die Einzelhaft in diesen ganzen acht Monaten hatte mich so zermürbt und physisch vernichtet, daß Duroff, der auf dem Schafott neben mir stand, mich nicht erkannte. Nun war die Möglichkeit, in den kurzen Erholungspausen während der Reise mit ihnen wenigstens sprechen zu können, schon ein wahres Glück für mich.

„Wir kamen nach Tobolsk ... und wurden im Ostrogg (Zuchthaus) in einen großen Raum geführt, von wo aus die weitere Verteilung der Gruppen erfolgte. In diesem Raum waren an die dreihundert Männer, Frauen und Kinder von jedem Alter und von allen Rassen; die einen wurden in Ketten geschmiedet, andere an einer eisernen Stange aufgereiht, den dritten wurde das Haar vom Schädel bis zur Haut abrasiert. Dieses ganze Schaustück machte auf mich einen erschütternden Eindruck. Wir wurden dem Aufseher des Gefängnisses übergeben ... Wir waren die ganze Nacht und einen Teil des Tages bei 40° Kälte gefahren, da war es wohl erklärlich, daß ich mir unsere Ankunft in Tobolsk in Verbindung mit der Vorstellung von irgend einer warmen Unterkunft und heißem Tee gedacht hatte. Doch auf meine Frage, ob wir einen Ssamowar bekommen könnten, antwortete Iwan Gawrilowitsch (der Aufseher) mit der Gegenfrage: ‚Wie denken Sie denn die Etappenreise durch Sibirien fortzusetzen? Wir haben keinen Ssamowar.‘ Diese Worte eröffneten mir die Perspektive der Weiterreise zu Fuß vielleicht über Tausende von Werst. Und mir fiel das soeben gesehene Bild der Vorbereitung zum Weitermarsch der Gruppen ein.

„Wir kamen in die Gefängniskanzlei ... einen dunklen, schmutzigen Raum, wo mir als erstes die ‚Beamten‘ auffielen, die hier das schriftliche erledigten. Diese Individuen staken in kamelhaarenen Sträflingsröcken; die einen waren als Schwerverbrecher auf Stirn und Wangen mit den eingebrannten Buchstaben K. A. T. gestempelt, andere, denen man zur Kennzeichnung auch noch die Nüstern herausgeschnitten hatte, mit den Buchstaben W. O. R. Physiognomien à l’avenant[7] ...

„Iwan Gawrilowitsch kam auf uns zu. ‚In Ketten?‘, fragte er barsch. ‚Jawohl,‘ antworteten wir. ‚Durchsuchen,‘ kommandierte er. Und wir wurden einer Durchsuchung unterzogen, daß uns vor Scham und Empörung das Blut zu Kopfe stieg ... Hierauf wurden wir in eine Kammer geführt, in einen schmalen, dunklen, kalten, schmutzigen Raum ... In diesem Raum war eine Pritsche, auf der drei schmutzige, mit Heu gefüllte Säcke lagen und drei ebensolche Kopfkissen, sonst nichts. Vollkommene Finsternis. Hinter der Tür, im Flur, die schweren Schritte des Postens, der hin und her schritt – in einer Kälte von vierzig Grad.

„Wir setzten uns und kauerten uns zusammen – Duroff auf der Pritsche, ich neben Dostojewski auf dem Fußboden. Hinter der dünnen Wand, oder fast war es nur ein Bretterverschlag, wo, wie wir später erfuhren, Untersuchungsgefangene untergebracht waren, hörte man das Aufschlagen der kleinen Krüge und Gefäße, aus denen sie Schnaps tranken, dazu die Ausrufe der Karten- und Würfelspieler und ein solches Geschimpfe, solche Flüche ...

„Duroffs Finger und Zehen waren erfroren. Bei Dostojewski hatten sich schon in der Peter-Pauls-Festung skrophulöse Wunden im Gesicht und im Munde gebildet. Und mir war die Nasenspitze erfroren.

„Inmitten dieser ... Umgebung fiel mir mein früheres Leben ein, mein Leben in Petersburg, im Kreise junger, sympathischer, kluger Universitätskameraden ... Ich dachte, was wohl meine Schwester sagen würde, wenn sie mich hier sähe? Ich dachte, für mich gäbe es keine Rettung mehr, und beschloß, meinem Leben ein Ende zu machen, wozu ich schon in der Peter-Pauls-Festung Vorbereitungen getroffen hatte ... Ich erwähne dieses Schwere hier nur deshalb, weil es mir die Möglichkeit gab, die Persönlichkeit Dostojewskis näher kennen zu lernen. Seine angenehme und liebevolle Unterhaltung heilte mich, erlöste mich von der Verzweiflung und erweckte wieder Hoffnung in mir.

„Dank einem Zufall erhielten wir ganz unverhofft ein Talglicht, Streichhölzer und heißen Tee, der uns schöner dünkte als Nektar.“ (Auf Befehl eines Gendarmerieoffiziers, der, wie es sich herausstellte, mit Jastrshemski durch andere bekannt war.) „Dostojewski hatte noch vorzügliche Zigarren, die dem verehrten Iwan Gawrilowitsch bei der Durchsuchung zum Glück entgangen waren. In freundschaftlicher Unterhaltung verbrachten wir den größeren Teil der Nacht. Dostojewskis angenehme, liebe Stimme, die Zartheit und Weichheit seines Empfindens, ja sogar einzelne seiner – ganz weiblichen-kapriziösen Ausbrüche wirkten auf mich beruhigend. Ich sagte mich von jedem äußersten Entschluß los. Dort im Tobolskschen Ostrogg wurde ich von Dostojewski und Duroff getrennt. Wir umarmten uns unter Tränen und sahen uns nie wieder.

„Dostojewski gehörte zu jener Kategorie von Wesen,“ schließt Jastrshemski, „von denen Michelet sagt: que tout en étant le plus fort mâles, ils ont beaucoup de la nature féminine.[8][60] Durch diesen Umstand ist jener Zug in seinen Werken erklärt, in dem man die Grausamkeit des Talents und die Lust zu quälen sieht ...

„... Ich glaube nicht, etwas Paradoxes zu äußern, wenn ich sage, daß gerade diese unverdienten Leiden, die ein anscheinend blindes und taubes Schicksal ihm zudachte, seiner Begabung zum Nutzen gereichten, indem sie seine psychologische Analyse bis zur Vollendung entwickelten.“

So faßte auch Dostojewski sein Schicksal auf. Indem es sich als Stiefmutter gebärdete, erzog es ihn in Wirklichkeit wie eine strenge, doch fürsorgende Mutter.

Verbannung und Befreiung.

Während ihres Aufenthaltes in Tobolsk erwirkten es die Frauen der Dekabristen – von denen einzelne dort in der Verbannung lebten –, ihnen ein ausgesuchtes Mittagessen, sogar eines mit Weinen, bereiten zu dürfen. Es waren dies, nach Jastrshemski, Frau Murawjowa, Frau Annenkowa mit ihrer Tochter und Frau von Wisin. Zum Abschied schenkten sie jedem von ihnen ein Neues Testament. Die Petraschewzen waren, im Gegensatz zu den Dekabristen, fast alle noch unverheiratete, ganz junge Menschen. Es mag auf sie keinen geringen Eindruck gemacht haben, hier den, wie Dostojewski sagt, „in nichts schuldigen“ Frauen zu begegnen, „die in langen 25 Jahren freiwillig alles mitertrugen, was ihre verurteilten Männer zu ertragen hatten.“

Am 17. Januar traten Dostojewski und Duroff die Weiterreise nach Omsk an. Das beste Material zu einer Lebensbeschreibung der nun folgenden vier Jahre, die Dostojewski im Ostrogg zu Omsk verbrachte, geben uns natürlich seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“. Aber zum Teil könnte man auch auf sie die Worte anwenden, die Goethe zur Kennzeichnung seiner Autobiographie gewählt hat: „Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung“. Dostojewski schildert nämlich sein Leben im Zuchthause im Namen einer anderen Person. In einem den „Aufzeichnungen“ vorangeschickten Kapitel erzählt er, wie er den angeblichen Verfasser derselben kennen gelernt habe und nach dessen Tode in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt sei. Der Verfasser, den er Alexander Petrowitsch Goräntschikoff nennt, sei ein Edelmann gewesen, der wegen Ermordung seiner Frau aus Eifersucht zehn Jahre als Sträfling in dem geschilderten Zuchthause habe zubringen müssen.

Zur Erklärung dieses vorausgeschickten Kapitels sei hier darauf hingewiesen, daß schon allein die Drucklegung solcher Aufzeichnungen aus einem Totenhause vor der Regierung Alexanders II. undenkbar gewesen wäre. Man kann wohl kühnlich behaupten, daß sie nichts unterschlagen, nichts beschönigen, vielmehr alles mit oft geradezu vernichtendem Realismus schildern ...[61] Wenn Dostojewski es auch für nötig fand, unter der Maske eines gewöhnlichen Verbrechers zu schreiben, so kommt er in einem besonderen Kapitel doch auch auf die politischen Verbrecher zu sprechen. (Dieses Kapitel wurde, nachdem es in der „Zeit“ einmal veröffentlicht worden war, in manchen Buchausgaben weggelassen, doch in die jetzt vorliegende Gesamtausgabe seiner Werke ist es wieder in der ursprünglichen Fassung aufgenommen[62].) ... Erst im Jahre 1876, als in einem neuen enzyklopädischen Nachschlagebuch von ihm unter anderen vollkommen falschen Angaben gesagt worden war, er sei „in den Prozeß Petraschewski verwickelt gewesen,“ sah er sich gezwungen – „da niemand verpflichtet ist, über den Prozeß Petraschewski unterrichtet zu sein“ und man danach ebensogut glauben könne, er sei „wegen Raubes“ verurteilt worden –, in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ ausdrücklich zu erklären, und er hat die Worte unterstrichen, daß er „als politischer Verbrecher verschickt“ war[63].

In der bereits erwähnten biographischen Skizze, die Dostojewski für das Ausland diktiert hat, sagt er auch noch ausdrücklich, daß die Gepflogenheiten und Sitten, die er in diesen Aufzeichnungen beschrieben hat, „in Rußland nun schon lange abgeändert sind“ – damit wollte er offenbar auf alle die verschiedenen Reformen hinweisen, die wir dem Kaiser Alexander II. verdanken. Freilich, jene von Spießruten soeben zerfleischten Rücken, die Dostojewski im Lazarett des Zuchthauses zu sehen bekam, konnte man mit so vernichtendem Realismus nur unter der Herrschaft eines Kaisers, der dieses Strafverfahren abgeschafft hatte, zu schildern wagen. Und doch, obgleich diese alte Zeit erst kaum vergangen ist, sind diese Gepflogenheiten und Sitten von Dostojewski schon so geschildert, daß es einen schaudert – vor diesen Ketten, die niemals von den Füßen kommen; vor diesem Rasieren der Köpfe mit dem stumpfen Messer; vor diesem Zuber, der die ganze Nacht die Luft im Schlafraum verpestet; vor dieser Legion von Flöhen, die jeden Schlaf verscheuchen; und vor dem nach Fäulnis riechenden schmierigen Krankenkittel, den aber trotzdem auch Gesunde im Lazarett anziehen, bloß um das tagtägliche Zuchthausleben einmal zu unterbrechen, und wenns auch nur um diesen Preis möglich ist; und schließlich vor dem rohen Eigendünkel dieses Majors, der sich für den Zaren, ja, für den Gott der Sträflinge erklärt, weil er mit ihnen tun kann, was er will – diese Krönung des Ganzen! Aber trotz alledem fühlt man, wenn man diese Aufzeichnungen liest, daß in diesem Zuchthause keine Pedanterie herrscht, eben weil Pedanterie ja so gar nicht in der Natur des russischen Menschen liegt, jene Pedanterie Vorgesetzter, für die die Vorschriften um der Vorschriften willen heilig sind. Eben dies ist es wohl, was einen englischen Kritiker veranlaßte, darauf hinzuweisen, daß die Behandlung der politischen Verbrecher in Sibirien in vielen Fällen der Behandlung, die sie in West-Europa erfahren, vorzuziehen sei – ja, es werde ihnen in vielen Dingen sogar so durch die Finger gesehen, daß die strengen englischen Gefängniswärter sich darob entsetzen würden. Dabei waren Dostojewski und Duroff noch in den strengsten Ostrogg geraten. Von den anderen Petraschewzen trafen es manche viel besser. So wurde beispielsweise I. Desbut nicht in Ketten, sondern bloß mit Ketten nach K. transportiert, wo sich der Kommandant und die Ingenieuroffiziere mit der größten Teilnahme seiner annahmen und seine Lage nach Möglichkeit zu erleichtern suchten.

Natürlich war die erste Zeit im Zuchthause für Dostojewski die schwerste, und demgemäß haben sich auch, wie er selbst sagt, die Erlebnisse des ganzen ersten Jahres seinem Gedächtnis mit besonderer Schärfe eingeprägt. Als das Schrecklichste erschien ihm anfangs, daß er nie, nie allein sein werde: bei der Arbeit immer unter militärischer Bewachung, im Zuchthause immer mit zweihundert Gefährten zusammen ... und was waren das für Gefährten! Zum Schluß aber schreibt er, daß er sich die ganze Zeit, alle die Jahre im Zuchthause, doch in einer schrecklichen Einsamkeit befunden habe, ja, daß ihm diese Einsamkeit schließlich sogar lieb geworden sei. In dieser unfreiwilligen geistigen Muße begann er, sein ganzes früheres Leben einer Prüfung zu unterziehen, sich selbst mit unnachsichtigster Strenge zu beurteilen – und da hat er denn manchmal dem Schicksal dafür gedankt, daß es ihm diese Einsamkeit und die Möglichkeit einer solchen Überprüfung des Lebens schenkte. Es ist anzunehmen, daß er, je weiter er in dieser Selbstuntersuchung und Selbstverurteilung vordrang, gleichzeitig um so fähiger wurde, auch in die Seelen anderer zu schauen. Aus dieser Menschenkenntnis und diesen Überzeugungen, die er im Zuchthause in vierjährigem engsten Zusammenleben mit der niedrigsten Volksschicht gewann, ist es zu erklären, weshalb er sich später ärgerte, wenn man mitleidvoll davon sprach, welches Unrecht ihm mit der Verurteilung zugefügt worden sei, und weshalb er dann entgegnete: „Nein, uns ist recht geschehen, denn das Volk hätte uns verurteilt.“ Es hätte sie verurteilt, weil es, wie er sich überzeugt hatte, zu der west-europäisch denkenden Intelligenz kein Vertrauen haben wollte, haben konnte. In seiner späteren Kennzeichnung der Stellung Raskolnikoffs unter den übrigen Sträflingen drückt er wiederum ein eigenes Erlebnis mit den Worten aus, daß er, Raskolnikoff, den Unterschied zwischen sich und diesen Sträflingen als so groß empfand, als wären sie Menschen von verschiedener Rasse gewesen ... Er, Raskolnikoff, habe die allgemeinen Gründe dieses Unterschiedes zwar schon lange gewußt und begriffen, doch nie hätte er früher zugegeben, daß diese Gründe in der Tat so tief und so stark waren.

Über die Frage, wie die Erlebnisse im Zuchthause gesundheitlich auf Dostojewski eingewirkt haben, ist es ja nach seinem Tode in unserer Presse zu einer richtigen Polemik gekommen. Es wurde die Ansicht ausgesprochen, daß der Ausbruch seiner Krankheit, die Epilepsie, auf eine erlittene körperliche Züchtigung (Rutenhiebe) zurückzuführen sei. Diese Auffassung ist aber vollkommen haltlos, vielmehr wird u. a. auch von Dr. Janowski ausdrücklich darauf hingewiesen, daß niemand von ihm auch nur eine Anspielung auf etwas ähnliches gehört hat, obgleich er sich ihm, dem Arzt, wie seinem Bruder Michail Michailowitsch, und in Genf dem Priester Petroff gegenüber mit aller Offenheit über seine Sträflingszeit ausgesprochen habe[64]. Im übrigen aber dürften sich die über das erste Auftreten und die Entwicklung der Krankheit vielfach widersprechenden Aussagen dahin zusammenfassen lassen, daß die Anfälle zwar schon vor der Verbannung auftraten, jedoch von ihm selbst nicht als Epilepsie erkannt wurden; in Sibirien aber hat sich die Krankheit endgültig entwickelt, – bis ihm schließlich ein Zweifel an ihrem wahren Charakter nicht mehr möglich war.

Aber wie einförmig das Leben im Zuchthause auch verlief – schließlich verging die Zeit. Im tiefsten Winter war er ins Zuchthaus gekommen, also mußte er es im Winter wieder verlassen, wenn auch nicht gerade im Dezember, wie es in den „Aufzeichnungen“ heißt[65] ... Nach dieser Autobiographie zu urteilen, muß Dostojewski bereits vom Zuchthause aus, noch vor der Befreiung, seinen Briefwechsel wieder aufgenommen haben. Doch von seinen sibirischen Briefen, die uns vorliegen,[66] ist der erste, der allerdings ausdrücklich auf frühere Briefe Bezug nimmt, am 30. Juli 1854 aus Semipalatinsk an seinen Bruder geschrieben. In allen Briefen beschwört er den Bruder, ihm doch zu schreiben, ihn nicht zu vergessen, ihm Bücher zu schicken[67] und Geld, wenn er kann ... Das Soldatenleben verschlingt seine Zeit, er hofft, der Bruder werde verstehen, daß Soldat zu sein „nicht gerade ein leichtes ist für einen Menschen mit meiner Gesundheit ... Ich murre nicht; dies ist mein Kreuz und ich habe es verdient.“ Er lebt einsam, verbirgt sich sogar vor den Menschen, denn nachdem er fünf Jahre lang stets unter Aufsicht gewesen, ist es ihm „die größte Wonne, manchmal allein zu sein ... Übrigens ... vermute nicht, daß ich noch ebenso melancholisch und argwöhnisch bin, wie ich es in den letzten Jahren in Petersburg war. Das ist vollkommen vergangen ...“ Weiter heißt es in diesem Brief: „Ich danke Bruder Koljä für die Nachschrift ... ich habe auch endlich von den Schwestern Warenka und Wjerotschka Briefe erhalten ... ich glaube, daß sie mich wirklich so lieben, wie sie sagen“. Am 6. Nov. 1854 schreibt er an den Bruder Andrei: „... ich habe mein neues Leben angefangen. Jene vier Jahre aber betrachte ich als eine Zeit, in der ich lebendig begraben und in einem Sarge eingeschlossen war. In dieser ganzen Zeit habe ich von Euch allen nicht die kleinste Nachricht erhalten ...“[68]

Ende November lernt Dostojewski den jungen, damals 23jährigen, Baron A. E. Wrangel kennen, den er in einem späteren Brief als einen Menschen mit den besten Eigenschaften schildert, als seinen Freund, der ihm in dieser Zeit unendlich viel Gutes erwiesen habe, doch liebe er ihn nicht nur deswegen. Er sei unmittelbar aus dem Lyzeum nach Sibirien gekommen, mit der großzügigen Absicht, das Land kennen zu lernen, nützlich zu sein usw.

In dieser ersten Zeit der Freundschaft mit Wrangel tritt nun, man kann wohl sagen, ganz unverhofft der Regierungswechsel ein[69], der auch für Dostojewskis weiteres Schicksal von größter Bedeutung sein sollte.

Bei seiner „Zweifelsucht“ quält es ihn sehr, daß der Bruder ihm auch jetzt noch oft monatelang nicht schreibt, und wenn auch die anderen Geschwister lange schweigen oder „gänzlich aufhören zu schreiben“, argwöhnt er alles mögliche, wie er dem Bruder im Mai 1855 gesteht.

Im Laufe dieses Jahres hat Dostojewski in Semipalatinsk noch anderen Verkehr gefunden und Personen kennen gelernt, von denen eine in seinem späteren Leben eine wesentliche Rolle spielen sollte. Es war das Frau Marja Dmitrijewna Issajewa. Als Wrangel sich im August 1855 vorübergehend in Barnaul aufhalten mußte,[70] schreibt Dostojewski an ihn voll großer Sorge um ihre gemeinsame Bekannte: er teilt ihm den Tod ihres Mannes mit und bittet ihn, der mittellos in Kusnezk zurückgebliebenen Witwe die verabredete Summe zu schicken, die er ihm unbedingt, wenn auch nicht sofort, zurückerstatten werde[71].

Am 18. Januar 1856 schreibt er an Maikoff über seinen Gemütszustand in diesem Jahr: „... Ein Umstand, ein Ereignis, das in meinem Leben lange auf sich hatte warten lassen und mich nun endlich erfaßte, riß mich hin und verschlang mich ganz. Ich war glücklich. Ich konnte nicht arbeiten. Später kamen Trauer und Leid über mich. Ich verlor das, was mein alles war. Mehrere hundert Werst trennten uns ... Die Ausführung meines Hauptwerkes habe ich aufgeschoben ...“ – gemeint sind die angefangenen „Aufzeichnungen aus einem Totenhause,“ – „... ich begann im Scherz eine Komödie zu schreiben ...“ („Onkelchens Traum“). Doch neben diesen Arbeiten hat ihn noch eine „größere Novelle“ beschäftigt („Das Gut Stepantschikowo“), u. a. Mit Interesse spricht er von der neuesten Literatur und geht er auf Maikoffs Mitteilungen ein. „Ja, ich teile mit Ihnen die Idee, daß Europa und Europas Bestimmung von Rußland beendet werden wird. Das war mir schon lange klar.“ Eine Bestätigung dieser Äußerung finden wir in Miljukoffs „Erinnerungen“.

Von großer Bedeutung für sein weiteres Geschick ist ein Brief vom 23. März 1856 an den inzwischen nach Petersburg zurückgekehrten Wrangel, mit der Bitte, das beigefügte Schreiben persönlich dem General Eduard I. Todleben zu übergeben. Die Fragen, ob Dostojewski aus Gesundheitsgründen recht bald um seinen Abschied vom Militär bitten könne und ob seine Werke gedruckt werden dürfen, haben für ihn mittlerweile eine ganz besondere Bedeutung erhalten: er hat sich bereits endgültig entschlossen, Marja Dmitrijewna Issajewa zu heiraten, weshalb ihm an einer Veränderung seiner sozialen Stellung und finanziellen Lage sehr viel liegt. Nun folgen – in diesem, wie im nächsten Brief vom 13. April – Pläne und Besprechungen, wie er den Onkel (Kumanin) um 1000 Rubel bitten werde, ohne seine Heiratsabsichten zu verraten. Er erwähnt ein Gedicht, das er auf die Thronbesteigung Alexanders II. verfaßt hat, – es ist verloren gegangen, doch dürfte es, ebenso wie ein erhaltenes Gedicht auf den Orientkrieg, mit Kunst wenig zu tun gehabt haben, um so mehr aber, da er in diesem Gedicht den zukünftigen Befreier des Bauernstandes mit aufrichtiger Vaterlandsliebe begrüßt. Er erwähnt ferner einen Artikel über Rußland, aber der sei ein rein politisches Pamphlet geworden; da man ihm aber wohl kaum erlauben werde, seine neue literarische Tätigkeit mit einem Pamphlet zu beginnen, „wie patriotisch sein Inhalt auch sein mag,“ so habe er schon in seine „Briefe über Kunst“ ganze Seiten aus diesem Pamphlet übernommen. Seine Liebe zu Marja Dmitrijewna, die, nach den Briefen an Wrangel zu urteilen, mehr und mehr zur Leidenschaft wurde, war für ihn eine Quelle neuen Glücks, aber auch großer Pein. Sie scheinen sich gegenseitig mit Eifersucht gequält zu haben. Wenigstens bemerkt Doktor Janowski in einem Brief an Maikoff, in dem er darauf zu sprechen kommt, daß „unter dem Einfluß gegenseitiger Eifersucht Fjodor Michailowitschs Krankheit sich weiter entwickelt“ habe. Dazu wird vermutlich noch der Umstand beigetragen haben, daß er hochherzig gegen dieses Gefühl ankämpfte und es soweit besiegte, daß er selbstlos für den anderen, einen gewissen W., auf den er eifersüchtig war, sorgte und ihm zu einer Existenzmöglichkeit zu verhelfen suchte. Seine Briefe an Wrangel werfen aber auch ein neues Licht auf den ersten Roman, den er nach seiner Rückkehr aus Sibirien 1860–61 schrieb: Die „Erniedrigten und Beleidigten“ enthalten demnach nicht nur eine Schilderung seines eigenen jungen Schriftstellerdaseins in den vierziger Jahren, sondern sind auch in der Zeichnung seines Verhältnisses zu der Heldin dieses Romans autobiographisch, – eines Verhältnisses, das von unseren jetzigen Kritikern mit so schnellfertiger Oberflächlichkeit aufgefaßt wird.

Im Mai äußert er sich, nachdem er erfahren, wie General Todleben seine Bitte aufgenommen hat, ganz entzückt über „diese ritterliche, erhabene, großmütige Seele“. Ebenso freut ihn die Mitteilung, daß alle Welt den neuen Kaiser glühend liebt. „Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzu kommt, ist alles getan! Wie soll man es jetzt aushalten, zurückzubleiben, sich nicht der allgemeinen Bewegung anschließen zu können, nicht auch sein Scherflein beizusteuern? O, gebe Gott, daß mein Leben sich schneller ändere!“ Das wünschte er sich nicht bloß für sein Privatleben, sondern auch, um sich an der allgemeinen Bürgerarbeit beteiligen zu können, in Gemeinschaft mit einem solchen Kaiser! Von seinen Privatangelegenheiten aber kann er jetzt und im Juni nichts Gutes mitteilen. Er schreibt, daß er „fast verzweifelt.“ „... Also – jetzt kann ich mit Sicherheit hoffen, doch ... nun ist es zu spät.“ Seine Hoffnungen auf Familienglück sind zunichte geworden. Trotzdem sorgt er sich nach wie vor um Marja Dmitrijewnas Lebensbedingungen. Sein Bruder soll sich erkundigen, ob man ihren Sohn im Pawlowsker Kadettenkorps unterbringen könnte, man solle alles tun, damit ihr eine einmalige Unterstützung schnell ausgezahlt werde, sie könnte sonst vorher heiraten und damit den Anspruch auf Unterstützung verlieren. „Er besitzt nichts, sie auch nicht ... Das bedeutete für sie wieder Armut, wieder Leid ...“ Von sich selbst aber sagt er: „... meinetwegen ins Wasser! oder sich dem Trunk ergeben!“

Am 1. Oktober 1856 wurde Dostojewski (nachdem er am 15. Januar desselben Jahres Unteroffizier geworden war) zum Fähnrich befördert. Es geschah dies auf Befürwortung Todlebens und des Prinzen von Oldenburg hin, doch glaubte Dostojewski – und zwar mit Recht –, daß er auch sehr viel den persönlichen Bemühungen Wrangels zu verdanken habe. Am 1. Dezember teilt er seinem Freunde mit, daß er voraussichtlich noch vor der Fastenzeit im Frühjahr heiraten werde – „Sie wissen, wen ... Sie hat sich bald von dem Irrtum ihrer neuen Neigung überzeugt ... O, wenn Sie wüßten, was diese Frau ist!“ Geld hat er natürlich keine Kopeke. Er will sich an den Onkel Kumanin wenden, der den Geschwistern schon oft geholfen hat ... Warum ist „Der kleine Held“ – die Geschichte, die er in der Peter-Pauls-Festung während der Untersuchungshaft geschrieben hat – noch nicht gedruckt? Wenn man ihm noch ein ganzes Jahr nichts zu veröffentlichen erlaubt, ist er verloren – „dann lieber überhaupt nicht leben! ... Natürlich bin ich bereit, meinetwegen immer ohne Nennung meines Namens oder unter einem Pseudonym zu schreiben“. Zum Schluß bittet er Wrangel „kniefällig“, jenem selben W. zu helfen, für den er sich im Sommer verwandt hatte, „... jetzt ist er mir teurer als ein leiblicher Bruder ...“

Am 25. Februar 1857 schreibt er an Wrangel, daß er 8 Monate wie ein Bettler werde leben müssen, wenn ihm der Onkel nicht noch einmal hilft. Am 9. März aber teilt er dem Freunde in ganz ruhigem Tone mit, daß am 6. März seine Trauung in Kusnezk stattgefunden hat ... In Barnaul hat er einen Anfall gehabt und der Arzt hat ihm gesagt, daß es richtige Epilepsie sei – das beunruhigt ihn. Nach seiner Rückkehr nach Semipalatinsk erwarten ihn einerseits die Sorgen um die Einrichtung der Wohnung, andererseits ist eine Besichtigung durch den Brigadekommandeur angesagt.

Nach diesem für längere Zeit letzten Brief an Wrangel beginnt wieder eine Reihe von Briefen an den Bruder. Seine materiellen Sorgen sind dieselben. Im März 1858 schreibt er, seine Lage sei kritisch, „wenn Pleschtschejeff die 1000 Rubel nicht gibt ...“ Der Bruder hat inzwischen 3000 Rubel verloren, um so schwerer wird es, ihn um neue Hilfe anzugehen. Außer geliehenem Gelde helfen ihm 500 Rubel als Vorschuß vom Verleger Katkoff für eine versprochene Novelle („Onkelchens Traum“) und später 1000 Rubel vom Herausgeber des „Russischen Wortes“ für „Das Gut Stepantschikowo“, das im Herbst 1859 erscheinen soll. Er erwähnt bereits den Plan zu einem Roman – offenbar „Raskolnikoff“. „Warum schreiben die Verwandten kein Wort?“ Außer der Beförderung zum Fähnrich hatte Todleben für ihn am 18. März 1859 auch das Recht erwirkt, seine Werke – sogar unter seinem Namen – drucken zu lassen; gleichzeitig wurde er als Leutnant vom Dienst befreit und erhielt die Erlaubnis, nach dem europäischen Rußland zurückzukehren und in Twer zu wohnen. Seine Abreise aus Semipalatinsk verzögert sich bis zum Juli; dann muß er sich noch in Omsk aufhalten, infolge der Formalitäten, die mit dem Austritt seines Stiefsohnes aus dem Korps verbunden sind.

Den nächsten Brief – vom 19. September 1859 – schreibt er bereits aus Twer, wo ihn der Bruder schon besucht hat. Aus dem nun folgenden Briefwechsel mit dem Bruder ist zu ersehen, wie schwierig es immerhin noch war, seine ersten Werke nach der sibirischen Verbannung unterzubringen. Und wie hatte ihn das Schicksal zu Anfang seiner literarischen Laufbahn mit dem ersten glänzenden Erfolg verwöhnt! Nun aber galt es, und das noch nach einer so schweren Prüfung, das Notwendigste zu beschaffen, um mit der Frau und dem Stiefsohn überhaupt leben zu können. Er arbeitet an den „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“, spricht von dem Plan zu einem großen Roman („Raskolnikoff“), trägt sich, nach der Aussage Miljukoffs, mit der Absicht, ein philosophisches Werk zu schreiben, doch nach reiflicher Überlegung sagt er sich davon los. Daneben plant er die Gesamtausgabe seiner bisher erschienenen Werke ... bis er schließlich, da er das Warten in Twer nicht mehr aushält, (das Warten auf die Beantwortung seines Gesuchs an Todleben), unmittelbar an den Kaiser ein Gnadengesuch richtet, in dem er bittet, nach Petersburg übersiedeln zu dürfen, um dort wegen seiner Krankheit Spezialisten konsultieren zu können ...

Am 2. November schreibt er an seinen Freund Wrangel, daß Marja Dmitrijewna sich aufreibe in der Sorge um das Schicksal ihres Sohnes, da sie fürchte, nach seinem, Dostojewskis, Tode mit dem heranwachsenden Sohne wieder so dazustehen, wie nach dem Tode ihres ersten Mannes. Da er als Ausgang seiner Krankheit, wie er an den Kaiser schreibt, „Lähmung, Tod oder Irrsinn“ vor sich sah und darin von der gleichfalls kranken, alles schwarz sehenden Frau noch bestärkt wurde, kann man sich ungefähr denken, welcher Art sein Gemütszustand in dieser Zeit war. Ende November erhält er die Erlaubnis zur Übersiedelung nach Petersburg.

Miljukoff, der ihn mit Michail Michailowitsch vom Bahnhofe abholte, fand, daß er sich physisch nicht verändert hatte; ja, es schien ihm sogar, als sähe er, im Vergleich zu früher, rüstiger aus und als habe er von seiner gewohnten Energie nichts eingebüßt[72].

Petersburg.

Die Gespräche in unserem neuen, nicht großen Freundeskreise,“ so erzählt Miljukoff, „glichen nun schon in vielem nicht mehr jenen, die seinerzeit bei Duroff geführt worden waren. Und hätte es überhaupt anders sein können? In diesen zehn Jahren hatten Westeuropa und Rußland gleichsam die Rollen getauscht. Dort waren die humanitären Utopien, die uns ehemals so hingerissen hatten, wie Rauch verflogen und die Reaktion triumphierte in allem; bei uns aber begann sich nun vieles von dem, wovon wir damals geträumt hatten, zu verwirklichen, und es wurden Reformen eingeführt oder vorbereitet, die das russische Leben erneuerten oder zu erneuern versprachen. So versteht es sich wohl von selbst, daß in unseren Gesprächen der frühere Pessimismus nicht mehr vorhanden war,“ schließt Miljukoff.

In der Tat: man wußte 1859 bereits allgemein, daß die Vorarbeiten zur Aufhebung der Leibeigenschaft nun wirklich im Gange waren, und man wußte überdies, daß nach Allerhöchstem Willen die Bauern „mit Land“ befreit werden sollten. Nun bestand aber schon von jeher über die Frage, ob die Bauern mit oder ohne Zuteilung von Land zu befreien seien, ein Gegensatz zwischen der Minderheit und der „vornehmen“ Mehrheit, deren Anwalt (der Historiker Karamsin) noch unter Alexander I. die Zuteilung von Land an die Bauern nicht anders als „die Verletzung der heiligen Rechte des Eigentums“ genannt hatte. Unter Alexander II. fehlte der „gekränkten“ Partei ein so hervorragender Vertreter wie Karamsin, und so kam denn ihre Gegnerschaft nur in inoffiziellem, doch nichts destoweniger hartnäckigem und folgerichtigem Zuwiderhandeln gegen die große Reform zum Ausdruck – indem man mit Entstellungen und Verzögerungen in der unmittelbaren Anwendung der Verordnungen und ihrer Konsequenzen arbeitete[73]. Und andererseits: wenn der radikale Franzose Proudhon in seinem Briefe an J. Ssamarin[74] fand, daß, nach der großen Tat vom 19. Februar, Herzens oppositionelle Zeitschrift („Die Glocke“) nun verstummen müßte, so waren die russischen liberal-oppositionellen Menschen keineswegs derselben Ansicht. Als Turgenjeff ein paar Jahre später (1866–67) seinen Roman „Rauch“ schrieb, da hatte er einerseits bereits eine ausgesprochene konservative „Fronde“ zu schildern und anderseits radikale Kreise, in denen schon Lenker auftauchen konnten, die im Grunde einfach Anhänger des Systems der Leibeigenschaft waren, doch im Spiel mit revolutionärer Propaganda ihr Herz erleichterten. Man wollte bei uns nicht einsehen, daß – angesichts des Widerstandes, den der Kaiser von seiten der interessierten Klasse erfuhr, die auch nach dem 19. Februar 1861 den Kampf noch längst nicht aufgab – nun alle, die in unserer Gesellschaft uneigennützig dachten und wirklich die Freiheit liebten, sich einmütig um den Kaiser hätten scharen müssen, zur Mitwirkung an der großen aufbauenden Arbeit. Statt dessen wurde bei uns schon seit 1856 behauptet, nur dann sei eine

„... Sache dauerhaft,

Wenn Blut für sie vergossen wird.“

Allen Andersdenkenden, die sich zu solchen Theorien nicht bekehren ließen, wurde Mangel an bürgerlichem Mut vorgeworfen. Schon damals begann man uns eindringlich das Sterben zu lehren, zu einer Zeit, als man uns zu leben hätte lehren sollen – ehrlich, aufopfernd, standhaft zu leben. Und als Lebensgesetze prägte man uns schon seit dem Anfang der sechziger Jahre Sentenzen ein, wie z. B.: „Gut ist der Mensch dann, wenn er zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Angenehmes zufügen muß; schlecht ist der Mensch dann, wenn er gezwungen ist, zur Erlangung von Angenehmem für sich, anderen Unangenehmes zuzufügen.“ Eine so unzweideutige Ausschaltung der Menschenseele mit ihrer inneren sittlichen Tat begann also bei uns in einem Augenblick, als die aufbauenden Männer der Zeit, gleich J. Ssamarin, der Ansicht waren, gerade jetzt täte uns inneres Heldentum not. „Die Predigt des Materialismus in Rußland“ erschien Ssamarin gerade vor der Tat der Bauernbefreiung ganz besonders unangebracht, wie er in einem seiner Artikel bemerkte, bezugnehmend auf die damalige Kritik, die in einem 1858 erschienenen Buch eine „Erniedrigung der Persönlichkeit“ entdeckte, weil darin von dem Prinzip der Selbstlosigkeit als von der notwendigen Begleiterscheinung des Prinzips der persönlichen Selbständigkeit die Rede war. Ich erinnere mich auch noch, wie mir ein Mann von großem Verstande und viel Erfahrung, einer, der außerhalb aller Parteien stand – der verstorbene Professor Nikitenko[75] – jene mir damals ganz unverständliche Wut gegen dieses Buch erklärte „So brauchen es jene Leute, deren Aufgabe es ist, alles ins Wanken zu bringen“. Die Richtigkeit dieser Bemerkung bestätigte mir später eine Gravüre – das Bild eines talentvollen Jünglings, der in den sechziger Jahren für die neueste Autorität in unserer Kritik galt: Hielt man das Blatt gegen das Licht, so konnte man unter dem Namenszug des Jünglings die Worte lesen: „Das Werk der Zerstörung ist getan, – das Werk des Aufbaues steht bevor und wird nicht nur eine Generation beschäftigen.“

Das also fand der Mensch bei uns vor, der aus Sibirien an Wrangel geschrieben hatte: „Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzukommt, dann ist alles getan!“

Jene Treibereien der Linken kamen aber den Unzufriedenen der Herrenpartei sehr gelegen. Mit dem revolutionären Radikalismus ging der Konservatismus, wenn auch vom anderen Ende ausgehend, nun unmittelbar zusammen, dieser Konservatismus, den J. Ssamarin richtig durchschaute und als „genau so revolutionär“ bezeichnete. Das französische Sprichwort „les extrêmes se touchent[10] fand bei uns die glänzendste Bestätigung. Das konnte ein jeder wahrnehmen, der zufällig jenen denkwürdigen „literarischen Abend“ miterlebte, der im Frühjahr 1862, gleich vielen anderen Festlichkeiten, zur Feier des tausendjährigen Bestehens Rußlands veranstaltet wurde[76]. Die große Reform (die Aufhebung der Leibeigenschaft) war gewissermaßen am Vorabend der Jahrtausendfeier vollzogen worden, und so hätte man das Fest, sollte man meinen, mit beruhigtem Gewissen und „furchtlosem Blick nach vorwärts“ begehen können. Doch als der die Festrede vortragende Professor der Universität auf das Maß von Bitternis zu sprechen kam, die das russische Volk im Laufe seines tausendjährigen Lebens zu trinken gehabt, und im Anschluß hieran sagte: „Zur Zeit der Thronbesteigung des heute glücklich regierenden Kaisers war der Becher zum Überlaufen gefüllt ...“ – da ließ man ihn nicht zu Ende sprechen, daß der Kaiser nun jenen Überschuß von Bitternis, der sich durch die Leibeigenschaft angesammelt, aus dem Becher weggegossen hatte. Man faßte seine Worte in einem ganz anderen Sinne auf, als sie gemeint waren, und es brach ein wilder Beifallssturm und ein Bravogejubel aus. Ich erinnere mich noch genau, mit welch einem wollüstigen Entzücken damals gerade die Vertreter – nicht des Nihilismus (das sah man an dem Ordensschmuck, den sie trugen), ihren Beifall durch Applaus bekundeten, ungeachtet dessen, daß sie sich in ihren „heiligsten Rechten“ verletzt fühlten. Als aber der Vortragende zu dem Satze kam: „Unsere Administratoren stehen am Rande eines Abgrundes ...,“ da floß das Entzücken dieser Nihilisten (oder „Revolutionäre“ nach Ssamarin) mit dem Entzücken jener Nihilisten zusammen – obschon selbstredend die nach dem Sprichwort sich nun berührenden „Extreme“ oder entgegengesetzten Parteien bei der Bezeichnung „Administratoren“ – keineswegs an ein und dieselben, sondern an ganz verschiedene Persönlichkeiten dachten.

Die Mehrzahl von uns erinnert sich natürlich noch der Folgen dieses Abends, an dem der bewußte Artikel über das Tausendjährige Rußland zum Vortrag gelangte. Der Redner hatte dafür zu büßen – allerdings nicht wegen der paar Worte, die er außer dem von der Zensur genehmigten Text sagte, sondern wegen der ungeheuren Wirkung seines Vortrags – der mißverstanden worden war. Ein Teil der studierenden Jugend verlangte nun von den Professoren, daß sie ihre Vorlesungen einstellten, da nach alledem, was vorgefallen war, eine Fortsetzung der Universitätskurse, die damals in den Sälen der Duma stattfanden, bereits undenkbar war. Einer der Professoren fand jedoch, daß man um einer Demonstration willen nicht die Wissenschaft aufgeben müsse, und verfocht seinen Standpunkt auch gegen die pfeifende und zischende Mehrheit. Der betreffende Professor mußte aber – ich glaube ganz gegen seinen Wunsch – den Abschied nehmen, obgleich seine selbständige Handlungsweise die Jugend gewiß eher eines Besseren hätte belehren können, als die vorhergegangene Festungshaft der Haupturheber jener Unruhen, die die Schließung der Universität veranlaßt hatten. Diese Festungshaft hatte in der Jugend bekanntlich nur den Eigendünkel erhöht, zumal sie sich zu ihrer Weigerung, die neuen Vorschriften anzunehmen, von einem durchaus ernsten und edlen Beweggrund hatten bestimmen lassen: es war das ihr Unvermögen, sich damit auszusöhnen, daß nach diesen Vorschriften von nun an alle für den Besuch der Vorlesungen ein Kollegiengeld zahlen mußten, „wodurch alle diejenigen jungen Leute, denen die Mittel dazu fehlten, den Zutritt zur höheren Bildung verloren“. Wer das nicht wußte, dem konnte diese Auflehnung wegen irgendwelcher „Matrikel“ gerade jetzt in der großen Zeit der Bauernbefreiung tragi-komisch erscheinen! Das Volk wußte natürlich nicht, um was es sich handelte, und urteilte von seinem Gesichtspunkte aus: „Die jungen Herrlein revoltieren, weil man uns die Freiheit gegeben hat.“

Alles das zusammen bildete schon eine Reihe verwickelter, bunter Erscheinungen, die bereits entschieden jene Erscheinungen ankündigten, die von Dostojewski später in den „Dämonen“ geschildert worden sind. Ich kann mich jetzt nicht mehr darauf besinnen, ob Dostojewski an jenem denkwürdigen Abend vor mehr als zwanzig Jahren auch zugegen war, – doch die wesentlichen Züge der Ereignisse jenes Abends finden wir wiedergegeben in den fast zehn Jahre später geschriebenen „Dämonen“ (in der Schilderung des literarischen Vormittags, der zu einem wohltätigen Zweck veranstaltet wird, an dem es jedoch infolge einer unvorhergesehenen politischen Rede zu einem ungeheuren Skandal kommt). Aber ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich zum erstenmal Dostojewski sah und vorlesen hörte: er las aus dem „Totenhause“ die Sterbeszene des schwindsüchtigen Sträflings im Gefängnislazarett. Ich weiß nicht, ob er mit Absicht gerade dieses Kapitel gewählt hatte, das deutlich den ganzen Unterschied zwischen seinem Verhältnis zum Volk und dem Verhältnis jener, die ihn zum Lesen aufforderten, hervorhob – jene Besonderheit, auf Grund welcher er in demselben „Totenhause“ sagt, daß unsere Intellektuellen dieses Volk nicht viel lehren könnten, – sondern selber vom Volk lernen müßten. Erst nach seinem Tode erfuhr ich, daß es ihm unangenehm war, gerade aus dem „Totenhause“ vorzulesen, worum man ihn in der Regel ausdrücklich bat, – weil es als Anklage aufgefaßt werden konnte. Er begriff offenbar nur zu gut, daß man ja gerade um der Demonstration willen etwas aus dem „Totenhause“ zu hören wünschte. Da ich ihn damals noch nicht persönlich kannte – ich lernte ihn erst in den siebziger Jahren kennen –, ahnte ich natürlich nicht, was für eine neue Folter dieser Mensch nun ertragen mußte, indem er sich unter Menschen fand, die ihn für einen der Ihrigen hielten, während er selbst sich unter ihnen als Fremden empfand. Dabei war er derselbe geblieben, der er damals war, als er im Freundeskreise Puschkins Gedicht vortrug, das man jetzt unter dem von ihm „vergötterten“ Kaiser endlich frei vortragen durfte. Gerade deshalb „vergötterte“ er ja diesen Kaiser: nicht, weil er ihn, Dostojewski, befreit hatte, sondern weil Puschkins Worte von dem „auf einen Wink des Zaren“ befreiten Volk nun nicht mehr verboten waren. Er begriff, daß die Zeiten sich geändert hatten, – jene aber, die sich seiner um der Demonstration willen zu bedienen suchten, wollten das nicht begreifen. Ihre Eigenliebe oder ihre Machtliebe erlaubte ihnen nicht, einzugestehen, daß das Volk in seiner unerschütterlichen Hoffnung auf den Zaren recht behalten hatte. So war es denn ein in seiner Art ganz folgerichtiger Wunsch, dem Volke nun einzureden, daß es sich einer Selbsttäuschung hingebe, in Wirklichkeit jedoch nur betrogen worden sei. Die sich aber einmal auf diesen Weg gestellt hatten, mußten nach und nach dahin kommen, daß sie sich sogar zu der Not des Volkes schadenfroh verhielten – und auch hierin stimmten sie wieder mit den „revolutionären Konservativen“ überein.

Es wäre der größte Kleinmut, alles das jetzt nicht einzugestehen, jetzt, nach jenem furchtbaren Tage vom 1. März 1881, der in unserer Geschichte als ein ewiger Zeuge einer noch nicht dagewesenen Undankbarkeit verbleiben wird, unserer schreienden Undankbarkeit gegenüber dem Urheber eines in der Weltgeschichte so einzig dastehenden Tages wie es der 19. Februar ist.

Doch aus dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ vom Jahre 1873 erfahren wir auch von Dostojewski selbst, wie er sich zu dem in den sechziger Jahren sich abspielenden Präludium jener in den „Dämonen“ dargestellten späteren Erscheinungen verhielt. Er äußert sich hier mit seiner gewohnten Offenheit. Was ihn dazu veranlaßte, war das Gerücht, seine 1865 erschienene phantastische Satire „Das Krokodil“ sei auf N. G. Tschernyschewski[77] gemünzt gewesen. Er gibt deshalb seine ganze Unterredung mit dem Autor des Romans „Was tun?“ über die damalige Verhetzung der Jugend wieder.

„Mit Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski bin ich gleich im ersten Jahre nach meiner Rückkehr aus Sibirien, 1859, zusammengetroffen,“ erzählt er. „Ich erinnere mich aber nicht mehr, wo und auf welche Weise es geschah. Später sind wir einander noch manchmal begegnet, wenn auch sehr selten, und haben dann stets miteinander gesprochen, wenn auch nur sehr kurz. Übrigens haben wir uns jedesmal die Hand gereicht. Herzen sagte mir einmal, Tschernyschewski habe einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht, d. h. durch sein Äußeres, seine ganze Art. Mir gefiel sein Äußeres wie seine Art.

„Eines Morgens fand ich auf der Klinke meiner Wohnungstür eine Proklamation, eine der merkwürdigsten von allen, die damals auftauchten; und es tauchten damals recht viele auf. Diese hatte die Aufschrift: ‚An die junge Generation‘. Man konnte sich nichts Abgeschmackteres und Dümmeres vorstellen. Der Inhalt war eine Aufreizung von so lächerlicher Form, daß eigentlich nur der größte Feind dieser Leute ihn für sie erfunden haben konnte, um sie ein für allemal unmöglich zu machen. Diese Proklamation verdroß mich schrecklich und ich fühlte mich den ganzen Tag bedrückt. Das war damals alles noch so neu und dermaßen nahe, daß selbst diese Menschen richtig zu erkennen schon schwer war. Schwer namentlich deshalb, weil man gewissermaßen nicht glauben wollte, daß sich unter diesem verwirrenden Getümmel eine solche Nichtigkeit verberge. Ich spreche jetzt nicht von der damaligen Bewegung als solcher, sondern nur von den Menschen. Was die Bewegung betrifft, so war sie eine schwere, krankhafte, aber durch ihre historische Bedingtheit doch schicksalsvolle Erscheinung, die einmal ihr ernstes Blatt in der Petersburger Periode unserer Geschichte haben wird. Ja, und dieses Blatt ist, scheint es, noch lange nicht zu Ende geschrieben.

„Und da ärgerte ich mich nun plötzlich, obgleich ich schon lange mit meiner Seele und meinem Herzen weder mit diesen Leuten, noch mit dem Sinne ihrer Bewegung übereinstimmte –, ärgerte mich und schämte mich fast ihrer Ungeschicktheit: ‚Warum kommt das bei ihnen so dumm und ungeschickt heraus‘? Und was ging denn das schließlich mich an? Aber es tat mir ja doch nicht um ihren Mißerfolg leid. Von den eigentlichen Urhebern und Verbreitern der Proklamationen kannte ich keinen einzigen und kenne sie auch jetzt nicht; aber das war ja das Traurige dabei, daß diese Erscheinung sich mir nicht als ein einzelner Fall darstellte, als ein törichter Streich bestimmter Personen, auf die es weiter nicht ankam. Hier bedrückte vielmehr eine Tatsache: das Niveau der Bildung, der Entwicklung und das Fehlen selbst des geringsten Verstehens der Wirklichkeit, – das war es, was so entsetzlich niederdrückend wirkte. Obgleich ich schon seit drei Jahren wieder in Petersburg lebte und bereits manche Erscheinungen beobachtet hatte, machte diese Proklamation an jenem Morgen doch einen furchtbaren Eindruck auf mich, sie wirkte gleichsam wie eine neue, völlig unerwartete Entdeckung: ich hatte bis dahin noch nie eine solche Nichtigkeit hinter alldem für möglich gehalten! Es erschreckte einen namentlich der Grad dieser Nichtigkeit. Kurz vor dem Abend fiel es mir plötzlich ein, Tschernyschewski aufzusuchen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nie daran gedacht, zu ihm zu gehen, ganz wie auch er noch nie bei mir gewesen war ... Ich traf ihn ganz allein zu Hause an, auch von den Dienstboten war niemand da, und er machte mir selbst die Tür auf. Er empfing mich überaus bereitwillig und führte mich in sein Arbeitszimmer.

„‚Nikolai Gawrilowitsch, was bedeutet das hier?‘ Ich zog die Proklamation hervor.

„Er nahm sie wie etwas ihm vollkommen Unbekanntes und las sie durch. Es waren im ganzen zehn Zeilen.

„‚Nun, und?‘ fragte er mit einem leichten Lächeln.

„‚Sind diese Leute wirklich so dumm und so lächerlich? Sollte es nicht doch möglich sein, sie zurückzuhalten und dieser Schändlichkeit ein Ende zu machen?‘

„Darauf antwortete er sehr gewichtig und eindringlich: ‚Glauben Sie denn, daß ich mit jenen solidarisch bin, und halten Sie es für möglich, daß ich an der Abfassung dieses Textes beteiligt gewesen sein könnte?‘

„‚Das ist’s ja, daß ich das nicht glaube,‘ versetzte ich, ‚und ich halte es sogar für überflüssig, Sie dessen noch zu versichern. Jedenfalls aber muß man ihnen Einhalt tun, um jeden Preis. Ihr Wort ist für sie von Gewicht und natürlich fürchten sie Ihre Meinung.‘

„‚Ich kenne keinen von ihnen‘.

„‚Auch davon bin ich überzeugt. Aber es ist ja gar nicht nötig, sie zu kennen und persönlich mit ihnen zu sprechen. Sie brauchen nur laut, gleichviel wo, zu erklären, daß Sie diese Treibereien tadeln, und es wird schon zu ihnen gelangen‘.

„‚Vielleicht wird das auch keinen Einfluß haben. Ja und schließlich sind auch diese Erscheinungen als Begleiterscheinungen unvermeidlich‘.

„‚Und doch schaden sie allen und allem‘.

„Es klingelte und ein anderer Gast erschien – ich erinnere mich nicht mehr, wer es war. Da verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause. Ich halte es für meine Pflicht, zu bemerken, daß ich mit Tschernyschewski ganz offenherzig sprach und durchaus daran glaubte, wie ich auch jetzt daran glaube, daß er mit den Verfassern und Verbreitern dieser Proklamation nicht ‚solidarisch‘ gewesen ist. Ich hatte den Eindruck, daß mein Besuch ihm nicht unangenehm war; ein paar Tage später bestätigte er diesen Eindruck, indem er zu mir gefahren kam und ungefähr eine Stunde bei mir blieb. Es wurde mir klar, daß er mit mir bekannt werden wollte, und ich weiß noch, mir war das angenehm. Dann war ich noch einmal bei ihm und er noch einmal bei mir. Bald darauf fuhr ich nach Moskau, wo ich ungefähr neun Monate blieb. Auf die Weise hörte unser Verkehr von selbst auf. Darauf erfolgte die Verhaftung Tschernyschewskis und seine Verbannung. Über seinen Prozeß habe ich nie etwas erfahren können; ich weiß auch heute noch nichts Näheres ...“

Doch wenn eine solche „Begleiterscheinung“ in der großen Zeit der Bauernbefreiung durch ihre „Nichtigkeit“ in ihrer Art lachhaft sein mag, so kann man das vom polnischen Aufstande von 1863 natürlich nicht mehr sagen. Ich schäme mich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals im Auslande den deutschen Zeitungen anfangs Glauben schenkte in dem, was sie von den Grausamkeiten unserer Soldaten in Polen berichteten. Indessen erhob sich damals in demselben Deutschland eine so unparteiische, ja, noch mehr als das, eine so begeisterte Stimme über unsere Bauernreform, wie wir sie bei uns in Rußland entschieden nicht zu hören bekamen. Es war die Stimme eines Greises mit jungem Geist – Jakob Grimms. Mit seinem allumfassenden, menschlichen Herzen erkannte er vollkommen und begrüßte er freudig unsere, wie er sich ausdrückte, „riesenhafte Vorwärtsbewegung“. Eben diese Vorwärtsbewegung aber sollte nun aufgehalten, sollte hintertrieben werden, und gerade in dieser Zeitspanne brach nun – zur Freude und Zufriedenheit jener europäischen Mehrheit, die nicht den edlen Geist eines Grimm besaß – der polnische Aufstand aus mit seinem blutigen Terror. Jetzt durfte sich Dostojewski nicht mehr mit Geringschätzung über die „Nichtigkeit“ der Erscheinung äußern, jetzt war für ihn nichts anderes möglich, als daß er von Entrüstung und Entsetzen erfüllt wurde. Bekanntlich wird Dostojewski von vielen für einen ausgesprochenen Feind Polens gehalten, und die Edelsten unter den Polen können ihm seine Stellungnahme nicht verzeihen. Wenn wir indes jenes Kapitel in den „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“ lesen, in dem er auf die politischen Sträflinge zu sprechen kommt, so finden wir, daß er von den verbannten Polen nicht nur ohne feindselige Voreingenommenheit, sondern mit voller Achtung spricht. Ihn kränkte nur ihr hochmütiges „je hais ces brigands[11] in ihrem Verhalten zu den anderen russischen Sträflingen, in denen er selbst immer dasselbe russische Volk sah, mit dem er sich eins fühlte. Der polnische Aufstand aber gerade in dieser segensreichen Zeit mußte ihm einfach als eine Verhöhnung des ganzen russischen Volkes erscheinen, desselben Volkes, das jetzt endlich seinen Zar-Befreier erharrt hatte – dieser Aufruhr, dessen armseliges, doch immerhin trauriges Präludium die Studentenunruhen mit den damaligen „dummen“, aber immerhin unheilverkündenden Proklamationen waren. Doch während unsere jungen „Herrlein“ gewissermaßen nur zufällig in den Augen des Volkes zu einer dem Volke so widerlich gewordenen Rolle kamen („Die jungen Herrlein revoltieren, weil man uns die Freiheit gegeben hat“), – war jetzt im polnischen Aufstande schon deutlich und in allem Ernst der alte, das verknechtete Bauernvolk stets nur verachtende, „höchst edelgeborene“ Geist zu spüren. Nicht Polen war es, und nicht das polnische Volk, dem nun von demselben russischen Zaren gleichfalls Land zugeteilt worden war, was Dostojewski nicht liebte: er haßte jenen traditionellen Geist Polens, der das eigene Volk bedrückte und der Polen ins Verderben gebracht hatte. Diesen alten Geist Polens mußte er hassen, ganz wie Proudhon ihn haßte und wie viele von den Polen selbst es taten – von den wirklich selbstlos-ehrlichen polnischen Patrioten. Dieser alte Geist Polens war Dostojewski verhaßt als dem Sozialisten, der er war, – denn ein Sozialist im weiten menschlichen Sinne dieses Wortes hat Dostojewski nie aufgehört zu sein.

Aber die Sache war die, daß unsere – nicht nur unsere „Liberalen“, sondern auch unsere „Sozialisten“ bereit gewesen wären, den polnischen Panen die brüderliche Hand zu reichen, weil sie in ihnen einen reichen Vorrat an Unzufriedenheit sahen, – bei uns aber hatte sich damals schon jener Opportunismus entwickelt, der keinerlei unzufriedene Elemente verschmähte, worauf Ssamarin in seinen Briefen an Herzen so deutlich hingewiesen hat[78].

Dostojewski war niemals ein „getreuer Untertan der Revolution“ (wie Ssamarin sich in diesen Briefen an Herzen, bezugnehmend auf andere Zeitgenossen, ausdrückt), und darum war er auch nie „Opportunist“.

Aus Sibirien mit einem unermeßlichen Vorrat von Glauben und Liebe zurückgekehrt, und mit dem heißen Verlangen nach Einigkeit bei der aufbauenden Arbeit zum Wohle des Vaterlandes, mußte er mit wachsendem Unwillen die ringsum mehr und mehr hervortretenden Anzeichen einer negativen Tätigkeit zum Zwecke der Zerstörung erkennen. So ist deshalb wohl ohne weiteres zu verstehen, daß er sich bei seiner Geradheit immer mehr Feinde machen mußte.

Unter diesen Verhältnissen und in dieser Lage nahm Dostojewski seine literarische Tätigkeit nun wieder auf. Gerade im Jahre der Bauernbefreiung begann er in Gemeinschaft mit seinem älteren Bruder die Monatsschrift „Die Zeit“ herauszugeben.

Doch meine Aufgabe ist nur, seinen Lebenslauf bis zu diesem Augenblick zu verfolgen. Ich übergebe die Feder seinem nächsten Mitarbeiter an dieser Zeitschrift – als dem unmittelbaren Teilnehmer und Augenzeugen der weiteren Lebenszeit Fjodor Michailowitschs[79].

Orest Miller.

Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke[80].

Erstes Kapitel.
Statt eines Vorworts.

Seit wieviel Monaten, meine Freunde, drängen Sie mich nun schon, Ihnen doch endlich meine ausländischen Eindrücke zu erzählen, und dabei scheinen Sie nicht einmal zu ahnen, daß Sie mich mit Ihrer Bitte einfach in Verlegenheit setzen. Was soll ich Ihnen denn berichten? Was kann ich Ihnen Neues, noch Unbekanntes, noch nicht Erzähltes erzählen? Wem von uns Russen (d. h. von den Russen, die wenigstens Zeitschriften lesen) ist Europa nicht doppelt so gut bekannt wie Rußland? „Doppelt so gut“ habe ich soeben nur aus Bescheidenheit gesagt, in Wirklichkeit aber dürfte uns Europa sicherlich zehnmal besser bekannt sein. Doch abgesehen von diesen allgemeinen Bedenken wissen Sie ja ganz genau, daß gerade ich im besonderen eigentlich gar nicht das Recht habe, etwas zu erzählen, oder gar noch regelrecht und schriftlich zu berichten, da ich doch nichts regelrecht betrachtet habe; denn wenn da auch manches an meinem Auge vorübergezogen ist, so bin ich doch gar nicht dazu gekommen, es mir genauer anzusehen. Ich war in Berlin, in Dresden, in Wiesbaden, in Baden-Baden, in Köln, in Paris, in London, in Luzern, in Genf, in Genua, in Florenz, in Mailand, in Venedig, in Wien, und in noch manchen anderen Städten, in manchen sogar zweimal, und alles das habe ich in genau zweieinhalb Monaten bereist! Kann man denn überhaupt etwas richtig erkennen, wenn man in so kurzer Zeit so vieles sieht? Wie Sie wissen, hatte ich meinen Reiseplan in Petersburg im voraus festgesetzt. Im Auslande war ich noch nie gewesen, doch schon seit meiner frühesten Kindheit hatte ich hingestrebt, schon damals, als ich noch nicht zu lesen verstand und an den langen Winterabenden mit offenem Munde, fast vergehend vor Entzücken und Grauen, zuhörte, wie meine Eltern vor dem Schlafengehen die Romane der Radcliffe lasen, von denen ich dann noch im Traume fiebernd phantasierte. Erst in meinem vierzigsten Lebensjahre sollte es mir endlich möglich sein, die Reise ins Ausland zu verwirklichen, – da wollte ich selbstverständlich nicht nur soviel wie möglich sehen, sondern wollte einfach alles, unbedingt alles sehen, trotz der kurzen Zeit, die mir zu Gebote stand. So war ich denn auch entschieden unfähig, mir die Wahl der Städte kaltblütig zu überlegen. Herrgott, wieviel ich mir von dieser Reise versprach! „Und wenn ich mir auch nichts eingehend ansehen kann,“ dachte ich bei mir, „so werde ich dafür doch alles gesehen haben, werde überall gewesen sein und aus allem Geschauten wird sich ein Gesamtbild, ein allgemeines Panorama ergeben. Das ganze ‚Land der heiligen Wunder‘ wird sich mit einem Mal mir darbieten, gleichsam aus der Vogelschau, wie das Gelobte Land von einem Berge aus in der Fernsicht. Jedenfalls wird es ein ganz neuer, wunderbarer, starker Eindruck sein.“ So dachte ich damals. Und was bedauere ich jetzt am meisten, wenn ich, wieder zu Hause sitzend, an meine Sommerreise zurückdenke? Nicht das, daß ich mir nichts eingehend angesehen habe, sondern nur, daß ich, der ich doch so ziemlich überall gewesen bin, Rom zum Beispiel nicht gesehen habe. Und in Rom hätte ich vielleicht den Papst zu Gesicht bekommen ... Mit einem Wort, mich hatte nun einmal ein unstillbarer Durst nach Neuem erfaßt, nach Ortsveränderung, nach allgemeinen, synthetischen, panoramatischen, perspektivischen Eindrücken. Nun also – was können Sie jetzt, nach einem solchen Geständnis, noch von mir erwarten? Was kann ich Ihnen erzählen? Was schildern? Ein Panorama, eine Perspektive? Irgend etwas aus der Vogelschau? Aber gerade Sie werden doch vielleicht die ersten sein, die mir dann zurufen, ich flöge zu hoch. Hinzu kommt, daß ich mich für einen gewissenhaften Menschen halte und gar keine Lust habe, zu lügen, nicht einmal in der Eigenschaft als Reisender. Und doch würde ich, auch wenn ich nur ein Panorama vor Ihnen zu entrollen versuchte, unfehlbar von der Wahrheit abweichen, und das nicht einmal deshalb, weil ich als Reisender schildere, sondern ganz unwillkürlich, eben weil es mir in meiner Lage schlechterdings unmöglich ist, die objektive Wahrheit zu sagen. Urteilen Sie selbst: Berlin zum Beispiel hat auf mich den sauersten Eindruck gemacht und ich bin in dieser Stadt im ganzen nur vierundzwanzig Stunden geblieben. Heute weiß ich, daß ich Berlin unrecht tue, daß ich nicht mit Bestimmtheit sagen darf, es mache wirklich einen saueren Eindruck – oder wenn schon, dann doch zum mindesten einen süßsaueren. Und woher kam mein unheilvoller Irrtum? Entschieden daher, daß ich, der ich als ein kranker, leberleidender Mensch zweimal vierundzwanzig Stunden lang mit der Eisenbahn durch Regen und Nebel nach Berlin gefahren war, nun nach meiner Ankunft, unausgeschlafen, gelb, müde, mit steifen Gliedmaßen, plötzlich auf den ersten Blick nur dies eine gewahrte: daß Berlin bis zur Unglaublichkeit an Petersburg erinnert. Dieselben schnurgeraden Straßen, dieselben Düfte, dieselben ... (doch wozu alles aufzählen!). „Ach du lieber Gott,“ dachte ich da bei mir, „hat es sich nun gelohnt, sich zweimal vierundzwanzig Stunden lang rädern zu lassen, um schließlich genau dasselbe vor sich zu erblicken, wovon man weggefahren ist?“ Nicht einmal die Linden gefielen mir; und doch würde der Berliner für ihre Erhaltung alles opfern, was ihm teuer ist, im Notfalle vielleicht selbst seine preußische Verfassung – was aber ist dem Berliner noch teurer als diese? Überdies sahen die Berliner alle so ungeheuer deutsch aus, daß ich, sogar ohne die Fresken Kaulbachs bewundert zu haben (unerhört!), mich schleunigst nach Dresden davonmachte, in meiner Brust die tiefste Überzeugung nährend, daß man sich an den Deutschen erst besonders gewöhnen muß und daß er, wenn man sich noch nicht an ihn gewöhnt hat, in großen Massen schwer zu ertragen ist. In Dresden aber versündigte ich mich sogar an den deutschen Frauen: es schien mir dort plötzlich – ich war kaum auf die Straße getreten –, daß es nichts Widerlicheres gäbe, als den Typus der Dresdener Frauen, so daß selbst der berufene Verherrlicher der Liebe, Wssewolod Krestowski[81], der selbstsicherste und vergnügteste aller russischen Dichter, hier völlig aus dem Text kommen und vielleicht sogar an seinem Beruf irre werden würde. Natürlich fühlte ich noch in derselben Minute, daß ich Unsinn dachte, daß es solche Umstände, die Herrn Krestowski an seinem Berufe irre zu machen vermöchten, überhaupt nicht geben kann. Zwei Stunden später fand ich die Erklärung für alles: in mein Hotelzimmer zurückgekehrt, steckte ich vor dem Spiegel die Zunge heraus und überzeugte mich, daß mein Urteil über die Dresdener Damen der schwärzesten Verleumdung gleich kam. Meine Zunge war belegt – ein böses Zeichen ... „Sollte es denn wirklich, wirklich möglich sein, daß der Mensch, dieser König der Schöpfung, in einem solchen Maße von seiner eigenen elenden Leber abhängt? – was für eine Niedertracht!“ Mit diesen halbwegs tröstenden Gedanken begab ich mich nach Köln. Ich muß gestehen, ich versprach mir viel vom Kölner Dom; schon in meiner Jugend, als ich mich mit Architektur befassen mußte, hatte ich ihn mit Ehrfurcht nachgezeichnet. Auf meiner Rückreise aus Paris, einen Monat später, sah ich den Kölner Dom zum zweiten Male, und da hätte ich ihn auch „auf den Knieen um Verzeihung bitten“ mögen, weil ich seine Schönheit das erste Mal nicht begriffen hatte, genau so, wie einst Karamsin es bei Schaffhausen vor dem Rheinfall getan[82]. Nichtsdestoweniger aber bleibt die Tatsache als solche bestehen, daß der Dom mir bei meinem ersten Aufenthalt in Köln durchaus nicht gefiel. Er kam mir wie ein Galanteriegegenstand vor, der nur aus Spitzen und Spitzen und nichts als Spitzen bestand, oder wie irgend so ein Ding, das als Briefbeschwerer auf den Schreibtisch zu stellen ist, allerdings von guten siebzig Faden Höhe. „Wenig Imposantes,“ urteilte ich, ganz wie in der alten Zeit unsere Großväter über Puschkin zu urteilen pflegten: „Er schreibt zu leicht, hat zu wenig Erhabenes“. Ich vermute, daß mein erstes Urteil unter dem Einfluß zweier Umstände so ungünstig ausfiel: der erste Umstand war – das Eau de Cologne.[12] Johann Maria Farina befindet sich nämlich in der nächsten Nähe des Domes, und in welch einem Hotel Sie auch absteigen, in welch einer Stimmung Sie auch sind, wie sehr Sie sich vor Ihren Feinden im allgemeinen und vor Johann Maria Farina im besonderen verstecken möchten, seine Vertreter werden Sie doch unfehlbar auffinden, und dann heißt es einfach: „Eau de Cologne ou la vie![13] – eins von beidem, eine andere Wahl gibt es nicht. Ich kann zwar nicht gerade schwören, daß die Leute einem wirklich mit buchstäblich diesen Worten auf den Leib rücken, aber schließlich – wer weiß? – vielleicht geschieht es doch mit diesen Worten. Jedenfalls glaubte ich die ganze Zeit, diese Worte zu hören. Und der zweite Umstand, der mich erboste und ungerecht machte, war die neue Kölner Brücke. Die Brücke ist natürlich vorzüglich und die Stadt ist mit Recht stolz auf sie, aber mir schien doch, daß sie schon gar zu stolz auf ihre Brücke war. Selbstredend ärgerte mich das sogleich. Und außerdem hätte der Mann am Brückenkopf die an sich ja durchaus vernünftige Brückensteuer doch wirklich nicht mit einer solchen Miene von mir zu erheben brauchen, als fordere er eine Strafzahlung für irgendein von mir unbewußt begangenes Verbrechen. Ich weiß nicht, ob ich mich täuschte, aber ich glaube doch, daß dieser Deutsche sich ganz besonders wichtig dünkte. „Sicher hat er schon erraten, daß ich ein Ausländer bin, und zwar ein Russe,“ dachte ich. Wenigstens schien mir sein Blick nahezu wortwörtlich zu sagen: „Nun siehst du unsere Brücke, armseliger Russe! So wisse denn, daß du ein Wurm bist vor ihr und vor jedem einzelnen Deutschen, denn eine solche Brücke hast du nicht!“ Sie werden doch zugeben, daß so etwas kränkend ist. Natürlich sagte der Deutsche das ja gar nicht und vielleicht dachte er nicht einmal etwas Ähnliches, aber das ist ja schließlich nebensächlich: jedenfalls war ich damals so fest überzeugt, in seinen Augen gerade diesen Gedanken zu lesen, daß ich endgültig wütend wurde. „Zum Teufel,“ dachte ich, „wir haben auch ... haben die Teemaschine erfunden ... bei uns erscheinen Zeitschriften ... bei uns werden Offiziersausstattungen angefertigt ... bei uns ...“ Kurz, ich wurde wütend und nachdem ich mir doch noch eine Flasche Eau de Cologne gekauft hatte (vor der ich mich schon gar nicht mehr retten konnte), reiste ich geschwind nach Paris, natürlich in der Hoffnung, daß die Franzosen bedeutend liebenswürdiger und anziehender sein würden. Jetzt urteilen Sie selbst: hätte ich mich überwunden und wäre ich in Berlin nicht nur einen Tag, sondern eine ganze Woche geblieben, in Dresden desgleichen, in Köln etwa drei Tage, oder auch nur zwei, dann hätte ich dieselben Dinge ein zweites, ein drittes Mal und mit anderen Augen gesehn und wäre schließlich zu einem gerechteren Urteil über sie gekommen. Sogar ein Sonnenstrahl, ein ganz gewöhnlicher Sonnenstrahl macht in solchen Fällen schon viel aus: hätte er bereits während meines ersten Aufenthaltes in Köln den Dom so beleuchtet, wie er es erst bei meinem zweiten Aufenthalt dortselbst tat, dann wäre der Dom mir sogleich in seinem richtigen Lichte erschienen und nicht so wie an jenem trüben und sogar regnerischen Morgen, der in mir nur eine Aufwallung gekränkter Vaterlandsliebe zuließ. Womit übrigens nicht gesagt sein soll, daß Vaterlandsliebe sich nur bei schlechtem Wetter einstellt. Also, Sie sehen, meine Freunde: in zwei und einem halben Monat kann man nicht alles sehen und folglich kann ich Ihnen weder genaue Angaben noch ausführliche Berichte zustellen. Ich müßte manches einfach aus der Luft greifen, was sich dann als unwahr erweisen würde, und deshalb ...

Doch da fallen Sie mir schon ins Wort und sagen, es sei Ihnen diesmal gar nicht um genaue Angaben zu tun, die fänden Sie im Notfall auch im Führer von Reichardt; dagegen wäre es gar nicht übel, wenn überhaupt jeder Reisende sich in seinem Reisebericht weniger die Feststellung der unbedingten Richtigkeit (zumal eine solche doch fast immer über sein Vermögen gehe), als seine eigene volle Aufrichtigkeit angelegen sein ließe; wenn er sich nicht scheute, manchmal auch gewisse persönliche Eindrücke und Erlebnisse mitzuteilen, selbst wenn diese ihm nicht gerade zur Ehre gereichen, und wenn er sein Urteil nicht nach dem Urteile bekannter Autoritäten richten würde. Kurz, Sie geben mir zu verstehen, daß Sie von mir nichts anderes als nur meine sozusagen privaten Beobachtungen mit aller Freimütigkeit hören wollen.

Ach so! rufe ich aus, dann ist es Ihnen also nur um leichte Skizzen, persönliche, im Vorübergehen festgehaltene Eindrücke zu tun, um eine ganz gewöhnliche Plauderei? Ja, damit bin ich einverstanden, und ich werde sogleich in meinem Merkbuch nachschlagen. Auch werde ich mir alle Mühe geben, mit voller Freimütigkeit zu berichten und ganz offenherzig zu sein. Nur bitte ich, nicht zu vergessen, daß immerhin in dem, was ich jetzt schreiben werde, sehr viele Irrtümer vorkommen können. Selbstverständlich nicht in allem. Bei solchen Tatsachen, wie zum Beispiel, daß es in Paris eine Notre-Dame und einen Bal-Mabille gibt, ist ein Irrtum natürlich ausgeschlossen. Besonders die letztere Tatsache ist ja von allen Russen, die über Paris geschrieben haben, so oft bezeugt worden, daß man an ihr wirklich nicht mehr zweifeln darf. Also wird auch mir in der Beziehung ein Irrtum nicht gut möglich sein, – doch übrigens, streng genommen, stehe ich auch dafür nicht ein. Man sagt ja auch, in Rom sein und den Petersdom nicht sehen, sei unmöglich. Nun, was sagen Sie aber dazu: ich war in London und habe doch die St. Pauls-Kathedrale nicht gesehen. Ich habe sie tatsächlich nicht gesehen. Freilich ist zwischen Paul und Peter immer noch ein Unterschied, aber für einen Reisenden ist so etwas doch gewissermaßen bloßstellend. Da hätten Sie nun mein erstes Erlebnis, das mir nicht zur Ehre gereicht (das heißt, ich habe die St. Pauls-Kathedrale zwar von weitem gesehen, so ungefähr aus einer Entfernung von achthundert Schritt, aber da ich mich gerade auf dem Wege nach der Pentonville Road befand und es eilig hatte, dachte ich „ach was!“ und fuhr weiter). Doch zur Sache, zur Sache! Übrigens bin ich nicht nur gereist und habe nicht nur aus der Vogelschau gesehen (aus der Vogelschau heißt nicht „von oben herab“. Es ist dies vielmehr ein Fachausdruck der Architekten, wie Sie wissen). So habe ich z. B. einen ganzen Monat außer acht Tagen, die ich in London verbrachte, nur in Paris verlebt. Deshalb werde ich Ihnen auch zunächst von Paris erzählen, denn diese Stadt habe ich mir doch ein wenig besser angesehen als den Londoner St. Paul oder die Dresdener Damen. Also nun beginne ich.

Zweites Kapitel.
Im Waggon.

Überlegung hat der Franzose nicht, ja, ihr Besitz würde ihm sogar als das größte persönliche Unglück erscheinen.“ Diesen Satz hat noch im vorigen Jahrhundert Vonwisin[83] geschrieben und, mein Gott, mit welch einer Lust müssen ihm diese Worte aus der Feder geglitten sein! Ich könnte wetten, daß es in seinem Herzen, als er diesen Satz verfaßte, nur so kitzelte vor Vergnügen. Und wer weiß, vielleicht haben wir alle nach ihm, drei-vier Generationen hintereinander, nicht ohne einen gewissen Genuß diesen Satz gelesen. Haben doch alle Phrasen dieser Art, die von uns aus die Ausländer ähnlich abtun, selbst heute noch etwas unwiderstehlich Angenehmes für uns Russen. Doch selbstverständlich nur im tiefsten Geheimen, ja mitunter sogar vor uns selber insgeheim. Man verspürt dabei so etwas wie Rache für etwas Vergangenes und nicht Gutes. Nun ja, dieses Gefühl ist auch gerade kein gutes, aber ich bin doch irgendwie überzeugt, daß es fast in jedem von uns vorhanden ist. Wir würden natürlich sehr ungehalten sein, wenn man uns dessen verdächtigte, und würden uns dabei durchaus nicht verstellen, indessen glaube ich, daß selbst Bjelinski in diesem Sinne im geheimen ein Slawophile war. Ich weiß noch, wie man damals – vor einigen fünfzehn Jahren, als ich mit Bjelinski bekannt war – ja, mit welch einer schon bis zur Seltsamkeit getriebenen Ehrfurcht dieser ganze damalige Kreis sich vor dem Westen beugte, d. h. insonderheit vor Frankreich. Damals war Frankreich Mode, – im Jahre 1846. Und nicht nur, daß solche Namen vergöttert wurden, wie George Sand, Proudhon und andere, oder daß solche geachtet wurden, wie Louis Blanc, Ledru-Rollin usw. Nein, auch alle möglichen Eintagspilze, die armseligsten Personennämchen, deren Träger sich denn auch sogleich blamierten, als es später auf sie ankam, – selbst die standen in hohem Ansehen. Auch von diesen wurde etwas Großes in dem bevorstehenden Dienst der Menschheit erwartet. Von manchen derselben ward nur mit dem besonderen Geflüster der Ehrfurcht gesprochen ... Und? Dabei habe ich in meinem Leben noch keinen so leidenschaftlich russischen Menschen getroffen, wie es gerade Bjelinski war, obschon vor ihm nur ein Tschaadajeff[84] so dreist, aber mitunter auch so blind wie er, über vieles uns Eigentümliche ungehalten gewesen war und anscheinend alles Russische verachtet hatte. Ich erinnere mich gewisser Momente, die mich jetzt zu diesen Erwägungen veranlassen. Also wer weiß, vielleicht ist dieser Ausspruch Vonwisins sogar einem Bjelinski bisweilen nicht allzu skandalös erschienen. Es gibt doch nun einmal Augenblicke, wo einem selbst die beste und sogar eine rechtmäßige Vormundschaft nicht gerade sehr gefällt. Doch – Gott behüte! – denken Sie nun nicht, daß sein Vaterland lieben die Ausländer schelten heiße, und daß ich es so verstehe. Nein, so denke ich keineswegs, sogar im Gegenteil ... Schade nur, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich deutlicher zu erklären. Oder befürchten Sie nicht schon, daß ich, statt mich nach Paris zu begeben, einen Ausflug in das Gebiet der russischen Literatur vorziehe? einen literarisch-kritischen Artikel zu schreiben gedenke? Nein, das habe ich hier nur so ... aus beschaulicher Muße.

Nach meinem Merkbuch sitze ich jetzt im Waggon und bereite mich darauf vor, morgen in Eydtkuhnen einzutreffen, d. h. ich erwarte den ersten Eindruck des Auslandes, und bei diesem Gedanken fühle ich sogar mein Herz erschauern. Wie werde ich denn nun endlich Europa sehen, ich, der ich von Europa fast vierzig Jahre lang fruchtlos geträumt, ich, der ich schon als Sechzehnjähriger, und zwar allen Ernstes, wie Njekrassoffs Bjelopätkin

„Nach der Schweiz zu fliehen gedachte“,

und doch nicht floh, und der ich nun endlich in das „Land der heiligen Wunder“ fahre, in das Land meiner so langen Sehnsüchte und Erwartungen, meines so hartnäckigen Glaubens! Herrgott, was sind wir denn für Russen? fuhr es mir da durch den Kopf, während ich immer noch in demselben Waggon saß. Sind wir denn überhaupt und wirklich Russen? Warum macht denn Europa auf uns, wer wir auch sein mögen, einen so starken, zauberischen Eindruck, als rufe es uns? Das heißt: ich rede jetzt nicht von jenen Russen, die dort in Europa geblieben sind, und auch nicht von jenen einfachen Russen, deren Name fünfzig Millionen ist und die wir, wir hunderttausend Menschen, noch immer höchst ernsthaft für niemand halten und über die unsere tiefsinnigen satirischen Zeitschriften sich noch bis heute lustig machen, weil sie sich die Bärte nicht scheren. Nein, ich rede jetzt lediglich von unserem privilegierten und patentierten Häuflein. Ist doch alles, entschieden fast alles, was es bei uns an Entwicklung, Wissenschaft, Kunst, Bürgersinn, Menschlichkeit gibt, alles von dort hergekommen, alles aus eben diesem Lande der heiligen Wunder! Hat sich doch unser ganzes Leben schon von unserer ersten Kindheit an nach dem europäischen ABC aufgebaut. Hätte denn überhaupt jemand von uns diesem Einfluß, diesem Ruf, diesem Druck standhalten können? Wie war es nur möglich, daß wir uns nicht endgültig in Europäer verwandelten? Denn: daß wir uns nicht verwandelt haben – das werden, denke ich, alle zugeben, die einen mit Freuden, die anderen natürlich mit Ärger darüber, daß wir eben nicht so weit herangewachsen sind. Doch das ist eine Frage für sich. Ich will hier nur die Tatsache hervorheben, daß wir uns nicht verwandelt haben, sogar trotz so unwiderstehlicher Einflüsse, und diese Tatsache kann ich eigentlich selbst nicht recht verstehen. Es sind doch nicht immer unsere Kinderwärterinnen und Ammen gewesen, die uns vor der Verwandlung bewahrten, wie es mit Puschkin geschah ... Sollte es denn wirklich eine solche chemische Verbindung des Menschengeistes mit der Heimaterde geben, daß man sich doch nicht endgültig von ihr loszureißen vermag, oder wenn man es versucht, dann doch immer wieder zu ihr zurückkehren muß? Der Slawophilismus ist bei uns gewiß nicht vom Himmel herabgefallen und wenn er auch in der Folge die Gestalt eines Moskauer Einfalls angenommen hat, so ist die Grundlage dieses Einfalls doch etwas breiter als die Moskauer Formel und ruht vielleicht in manchen Herzen viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Vielleicht ist das auch bei den Moskowitern selber der Fall. Man bedenke nur einmal, wie schwer es doch ist, sich gleich beim ersten Mal klar auszudrücken, sogar wenn man es nur für sich selbst zu tun versucht. Manch ein lebenszäher, starker Gedanke kommt denn auch in drei Menschenaltern nicht klar zum Ausdruck, sodaß das Finale manchmal dem Anfang völlig unähnlich ausfällt ...

Alle diese müßigen Gedanken belagerten mich nun unwillkürlich im Waggon auf meiner Fahrt nach Europa, zum Teil übrigens aus Langeweile und infolge des Nichtstuns. Seien wir doch aufrichtig! Über solche Gegenstände pflegen bei uns bis jetzt nur diejenigen nachzudenken, die nichts zu tun haben. Ach, wie ist es langweilig, müßig im Waggon zu sitzen! – wirklich auf ein Haar so, wie es bei uns in Rußland ohne eigene Arbeit langweilig zu leben ist. Wenn man auch gefahren wird, wenn auch für einen gesorgt wird, ja wenn man auch manchmal so eingelullt wird, daß einem, wie man meinen sollte, nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, die Langeweile, die Langeweile ist dennoch da, und zwar gerade deshalb, weil du selbst nichts tust, weil andere sich schon gar zu sehr um dich bekümmern, du aber sitze da und warte, bis man dich endlich hingeschafft hat. Weiß Gott, manchmal wäre ich wahrhaftig am liebsten nur so hinausgesprungen aus dem Waggon und seitwärts neben der Maschine auf meinen eigenen Füßen gelaufen. Mag es so auch schlechter gehen, mag ich auch aus Ungeübtheit ermüden, mich im Wege versehen, darauf kommt es nicht an! Dafür gehe ich selbst, mit meinen eigenen Beinen, dafür habe ich eine Aufgabe für mich gefunden und tue sie selbst, dafür werde ich, wenn es geschieht, daß die Waggons zusammenstoßen und kopfüber hinabsausen, nicht mehr mit gefalteten Händen eingeschlossen sitzen und mit meinen Körperseiten fremde Schuld bezahlen ...

Weiß Gott, was alles einem beim Nichtstun manchmal in den Sinn kommt!

Inzwischen begann es schon zu dunkeln. In den Waggons wurde das Licht angezündet. Mir gegenüber saß ein Ehepaar, schon bejahrte Leute, Gutsbesitzer; ich glaube, gute Menschen. Sie reisten nach London, nur auf ein paar Tage, um sich die Weltausstellung anzusehen, die Kinder aber hatten sie zu Hause gelassen. Rechts neben mir saß ein Russe, der aus kommerziellen Gründen seit zehn Jahren in London lebte, jetzt nur auf zwei Wochen Geschäfte halber nach Petersburg gekommen war und, wie mir schien, bereits jede Vorstellung von Heimweh vollständig verloren hatte. Links saß ein echter, ein Vollblut-Engländer, rotblond, mit einem englischen Scheitel und von betontem Ernst. Während der ganzen Reise sagte er zu keinem einzigen von uns auch nur das kleinste Wort, gleichviel in welcher Sprache, am Tage las er unausgesetzt in einem Buch von jenem kleinsten englischen Druck, den nur Engländer ertragen können, ja sogar noch wegen der Bequemlichkeit loben, und abends zog er, sobald es zehn Uhr wurde, sogleich seine Stiefel aus und Schuhe an. Wahrscheinlich hatte er das in seinem Leben einmal so eingeführt und seine Gewohnheiten wollte er offenbar auch auf der Reise nicht ändern. Bald schlummerten alle ein; das Pfeifen und Stampfen des Zuges trieb einen unwiderstehlich in irgend so einen Schlummerzustand. Ich saß, dachte, dachte, und ich weiß eigentlich selbst nicht, wie mir plötzlich jener Satz einfiel: „Überlegung hat der Franzose nicht“, womit ich dieses Kapitel begann. Aber wissen Sie: es unterspült mich etwas und treibt mich, Ihnen diese meine Überlegungen im Eisenbahnwagen mitzuteilen, so lange wir uns noch auf der Reise nach Paris befinden, einfach so ... oder meinetwegen auch im Namen der Humanität: hatte ich doch Langeweile im Waggon, also mögen Sie sich nun gleichfalls langweilen. Doch übrigens, um andere Leser davor zu bewahren, werde ich alle diese meine Überlegungen absichtlich in ein besonderes Kapitel einschließen und dieses ein überflüssiges nennen. Sie, meine Freunde, können sich durch dasselbe durchlangweilen, die anderen aber können es, als ein überflüssiges, auch überspringen. Mit dem Leser muß man nun einmal vorsichtig und gewissenhaft umgehen, mit Freunden aber – nun, da geht’s auch so. Also:

Das dritte
und vollkommen überflüssige Kapitel.

Übrigens waren das weniger Überlegungen, als gewisse Betrachtungen, wahllose Vorstellungen, sogar Träume „von dem sowohl als wie von jenem, zumeist jedoch von Null und Nichts“. Zunächst kehrte ich auf dieser Gedankenreise in der Vergangenheit ein und begann damit, daß ich über diesen Menschen, der obenerwähnten Aphorismus über die französische Überlegungskraft in die Welt gesetzt, ins Nachdenken geriet. Dieser Mensch war zu seiner Zeit ein großer Liberaler. Aber wenn er auch sein Lebelang aus unbekannten Gründen einen französischen Rock auf seinem Körper und Puder auf dem Kopfe trug und hinten einen Degen baumeln ließ, zum Zeichen seiner ritterlichen Herkunft (die es bei uns überhaupt nicht gegeben hat), sowie zur Verteidigung seiner persönlichen Ehre im Wartezimmer Potjomkins, begann er sich doch, kaum daß er die Nase ins Ausland gesteckt hatte, im Nu mittels aller biblischen Texte von Paris loszubeten und loszusagen und fällte auch schon sein Urteil über den Franzosen, dem er die Gabe der Überlegungskraft ohne weiteres absprach, ja, der nach diesem Urteil ihren Besitz sogar als ein Verderben für sich ansehen würde. – Doch um mich zu vergewissern: am Ende denken Sie jetzt gar, ich hätte den baumelnden Degen und den französischen Samtrock Vonwisins in tadelndem Sinne erwähnt? Keineswegs! Er hätte doch nicht einen Bauernkittel tragen sollen, und das noch damals, wenn sogar heute manche Herren, um Russen zu sein und sich mit dem Volk verbunden zu fühlen, keinen Bauernkittel angezogen, sondern eine Art Ballettkostüm für sich erfunden haben, an welchem nicht viel fehlt, um dasselbe Kostüm zu sein, in dem die Helden unserer historischen Opern auf der Bühne erscheinen, à la Ruslan, dessen Ludmila denn auch dementsprechend als Kopfschmuck den Kokoschnick trägt. Nein, der französische Rock war dem Volk doch verständlicher. „Da sieht man gleich den Herrn,“ hieß es dann, „ein Herr kann doch nicht wie unsereiner im Kittel gehen“. Vor kurzem wurde mir von einem Gutsbesitzer erzählt, einem Zeitgenossen, der, um mit dem Volke eins zu werden, gleichfalls ein sogenanntes russisches Kostüm zu tragen anfing und sich verlocken ließ, in dieser Tracht auch auf den Versammlungen der Bauernschaft zu erscheinen; aber siehe, da geschah es, daß die Bauern, als sie ihn erblickten, unter sich zu einander sagten: „Was schleppt sich denn dieser Verkleidete zu uns?“ Also ist’s dem Gutsbesitzer auf diesem Wege doch nicht gelungen, mit dem Volke eins zu werden.

„Nein, ich für meine Person,“ sagte mir ein anderer Herr, „ich werde nichts abtreten. Ich werde mir absichtlich den Bart scheeren und, wenn es nötig ist, auch im Frack gehen. Die Sache selbst werde ich machen, aber mir niemals anmerken lassen, daß ich ihm, dem Volk, nähertreten will. Ich werde der Herr sein, werde geizig und berechnend sein, ja werde sogar bedrücken und erpressen, wenn es mir ratsam erscheint. Dann achten sie einen mehr. Und das ist doch alles, worauf es ankommt, daß man zuerst eine richtige Achtung durchsetzt.“

„Pfui, Teufel!“ dachte ich. „Das ist ja, als rüsteten sie sich gegen Fremdstämmige. Ein militärischer Rat und nichts weiter.“

„Ja,“ sagte ein dritter zu mir – nebenbei bemerkt: ein überaus lieber Mensch –, „nun gut, sagen wir, ich lasse mich in eine Dorfgemeinde eintragen, plötzlich aber werde ich für irgend etwas von der Gemeindeversammlung zur Rutenstrafe verurteilt. Was dann?“

„Na, und selbst wenn?“ wollte ich schon sagen, aber ich sagte es nicht, denn ich wagte es nicht so recht. – Was ist das doch, woher kommt es, daß wir uns noch immer fürchten, manche Gedanken auszusprechen? – „Und selbst wenn?“ dachte ich bei mir, „selbst wenn du mal Ruten bekämest, was wäre denn dabei? Solche Wendungen der Dinge heißen bei den Professoren der Ästhetik das Tragische im Leben, und damit ist’s erledigt. Soll man denn wirklich nur deshalb gleich von allen abgesondert leben? Nein, wenn man schon mit dem Volke eins sein will, dann sei man es auch ganz und mit allen, wenn man aber ein Mensch für sich sein will, dann sei man aber auch wirklich und vollkommen abgesondert. Anderswo ist noch ganz anderes ertragen worden und noch dazu von schwachen Frauen und Kindern.“

„Aber ich bitte Sie, was hat das mit Frauen und Kindern zu tun!“ hätte mein Gegner hierauf ausgerufen, „die Dorfgemeinde würde mich, mir nichts dir nichts, vielleicht wegen irgend einer Kuh, die in einen fremden Gemüsegarten eingebrochen ist, einfach versohlen, bei Ihnen aber wird daraus schon eine allgemeine Sache!“

Nun ja, das ist natürlich lachhaft, und überhaupt ist’s eine lächerliche Geschichte, dazu so eine schmutzige, wissen Sie, die man lieber nicht anrührt, denn man will sich doch nicht die Hände besudeln. Ist doch schon das bloße Sprechen davon eigentlich unanständig. Hole sie allesamt der Henker, mögen sie da gedroschen werden so viel ihrer sind, ich bin’s ja nicht. – Nun, ich bin aber meinerseits zu jeder Bürgschaft bereit: daß das Urteil der Dorfgemeinde meinem lieben Widerstreiter auch nicht ein einziges Rutenhiebchen zudiktieren würde, selbst wenn sie mit ihm wie mit einem Gleichstehenden verfahren könnte ...

„Welch eine Rückständigkeit!“ ruft jemand aus, wenn er dieses liest, „heute noch für die Rutenstrafe einzutreten!“ (Bei Gott, irgend jemand wird doch bestimmt daraus folgern, daß ich für die Rutenstrafe sei.)

„Aber ums Himmels willen, wovon reden Sie denn jetzt,“ bemerkt ein anderer, „Sie wollten von Paris berichten und statt dessen ...“

Ja, das ist allerdings ... Aber ich erinnere mich, daß ich gerade damals, als wir uns Eydtkuhnen näherten, ganz besonders über alles Vaterländische ins Nachdenken geriet, über unser Eigenes, das ich nun um Europas willen verließ. Ich sann unter anderem auch über die Frage nach: wie hatte in den verschiedenen Zeiten Europa sich in uns widergespiegelt, wie hatte es sich mit seiner Zivilisation beständig bei uns als Gast eingedrängt und inwieweit waren wir denn zivilisiert worden und wieviel Zivilisierte gab es jetzt wohl bei uns, einfach als Zahl? Doch ich sehe jetzt selbst, daß alles dies hier wirklich überflüssig ist. Aber ich habe Sie ja gewarnt und selbst im voraus gesagt, daß dieses ganze Kapitel ein überflüssiges sein werde. Übrigens, wo blieb ich denn stehen? Ja, richtig! bei dem französischen Rock. Mit dem begann es ja überhaupt!

Also sehen Sie mal, einer dieser französischen Röcke schrieb damals den „Brigadier“. Der „Brigadier“ war für jene Zeit etwas Erstaunliches und machte denn auch einen ungeheuren Eindruck. „Stirb, Denis, Besseres kannst du nicht mehr schreiben,“ sagte selbst Potjomkin zu ihm. Alles begann gleichsam aus dem Halbschlaf zu erwachen, sich zu regen. Wie, dachte ich in meinen willkürlichen Betrachtungen weiter, sollte es den Menschen wirklich schon damals langweilig geworden sein, nichts zu tun und mit fremder Hilfe zu gehen? Ich spreche nicht nur von der damaligen französischen Hilfe, ja, ich möchte sogar gleich vorausschicken, daß wir eine überaus leichtgläubige Nation sind und alles bei uns von unserer Gutmütigkeit kommt. Wir sitzen alle ohne Arbeit da und wenn es uns dann plötzlich scheint, daß irgend jemand irgend etwas gesagt oder getan hat, daß sich ein Geruch von eigenem Geiste kundtut, daß sich eine Betätigungsmöglichkeit gefunden, dann stürzen wir alle darüber her und sind unbedingt überzeugt, daß „es“ nun sofort beginnen werde. Eine Fliege fliegt durch die Luft, wir aber glauben schon, ein Elefant sei vorübergeführt worden. Es liegt darin die ganze Unerfahrenheit der Jugend, nun und zudem noch der Hunger nach so etwas. Ja, fast begann das alles bei uns schon vor dem Erscheinen des „Brigadier“ – natürlich zuerst nur in mikroskopischem Maßstabe – und noch heute ist es unverändert dasselbe: glauben wir eine Sache gefunden zu haben, so brüllen wir schon vor Enthusiasmus. Überhaupt ist Schreierei und Überfluten vor lauter Begeisterung bei uns immer das Erste; schaut man aber zu: schon in kaum zwei Jahren gehen wir wieder alle auseinander und lassen die Nase hängen. Und doch werden wir’s nicht müde, und wenn es auch noch hundert Mal von neuem anfängt. Was aber die fremde Hilfe betrifft, so hat doch zu Vonwisins Zeit in der Masse fast niemand daran gezweifelt, daß es die heiligste, die europäischste Hilfe und die liebste Vormundschaft war. Freilich, auch jetzt gibt es wenig Zweifelnde. Unsere ganze extrem-progressive Partei setzt sich ja bis zur Raserei für fremde Hilfe ein. Damals aber, oh, damals war es die Zeit eines solchen Glaubens an alle Hilfen, daß man sich eigentlich wundern kann, warum wir damals nicht Berge versetzt haben und warum alle unsere Hochplateaus, Gipfel von Pargolowo[85] und die Pics unseres Waldaischen Hochgebirges noch immer auf denselben Stellen stehen ... Übrigens, meine Herrschaften, ich spreche jetzt nur von der Literatur, und zwar nur von der schönen Literatur, an deren Werken ich den fortschreitenden und wohltätigen Einfluß Europas auf unser Vaterland verfolgen will. Das heißt, wenn man bedenkt, was für Bücher damals (vor dem Erscheinen des „Brigadiers“ und noch zu derselben Zeit) verlegt und gelesen wurden, so können wir nicht umhin, einen gewissen frohen Hochmut unsererseits zu empfinden! Vor längerer Zeit brachte Kusma Prutkoff einmal im „Zeitgenossen“ unter anderem „Vermischtem“ auch „Aufzeichnungen meines Großvaters“. Man sollte meinen, was könnte interessanter sein, als die Memoiren so eines alten, wohlbeleibten Generals der Katharineischen Zeit, der sowohl bei Hofe war wie in der Schlacht bei Otschakoff, – was mußte der Mann nicht alles gesehen und erlebt haben! Statt dessen aber ... besteht das Ganze nur aus Anekdötchen ... Man glaubt schließlich, es handele sich um einen Betrug, einen solchen Großvater habe es nie gegeben. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich selbst in meiner Kindheit ein Buch aus der Zeit Katharinas gelesen, aus dem ich noch folgende Anekdote behalten habe.

Eine geistreiche Antwort des Kavaliers de Rohan. Wie bekannt, roch der Kavalier de Rohan sehr schlecht aus dem Munde. Als er einmal beim Lever des Prinzen Condé zugegen war, sagte selbiger zu ihm: ‚Trete er zurück, Kavalier de Rohan, es riecht von ihm schlecht‘. Worauf der Kavalier ohne Verzug wie folgt replizierte: ‚Der Geruch geht nicht von mir aus, allergnädigster Prinz, sondern von Euch, sintemal Ihr soeben aus dem Bette steigt.‘“

Man stelle sich nur diesen „Großvater“ und Großgrundbesitzer, den alten Soldaten, vielleicht sogar einarmigen Krieger mit seinen hundert Hofleuten vor ... wie er mit der Brille auf der Nase langsam buchstabierend solche Anekdoten liest und das alles noch für wichtig, ja womöglich für den Kern des Ganzen hält, mit dem sich zu befassen fast eine mit dem Dienst verbundene Pflicht für ihn ist. Und was war das doch damals für ein naiver Glaube an die Bedeutung und Notwendigkeit ähnlicher europäischer Nachrichten. „Wie bekannt ...“ Wem war es bekannt, warum, wozu, welchen Bären im Gouvernement Tamboff konnte das bekannt sein? Und wer will so etwas überhaupt wissen? Doch solche freidenkerischen Fragen beunruhigen den Großvater nicht. Mit kindlichster Gläubigkeit denkt er bei sich, daß „selbige Sammlung von Bonmots“ bei Hofe bekannt ist, und das genügt ihm. Ja, natürlich, damals war es uns ein Leichtes, Europa uns anzueignen, d. h. physisch, versteht sich. Moralisch aber ging es selbstredend nicht ohne die Peitsche. Man zog sich seidene Strümpfe über die Beine bis zum Knie hinauf, man steckte den Kopf unter eine Perücke, man hängte sich hinten ein Deglein an und – war nun Europäer. All das störte nicht nur nicht, sondern gefiel sogar. Im Grunde aber blieb alles beim Alten: nachdem man den de Rohan aus der Hand gelegt und die Brille von der Nase genommen, verfuhr man ebenso wie früher mit dem Hofgesinde, beherrschte wie früher patriarchalisch die Familie, prügelte wie früher im Pferdestall den benachbarten Kleingrundbesitzer, wenn dieser frech zu werden wagte, und log und trog genau so vor den Höheren. Bei alledem war man aber dem Bauer doch verständlicher: man verachtete ihn weniger, ekelte sich weniger vor seinen Bräuchen, war ihm weniger fremd, war weniger deutsch. Daß man aber ihm gegenüber den Allmächtigen spielte, ja wie sollte denn der Herr das nicht, – dafür war er doch der Herr. Und wenn diese Herren ihre Leibeigenen oft auch zu Tode prügelten, so waren sie dem Volke dennoch gewissermaßen lieber als die jetzigen, denn sie waren ihm verwandter, waren von demselben Stamm. Mit einem Wort, alle diese Herrschaften waren einfaches, stämmiges Volk, forschten nicht nach den letzten Wurzeln, sie nahmen, prügelten, stahlen, bogen mit Liebe den Rücken, wo’s not tat, und lebten friedlich und fett „in kindlicher, gewissensruhiger Verderbnis“. Ja, mich däucht sogar, daß alle diese Großväter gar nicht so naiv waren, nicht einmal in betreff der de Rohans und ähnlicher Anekdoten.

Ja, vielleicht waren sie mitunter sogar große Schelme, die unbeschadet aller damaligen europäischen Einflüsse von oben her durchaus ihren Kopf für sich behielten. Diese ganze Phantasmagorie, diese ganze Maskerade, alle diese französischen Röcke, Manschetten, Perücken, Zierdegen, alle diese dicken, plumpen Beine, die sich in seidene Strümpfe schoben, alle diese damaligen Soldaten in deutschen Perücken und Gamaschen, – mir scheint, alle waren sie furchtbare Betrüger und das Ganze ein lakaienhafter, gehorsamster Betrug von unten, so daß selbst das Volk dies manchmal merkte und begriff. Natürlich kann man Amtmann und Schelm und „Brigadier“ sein und zugleich höchst naiv und rührend überzeugt, eben dieser Kavalier de Rohan sei wirklich das „subtilste Superflue“. Aber das störte ja nicht im geringsten: Die Gwosdiloffs prügelten wie ehedem, unsere de Rohans wurden von unserem Potjomkin und von jedem seinesgleichen womöglich ebenso im Pferdestall gedroschen, unsere Kavaliere nahmen, was sie nehmen konnten von Lebendigen und von Toten, und von den Fäusten mit Manschetten und den Füßen in seidenen Strümpfen wurden dieselben Genickstöße und Fußtritte verabreicht wie ehedem; bei Hofe aber bogen sich unsere Marquis’, „mutig mit dem Nacken opfernd“. Kurz, dieses ganze bestellte und befohlene Europa lebte sich damals erstaunlich bequem bei uns ein, angefangen mit Petersburg – dieser phantastischsten Stadt mit der phantastischsten Geschichte aller Städte des Erdballs.

Nun, jetzt aber ist es schon was anderes und Petersburg hat gesiegt. Jetzt sind wir bereits ganze Europäer, sind herangewachsen. Jetzt versucht selbst ein Gwosdiloff sich anzupassen, wenn’s zum Prügeln kommt, sucht den Anstand zu wahren, wird zum französischen Bourgeois, und warten wir noch ein Weilchen, dann wird er gar wie ein Nordamerikaner aus den Südstaaten mit Bibeltexten die Notwendigkeit des Handels mit Negern zu verteidigen anfangen. Nebenbei: diese Art der Verteidigung greift von dort aus neuerdings stark auch nach Europa hinüber. Nun, wenn ich erst dort sein werde, kann ich mich ja selbst von allem überzeugen, dachte ich bei mir. Aus Büchern ist das doch nie zu erfahren, was man mit eigenen Augen sieht. Übrigens – da ich gerade auf Gwosdiloff zu sprechen gekommen bin: warum hat Vonwisin einen der bemerkenswertesten Sätze in seinem „Brigadier“ gerade nicht der Ssofja, der Vertreterin der vornehmen und human-europäischen Entwicklung in den Mund gelegt, sondern der dummen Brigadierin? – wo es gilt, die Wahrheit zu sagen, da wird diese also doch nicht von Ssofja ausgesprochen, sondern von dieser Frau, die er, abgesehen von ihrer Dummheit, auch noch als böses Frauenzimmer gezeichnet hat. Es ist geradezu, als habe er sich nicht getraut oder gar es für künstlerisch unmöglich gehalten, daß ein solcher Ausspruch der gleichsam in der Orangerie erwachsenen, so wohlerzogenen Ssofja entschlüpfen könnte, und er hat es doch irgendwie natürlicher gefunden, daß ein einfaches, dummes Weib ihn ausspricht! Diese Stelle, die es wert ist, behalten zu werden, ist um so bemerkenswerter, als sie ohne jede Absicht und ohne alle Hintergedanken, ganz naiv und vielleicht sogar ganz unbedacht geschrieben worden ist. Die Gattin des Brigadiers erzählt der Ssofja:

„... In unserem Regiment war ein Hauptmann, Gwosdiloff mit Namen. Derselbe hatte so eine schmucke-schmucke junge Frau. Wenn es nun vorkam, daß er sich ärgerte, aber meist geschah es wohl in der Betrunkenheit, da begann er sie denn, wirst du’s mir glauben, so zu prügeln, was nur die Seele hergab, und das alles für nichts und wieder nichts. Na, uns ging das ja nichts an, aber manchmal hätte man doch weinen mögen, wenn man sie so sah.

Ssofja: Ich bitte Euch, hört auf, davon zu erzählen, was die Menschheit empört.

Die Brigadierin: Ja, sieh mal, du willst davon nicht einmal hören, wie aber muß das für die Hauptmannsfrau zu erdulden gewesen sein?“

Damit wird die wohlerzogene Ssofja mit ihrer ganzen Orangerie-Empfindsamkeit von einer gewöhnlichen, ungebildeten Frau einfach matt gesetzt. Es ist das eine ganz erstaunliche Antwort bei einem Vonwisin, und man kann nur sagen, daß von ihm nichts Treffenderes geschrieben worden ist, auch nichts Menschlicheres und ... Unbeabsichtigteres![86]

Ja, wie viele solcher Orangerie-Progressisten gibt es bei uns noch heute und selbst unter unseren wichtigsten Führern, Orangerie-Progressisten, die mit dieser ihrer Treibhaushaftigkeit sogar außerordentlich zufrieden sind und gar nichts anderes verlangen. Doch das Merkwürdigste bei alledem ist zweifellos, daß Gwosdiloff seine Frau nach wie vor prügelt, und zwar jetzt fast mit noch größerem Genuß als früher. Es ist wirklich so. Man sagt, früher sei es mehr aus Liebe geschehen! – wie man ja auch zu sagen pflegt „wen ich liebe, den schlage ich“. Sogar die Frauen, heißt es, hätten sich beunruhigt gefühlt, wenn sie nicht geschlagen wurden: er schlägt nicht, folglich liebt er nicht. Aber das war ja alles noch Urzustand, noch elementar, rassig. Jetzt aber hat sich auch das schon der Entwicklung unterworfen. Jetzt prügelt Gwosdiloff beinahe schon aus Prinzip, aber im Grunde doch nur, weil er immer noch ein Dummkopf ist, d. h. ein Mensch der alten Zeit, der die neuen Einrichtungen nicht begreift. Nach diesen neuen Einrichtungen aber kann man ja ohne Selbsthilfe und Faustrecht noch viel mehr erreichen. Wenn ich mich hier so über Gwosdiloff verbreite, so geschieht das nur, weil man bei uns noch immer über Gwosdiloff die tiefsinnigsten und humansten Phrasen schreibt, und zwar so unaufhörlich, daß es sogar dem Publikum schon zu viel wird. Gwosdiloff ist bei uns so lebenszäh, trotz aller Artikel gegen ihn, daß er fast unsterblich zu sein scheint. Jawohl, er lebt und ist gesund, ist satt und betrunken. Jetzt sind ihm zwar ein Arm und ein Bein gelähmt, und seine Ehehälfte ist schon längst nicht mehr „so eine schmucke-schmucke junge Frau“, wie sie es früher war. Sie ist alt geworden, das Gesicht spitz und farblos, Runzeln und Leid haben es durchfurcht. Doch als ihr Hauptmann krank darnieder lag, da wich sie nicht von seinem Bett, durchwachte die Nächte bei ihm, tröstete ihn, vergoß heiße Tränen um ihn, nannte ihn ihren lieben, guten Helden, ihren lichten Falken, ihren mutigen Soldaten. Mag das einerseits die Seele empören, mag es, mag es nur! Aber andererseits: es lebe die russische Frau, und es gibt nichts Besseres in unserer ganzen russischen Welt als ihre grenzenlos verzeihende Liebe. So ist es doch, nicht wahr? Um so mehr, als selbst Gwosdiloff jetzt in nüchternem Zustande seine Frau manchmal auch nicht mehr schlägt, das heißt, seltener schlägt, den Anstand wahrt, ja mitunter sogar ein freundliches Wort zu ihr sagt. Fühlt er doch jetzt im Alter, daß er ohne sie nicht auskäme; er versteht nun schon zu berechnen, er ist nun Bourgeois, und wenn er sie auch jetzt noch ab und zu schlägt, so geschieht das doch höchstens in der Betrunkenheit und so aus alter Gewohnheit, wenn es ihm sonst schon zu langweilig wird und irgend eine Sehnsucht ihn plagt. Nun, das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, immerhin ein Fortschritt, immerhin ein Trost, eine Beruhigung. Wir aber sind ja solche Liebhaber von Beruhigungen ...

In der Tat, wir haben uns jetzt vollkommen beruhigt, ganz von selber. Mag es auch rund um uns herum selbst jetzt noch nicht sehr schön aussehen, dafür sind wir persönlich doch dermaßen schön, dermaßen zivilisiert, dermaßen Europäer, daß sogar dem Volk bei unserem Anblick übel wird. Jetzt hält uns das Volk bereits ganz und gar für Ausländer, versteht kein Wort von uns, kein Buch von uns, keinen Gedanken von uns, – das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, ein Fortschritt. Jetzt verachten wir das Volk und die volklichen Grundlagen schon so tief, daß wir uns sogar mit einem gewissen neuen, noch nie dagewesenen Ekel zu ihm verhalten, mit einem Ekel, wie er nicht einmal zur Zeit unserer de Rohans vorhanden war, das aber ist doch, sagen Sie, was Sie wollen, gleichfalls ein Fortschritt. Dafür sind wir – ja, wie sind wir dafür selbstbewußt, wie überzeugt von unserer zivilisatorischen Berufung, mit welch einer Herablassung lösen wir die Probleme, und noch dazu was für Probleme: es fehlt an Land, es fehlt an Volk; Nationalität – das ist nur ein bestimmtes Steuersystem; die Seele – tabula rasa, ein Ding aus Wachs, aus dem man sogleich einen wirklichen Menschen formen kann, einen allgemeinen Allgemeinmenschen, einen Homunculus – man braucht nur die Früchte der europäischen Zivilisation anzuwenden und zwei-drei Bücher zu lesen. Dafür: wie sind wir jetzt ruhig, wie erhaben ruhig, eben weil wir an nichts mehr zweifeln und alle Streitfragen schon entschieden und unterschrieben haben. Mit welch einer ruhigen Selbstzufriedenheit haben wir zum Beispiel Turgenjeff heruntergerissen[87], weil er es wagte, sich nicht mit uns zu beruhigen und sich nicht mit unseren erhabenen Persönlichkeiten zu begnügen, weil er sich weigerte, sie für sein Ideal anzuerkennen, und etwas Besseres suchte, als was wir jetzt sind. Etwas Besseres als wir, Herr des Himmels! Was gibt es denn noch Schöneres und Tadelloseres als wir unter der Sonne? Nun, er hat denn auch genug zu hören bekommen für seinen Basaroff, diesen unruhigen und sich sehnenden (das Anzeichen eines großen Herzens), ja, ungeachtet seines ganzen Nihilismus, sich sehnenden Basaroff. Sogar für die Kukschina wurde er heruntergerissen, für diese progressive Laus, die Turgenjeff aus der russischen Wirklichkeit herausgekämmt hat, um sie uns vor die Augen zu halten, und man fügte sogar hinzu, er spreche gegen die Emanzipation der Frau. Die Emanzipation der Frau aber ist doch Fortschritt, da sagen Sie, was Sie wollen. Jetzt stehen wir mit einer solchen korporalhaften Selbstsicherheit, als solche Feldwebel der Zivilisation hoch über dem Volke, daß es eine wahre Freude ist, uns anzuschauen: die Hände in die Seiten gestemmt, herausfordernden Blickes – so sehen wir auf das Volk hinab und spucken bloß: „Was sollten wir von dir, grobem Bauer, wohl lernen können, wenn doch die ganze Nationalität, die ganze Volklichkeit im Grunde nur Rückständigkeit ist, nur ein Steuersystem und nichts weiter!“ Man wird doch Vorurteile nicht durchgehen lassen, ich bitte Sie! Ach Gott, Vorurteile – da fällt mir soeben etwas ein ... Meine Herrschaften, nehmen wir für einen Augenblick an, daß ich meine Reise schon beendet habe und bereits nach Rußland zurückgekehrt bin, und erlauben Sie mir, eine Anekdote wiederzugeben: ich las sie in diesem Herbst in einer unserer fortschrittlichsten Zeitungen. Es war eine Korrespondenz aus Moskau unter der Überschrift: „Noch Reste der Barbarei“ (oder etwas Ähnliches, jedenfalls ein sehr starker Ausdruck. Schade nur, daß ich die Zeitung nicht zur Hand habe.). Und es wird erzählt, wie man eines Morgens – es war in diesem Herbst – in Moskau ein Gefährt erblickt hat, auf dem eine betrunkene Brautwerberin saß, noch in der Hochzeitstracht, mit Bändern aufgeputzt und ein Lied singend. Auch der Kutscher war mit Bändern geschmückt und gleichfalls betrunken, ja, auch er brummte sogar ein Lied. Selbst das Pferd war bunt bebändert, nur weiß ich nicht, ob es auch betrunken war. Sicherlich wird es betrunken gewesen sein. Die Brautwerberin hielt auf dem Schoß ein Bündelchen mit Sachen von dem neuvermählten Paar, das augenscheinlich eine glückliche Nacht verbracht hatte. Dieses Bündelchen enthielt natürlich ein gewisses leichtes Kleidungsstück, das den Eltern der Neuvermählten am nächsten Morgen zu zeigen unter dem einfachen Volke ein alter Brauch ist. Das Volk lachte beim Anblick dieser Ehestifterin; ein spaßiges Objekt. Die Zeitung berichtete den Vorfall mit Empörung, nannte ihn, spuckend, schimpfend und mit Entrüstung, eine unerhörte Barbarei, die sich „trotz aller Fortschritte der Zivilisation sogar bis heute erhalten hat!“ Meine Herrschaften, ich muß Ihnen gestehen, daß ich darob in lautes Lachen ausbrach. Oh, bitte, denken Sie nicht, daß ich urweltlichen Kannibalismus, diese leichten Kleidungsstücke, Decken usw. verteidige. Das ist abscheulich, das ist unkeusch, das ist wild, ist slawisch, ich weiß, ich gebe es zu, obschon das natürlich ohne schlechte Absicht geschah, sondern im Gegenteil, zur Ehre der jungen Frau, aus reiner Herzenseinfalt, aus Unkenntnis von Besserem, Höherem, Europäischem. Nein, ich lachte über etwas anderes. Und zwar: mir fielen plötzlich unsere Damen und unsere Modegeschäfte ein. Selbstverständlich schicken unsere zivilisierten Damen jetzt keine leichten Sachen mehr zu ihren Eltern, aber wenn es zum Beispiel gilt, bei der Modistin ein Kleid zu bestellen, mit welch einem Scharfsinn, mit wie feiner Berechnung und Sachkenntnis verstehen sie dann, an gewissen Stellen Watte unter ihre bezaubernden europäischen Toiletten zu legen! Warum, wozu diese Watte? Natürlich zur Erhöhung der Eleganz, um der Ästhetik willen, pour paraître[16] ... Und nicht nur sie, auch ihre Töchter, diese unschuldigen siebzehnjährigen Geschöpfe, die kaum das Pensionat verlassen haben, auch die wissen um die Watte schon Bescheid, wissen alles: wozu diese Watte dient, und wo man sie anbringen muß, und warum und weshalb, d. h. speziell zu welchem Zweck das alles angebracht wird ... Nun wohl, dachte ich lachend, diese Mühen, diese Sorgen, diese bewußten Sorgen um wattierte Vergrößerungen, – sind sie nun wirklich reiner, sittlicher, keuscher als jenes unselige leichte Kleidungsstück, das in einfältigem Glauben den Eltern geschickt wird, in der Überzeugung, daß man es tun muß, daß eben dies sittlich sei! ...

Um Gottes willen, meine Freunde, denken Sie nicht, daß ich jetzt eine erbauliche Predigt darüber halten will, daß Zivilisation nicht Entwicklung ist, sondern im Gegenteil, in der letzten Zeit in Europa immer mit der Knute und dem Kerker über jeder Entwicklung stand. Denken Sie nicht, ich wolle nun nachweisen, daß man bei uns die Zivilisation und die Gesetze der normalen, wirklichen Entwicklung barbarisch verwechsele, nachweisen, daß die Zivilisation im Westen selbst schon verurteilt ist und für sie dort nur noch einzig der Besitzer einsteht (obschon dort alle Besitzer sind oder Besitzer werden wollen), um sein Geld zu retten. Denken Sie nicht, es sei nun meine Absicht, zu beweisen, daß die Menschenseele nicht eine tabula rasa ist, nicht ein Wachsding, aus dem man den Allgemeinmenschen formen kann; daß ganz zuerst eine Natur gegeben sein muß, dann die Wissenschaft, dann ein selbständiges Leben, ein bodenständiges, kein beschränktes, und der Glaube an seine eigenen nationalen Kräfte. Denken Sie nicht, ich wolle tun, als wüßte ich nicht, daß unsere Fortschrittler (wenn auch längst nicht alle von ihnen) durchaus nicht für die Watte einstehen, sie vielmehr ebenso brandmarken wie jenes leichte Kleidungsstück. Nein, ich will jetzt nur Eines sagen: in jenem Artikel wurde dieser Volksbrauch nicht einfach getadelt und verurteilt, man nannte ihn nicht einfach eine Barbarei, sondern man wollte damit ganz augenscheinlich die allgemeine nationale, elementare Barbarei unseres einfachen Volkes an den Pranger stellen, als Gegensatz zu der europäischen Zivilisation unserer höheren, vornehmen Gesellschaft. Der Artikel tat so wichtig, der Artikel schien überhaupt nicht wissen zu wollen, daß es bei diesen Sittenrichtern selber vielleicht tausendmal schlimmer und gemeiner zugeht, daß wir nur die einen Vorurteile und Schändlichkeiten gegen andere, vielleicht noch größere Vorurteile und Schändlichkeiten eingetauscht haben. Der Artikel schien aber unsere eigenen Vorurteile und Schändlichkeiten überhaupt nicht zu bemerken. Weshalb also, weshalb so wichtig tun und sich hoch über dem Volke stehend dünken, die Hände in die Seiten gestemmt, breitspurig und spuckend ... Wie lächerlich, wie unsagbar lächerlich ist doch dieser Glaube an die eigene Unfehlbarkeit und an das Recht zu solcher Entrüstung! Gleichviel was es ist: Glaube oder einfach Überhebung dem Volk gegenüber, oder schließlich gedankenloser, sklavischer Kniefall speziell vor den europäischen Formen der Zivilisation; letzteres wäre ja noch lächerlicher.

Doch was! Solcher Tatsachen lassen sich tagtäglich wohl ein Tausend finden. Verzeihen Sie die Wiedergabe des Vorfalls.

Übrigens, ich versündige mich. Ich tue ja unrecht! Das kommt daher, daß ich gar zu schnell von den Großvätern auf die Enkel hinübergesprungen bin. Es gab doch auch Zwischenstücke. Erinnern Sie sich Tschatzkis.[88] Der war schon kein naiv-durchtriebener Großvater, auch kein selbstzufriedener Nachfahre, der stolz dasteht und alles schon abgeurteilt hat. Tschatzki ist ein ganz besonderer Typ unseres russischen Europa, er ist der Typ eines lieben, begeisterten Menschen, der wirklich leidet, der bereits Rußland und den Heimatboden anruft und – und dann doch wieder nach Europa reist, um dort „einen Winkel für ein gekränktes Empfinden“ zu suchen ... Kurz, ein Typ, der jetzt vollkommen unnütz ist und der einmal ungeheuer nützlich war. Er ist ein Phraseur, ein Schwätzer, aber ein herzlicher Phraseur, und einer, der sich wegen seiner Nutzlosigkeit grämt und schämt. Sein Typ hat jetzt in der neuen Generation schon eine Wandlung erfahren. Wir glauben an die jungen Kräfte; wir glauben, daß er bald wieder erscheinen wird, dann aber nicht in hysterischer Erregung wie ehemals auf dem Ball bei Famussoff, sondern als Sieger, stolz, mächtig, demütig und liebend. Er wird bis dahin schon erkannt haben, daß der Winkel für ein gekränktes Empfinden nicht in Europa, sondern vielleicht dicht vor seiner Nase liegt, und wird hier etwas zu tun finden und das auch tun. Aber wissen Sie: ich bin ja doch überzeugt, daß es schon jetzt bei uns nicht nur Feldwebel der Zivilisation und europäische Narren gibt; ich bin überzeugt, ja ich verbürge mich dafür, daß der junge Mensch schon geboren ist ... Doch davon später. Zunächst will ich noch ein paar Worte über Tschatzki sagen.

Ich verstehe eines nicht: Tschatzki war doch ein sehr kluger Mensch. Wie konnte es nun geschehen, daß ein kluger Mensch hier nichts zu tun fand? Sie fanden ja alle nichts zu tun, fanden in der ganzen Zeitspanne von zwei-drei Generationen nichts. Das ist Tatsache und gegen eine Tatsache zu reden, lohnt sich nicht, denke ich; doch aus Interesse nach den Gründen fragen, das kann man. Also wie gesagt, ich verstehe nicht, wie ein kluger Mensch gleichviel wann und wo, gleichviel unter welchen Umständen, keine Arbeit für sich finden kann. Man sagt, das sei ein strittiger Punkt, doch in der Tiefe meines Herzens glaube ich das durchaus nicht. Dazu hat man doch den Verstand, um das zu erreichen, was man will. Kannst du nicht gleich eine ganze Werst gehen, so gehe hundert Schritte, immerhin ist das mehr als nichts, bringt dich immerhin näher zum Ziel, wenn du überhaupt zu einem Ziele gehst. Unbedingt mit einem einzigen Schritt zum Ziel gelangen zu wollen, ist meiner Meinung nach durchaus kein Anzeichen von Verstand. Ja, so etwas heißt sogar Arbeitsscheu. Mühe lieben wir nicht, Schritt für Schritt zu gehen sind wir nicht gewohnt, am liebsten würden wir mit einem einzigen Schritt die ganze Strecke bis zum Ziel überspringen. Nun, und eben dies ist ja Arbeitsscheu. Ja, Tschatzki hat doch sehr gut getan, daß er damals wieder ins Ausland entschlüpfte: es lag ihm wohl nicht, hier ein wenig länger zu verweilen und sich dann nach dem Osten, statt nach dem Westen zu begeben. Man liebt bei uns nun einmal den Westen, liebt ihn eben, und im äußersten Fall, d. h. wenn es zur Entscheidung kommt, fahren alle dorthin. Nun ja, auch ich fahre jetzt hin. „Mais moi c’est autre chose“.[17] Ich habe sie dort alle gesehen, d. h. sehr viele, denn alle sind ja gar nicht abzusehen, doch alle, die ich sah, suchen dort, glaube ich, einen Winkel für ein gekränktes Empfinden. Wenigstens suchen sie etwas. Die Generation der Tschatzkis beiderlei Geschlechts hat sich ja seit dem Ball bei Famussoff[89], und überhaupt nachdem der Ball zu Ende war, dort so vermehrt wie Sand am Meer; und sogar nicht nur die Tschatzkis: sind sie doch alle aus Moskau dorthin gefahren. Wie viele Repetiloffs[90] gibt es jetzt dort, wie viele Skalosubs, die schon ausgedient haben und wegen Untauglichkeit in die Bäder geschickt worden sind. Natalja Dmitrijewna mit ihrem Mann gehört dort unbedingt zu ihnen. Selbst die Gräfin Hlestowa reist in jedem Jahre hin. Sogar Moskau ist allen diesen Herrschaften langweilig geworden. Einzig Moltschalin fehlt dort unter ihnen: er hat es sich anders überlegt und ist zu Hause geblieben, nur er allein ist zu Hause geblieben. Er hat sich dem Vaterlande gewidmet, der Heimat, sozusagen. Jetzt kommt man an ihn überhaupt nicht mehr heran; selbst seinen Wohltäter Famussoff würde er jetzt nicht einmal zu sich ins Vorzimmer lassen: „Ein Nachbar vom Lande,“ heißt es jetzt, „in der Stadt grüßen wir uns nicht.“ Er ist beschäftigt, ja, er allein hat etwas zu tun gefunden. Er ist in Petersburg und ... und hat’s weit gebracht. „Er kennt Rußland und Rußland kennt ihn“. Jawohl, gerade ihn kennt es zur Genüge und es wird ihn lange nicht vergessen. Jetzt pflegt er auch nicht einmal mehr zu schweigen, im Gegenteil, nur er allein redet jetzt ... Doch was rede ich von ihm! Ich kam doch auf sie alle zu sprechen, die in Europa einen erquickenden Winkel suchen, und ich muß sagen, ich dachte wirklich, daß sie es dort besser hätten. Statt dessen ist in ihren Gesichtern ein solcher Harm ... Die Ärmsten! Und was ist das für eine ewige Unruhe in ihnen, was für eine krankhafte, sehnsüchtige Geschäftigkeit! Alle haben sie den „Führer“ bei sich und in jeder Stadt stürzen sie sich gierig auf die Sehenswürdigkeiten, die sie mit einem Eifer besichtigen, als wären sie dazu verpflichtet, als setzten sie einen vaterländischen Dienst fort: nicht ein einziges dreifensteriges Palais wird von ihnen übergangen, wenn es nur im „Führer“ angegeben ist, ebenso kein einziges Rathaus, das sich oft von einem ganz gewöhnlichen Moskauer oder Petersburger Hause kaum unterscheidet; sie gaffen das Rindfleisch eines Rubens an und glauben artig, das seien die drei Grazien, weil der „Führer“ so zu glauben befiehlt; sie stürzen zur Sixtinischen Madonna und stehen vor ihr in stumpfer Erwartung: jetzt-jetzt gleich wird etwas geschehen, irgend jemand wird unter dem Fußboden hervorkriechen und ihren gegenstandslosen Harm und ihre Müdigkeit verscheuchen. Und sie gehen weg, verwundert, daß nichts geschehen ist. Das ist nicht das selbstzufriedene und vollkommen mechanische Interesse englischer Touristen und Touristinnen, die mehr in ihren „Führer“ sehen als auf die Sehenswürdigkeiten, die nichts erwarten, weder Neues, noch Erstaunliches, und die nur nachprüfen: ist es auch so im „Führer“ angegeben und wieviel Fuß hoch oder Pfund schwer ist der Gegenstand ganz genau gemessen und gewogen? Nein, unsere russische Wißbegier ist irgend so eine wilde, nervöse, mächtig lechzende, doch im tiefsten Grunde im Voraus überzeugte, daß nichts geschehen wird, natürlich bis zur ersten Fliege: kaum fliegt eine vorüber – so fängt es sofort wieder an ... Ich spreche jetzt nur von den klugen Leuten. Um die anderen braucht man sich ja nicht zu sorgen: die werden doch immer von Gott beschützt. Und ich spreche auch nicht von jenen, die sich endgültig im Auslande angesiedelt haben, ihre Muttersprache vergessen und katholische Patres anhören. Übrigens, von der ganzen Masse kann man nur folgendes sagen: kaum haben wir uns über Eydtkuhnen hinweggewälzt, da gleichen wir schon auffallend jenen kleinen unglücklichen Hündchen, die ihren Herrn verloren haben und nun suchend umherlaufen. Aber was glauben Sie, – daß ich dies hier spottend schreibe, jemanden anklage, weil sozusagen „gerade jetzt, wo usw., – und Sie sind im Auslande! Hier ist die Bauernfrage im Gange und Sie sind im Auslande!“ usw., usw. ... Oh, keineswegs und nicht im geringsten. Und wer bin ich denn, daß ich anklagen könnte? Wen anklagen? und wessen? „Wir würden ja gern etwas tun, aber es gibt für uns nichts zu tun, das aber, was es da gibt, das wird auch ohne uns gemacht. Die Stellen sind besetzt, Vakanzen sind nicht vorauszusehen. Wer hat denn Lust, seine Nase in Dinge zu stecken, in die sie zu stecken man nicht gebeten wird.“ Das ist dann die Ausrede und sie ist nicht einmal lang. Wir kennen sie schon auswendig. Aber was ist das? Wo bin ich hingeraten? Wann habe ich denn schon Zeit gehabt, Russen im Auslande zu sehen? Wir nähern uns doch erst der Grenzstation Eydtkuhnen ... Oder sind wir schon weiter gefahren? In der Tat, auch Berlin, auch Dresden, auch Köln liegt schon hinter uns. Ich sitze zwar immer noch im Eisenbahnwagen, doch vor uns liegt nicht mehr Eydtkuhnen, sondern Erquelines, und wir fahren nach Frankreich hinein. Paris, Paris war’s doch, wovon ich erzählen wollte und wovon ich ganz abgekommen bin! Ich habe mich schon zu sehr vom Nachdenken über unser europäisches Rußland umstricken lassen; aber das ist wohl verzeihlich, wenn man gerade ins übrige Europa zu Besuch fährt. Übrigens, wozu gar so sehr um Entschuldigung bitten. Mein Kapitel ist ja ein überflüssiges.

Das vierte
und für Reisende nicht überflüssige Kapitel.

(Die endgültige Entscheidung der Frage, ob der Franzose wirklich „keine Überlegung hat“.)

Doch nein, wieso, warum soll denn der Franzose keine Überlegung haben? fragte ich mich, während ich die neuen Mitreisenden betrachtete, vier Franzosen, die soeben in unser Abteil eingestiegen waren. Es waren das die ersten Franzosen, die ich auf ihrem Heimatboden sah, wenn ich die Zollbeamten in Erquelines, das wir gerade verlassen hatten, nicht mitrechnete. Diese Zollbeamten waren überaus höfliche Leute, machten ihre Sache schnell ab, und als ich einstieg, war ich mit meinem ersten Schritt in Frankreich sehr zufrieden. Bis Erquelines waren in unserem Abteil von den acht Plätzen nur zwei besetzt gewesen: von mir und einem Schweizer, einem schlichten und bescheidenen Menschen in mittleren Jahren, einem sehr angenehmen Gesellschafter, und wir hatten uns an die zwei Stunden aufs beste unterhalten. Jetzt waren wir zu sechs im Abteil und mein Schweizer ward zu meiner Verwunderung in Gegenwart der vier anderen plötzlich ungemein wortkarg. Ich wollte natürlich unser unterbrochenes Gespräch fortsetzen, doch er beeilte sich geradezu auffallend, es abzubrechen, antwortete ausweichend, trocken, fast geärgert, wandte sich zum Fenster und begann hinauszuschauen, und schließlich zog er seinen deutschen Reiseführer hervor und versenkte sich voll und ganz in dessen Inhalt. Ich ließ ihn selbstredend sofort in Ruhe und begann mich stumm mit unseren neuen Mitreisenden zu beschäftigen. Das waren eigentlich seltsame Leute. Sie reisten so wie sie gingen und standen, hatten weder ein Bündel, noch einen Koffer bei sich, ja sie trugen nicht einmal Kleider, die an Reisende erinnert hätten. Alle vier hatten nur leichte Röcke an, die bereits schrecklich abgetragen waren, kaum bessere als die, die bei uns Offiziersburschen zu tragen pflegen oder die Hofleute auf den Gütern mittlerer Gutsbesitzer. Ihre Wäsche sah schmutzig aus, die Halstücher waren sämtlich äußerst grellfarben und gleichfalls sehr schmutzig; der eine hatte sich um den Hals eines jener Seidentücher gewickelt, die ewig getragen werden und schließlich, – nach fünfzehnjähriger Berührung mit dem Halse des Trägers, mit einem ganzen Pfund Fett durchtränkt sind. Derselbe Mitreisende hatte zudem Hemdknöpfe mit falschen Brillanten von der Größe einer Nuß. Übrigens hielten sie sich alle mit einem gewissen Chic, ja sogar verwegen. Alle vier schienen im gleichen Alter zu stehen – fünfunddreißig oder so – und ohne in den Gesichtszügen einander ähnlich zu sein, sah doch der eine wie der andere aus. Es waren zerknitterte Gesichter mit französischen Beamtenbärtchen, die gleichfalls eins wie das andere aussahen. Jedenfalls merkte man es den Leuten an, daß sie bereits mit allen Wassern gewaschen waren und sich schon für immer den – etwas sauren – Gesichtsausdruck gedanklich überaus beschäftigter Leute angewöhnt hatten. Es schien mir auch, daß sie einander kannten, doch ich erinnere mich nicht, ob sie während der ganzen Fahrt auch nur ein Wort miteinander wechselten. Uns, d. h. mich und den Schweizer, schienen sie irgendwie seltsam-merklich überhaupt nicht sehen zu wollen. Ungeniert pfeifend, saßen sie nachlässig auf ihren Plätzen und sahen die ganze Zeit zum Fenster hinaus. Ich zündete mir eine Zigarette an und da ich nichts zu tun hatte, betrachtete ich sie. Mir kam, ich muß gestehen, flüchtig der Gedanke: was sind das nun eigentlich für Leute? Arbeiter – und doch keine Arbeiter; Bourgeois – und doch keine Bourgeois. Sollten es am Ende verabschiedete Militärs sein – irgend so etwas à la demi-solde[18] oder ähnliches? Übrigens zerbrach ich mir ihretwegen nicht allzu sehr den Kopf. Nach etwa zehn Minuten, als wir die nächste Haltestelle erreichten, sprangen sie alle vier einer nach dem anderen aus dem Wagen, schlugen die Tür zu und wir sausten weiter. Auf dieser Strecke hält der Zug kaum zwei Minuten an den Stationen, höchstens drei, und schon fährt man wieder. Man fährt vorzüglich, das heißt außergewöhnlich schnell.

Kaum waren wir allein geblieben, da klappte der Schweizer seinen Führer zu, legte ihn beiseite und sah mich sehr zufrieden an, sichtlich mit dem Wunsch, unser Gespräch fortzusetzen.

„Die sind nicht lange bei uns geblieben,“ bemerkte ich, indem ich ihn einigermaßen verwundert betrachtete.

„Ja, die stiegen doch nur für die Fahrt bis zur ersten Haltestelle ein.“

„Sie kennen sie?“

„Diese? ... Das waren doch Polizeileute ...“

„Wieso? Was für Polizeileute?“ fragte ich verwundert.

„Ja-ja ... ich merkte vorhin schon gleich, daß Sie es nicht errieten.“

„Wie ... waren das wirklich Spione?“ (ich wollte es noch immer nicht glauben.)

„Nu, versteht sich, unseretwegen stiegen sie doch überhaupt ein.“

„Sind Sie dessen gewiß?“

„O natürlich, daran ist nicht zu zweifeln! Ich bin schon mehrmals auf dieser Strecke gefahren. Wir wurden ihnen im Zollamt heimlich zugewiesen, als man unsere Pässe las; sie erhielten alle Angaben, unsere Namen usw. Nu, und da setzten sie sich denn zu uns, um uns zu begleiten.“

„Aber wozu denn das noch, wenn sie uns bereits gesehen hatten? Sie sagten soeben, man hätte uns schon auf der Grenzstation ihnen gezeigt?“

„Nu ja, und man konnte ihnen dort unsere Namen mitteilen. Doch das ist nicht viel. Jetzt aber haben sie uns bis in alle Einzelheiten studiert: das Gesicht, den Anzug, die Reisetasche, überhaupt alles, was an einem zu sehen ist. Auch Ihre Manschettenknöpfe haben sie sich gemerkt. Sie steckten sich, zum Beispiel, eine Zigarette an, da haben sie sich auch Ihr Zigarettenetui eingeprägt; – wissen Sie, so alle möglichen Kleinigkeiten, Besonderheiten ... wie gesagt, möglichst viele Besonderheiten. Sie könnten in Paris verloren gehen, Ihren Namen ändern (das heißt, wenn Sie verdächtig sind). Nun und dann würden alle diese Kleinigkeiten das Auffinden erleichtern. Die Angaben werden von jener Station aus sofort nach Paris telegraphiert und dort werden sie zuständigen Ortes für alle Fälle aufgehoben. Außerdem müssen die Hotelbesitzer gleichfalls alle Angaben über ihre Ausländer einsenden, und diese Angaben müssen wiederum bis in alle Einzelheiten ausführlich sein.“

„Aber wozu waren ihrer denn so viele, es waren ja ganze vier,“ fuhr ich, immer noch ein wenig befremdet, fort zu fragen.

„Oh, deren gibt es hier sehr viele. Wahrscheinlich sind diesmal nur wenige Ausländer im Zuge; wären es mehr, so hätten sie sich in den Waggons verteilt.“

„Aber ich bitte Sie, die haben uns ja überhaupt nicht angesehen; sie sahen doch die ganze Zeit zum Fenster hinaus.“

„Oh, seien Sie unbesorgt, die haben alles gesehn ... Ich versichere Sie: nur unseretwegen stiegen sie hier ein.“

„Schau-schau,“ dachte ich bei mir, „da haben wir’s nun: ‚Überlegung hat der Franzose nicht‘!“ – und ich sah ein bißchen schräg, so mit einem gewissen Mißtrauen (ich schäme mich, das gestehen zu müssen), zu meinem Schweizer hinüber. „Und du, Bruder, gehörst nicht auch du zu derselben Sorte und stellst dich nur so?“ blitzte es in meinem Kopf auf, aber nur einen Augenblick, ich versichere Sie. Es war unsinnig, aber was kann man dagegen tun; man denkt es eben unwillkürlich ...

Der Schweizer hatte mich nicht beschwindelt. In dem Hotel, in dem ich abstieg, schrieb man sogleich mein ganzes Signalement auf und schickte es an die entsprechende Stelle. Nach der Genauigkeit und Kleinlichkeit zu urteilen, mit der die Leute einen besichtigten und beschrieben, kann man annehmen, daß auch Ihr ganzes weiteres Tun und Treiben skrupulös beobachtet wird und sozusagen alle Ihre Schritte gezählt werden. Übrigens im ersten Hotel geschah das alles heimlich; doch im zweiten, im Hôtel des Empereurs, wo ich nach meiner Rückkehr aus London abstieg, da im ersten, im Hotel Coquillière, alle Zimmer besetzt waren, ging man weit offener mit mir um. Man war dort überhaupt und in allem viel patriarchalischer. Die Besitzer, ein schon älteres Ehepaar, waren nette Leute und verhielten sich sehr rücksichtsvoll und aufmerksam gegen ihre Hotelgäste. An demselben Tage, an dem ich bei ihnen einzog, bat mich die Besitzerin, als sie mich am Abend im Flur erblickte, auf einen Augenblick in das Zimmer, das ihr Geschäftsraum war. Ihr Mann war zugegen, doch augenscheinlich war sie diejenige, die alles leitete.

„Entschuldigen Sie, daß wir Sie aufhalten,“ begann sie sehr höflich, „aber ich brauche Ihre Angaben ...“

„Aber ich habe Ihnen doch schon alles angegeben ... meinen Paß haben Sie auch.“

„Das ja, aber votre état?“[19]

Dieses: votre état? – ist eine überaus verfängliche Sache und hat mir nirgendwo gefallen. In der Tat, was soll man da sagen? Reisender – das ist gar zu abstrakt. Homme de lettres[20] – da achtet einen keiner.

„Schreiben wir propriétaire,[21] was meinen Sie?“ schlug mir die Besitzerin vor. „Das wird am besten sein.“

„O ja, das wird am besten sein,“ pflichtete ihr der Mann bei.

Es wurde also geschrieben.

„Nun und jetzt: der Grund Ihres Aufenthaltes in Paris?“

„Als Reisender ... auf der Durchreise.“

„Hm ... ja, pour voir Paris.[22] Erlauben Sie, mßjö: Ihre Größe?“

„Meine Größe? – wieso?“

„Ich meine, wie groß sind Sie?“

„Wie Sie sehen – von mittlerem Wuchs“.

„Das schon, mßjö ... Aber man muß es genauer angeben ... Ich denke, ich denke ...“ fuhr sie ein bißchen unschlüssig fort und fragte mit den Augen ihren Mann um Rat.

„Ich denke, soundsoviel,“ meinte der Mann, nach dem Augenmaß meine Größe in Zentimetern abschätzend.

„Ja, wozu brauchen Sie das alles?“ fragte ich.

„Oh, das ist so not–wen–dig,“ versetzte die Dame, liebenswürdig das Wort in die Länge ziehend, und sie trug tatsächlich auch das Zentimetermaß ein. „Jetzt, mßjö, Ihre Haarfarbe? Blond, hm! ... ziemlich hell ... glattes Haar ...“

Sie schrieb auch das alles auf.

„Erlauben Sie, mßjö,“ – sie legte die Feder hin, stand vom Stuhl auf und trat mit dem liebenswürdigsten Ausdruck nah an mich heran – „bitte hierher, ein paar Schritte zum Fenster. Um die Farbe Ihrer Augen festzustellen. Hm! ... hell ...“

Und sie fragte wieder mit den Augen ihren Mann um Rat. Sie liebten sich augenscheinlich sehr.

„Mehr von grauer Farbe,“ bemerkte der Mann mit einem besonders geschäftlichen, sogar besorgten Ausdruck im Gesicht.

Voilà,“ fügte er mit einem Wink hinzu und wies auf eine Stelle der Stirn über der Augenbraue, und ich begriff sehr gut, auf was er aufmerksam machen wollte. Ich habe eine kleine Narbe auf der Stirn und er wollte, daß die Frau auch dieses besondere Merkmal angebe.

„Gestatten Sie mir jetzt die Frage,“ wandte ich mich an Madame, als dieses ganze Examen zu Ende war, „wird von Ihnen wirklich eine solche Ausführlichkeit in den Angaben verlangt?“

„Oh, mßjö, das ist unbedingt not–wen–dig! ...“

Mßjö!“ bekräftigte auch der Mann mit einem gewissen besonders eindringlichen Ausdruck.

„Aber im Hotel Coquillière hat man mich nicht danach gefragt ...“

„Das ist nicht möglich,“ fiel mir die Besitzerin lebhaft ins Wort, „das könnte den Eigentümern sehr teuer zu stehen kommen. Wahrscheinlich hat man stillschweigend Ihr Signalement aufgenommen, doch getan hat man es jedenfalls, oh, unbedingt, unbedingt. Wir aber gehen mit unseren Gästen viel harmloser und offenherziger um, wir leben mit ihnen wie mit Verwandten. Sie werden zufrieden mit uns sein. Sie werden sehen ...“

„Oh, mßjö!“ ... bekräftigte der Mann mit Feierlichkeit und aus seinem Gesicht sprach sogar eine Art Gerührtsein.

Und es waren wirklich höchst ehrliche, höchst liebenswürdige Eheleute, wenigstens so weit ich sie hernach kennen lernte. Aber das Wort „not–wen–dig“ ward durchaus nicht in einem Tone gesagt, der wegen der Vorschrift um Entschuldigung bat oder sie als ein notwendiges Übel betrachtete, das man nun einmal über sich ergehen lassen mußte, sondern gerade im ernstesten Sinne der unbedingten Notwendigkeit, die womöglich restlos mit ihren eigenen persönlichen Überzeugungen übereinstimmte.

Und so war ich denn in Paris.

Fünftes Kapitel.
Baal.

Und so war ich denn in Paris ... Doch erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen jetzt viel von der Stadt selbst erzählen werde. Ich denke, Sie haben über Paris als Stadt bereits so viel in russischer Sprache gelesen, daß es Ihnen schließlich schon zum Überdruß geworden ist. Außerdem sind Sie ja selber dort gewesen und haben sich gewiß alles viel besser gemerkt als ich. Ich konnte es im Auslande nun einmal nicht ausstehen, alles nach dem Führer zu besichtigen, nach dem Gesetz, aus Pflicht als Reisender, und so habe ich denn an manchen Orten so berühmte Sehenswürdigkeiten nicht gesehen, daß ich mich sogar schäme, sie zu nennen. Auch in Paris habe ich vieles nicht gesehen. Ich werde deshalb auch nicht sagen, was ich dort nicht gesehen habe, aber dafür sage ich folgendes: ich habe für Paris eine Bezeichnung gefunden, ein Epitheton, und bestehe darauf, daß es richtig ist. Nämlich: es ist die sittlichste und tugendhafteste Stadt auf dem ganzen Erdenrund. Welch eine Ordnung! Welch eine Vernünftigkeit! Was für genau bestimmte und dauerhaft eingebürgerte Verhältnisse; wie ist alles sichergestellt und vorliniert; wie sind alle zufrieden und vollkommen glücklich, und wie haben sie sich alle mit Fleiß und Mühe schließlich selbst so schön zu der Überzeugung gebracht: sie seien nun wirklich zufrieden und vollkommen glücklich und ... und ... und auf diesem Punkt sind sie nun stehen geblieben. Darüber hinaus führt ja auch kein Weg. Sie, meine Freunde, werden es mir nicht glauben wollen, daß sie darauf stehen geblieben sind; Sie rufen mir zu, das sei eine häßliche Verleumdung von mir, eine Verleumdung aus Patriotismus; es sei doch unmöglich, daß dort alles wirklich habe stehen bleiben können. Aber meine Freunde: ich habe Sie doch schon im ersten Kapitel dieser Aufzeichnungen darauf vorbereitet, daß ich vielleicht schrecklich viel Unwahres sagen werde. Also bitte stören Sie mich nun nicht. Zudem wissen Sie doch sehr gut, daß ich, selbst wenn ich was zusammenlüge, es in der Überzeugung tue, nicht zu lügen. Das aber ist meiner Ansicht nach schon mehr als genug. Also lassen Sie mir nun meine Freiheit.

Ja, Paris ist eine bewundernswerte Stadt. Und was für ein Komfort, was für alle möglichen Bequemlichkeiten für jene, die das Recht auf Bequemlichkeiten haben, und wiederum: welch eine Ordnung, welch eine ... man möchte sagen, Windstille in der Ordnung. Ich komme immer wieder auf diese Ordnung zurück. In der Tat, noch ein Weilchen und das eineinhalbmillionenköpfige Paris wird sich in irgend so ein in Windstille und Ordnung versteintes deutsches Professorenstädtchen verwandeln, von der Art zum Beispiel irgend eines Heidelberg. Dahin geht nun mal seine ganze Neigung. Und als ob es ein Heidelberg nicht auch in großem Maßstabe geben könnte? Und welch ein Reglement in allem! Verstehen Sie mich nicht falsch: ich meine hiermit weniger ein äußeres Reglement, das belanglos wäre (im Verhältnis, natürlich), sondern die kolossale innere, geistige, aus der Seele hervorgehende Vorschriftsmäßigkeit. Paris engt sich ein, Paris verkleinert sich gern und mit Liebe, es kauert sich gerührt zusammen. Wie anders ist in der Beziehung zum Beispiel London! Ich war im ganzen nur acht Tage in London, aber wenigstens äußerlich – mit wie breiten Bildern, wie scharfen Linien, wie eigenartigen, nicht nach einem Leisten regulierten Plänen hat es sich in meiner Erinnerung eingezeichnet. Alles ist so riesenhaft und kraß in seiner Eigenart. Sogar täuschen lassen kann man sich von dieser Eigenart. Jede Kraßheit, jeder Widerspruch steht hier Seite an Seite mit der eigenen Antithese und sie gehen eigensinnig Arm in Arm einher, sich gegenseitig widersprechend und doch anscheinend keineswegs einander ausschließend. All das steht, wie’s scheint, starrsinnig für sich ein und lebt nach seiner Art und stört sich gegenseitig anscheinend nicht im geringsten. Indessen aber geht auch hier derselbe hartnäckige, dumpfe und schon veraltete Kampf vor sich, der Kampf, auf Tod oder Leben, des allgemein westlichen persönlichen Prinzips mit der Notwendigkeit, sich doch irgendwie miteinander einzuleben; irgendwie eine Gemeinschaft zu bilden und sich in einem einzigen Ameisenhaufen einzurichten; ja, meinetwegen sich in einen Ameisenhaufen zu verwandeln, aber sich einzurichten ohne einander aufzufressen, denn sonst – ist die Verwandlung in Menschenfresser da! In dieser Beziehung ist dort, wenn auch in einer anderen Richtung, dasselbe zu bemerken wie in Paris: dasselbe verzweifelte Bestreben, auf dem status quo stehen zu bleiben – aus Verzweiflung wenigstens stehen zu bleiben –, alle Wünsche und Hoffnungen mit dem Fleisch aus sich herauszureißen, die eigene Zukunft zu verfluchen, an die zu glauben es selbst den Führern des Fortschritts vielleicht schon an Glauben gebricht, und Baal anzubeten. Doch lassen Sie sich bitte nicht vom Pathos irgend welcher Worte bestechen: all das ist als Bewußtheit erst in der Seele der fortgeschrittensten Erkennenden zu bemerken, unbewußt jedoch, instinktiv – in den Lebensverrichtungen der ganzen Masse. Aber der Bourgeois zum Beispiel in Paris ist bewußt, d. h. in seiner Bewußtheit sehr zufrieden und er ist überzeugt, daß alles auch so sein müsse; und er würde Sie sogar verprügeln, wenn Sie zu bezweifeln wagten, daß es so sein muß, würde Sie verhauen, weil er im Grunde doch noch irgend etwas fürchtet, ungeachtet seines ganzen Selbstgefühls. In London ist es eigentlich dasselbe, – und doch: was für breite, erdrückende Bilder! Sogar äußerlich: was für ein Unterschied gegen Paris. Diese Tag und Nacht hastende und wie ein Meer unumfaßbare Stadt, dieses Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern (und bald auch unter ihnen) hinjagenden Eisenbahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmungsgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Themse, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, diese unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung ... Ja die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man erkennt einen Riesengedanken; man fühlt, daß hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. Und eine Angst vor irgend etwas beginnt sich in einem zu erheben. Wie frei und unabhängig man auch sein mag, um irgend etwas überkommt einen doch eine Angst.

„Sollte am Ende dies das erreichte Ideal sein?“ denkt man bei sich, „ist hier nicht das Ende? Ist das nicht doch schon die verwirklichte ‚eine Herde‘ der Weissagung? Wird man die nicht wirklich als die volle Wahrheit annehmen und endgültig verstummen müssen?“ All das ist so herrschend, so siegbewußt und stolz, daß es Ihnen den Atem zu beengen anfängt. Sie sehen diese Hunderttausende, diese Millionen von Menschen, die gehorsam aus der ganzen Welt hierher zusammenströmen, – Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaften Palast umherdrängen, und Sie fühlen, daß sich hier endgültig etwas vollendet, vollendet und vollbracht hat. Das ist irgend ein biblisches Bild, irgend was von Babylon, ist eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirklicht hat. Sie fühlen, daß es viel ewiger geistiger Gegenwehr und Verneinung bedarf, um standzuhalten und dem Eindruck nicht zu erliegen, sich nicht vor der Tatsache zu beugen und Baal nicht für Gott zu halten, das heißt, das Verwirklichte, Bestehende nicht hinzunehmen als unser Ideal ...

Nun, das ist Unsinn, werden Sie sagen, krankhafter Unsinn, Nerven, Übertreibung. Dabei wird doch niemand stehen bleiben und ebenso wird niemand das für sein verwirklichtes Ideal halten. Zudem sind doch Hunger und Sklaverei nicht jedermanns Sache und werden am besten Verneinung einflüstern und Skepsis zeugen. Satte Dilettanten aber, die zu ihrem Vergnügen umherspazieren, die können natürlich Bilder aus der Apokalypse zu sehen sich einbilden und ihre Nerven hätscheln, indem sie, um sich selbst anzuregen, aus jeder Erscheinung durch Übertreibung starke Empfindungen zu erpressen suchen ...

Schön, antworte ich, nehmen wir an, daß ich mich von der Dekoration habe hinreißen lassen, mag es so sein. Doch wenn Sie gesehen hätten, wie stolz jener mächtige Geist ist, der diese kolossale Dekoration geschaffen hat, und wie stolz dieser Geist von seinem Sieg und seinem Triumph überzeugt ist, Sie wären erschauert ob seines Stolzes, seines Starrsinns und seiner Blindheit, und Sie wären erschauert auch für jene, über denen dieser stolze Geist schwebt und die er regiert. Angesichts dieser Kolossalheit, dieses riesenhaften Stolzes des alle beherrschenden Geistes, angesichts dieser feierlichen Vollendung der Schöpfungen dieses Geistes verstummt nicht selten auch die hungrige Seele, ergibt sich, unterwirft sich, sucht Rettung im Gin und in der Ausschweifung, und beginnt zu glauben, daß alles gerade so sein müsse. Die Tatsache drückt, die Masse verholzt und eignet sich alsbald Chinesentum an, oder wenn sich auch Skepsis einstellt, so sucht sie schließlich doch finster und mit einem Fluch Rettung in irgend so etwas von der Art des Mormonentums. Und in London kann man die Masse in einem Maßstabe und in einer Umgebung sehen, wie sie sonst nirgendwo in der Welt leibhaftig zu sehen ist. Man erzählte mir z. B., daß jeden Samstagabend eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Kindern sich wie ein Meer in die Straßen der Stadt ergießt, sich besonders in gewisse Stadtteile drängend, um dann die ganze Nacht bis fünf Uhr morgens Feiertag zu feiern, das heißt, sich viehisch satt zu essen und voll zu trinken nach der ganzen durchhungerten Woche. Diese Millionenmasse trägt ihren gesamten Wochenlohn bei sich, alles, was sie mit schwerer Arbeit fluchend verdient hat. In den Fleisch- und Eßwarenläden brennt das Gas in dicksten Flammenbüscheln, die grell die Straßen erhellen. Es ist geradezu, als werde für diese weißen Neger ein Ball veranstaltet. In den offenen Tavernen und in den Straßen überall ein Volksgedränge. Hier wird auch gegessen und getrunken. Die Trinkstuben sind aufgeputzt wie Paläste. Alles ist betrunken, doch ohne Fröhlichkeit, ist vielmehr finster, schwer, und alles ist irgendwie eigentümlich stumm. Nur hin und wieder wird diese verdächtige und auf Sie traurig wirkende Schweigsamkeit von Schimpfwörtern und blutigen Prügeleien gestört. Alles das beeilt sich, zu trinken, sich bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken ... Die Frauen stehen den Männern nicht nach und betrinken sich gleich diesen; die Kinder laufen und kriechen zwischen ihnen umher. In einer solchen Nacht, es war gegen zwei Uhr, verirrte ich mich einmal und trieb mich lange in den Straßen umher inmitten der unzählbaren Menge dieses finsteren Volkes, fast nur mit Zeichen den Weg erfragend, da ich kein Wort Englisch kann. Ich fand schließlich den Weg, aber der Eindruck dessen, was ich gesehen, quälte mich nachher noch drei Tage. Volk ist überall Volk, hier aber war alles so kolossal, so grell, daß man gleichsam körperlich fühlte, was man sich bislang nur geistig vorgestellt hatte. Ja, hier sieht man nicht einmal mehr Volk, sondern Verlust des Bewußtseins, systematischen, gehorsamen, geförderten. Und man fühlt, wenn man alle diese Parias der Gesellschaft sieht, daß für sie die Prophezeiung noch lange nicht in Erfüllung gehen wird, daß sie noch lange keine Palmenzweige und weißen Gewänder erhalten werden und immer noch vergeblich zum Throne des Höchsten emporseufzen müssen: „Wie lange noch, Herr?“ Und sie wissen das selbst und inzwischen nehmen sie für sich Rache an der Gesellschaft mit irgend welchen unterirdischen Mormonen, Sekten, Wanderpredigern ... Wir wundern uns über die Dummheit, sich solchen Sekten anzuschließen, und erraten nicht, daß es – eine Absonderung von unserer gesellschaftlichen Formel ist, eine hartnäckige, unbewußte Absonderung; eine instinktive Absonderung um jeden Preis, da man seine Seele retten will, eine Absonderung mit Ekel vor uns und Entsetzen. Diese Millionen von Menschen, die von dem Feste der Menschheit ausgeschlossen und verjagt worden sind, die nun in unterirdischer Finsternis einander stoßen und drücken, in dieser Finsternis, in die sie von ihren älteren Brüdern geworfen wurden und in der sie nun tastend nach einem Ausgang suchen und an jede erste beste Tür pochen, um in dem dunklen Kellergewölbe nicht zu verrecken. Es ist das der letzte verzweifelte Versuch, sich zu einem eigenen Haufen zusammenzuschließen, zu einer eigenen Masse, und sich von allem abzusondern, sei es selbst vom Menschenbilde, um nur ja von eigener Art zu sein, nur ja nichts mit uns gemein zu haben ...

Ich sah in London auch noch eine andere ähnliche Menschenmenge von einer Größe, wie man sie gleichfalls nirgendwo, außer in London, sehen kann. Gleichfalls eine Dekoration in ihrer Art. Wer in London gewesen ist, hat gewiß wenigstens einmal Hay-Market in der Nacht besucht. Das ist ein Stadtteil, in dem nachts die öffentlichen Frauen zu Tausenden sich umherdrängen, besonders in gewissen Straßen. Die Straßen sind von Gasflammen erhellt, von einem Licht, von dem man bei uns in Rußland noch gar keine Vorstellung hat. Hier reiht sich ein prunkvolles Café ans andere, Cafés mit Riesenspiegeln und goldstrotzenden Verzierungen. Hier gibt es Festsäle, hier gibt es Absteigequartiere. Es schaudert einen geradezu, wenn man sich unter diese Menge begibt. Und wie sonderbar ist sie zusammengesetzt. Da gibt es Greisinnen und junge Schönheiten, vor deren Schönheit man betroffen stehen bleibt. In der ganzen Welt gibt es keinen so schönen Frauentyp wie die Engländerin. Alles das drängt sich mit Mühe durch die Straßen, geengt, gedrängt. Die Fußsteige reichen natürlich nicht aus, der ganze Fahrweg ist von der Menge überflutet. Alles das giert nach Beute und wirft sich mit schamlosem Zynismus auf den ersten Besten. In dieser Menge gibt es glänzende kostbare Gewänder und neben ihnen sieht man fast Lumpen. Man sieht hier auch alle Lebensalter in schrillstem Gegensatz nebeneinander, alles in einer einzigen Masse. In diesem schrecklichen Menschenhaufen stößt sich der betrunkene Strolch umher und hierher kommt auch der reiche Herr mit hohen Titeln. Man hört Schimpfworte, Streit, laute Aufforderungen, hier oder dort einzutreten, und dazwischen das versuchende Geflüster einer noch schüchternen jungen Schönheit. Und was sind das mitunter für Schönheiten! Gesichter wie von einem Keepsake. Ich weiß noch, einmal trat ich in ein „Kasino“. Dort spielte Musik, es wurde getanzt, es wimmelte von Menschen. Die Aufmachung war voll Prunk und Pracht. Aber der finstere Charakter verläßt die Engländer auch im Vergnügen nicht: selbst beim Tanzen sind sie ernst, ja sogar verdrossen, und machen die Tanzschritte, als müßten sie einer Pflicht nachkommen. Dort erblickte ich oben auf der Galerie ein Mädchen, vor dem ich einfach stehen blieb vor Verwunderung: eine so ideale Schönheit war mir noch nie begegnet. Sie saß an einem der Tischchen mit einem jungen Mann, anscheinend einem reichen Gentleman, der, wie aus allem zu ersehen war, nicht zu den ständigen Gästen dieses Kasinos gehörte. Vielleicht hatte er sie überall vergeblich gesucht und schließlich hier gefunden. Oder vielleicht hatten sie verabredet, sich hier zu treffen. Er sprach wenig mit ihr, dabei alles seltsam stoßweise und gleichsam gar nicht davon, wovon sie eigentlich sprechen wollten. Ihr Gespräch wurde oft von langem Schweigen unterbrochen. Sie schien sehr traurig zu sein. Ihre Züge waren zart, fein, etwas Verschwiegenes und Trauriges lag in ihrem schönen, ein wenig stolzen Blick, etwas Denkendes und Schwermütiges. Ich glaube, sie war schwindsüchtig. Sie stand in ihrer Entwicklung höher, sie mußte einfach höher stehen als alle diese unglücklichen Frauen – denn was hätte sonst ein Menschenantlitz zu bedeuten? Und dabei saß sie doch hier unter den anderen und trank gleichfalls diesen Gin, den der junge Mann für sie bezahlte. Schließlich stand er auf, drückte ihr die Hand und sie trennten sich. Er verließ das Kasino, sie aber ging, vom Branntweingenuß feuerrote Flecken auf ihren blassen Wangen, und mischte sich unter die Schar der sich feilbietenden Frauen. Dort in Hay-Market habe ich Mütter gesehen, die ihre eigenen kleinen Töchter zu diesem Gewerbe anleiteten. Und diese kleinen, vielleicht zwölfjährigen Mädchen fassen einen an der Hand und bitten einen, doch mit ihnen zu gehen. Einmal erblickte ich in dem Gewimmel der Straße ein Kind, ein Mädchen von höchstens sechs Jahren, bestimmt nicht älter, in Lumpen gekleidet, schmutzig, barfuß, ausgemergelt und blaugeschlagen – ihr Körper, den man durch die zerrissenen Lumpen sah, war mit blauen Flecken bedeckt. Das Kind ging ohne zu wissen wohin, ja ohne zu wissen, daß es überhaupt ging, ohne sich zu beeilen – Gott weiß weshalb es sich in dem Gewimmel umhertrieb. Vielleicht war es hungrig. Es wurde von Niemand beachtet. Doch was mich am meisten betroffen machte: dieses Kind ging mit dem Ausdruck eines solchen Kummers, einer so hoffnungslosen Verzweiflung im Gesicht, daß der Anblick dieses kleinen Geschöpfes, das schon so viel Fluch und Jammer trug, irgendwie geradezu widernatürlich war und entsetzlich schmerzte. Die Kleine wiegte beim Gehen ihren zerzausten Kopf immer hin und her, von einer Seite auf die andere, ganz als erwäge sie etwas, dazu gestikulierte sie in einem fort, hob ihre kleinen Ärmchen oder schlug plötzlich die Händchen zusammen und preßte sie an ihre nackte, kleine Brust. Ich kehrte um, ging ihr nach und gab ihr einen halben Schilling. Sie nahm die Silbermünze, sah mir dann scheu mit ängstlicher Verwunderung in die Augen und plötzlich begann sie zu laufen, so schnell es ihr im Gedränge nur möglich war, ganz als fürchtete sie, daß ich ihr das Geld wieder wegnehmen könnte. – Ja, es gibt schon eigene Dinge ...

In einer Nacht aber geschah es, daß in diesem Gedränge verlorener Frauen und Lüstlinge ein weibliches Wesen, das sich eilig durch die Menge drängte, mich anredete. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Hut, der ihr Gesicht fast vollständig verbarg; ich kam eigentlich kaum dazu, sie richtig zu sehen; ich erinnere mich nur ihres forschend aufmerksamen Blickes. Sie sagte irgend etwas, das ich nicht verstand, in gebrochenem Französisch, drückte mir ein Blatt Papier in die Hand und ging schnell weiter. Vor dem hellen Fenster eines Cafés besah ich das Papier: es war ein kleines Blatt in Quadratform; auf der einen Seite des Blättchens stand gedruckt: „Crois-tu cela?[23] Auf der anderen Seite, gleichfalls auf französisch: „Ich bin die Auferstehung und das Leben ...“ usw. Die bekannten Worte. Sie werden zugeben, daß auch das ziemlich originell ist. Später sagte man mir, das sei die katholische Propaganda, die überall herumschnüffelt, unablässig, unermüdlich. Bald sind es solche Blättchen, die auf den Straßen verteilt werden, bald sind es kleine Bücher, die Auszüge aus dem Neuen und Alten Testament enthalten. Sie werden umsonst verteilt, aufgedrängt, in die Hand gedrückt. Der Propagandisten gibt es eine Unmenge, sowohl Männer wie Frauen. Es ist das eine Propaganda von feinster und berechnendster Art. Der katholische Geistliche spürt persönlich die arme Familie irgend eines Arbeiters auf, in die er sich dann unmerklich eindrängt. Er findet z. B. einen Kranken, der in Lumpen auf dem feuchten Fußboden liegt, umgeben von Kindern, die von Hunger und Kälte verkommen sind, dazu eine hungrige, nicht selten betrunkene Frau. Er gibt ihnen allen zu essen, gibt ihnen Kleider, sorgt für Heizung, behandelt den Kranken, kauft Arznei, wird zum Freunde der ganzen Familie und schließlich bekehrt er sie alle zum Katholizismus. Manchmal freilich kommt es auch vor, daß man ihn – natürlich erst nach der Heilung und aller Hilfe –, statt sich nun bekehren zu lassen, mit Geschimpfe und Schlägen hinausjagt. Aber er ermüdet nicht; er geht zu anderen. Auch dort wird er hinausgejagt; er erträgt alles, aber den einen oder anderen fängt er schließlich doch. Der anglikanische Geistliche dagegen wird doch nicht zu einem Armen gehen. Arme werden ja nicht einmal in die Kirche gelassen, weil sie nichts haben, womit sie den Platz auf der Bank bezahlen könnten. Die Ehen unter den Arbeitern und überhaupt unter den Armen sind oft illegitim, denn sich trauen zu lassen kostet viel Geld. Übrigens pflegen viele dieser Ehemänner ihre Frauen fürchterlich zu prügeln, ja, sie zu Krüppeln oder halbtot zu schlagen, und zwar geschieht das, wie es scheint, gewöhnlich mit der Feuerzange, mit der man im Kamin die Kohlen schürt. Wenigstens wird in den Zeitungsberichten, die von solchen Familientragödien, schweren Körperverletzungen oder Totschlägen handeln, immer die Feuerzange erwähnt. Die Kinder aus diesen Ehen beginnen oft schon im frühesten Alter ein Straßenleben, mischen sich unter die Menge und kehren schließlich überhaupt nicht mehr zu ihren Eltern zurück. – Die anglikanischen Pfarrer und Bischöfe sind stolz und reich, leben in reichen Pfarreien und werden dick in vollkommenster Gewissensruhe. Sie sind große Pedanten, sind sehr gebildet und glauben selber wichtig und in allem Ernst an ihre stumpfsinnig-moralische Würde, an ihr Recht, ruhige und selbstgerechte Moral zu predigen, fett zu werden und nur für die Reichen da zu sein. Das ist die Religion der Reichen und zwar schon ohne jede Maske. Nun, wenigstens ist’s so – rationell und es wird nichts vorgetäuscht. Aber diese selben bis zur Stumpfheit überzeugten Professoren der Religion haben eine Liebhaberei von eigener Art: das ist die Mission. Sie durchziehen als Missionare die ganze Welt, sie dringen ins innerste Afrika, um einen Wilden zu bekehren, und vergessen darüber eine Million Wilder in London, weil diese nichts besitzen, womit sie zahlen könnten. Doch die reichen Engländer und überhaupt alle dortigen goldenen Ochsen sind überaus religiös, sind es auf eine finstere, mißmutige und eigentümliche Art. Die englischen Dichter aber besingen von jeher mit Vorliebe die Schönheit der Pfarrhäuser in der Provinz, die im Schatten hundertjähriger Eichen und Weiden stehen, besingen ihre tugendhaften Frauen und idealschönen blonden, blauäugigen Töchter.

Doch wenn die Nacht vergeht und der Tag beginnt, erhebt sich jener stolze finstere Geist von neuem herrscherhaft über der Riesenstadt. Der regt sich nicht darüber auf, was in der Nacht war, ihn stört auch das nicht, was er am Tage ringsum sieht. Baal herrscht und verlangt nicht einmal Unterwerfung, denn er ist ihrer auch so schon sicher. Sein Glaube an sich selbst ist grenzenlos; ruhig und mit Verachtung gibt er, nur um sich’s vom Halse zu schaffen, organisierte Almosen und danach ist sein Selbstgefühl nicht mehr zu erschüttern. Baal versteckt auch nicht vor sich selbst, wie man das z. B. in Paris tut, gewisse ungezähmte, verdächtige und erregende Lebenserscheinungen. Armut, Leid, Murren und die Abstumpfung der Masse regen ihn nicht im geringsten auf. Voll Verachtung erlaubt er allen diesen verdächtigen, unheilkündenden Erscheinungen Seite an Seite neben seinem Leben als Wirklichkeit sichtbar zu bestehen. Er gibt sich keine Mühe, sich ängstlich, wie der Pariser, und krampfhaft zu beruhigen, zu ermutigen und sich selbst die Meldung zu erstatten, daß alles ruhig und in Ordnung sei. Er versteckt nicht, wie man das in Paris tut, die Armen irgendwohin, wo man sie nicht sieht, damit sie nicht unnütz seinen Schlaf beunruhigen. Der Pariser liebt es, wie der Vogel Strauß, seinen Kopf in den Sand zu stecken, um die Jäger, die ihm schon auf den Fersen sind, einfach nicht zu sehen. In Paris ... Aber was ist denn das? Ich bin schon wieder nicht in Paris! ... Herrgott, wann werde ich mich denn endlich an Ordnung gewöhnen ...

Sechstes Kapitel.
Ein Versuch über den Bourgeois.

Warum kauert sich hier alles das so zusammen, warum will sich hier alles in Scheidemünze einwechseln, sich einengen, sich drücken: „Ich bin gar nicht da, ich bin überhaupt nicht auf der Welt, ich habe mich versteckt, gehen Sie, bitte, vorüber und bemerken Sie mich nicht, tun Sie, als sähen Sie mich nicht, gehen Sie, ach gehen Sie doch vorüber!“

„Ja von wem reden Sie eigentlich? Wer kauert sich zusammen?“

„Na, der Bourgeois doch.“

„Ums Himmels willen, der ist doch König, ist überhaupt alles, le tiers état c’est tout,[24] und Sie reden von – sich verstecken!“

„Ja, aber warum versteckt er sich denn so hinter dem Kaiser Napoleon? Warum hat er denn in seiner Abgeordnetenkammer die hohen Phrasen vergessen, die er früher so liebte? Warum will er sich an nichts erinnern und warum winkt er mit beiden Händen ab, wenn man ihn an irgend etwas, das in alten Zeiten war, erinnert? Warum ist bei ihm im Sinn und Blick und auf der Zunge sogleich Alarm, wenn andere in seiner Gegenwart noch irgend einen Zukunftswunsch zu äußern wagen? Und wenn er selber einmal aus reiner Einfalt übermütig wird und plötzlich auch in sich noch einen Wunsch verspürt, warum erschrickt er dann gleich und bekreuzigt sich, um den Einfluß des Bösen zu bannen: „Herrgott, was hab ich da ... was fällt mir überhaupt ein!“ und warum bemüht er sich darnach noch lange, sein törichtes Benehmen durch Fleiß und Artigkeit gewissenhaft wieder gut zu machen? Warum sieht er immer so aus, als sage er fast wortwörtlich: „Heute mache ich wieder ein paar Geschäftchen in meinem Laden und, so Gott will, morgen auch und vielleicht auch noch übermorgen, wenn Gott mir gnädig ist ... Nun und dann, dann aber ... wenn man nur schneller ein Sümmchen in Sicherheit hätte, und“ ... und weiter denkt er nicht; – après moi le déluge.[25] Warum hat er alle Armen irgendwohin weggeschafft und warum beteuert er, es gäbe sie in Frankreich überhaupt nicht? Warum begnügt er sich so stillschweigend mit einer Regierungspresse und mit vorschriftsmäßiger Literatur? Warum will er sich so furchtbar gern einreden, seine Zeitungen seien nicht käuflich? Warum willigt er ein, so viel Geld für Spione auszugeben? Warum wagt er gegen die Mexikanische Expedition auch nicht mit einer Silbe zu mucksen? Warum werden auf den Bühnen seiner Theater die Ehemänner immer als so edle und mit Geld und Gütern wohlversehene Herren dargestellt, die Liebhaber dagegen immer als irgend solche armselige, verlumpte Habenichtse ohne Stellung und ohne Protektion, als irgend solche Kommis oder Künstler, jedenfalls als im höchsten Grade lumpige Leutchen? Warum gaukelt er sich vor, daß die Epousen alle ohne Ausnahme bis zum Äußersten ihren Gatten treu seien, daß sein Heim in Wohlbehagen still gedeihe, der pot-au-feu[26] in tugendvollster Hitze brodele und die Kopfzier seines eigenen Hauptes in einer so tadellosen Verfassung sei, wie man sie sich besser gar nicht denken könnte? Gerade bezüglich der Kopfzier ist seine Überzeugung von ganz besonderer Festigkeit: so ist es nun einmal vereinbart, ohne alles Gerede, so hat es sich von selbst eingeführt und festgesetzt; und wenn auch auf den Boulevards jeden Augenblick geschlossene Mietskutschen mit herabgezogenen Rollvorhängen vorüberfahren, wenn es auch überall Zufluchtsstätten für alle möglichen interessanten Erfordernisse gibt und wenn auch die Toiletten der Epousen nur allzuoft teurer sind, als nach dem Beutel des Gemahls anzunehmen wäre, so bleibt es doch dabei, denn so ist es nun einmal vereinbart und unterschrieben – also was wollen Sie nun noch? Und warum ist es so vereinbart und unterschrieben? Ja aber: wenn es das nicht wäre, dann könnte man ja womöglich denken, das Ideal sei noch nicht erreicht, Paris sei noch nicht das vollendete irdische Paradies, könnte denken, daß man schließlich doch noch was wünschen dürfe, daß folglich der Bourgeois auch selber noch nicht ganz zufrieden sei mit dieser Ordnung, für die er einsteht und die er allen aufbinden will. Man könnte glauben, daß es in dieser Gesellschaft doch irgend welche Sprünge und Risse gibt, die man ausbessern müßte. Sehen Sie, deshalb schwärzt der Bourgeois die Risse in seinen Stiefeln mit Tinte, damit man nur ja nicht, Gott behüte, etwas bemerke! Die Epousen aber naschen derweil Süßigkeiten, sind behandschuht, daß die russischen Damen im fernen Petersburg sie bis zur Hysterie beneiden, zeigen ihre Füßchen und raffen auf den Boulevards überaus graziös die Röcke. Was will man denn noch zum vollkommenen Glück? Eben deshalb sind auch Romantitel wie z. B. „Die Frau, der Mann und der Liebhaber“ unter den gegenwärtigen Verhältnissen bereits unmöglich, da es Liebhaber doch nicht mehr gibt, gar nicht geben kann. Und selbst wenn es ihrer in Paris so viele geben sollte wie Sand am Meer (und es gibt ihrer dort vielleicht sogar noch mehr), so sind sie dennoch nicht vorhanden und können gar nicht vorhanden sein, sintemal es ein für allemal so festgestellt und unterschrieben ist und nun alles in Tugend glänzt. Das aber ist unbedingt erforderlich, daß alles in Tugenden glänzt.

Betrachtet man abends im Palais-Royal das Bild, das sich dort im großen Hof bis elf Uhr nachts dem Auge bietet, so ist man unfehlbar versucht, eine Träne der Rührung zu vergießen. Um die Zeit ergehen sich nämlich dortselbst unzählige Ehemänner mit ihren unzähligen Epousen am Arm in der milden Abendluft, indes ihre reizenden, wohlerzogenen Kinderchen ringsum spielen. Dazu plätschert das Springbrünnlein und das eintönige Rauschen seines Wassers erinnert einen an etwas Ruhiges, Stilles, Tagtägliches, Beständiges, Heidelbergisches. Und so plätschert ja nicht nur ein einzelnes Springbrünnlein in Paris: der Springbrünnlein gibt es dort viele und überall ist es dasselbe, so daß wahrlich das Herz sich freuen kann.

Das Bedürfnis nach Tugend ist in Paris nicht zu löschen. Der Franzose von heute ist ernst, solide und im Herzen oft sogar gerührt, so daß ich eigentlich nicht verstehe, warum ihm noch immer so furchtbar bange ist vor irgend etwas, bange sogar trotz der ganzen gloire militaire,[27] die in Frankreich ja so floriert und für die Jacques Bonhomme[28] so teuer zahlt. Der Pariser liebt es unendlich, Geschäfte zu machen, doch ich glaube, selbst wenn er seine Geschäftchen abwickelt oder Sie in seinem Laden nach allen Regeln der Kunst übers Ohr haut, tut er das nicht einfach um des Gewinnes willen, wie es früher geschah, sondern aus reiner Tugend, aus einem gewissen heiligsten Pflichtgefühl. Ein Vermögen aufzuspeichern und möglichst viel Sachen zu besitzen, das ist zum Hauptgesetz der Sittlichkeit, ja zum Katechismus des Parisers geworden. Das war allerdings auch früher schon so, jetzt aber, jetzt hat das ein gewisses, sozusagen heiliges Ansehen bekommen. Früher hatte außer dem Gelde immerhin auch noch manches andere Geltung, so daß auch ein Mensch ohne Geld, wenn er statt des Geldes andere Eigenschaften besaß, noch auf eine gewisse Achtung rechnen konnte; jetzt aber ist das einfach ausgeschlossen. Jetzt muß man sich zunächst Geld verschaffen und sich obendrein möglichst viel Sachen anlegen, dann erst kann man auf eine gewisse Achtung rechnen. Und nicht bloß Achtung von seiten anderer, nein, auch Selbstachtung ist nur noch auf diesem Wege zu erlangen. Der Pariser hält sich selbst nicht für einen Sou wert, wenn er fühlt, daß seine Taschen leer sind, und das tut er nicht etwa unbewußt, nein, bewußt tut er es, tut es auf Ehre und Gewissen, tut es aus größter Überzeugung. Es werden Ihnen ganz erstaunliche Dinge erlaubt, wenn Sie nur Geld haben. Ein armer Sokrates ist nur ein dummer und schädlicher Phraseur und wird höchstens im Theater geachtet, dieweil nämlich der Bourgeois im Theater die Tugend immer noch zu achten liebt.

Fürwahr, ein sonderbarer Mensch ist dieser Bourgeois: da erklärt er unumwunden, daß Geldbesitz die höchste Tugend und Menschenpflicht sei, und dabei liebt er es ungeheuer, sich zugleich als den edelsten der Menschen aufzuspielen. Die Franzosen haben alle ein bewundernswert edles Gehaben. Selbst das erbärmlichste Französchen, das für einen Viertelrubel seinen leiblichen Vater an Sie zu verkaufen bereit ist und Ihnen dann obendrein und sogar ungebeten noch irgend etwas auf den Kauf gibt, hat gleichzeitig, ja buchstäblich in derselben Minute, in der er seinen leiblichen Vater verkauft, eine so sichere, selbstverständliche Haltung, daß Sie in Zweifeln befangen dastehen und sich bloß wundern können. Sie treten in einen Laden, um irgend etwas zu kaufen, und selbst der letzte Kommis erdrückt, jawohl, erdrückt Sie einfach mit seinem unsagbaren Edelmut. Das sind dieselben Kommis, die unserem Michailoff-Theater als Musterbeispiel des allerfeinsten Süperflü dienen. Sie fühlen sich, kaum daß Sie in den Laden eingetreten sind, sofort bedrückt, fühlen sich geradezu schuldig vor diesem Kommis. Sie haben den Laden betreten, um, sagen wir, zehn Franken auszugeben, und man empfängt Sie, als wären Sie Lord Devonshire in eigener Person. Sie empfinden aus einem unbestimmten Grunde sogleich die schrecklichsten Gewissensbisse, Sie möchten so schnell wie möglich den Irrtum aufheben, möchten versichern, daß Sie keineswegs Lord Devonshire, sondern nur so ... eben nur ein bescheidener Reisender sind, und daß Sie hier bloß für zehn Franken zu kaufen beabsichtigen. Doch der junge Mann von glücklichstem Äußeren und unaussprechlichstem Edelmut in der Seele, bei dessen Anblick Sie sich selbst womöglich für einen Schurken zu halten geneigt sind (dermaßen edel sieht er aus!), beginnt bereits Ware für Zehntausende von Franken vor Ihnen auszubreiten. In einem Augenblick hat er für Sie schon den ganzen Ladentisch mit Bergen von Sachen bedeckt, und da bedenke man bloß, wieviel er, der Arme, nachher wieder einwickeln, einpacken, wegräumen muß, er, dieser Grandison, Alcibiades, Montmorency, und das noch um wessentwillen? Um Ihretwillen, der Sie die Frechheit gehabt haben – Sie mit Ihrem keineswegs beneidenswerten Äußeren, Sie mit allen Ihren Untugenden und Mängeln und Ihren ekelhaften zehn Franken –, einen solchen Marquis zu belästigen! Wenn man alles das bedenkt, beginnt man ganz unwillkürlich und auf der Stelle sich selbst zu verachten. Sie bereuen und verwünschen das Schicksal, welches es so fügt, daß in Ihrer Tasche sich gerade nur hundert Franken befinden, und Sie werfen eiligst die hundert hin, indes Ihr Blick um Verzeihung bittet. Doch großmütig wird Ihnen das für Ihre lumpigen hundert Franken Gekaufte eingewickelt, man verzeiht Ihnen auch die ganze Mühe und Ruhestörung, die Sie verursacht haben, und Sie beeilen sich, so schnell wie möglich sich aus dem Laden hinaus zu drücken. In Ihrem Hotelzimmer wundern Sie sich dann nicht wenig über die Tatsache, daß Sie, der Sie doch nur zehn Franken hatten ausgeben wollen, dabei hundert Franken losgeworden sind. Wie oft habe ich auf den Boulevards oder in der Rue Vivienne, wo sich so viele Läden mit Modegegenständen befinden, bei mir gedacht: wenn man unsere russischen Damen hierher führte und ... Doch von den Folgen werden Ihnen am besten die Bevollmächtigten und Dorfältesten der Güter in den Gouvernements von Orloff, Tamboff usw. berichten können. Russen haben überhaupt die Sucht, bei Einkäufen in Läden so zu tun, als hätten sie unermeßlich viel Geld. Dafür aber gibt es auch eine Unverschämtheit in der Welt, wie z. B. bei den Engländerinnen, die sich dadurch, daß ein solcher Adonis oder Wilhelm Tell den ganzen Ladentisch für sie allein mit Haufen von Sachen bedeckt und in allen Fächern das Unterste zu oberst gekehrt hat, nicht nur nicht verwirren lassen, sondern noch – es ist nicht zu glauben! – noch wegen irgend welcher zehn Franken zu handeln anfangen. Aber der Wilhelm Tell ist kein Stümper in seinem Fach: er versteht es schon, sich zu rächen und für einen Schal im Werte von tausendfünfhundert Franken der Mylady zwölftausend abzuknöpfen, und dies noch auf eine Weise, daß sie mit ihrem Einkauf vollkommen zufrieden bleibt. Doch davon abgesehen, liebt der Bourgeois bis zur Leidenschaft unaussprechlichen Edelmut. Auf der Bühne zeige ihm unbedingt nur Uneigennützigkeit. Gustave, der Held, muß nur so strahlen vor lauter edlen Eigenschaften und der Bourgeois weint vor Rührung. Ohne unaussprechlichen Edelmut kann er nun einmal nicht ruhig schlafen. Daß er aber zwölftausend statt tausendfünfhundert Franken genommen hat, das war ja einfach seine Pflicht: er hat sie doch nur aus Tugend genommen. Stehlen ist schändlich, ist gemein, – dafür kommt man auf die Galeeren; der Bourgeois ist bereit, vieles zu verzeihen, doch nie und nimmer Diebstahl, und sollten Sie auch mitsamt Ihren Kindern Hungers sterben. Doch wenn Sie aus besagtem Pflichtgefühl, also aus Tugendhaftigkeit stehlen, oh, dann wird Ihnen alles und ohne weiteres verziehen. Dann wollen Sie eben faire fortune[29] und sich viele Sachen anschaffen, also die Natur- und Menschheitspflicht erfüllen. Deshalb sind denn auch in seinem Kodex ganz genau die Punkte angegeben, die Diebstahl aus niedrigen Gründen, also etwa um ein Stück Brot, von Diebstahl aus hoher Tugendhaftigkeit unterscheiden. Letzterer wird sogar sehr gefördert, ist im höchsten Maße sicher gestellt und ungemein zweckmäßig organisiert.

Warum also, frage ich – ich komme immer wieder darauf zurück – warum ist denn dem Bourgeois bei alledem auch heute noch so bänglich zumute, ganz als säße er nicht auf seinem eigenen Stuhl? Weswegen fühlt er sich denn noch beunruhigt? Wegen der Parleure und Phraseure etwa? Aber die kann er doch jetzt mit einem einzigen Fußtritt zum Teufel jagen. Oder ist er es wegen der Beweise der reinen Vernunft? Aber die Vernunft hat sich doch vor der Wirklichkeit als bankrott erwiesen und überdies fangen ja die Vernünftler, die Gelehrten, jetzt selber an zu erklären, es gäbe überhaupt keine Beweise der reinen Vernunft, die reine Vernunft sei in der Welt überhaupt nicht vorhanden, die abstrakte Logik sei auf die Menschheit nicht anwendbar, es gebe eine Vernunft von Iwan, von Peter, von Gustave, doch eine reine Vernunft habe es noch nie gegeben; das sei nur eine unbegründete Erdichtung des achtzehnten Jahrhunderts. – Wen also hat er zu fürchten? Die Arbeiter? Aber die Arbeiter sind doch alle in der Seele gleichfalls Besitzer: ihr ganzes Ideal besteht doch nur darin, Besitzer zu sein und sich möglichst viel Sachen anzuschaffen; so ist nun einmal ihre Natur. Die Natur wird keinem umsonst gegeben. Alles das ist von Jahrhunderten groß gezogen, von Jahrhunderten gezüchtet. Nationalität läßt sich nicht mit Leichtigkeit umwandeln, es ist nicht leicht, von Gewohnheiten abzulassen, die schon Jahrhunderte alt und in Fleisch und Blut übergegangen sind. Oder fürchtet er die Landbevölkerung? Aber die französischen Landleute sind ja der Erztypus der Besitzer, sind die stumpfesten Besitzer, also das beste, das vollkommenste Ideal des Besitzers, das man sich nur vorstellen kann. Oder fürchtet er die Kommunisten? Oder schließlich die Sozialisten? Aber diese Leutchen haben ja ihre Sache seinerzeit gewaltig verspielt und im Grunde seiner Seele verachtet der Bourgeois sie tief, – verachtet sie und dabei fürchtet er sie doch. Ja, eben diese Leute fürchtet er. Und doch sollte man meinen: warum denn, weshalb? Hat denn der Abbé Sieyès in seinem berühmten Pamphlet nicht prophezeit, daß der Bourgeois alles sein werde? „Was ist der tiers état? Nichts. Was müßte er sein? Alles.“ Nun, es ist so gekommen, wie er gesagt hat. Von allen Worten, die damals gesagt worden sind, sind nur diese in Erfüllung gegangen; nur sie allein sind geblieben. Der Bourgeois aber scheint es immer noch nicht so recht glauben zu wollen, ungeachtet dessen, daß alles andere, was nach diesen Worten des Abbé gesagt worden ist, vergangen und verschwunden ist wie eine geplatzte Seifenblase. In der Tat: bald nach ihm verkündete man ja: liberté, égalité, fraternité.[30] Wunderbar. Aber was bedeutet nun eigentlich liberté? – Freiheit. Was für eine Freiheit? – Die gleiche Freiheit aller, alles zu tun, was man will, sofern das Wollen innerhalb der Grenzen der Gesetze bleibt. Wann aber kann man alles tun, was man will? – Wenn man eine Million hat. Gibt die Freiheit jedem Menschen diese Million? – – Nein. Was ist ein Mensch ohne eine Million? – Ein Mensch ohne eine Million ist nicht jemand, der alles macht, was er will, sondern jemand, mit dem man macht, was man will. Was folgt daraus? – Daraus folgt, daß es außer der Freiheit noch Gleichheit gibt und zwar Gleichheit vor dem Gesetz. Von dieser Gleichheit vor dem Gesetz läßt sich freilich nur das eine sagen, nämlich: daß in der Form, wie sie jetzt angewandt wird, jeder Franzose sie nur für eine persönliche Beleidigung halten kann und muß. Was verbleibt nun noch von der Formel? – Brüderlichkeit. Nun, dieses Kapitel ist das Allerkurioseste; und man muß schon zugeben, daß es im Westen noch bis zum heutigen Tage der größte Stein des Anstoßes ist. Der Westeuropäer redet von Brüderlichkeit wie von einer großen, die Menschheit bewegenden Kraft und verfällt überhaupt nicht darauf, daß Brüderlichkeit sich von nirgendwoher nehmen läßt, wenn sie nicht als Wirklichkeit einfach vorhanden ist. Also was tun? – Ja, da muß man Brüderlichkeit eben irgendwie machen, herstellen, denn zur Stelle schaffen muß man sie unbedingt. Aber da zeigt es sich, daß Brüderlichkeit überhaupt nicht zu machen ist, weil sie sich nämlich von selbst macht, weil sie gegeben sein, in der Natur liegen muß. In der französischen Natur aber, ja, in der westeuropäischen überhaupt, hat sich das Vorhandensein der Brüderlichkeit nicht gezeigt, sondern statt ihrer das Vorhandensein des Prinzips der Einzelperson, der Persönlichkeit, der verstärkten Selbsterhaltung, Selbstbehauptung, des Selbstbetriebs, der Selbstbestimmung innerhalb des eigenen Ich, das Prinzip, dieses Ich der ganzen Natur und allen übrigen Menschen entgegenzustellen als ein befugtes Element für sich, das der Gesamtheit alles anderen, das außer ihm in der Welt vorhanden ist, als vollkommen gleichberechtigt und gleichwertig gegenübersteht. Nun, und aus einer solchen Selbsteinschätzung hat Brüderlichkeit eben nicht hervorgehen können. Warum nicht? – Weil in der Brüderlichkeit, in der wirklichen Brüderlichkeit nicht der einzelne Mensch, nicht das Ich für das Recht seiner Gleichwertigkeit und Gleichwichtigkeit gegenüber allem Übrigen sorgen soll, sondern dieses Übrige von selbst zu der ihr Recht fordernden Persönlichkeit, zu diesem einzelnen Ich kommen und von selbst, ohne von ihm darum gebeten zu sein, dieses einzelne Ich als sich, d. h. allem übrigen auf der Welt Vorhandenen, gleichwertig und gleichberechtigt anerkennen müßte. Und das ist noch nicht alles: dieser selbe rebellische und fordernde Einzelmensch müßte als Erstes sein ganzes Ich, sich selbst restlos der Gesamtheit opfern und nicht nur sein Recht als einzelner Mensch nicht fordern, sondern, im Gegenteil, dasselbe der Gesamtheit ohne Vorbehalt und ohne alle Bedingungen hingeben. Aber die westeuropäische Persönlichkeit ist einen solchen Lauf der Dinge nicht gewohnt: kämpfend stellt sie ihre Forderungen, verlangt sie ihr Recht, will sie, daß geteilt werde – nun, und so ist es denn nichts mit der Brüderlichkeit. Allerdings: man kann sich ja umwandeln! Aber eine solche Umwandlung vollzieht sich erst in Jahrtausenden, denn Ideen von dieser Art müssen erst in Fleisch und Blut übergehen, um Wirklichkeit werden zu können.

„Ja, wie,“ fragen Sie mich, „muß man denn unpersönlich sein, um glücklich zu sein? Liegt denn in der Unpersönlichkeit das Heil?“

Im Gegenteil, ganz im Gegenteil, antworte ich, man muß nicht nur nicht unpersönlich sein, sondern muß gerade erst zu einer Persönlichkeit werden, und das sogar in einem weit höheren Grade als es jener Grad ist, der sich in Westeuropa jetzt festgesetzt hat. Verstehen Sie mich richtig: ein freiwilliges, vollkommen bewußtes, durch niemand und nichts erzwungenes Opfer seiner selbst zugunsten aller ist meiner Ansicht nach das Anzeichen der höchsten Entwicklung der Persönlichkeit, ihrer höchsten Macht, ihrer größten Selbstbeherrschung, ist das Anzeichen der größten Freiheit des persönlichen Willens. Freiwillig sein Leben für alle hingeben, für alle den Kreuzestod sterben oder den Scheiterhaufen besteigen, das kann man nur bei der stärksten Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.

Eine stark entwickelte Persönlichkeit, die von ihrem Recht, Persönlichkeit zu sein, vollkommen überzeugt ist, die für sich selbst nichts mehr zu fürchten braucht, kann ja aus dieser ihrer Persönlichkeit auch nichts anderes mehr machen, d. h. kann sie ja zu nichts anderem verwerten, als sie restlos allen hingeben, auf daß auch alle anderen ebensolche selbstberechtigte und glückliche Persönlichkeiten werden. Das ist ein Naturgesetz; und naturgemäß zieht es den Menschen zu dem hin. Aber hierbei gibt es ein Härchen, ein allerfeinstes Härchen, das, so fein es auch ist, doch alles zerstört und über den Haufen wirft, sobald es in die Maschine gerät. Nämlich: wehe, wenn der Mensch bei der Gelegenheit auch nur die geringste Berechnung zugunsten des eigenen Vorteils anstellt! Zum Beispiel: ich bringe mich selbst dar und opfere mich restlos für alle; nun und eben da ist es nötig, daß ich mich ganz und gar und unwiderruflich opfere, ohne einen Gedanken an meinen Vorteil, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, daß ich mich nun zwar restlos der Gesellschaft opfere, dafür aber die Gesellschaft selbst mich restlos mir wiedergeben werde. Man muß sich so opfern, daß man alles hingibt und sogar wünscht, daß einem dafür nichts wiedergegeben werde, – damit niemand durch dich auch nur irgendwelche Unkosten habe.

Wie ist das nun zu machen? Das ist doch dasselbe, wie sich vornehmen, nicht an einen weißen Bären zu denken. Versuchen Sie das einmal: stellen Sie sich die Aufgabe, nicht an einen weißen Bären zu denken, und Sie werden sehen, der Verwünschte wird Ihnen in einemfort einfallen. Also wie soll man es machen? Ja, zu machen ist es überhaupt nicht, sondern es ist nötig, daß es sich von selbst so mache, daß es in der Natur sei, daß es unbewußt in der Natur der ganzen Rasse liege, mit einem Wort: damit es Brüderlichkeit gäbe, das Liebesprinzip, muß man – lieben. Es muß einen instinktiv zur Brüderlichkeit hinziehen, zu Gemeinsamkeit und Eintracht, und es muß einen hinziehen, trotz aller vielhundertjährigen Leiden des Volkes, trotz barbarischer Rohheit und Unwissenheit, die sich in der Nation verwurzelt haben, trotz jahrhundertelanger Knechtschaft, trotz aller Einbrüche fremder Völkerschaften ins Land und der Fremdherrschaft, kurz, das Bedürfnis nach brüderlicher Gemeinschaft muß in der Natur des Menschen liegen, er muß damit geboren werden oder ein solches Bedürfnis schon seit uralten Zeiten sich angeeignet haben. Worin bestünde nun diese Brüderlichkeit, wenn man sie vernunftgemäß, bewußt ausdrücken wollte? – Sie bestünde darin, daß jede einzelne Persönlichkeit von selbst, ohne jeden Zwang, ohne einen Vorteil für sich im Auge zu haben, zu der Gesellschaft der Menschen sagte: „Wir sind nur dann stark, wenn wir alle zusammenhalten, so nehmt mich denn ganz, wenn ihr meiner bedürft, denkt nicht an mich, wenn ihr eure Gesetze verfaßt, sorgt euch nicht um mich, ich gebe alle meine Rechte Euch und bitte Euch, verfügt über mich. Das ist mein höchstes Glück, Euch alles zu opfern, und so zu opfern, daß Euch dadurch keine Unkosten erwachsen. Ich vernichte mein Ich und will nicht mehr zu unterscheiden sein, damit nur Eure Brüderlichkeit gedeihe und verbleibe“ ... Die Brüderlichkeit aber müßte hierauf sagen: „Du gibst uns zu viel. Wir haben kein Recht, von dir das nicht anzunehmen, was du uns gibst, denn du sagst doch, daß dieses Gebenkönnen dein ganzes Glück sei; aber was sollen wir tun, wenn unser Herz unaufhörlich auch um dein Glück schmerzt. So nimm denn auch von uns alles. Wir werden uns unaufhörlich und aus allen Kräften bemühen, es so zu machen, daß du soviel wie nur möglich persönliche Freiheit habest, soviel wie nur möglich Selbstbestimmungsrecht. Fürchte dich jetzt nicht mehr vor Feinden, weder vor Menschen noch vor der Natur. Wir stehen alle für dich, wir alle sichern dich vor Gefahr, wir werden uns unermüdlich für dich mühen, weil wir Brüder sind; wir sind doch alle deine Brüder, und unserer sind viele und wir sind stark, also sei ganz unbesorgt und guten Muts, fürchte nichts mehr und verlaß dich auf uns.“

Nach solchen Worten wäre freilich nichts mehr zu teilen, es würde sich alles von selbst verteilen. Liebet einander und alles dieses wird Euch zuteil.

Aber was ist das doch für eine Utopie, meine Herrschaften! Alles beruht auf dem Gefühl, auf der Natur und nicht auf der Vernunft. Das ist doch sogar fast wie eine Erniedrigung für die Vernunft. Also was meinen Sie? Ist das nun eine Utopie oder nicht?

Aber wiederum: was soll denn der Sozialist anfangen, wenn im westeuropäischen Menschen die Grundlage, das Prinzip der Brüderlichkeit, nun einmal nicht liegt, sondern statt dessen, im Gegenteil, das Prinzip der Einzelheit, der Persönlichkeit, die sich unausgesetzt absondert, die mit dem Schwert in der Hand ihre Rechte fordert? Der Sozialist, der nur sieht, daß Brüderlichkeit nicht vorhanden ist, beginnt also zur Brüderlichkeit zuzureden. Da die Brüderlichkeit ihnen nicht von Natur gegeben ist, will er sie künstlich herstellen. Doch um ein Hasenragout machen zu können, muß man zuvor einen Hasen haben. Den Hasen aber gibt es dort nicht, d. h. man hat nun einmal nicht die Natur, die der Brüderlichkeit fähig ist, eine Natur, die an Brüderlichkeit glaubt, die es von selbst nach Brüderlichkeit verlangt! In der Verzweiflung beginnt der Sozialist die zukünftige Brüderlichkeit zu konstruieren, zu definieren, nach Gewicht und Maß zu berechnen, mit Vorteilen zu locken; er erklärt, er lehrt, er erzählt, wieviel Vorteile den Menschen durch diese Brüderlichkeit erwüchsen und was ein jeder durch sie alles gewönne; er setzt auch fest, was jeder einzelne vorzustellen, was er zu tragen habe, und bestimmt auch im voraus die Zuteilung der irdischen Güter: wieviel einem jeden davon zukomme, d. h. wieviel jeder davon verdiene und wieviel ein jeder dafür freiwillig auf Kosten seiner Persönlichkeit der Genossenschaft abzutreten habe. Was aber ist denn das noch für eine Brüderlichkeit, wenn schon im voraus geteilt und festgesetzt wird, wieviel ein jeder zu bekommen verdient und was ein jeder tun muß? Übrigens – es ward ja die Formel verkündet: „Einer für Alle und Alle für Einen.“ Etwas Besseres als dieses hätte man sich allerdings nicht ausdenken können, um so weniger, als diese ganze Formel unverändert einem Buch entnommen ist, das alle kennen. Doch siehe, man begann diese Formel praktisch anzuwenden und da geschah es, daß schon nach sechs Monaten der Begründer dieser Brüderlichkeit, Cabet, vors Gericht gezogen wurde. Die Fourieristen haben, wie man hört, schon die letzten neunhunderttausend Franken ihres Kapitals abgehoben und versuchen immer noch, die Brüderlichkeit irgendwie zu verwirklichen. Es kommt aber nichts dabei heraus. Natürlich hat es etwas sehr Verlockendes, wenn auch nicht auf brüderlicher, so doch auf rein vernunftgemäßer Grundlage zu leben, d. h. es ist schön und gut, wenn alle dich sicherstellen und von dir nur Arbeit und Übereinstimmung verlangen. Aber hier stellt sich nun wieder ein Rätsel ein: man sollte meinen, der Mensch werde doch vollkommen sichergestellt, man verspricht ihm Essen und Trinken, verspricht ihm Arbeit, und dafür verlangt man von ihm nur ein winziges Körnchen seiner persönlichen Freiheit zum Wohle der Allgemeinheit, nur ein ganz, ganz kleines Körnchen. Doch nein, das paßt dem Menschen nicht, selbst dieses winzige Körnchen abzutreten fällt ihm schon zu schwer. Infolge seiner Dummheit scheint es ihm immer, daß ein solches Leben ja so gut wie ein Gefängnisleben sei und allein für sich sei es besser, denn – da bliebe ihm der ganze freie Wille. Und wenn er in dieser seiner Freiheit auch geschunden wird, keine Arbeit erhält, dabei Hungers stirbt und seinen freien Willen überhaupt nicht hervorholen kann, – es scheint dem wunderlichen Kauz dennoch, daß es mit eigenem Willen besser sei. Natürlich bleibt dem Sozialisten somit nichts anderes übrig, als auszuspeien und ihm zu sagen, daß er ein Dummkopf, geistig zurückgeblieben und minderwertig sei, und nicht einmal seinen eigenen Vorteil zu begreifen verstehe; daß selbst irgend so eine armselige Ameise, die nicht einmal der Gabe des Wortes teilhaftig geworden ist, klüger sei als er, denn in ihrem Ameisenhaufen sei alles so gut eingerichtet, alles so genau vorliniiert, alle Ameisen seien satt und glücklich, jeder Ameiserich kenne seine Aufgabe, kurz: der Mensch habe es noch lange nicht so weit gebracht, wie die Ameisen.

Mit anderen Worten: der Sozialismus mag ja irgendwo verwirklicht werden können, aber nur nicht in Frankreich.

Und da, in der letzten Verzweiflung, erklärt denn der Sozialist schließlich: liberté, égalité, fraternité ou la mort.[31] Nun, hierzu ist schon nichts mehr zu sagen und der Bourgeois triumphiert endgültig.

Aber wenn der Bourgeois triumphiert, so muß doch folgerichtigerweise die Formel des Abbé Sieyès buchstäblich und bis zum letzten Tüpfelchen wahr geworden sein. Der Bourgeois ist nun tatsächlich alles, also warum ist er dabei so unsicher, warum duckt er sich, was fürchtet er denn noch? Alle haben sich vor ihm aus dem Staube gemacht, sind zurückgewichen, alle haben sie vor ihm nicht zu bestehen vermocht. Früher, unter Louis Philippe zum Beispiel, war der Bourgeois durchaus nicht so unsicher und ängstlich, und doch herrschte er auch damals schon. Ja, damals kämpfte er noch, damals witterte er, daß man ihm feind war, und auf den Junibarrikaden rechnete er mit seinen Feinden zum letztenmal mit Gewehr und Bajonett ab. Aber der Kampf nahm ein Ende und da sah der Bourgeois plötzlich, daß er allein auf der Erde war, daß es etwas Besseres als ihn überhaupt nicht gab, daß er das Ideal war, und daß ihm jetzt nicht mehr wie früher oblag, der ganzen Welt zu versichern, er sei das Ideal, sondern einfach und ruhig und in großartiger Haltung vor der ganzen Welt als Fleischwerdung der letzten Schönheit und aller menschlichen Vollkommenheiten zu posieren. Immerhin: eine etwas verwirrende Lage. Aus der befreite ihn Napoleon der Dritte. Der fiel ihnen wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß, als der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit, als einzige Möglichkeit. Seit eben der Zeit führt der Bourgeois ein glücklich-wohlgeruhsames Leben, zahlt für seine Wohlfahrt ungeheuerliches Geld und fürchtet dabei alles, eben deshalb, weil er alles erreicht hat. Wenn man alles erreicht hat, wird es schwer, alles zu verlieren. Daraus folgt schnurstracks, meine Freunde, daß, wer sich am meisten fürchtet, derjenige ist, dem es am besten geht. Lachen Sie bitte nicht. Ja, was ist denn der Bourgeois jetzt?

Siebentes Kapitel.
Fortsetzung des Vorhergehenden.

Und warum gibt es unter den Bourgeois so viele Lakaien, und das noch dazu bei so edlem Äußeren? Bitte, kommen Sie mir jetzt nicht mit Vorwürfen, wie etwa, daß ich übertriebe, verleumdete, daß ich aus Haß so spräche. Wozu sollte ich das? Zu welchem Zweck? Haß auf wen? Es gibt ganz einfach viele Lakaien unter ihnen und das ist nun einmal so. Das Lakaientum frißt sich in die Natur des Bourgeois immer mehr hinein und wird immer mehr für eine Tugend gehalten. So muß es ja auch geschehen bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge. Es ist nur eine natürliche Folge. Doch die Hauptsache, die Hauptsache ist – daß die Natur selbst dazu hilft. Ich rede noch nicht einmal davon, daß dem Bourgeois zum Beispiel das Spionieren zu einem guten Teil schon angeboren ist. Meine Meinung ist nun einmal die, daß die außergewöhnliche Verbreitung der Spionage in Frankreich – und zwar nicht nur einer gewöhnlichen, sondern einer meisterhaften, aus Neigung betriebenen, förmlich zur Kunst entwickelten Spionage, die ihre besonderen wissenschaftlichen Methoden hat – eine Folge dieser angeborenen Lakaienhaftigkeit ist. Welch ein ideal edler Gustave wird nicht – so lange er noch nicht viel Geld besitzt – ohne zu zögern für zehntausend Franken die Briefe seiner Geliebten ausliefern und damit die Frau an ihren Mann verraten? Vielleicht übertreibe ich hier zum Teil, aber vielleicht urteile ich doch auf Grund gewisser Tatsachen. Der Franzose liebt es ungeheuer, sich vor den Augen der Obrigkeit irgendwie auszuzeichnen, vor ihr irgendwie zu dienern, ihr womöglich ganz uneigennützig einen Dienst zu erweisen, sogar ohne dafür eine sofortige Belohnung zu erwarten, also auf Pump, auf Kredit. Erinnern Sie sich all dieser Bewerber um eine Anstellung, z. B. bei jedem neuen Regierungswechsel, der in Frankreich so oft stattgefunden hat. Erinnern Sie sich, was für Stückchen sie sich dabei leisteten und was sie nachher selbst eingestanden. Erinnern Sie sich eines der Gedichte Barbiers über dieses Thema. Einmal nahm ich in einem Café eine Zeitung in die Hand, eine Nummer vom dritten Juli. Mein Blick fiel auf eine Überschrift: „Briefe aus Vichy.“ In Vichy hielt sich damals gerade der Kaiser auf, nun und natürlich auch der ganze Hof: da gab es Spazierritte, Vergnügungen usw. Der Berichterstatter schildert alles getreulich und beginnt wie folgt:

„Man sieht jetzt viele vorzügliche Reiter in Vichy. Aber selbstverständlich erkennt man sofort den glänzendsten unter ihnen allen. Seine Majestät reitet jeden Tag in Begleitung seiner Suite usw. usw.“

Nun gut, mag er sich doch für die glänzenden Eigenschaften seines Kaisers begeistern. Man kann seinen Verstand, seine Berechnung und noch andere Vorzüge bewundern, und dem, der das tut, kann man nicht ins Gesicht sagen, daß er sich verstelle. „Es ist meine Überzeugung und damit basta!“ würde er Ihnen auf etwaige Vorhaltungen antworten, also auf ein Haar so, wie neuerdings einige unserer zeitgenössischen Journalisten zu antworten pflegen. Sie verstehen: er ist sichergestellt, er hat eine Antwort bereit, mit der er Ihnen den Mund stopfen kann. Freiheit des Gewissens und der Überzeugungen ist die erste und wichtigste Freiheit der Welt. Doch hier in diesem Fall, was könnte dieser Journalist wohl antworten? Hier läßt er doch schon die Gesetze der Wirklichkeit außer acht, tritt sogar jede Wahrscheinlichkeit mit Füßen und tut das noch dazu mit Absicht. Warum aber, fragt man sich, warum sollte das jemand absichtlich tun? Es wird ihm ja doch niemand glauben. Der Reiter selbst wird diese „Briefe aus Vichy“ ja ganz bestimmt nicht lesen, und selbst wenn er sie lesen sollte, so – ja, ist denn jenes Französchen, das diese „Briefe aus Vichy“ geschrieben hat, die Zeitung, für die sie bestimmt waren, die Redaktion der Zeitung – sind sie denn wirklich so dumm, daß sie nicht begreifen, wie wenig der Kaiser dieses Ruhmes bedarf, der beste Reiter in Frankreich zu sein, er, der in seinem Alter sicherlich nicht mehr auf diesen Ruhm Anspruch macht: man sagt doch, er sei ein überaus kluger Mann. Nein, hier ist es eine ganz andere Berechnung, und zwar: mag es auch unwahrscheinlich und womöglich lächerlich sein, mag der Herrscher selbst mit Widerwillen und Verachtung das lesen, mag er’s, mag er’s, aber dafür wird er blinde Ergebenheit, grenzenlose Verehrung sehen, und wenn es auch sklavische, dumme, unwahrscheinliche Verehrung ist, so ist es doch ein Verehrungsbeweis, und das ist die Hauptsache. Urteilen Sie jetzt selbst, meine Freunde: wenn so etwas nicht im Geiste der Nation läge, wenn eine so fade Schmeichelei nicht für durchaus möglich, üblich, vollkommen in Ordnung und sogar für anständig gälte – wäre es dann möglich, daß in einer Pariser Zeitung solche Berichte erschienen? Wo, in welch einer Presse finden Sie einen ähnlichen Schmeichlergeist, außer in Frankreich? Ich spreche ja auch nur deshalb von dem Geist der Nation als solchem, weil nicht nur eine Zeitung so schreibt, sondern fast alle, ausgenommen zwei oder drei Blätter, die einzigen, die nicht vollkommen abhängig sind.

Einmal saß ich an einer table d’hôte[32] – doch das war nicht mehr in Frankreich, sondern in Italien, aber an der table d’hôte saßen viele Franzosen. Man sprach von Garibaldi. Damals sprach man überall von Garibaldi. Es war ungefähr zwei Wochen vor Aspromonte. Die Unterhaltung hatte natürlich etwas Geheimnisvolles: manche schwiegen und wollten sich überhaupt nicht äußern; andere schüttelten den Kopf. Der allgemeine Sinn der Äußerungen war der, daß Garibaldi ein sehr gewagtes, ja sogar ein unkluges Unternehmen angefangen habe; doch selbstredend wurde diese Meinung nicht deutlich ausgesprochen, denn Garibaldi reicht als Mensch doch so weit über das Maß aller anderen hinaus, daß bei ihm vielleicht selbst das sich als klug erweist, was nach gewöhnlichen Erwägungen gar zu gewagt wäre. Allmählich ging das Gespräch mehr auf die Persönlichkeit Garibaldis über. Man zählte seine besonderen Eigenschaften auf – das Ergebnis war ein recht günstiges für den italienischen Helden.

„Nein, ich wundere mich nur über eines,“ sagte da laut ein Franzose von angenehmem und eindrucksvollem Äußeren, ein Mann von einigen dreißig Jahren, dessen Gesicht den Stempel jenes außergewöhnlichen Edelmuts trug, der Ihnen an allen Franzosen bis zur Frechheit in die Augen springt. „Nur ein Umstand setzt mich an ihm vornehmlich in Erstaunen!“

Natürlich wandten sich alle neugierig dem Redner zu.

Eine neue Eigenschaft, die an Garibaldi entdeckt worden war, mußte selbstverständlich alle interessieren.

„Im Jahre 1860,“ begann der Franzose, „hatte Garibaldi in Neapel eine Zeitlang unbeschränkte Vollmacht und stand überhaupt unter keiner Kontrolle. Und gerade damals hatte er eine Summe von zwanzig Millionen Staatsgeldern in Händen! Über dieses Geld brauchte er niemand Rechenschaft zu geben! Er hätte davon so viel er wollte nehmen und beiseite schaffen können, niemand hätte ihn danach gefragt! Er aber hat nichts beiseite geschafft und hat der Regierung die ganze Summe bis auf den letzten Sou abgeliefert. Das ist doch beinahe nicht zu glauben!!“

Seine Augen glänzten nur so, als er von den zwanzig Millionen sprach.

Von Garibaldi kann man freilich alles erzählen, was einem beliebt. Aber den Namen Garibaldis auf eine Stufe stellen mit Taschendieben, die den Staatssäckel erleichtern – das, freilich, das konnte einzig ein Franzose fertigbringen.

Und wie naiv, wie offenherzig er das vorbrachte! Für Offenherzigkeit wird natürlich alles verziehen, sogar die Einbuße der Fähigkeit, zu verstehen, was Ehre ist, oder das Wesen der Ehre zu wittern. Doch als ich in sein Gesicht sah, das bei dem Gedanken an die zwanzig Millionen nur so gezuckt hatte, dachte ich ganz unwillkürlich:

„Was, Bruder, wenn statt Garibaldi du damals jenes Amt bekleidet und die Staatsgelder in Händen gehabt hättest!“

Sie werden einwenden, alles das hätte noch nichts zu sagen, das sei ein einzelner Fall und auch bei uns sei es genau so, und schließlich dürfe ich doch nicht nach einem Franzosen über alle Franzosen urteilen. Sie haben recht, aber ich rede ja gar nicht von ausnahmslos allen Franzosen. Im übrigen gibt es überall unaussprechlichen Edelmut, und bei uns ist vielleicht noch viel Schlimmeres geschehen. Aber warum denn das zur Tugend erheben, ausgerechnet zur Tugend? Wissen Sie was? Man kann sogar ein Lump sein und doch die Witterung für das, was Ehre ist, nicht einbüßen; dort aber gibt es doch sehr viele ehrliche Menschen, nur haben sie die Fähigkeit, Ehre zu wittern, vollkommen verloren und so begehen sie ihre Gemeinheiten ohne zu ahnen, was sie „aus Tugend“ tun. Ersteres ist natürlich lasterhafter, letzteres aber – da können Sie sagen, was Sie wollen – ist verächtlicher. Ein solcher Tugendkatechismus stellt im Leben einer Nation ein schlimmes Symptom dar. Nun, was aber die privaten Fälle betrifft, so will ich mit Ihnen nicht streiten. Besteht doch die ganze Nation nur aus privaten Fällen, nicht wahr!

Ja, ich denke sogar so: vielleicht habe ich mich darin geirrt, daß der Bourgeois sich duckt, daß er immer noch irgend etwas fürchtet. Das heißt, er duckt sich ja wirklich – das muß man schon sagen, da er es nun einmal tut – und ebenso fürchtet er sich auch, aber wenn man die Summe zieht, so lebt der Bourgeois doch vollkommen glücklich. Wenn er sich dabei auch selbst betrügt, wenn er sich auch alle Augenblicke selbst sagt, daß alles in Ordnung sei, aber einstweilen stört das sein äußeres Selbstvertrauen doch nicht im geringsten. Und nicht bloß dieses: auch in seinem Inneren ist er unglaublich selbstbewußt, wenn er sich in seine Rolle eingespielt hat. Wie das alles in ihm zusammenleben kann, – das ist allerdings ein Rätsel, aber es ist Tatsache, daß es so ist. Überhaupt ist der Bourgeois sehr wenig dumm, aber sein Verstand ist so eigentümlich kurz, er besteht gleichsam aus lauter Abschnitten. Er hat einen riesigen Vorrat von fertigen Begriffen aufgestapelt, ganz wie Holzscheite für den Winter, und er hat im Ernste die Absicht, mit diesen Begriffen meinetwegen tausend Jahre lang zu leben. Übrigens nein, was sage ich, tausend Jahre; auf tausend Jahre kommt der Bourgeois selten zu sprechen – höchstens wenn er sich in der schönen Redekunst ergeht. „Après moi le déluge[24] ist viel gebräuchlicher und danach wird auch viel häufiger gehandelt. Und was ist das doch für eine Gleichgültigkeit gegen alles andere, was sind das für oberflächliche, leere Interessen! Ich hatte in Paris Gelegenheit, die Gesellschaft in einem Hause kennen zu lernen, wo sehr viele Menschen verkehrten. Es war geradezu, als hätten sie sich alle gefürchtet, einmal von etwas nicht Alltäglichem, von etwas nicht so kleinlich Oberflächlichem zu sprechen, einmal auch von irgendwelchen allgemeinen Interessen, nun, etwa von gleichviel welchen Gesellschaftsproblemen. Angst vor Spionen konnte es, denke ich, nicht sein, was sie davon abhielt; sie hatten nur alle einfach verlernt, an etwas Ernsteres zu denken und von Ernsterem zu sprechen. Übrigens fanden sich unter ihnen überraschend viele, die sich maßlos dafür interessierten, was für einen Eindruck Paris auf mich gemacht hatte, inwieweit ich Ehrfurcht und Erstaunen empfand und von dem Eindruck erschüttert, überwältigt, zerschmettert war. Der Franzose glaubt ja noch heute, daß er moralisch bedrücken und zerschmettern könne. Das ist gleichfalls ein spaßiges Merkmal. Besonders gut erinnere ich mich noch eines äußerst netten, liebenswürdigen und gutmütigen alten kleinen Herrn, den ich aufrichtig in mein Herz schloß. Er sah mir so unablässig in die Augen, als er mich nach meiner Meinung über Paris ausforschte, und war so sichtlich betrübt, als ich keine besondere Begeisterung bekundete. Ja, in seinem gutmütigen Gesicht spiegelte sich sogar echter Schmerz, – buchstäblich Schmerz, ich übertreibe wirklich nicht. Oh, mein lieber Monsieur Le M–re! Aber es ist nun einmal so, daß man einen Franzosen, d. h. einen Pariser (denn im Grunde sind doch alle Franzosen Pariser) niemals davon überzeugen wird, daß er nicht der erste Mensch auf dem ganzen Erdball ist. Übrigens: von dem ganzen Erdball außer Paris weiß er nur äußerst wenig. Und will auch nicht einmal viel davon wissen. Das ist schon eine nationale Eigenschaft und sogar die charakteristischste. Aber die allercharakteristischste Eigenschaft des Franzosen ist doch – seine Liebe zur schönen Redekunst. Diese Liebe zur Redekunst brennt in ihm unerlöschlich und je älter er wird, um so größer wird ihr Brand. Ich möchte doch ungeheuer gern erfahren, wann diese Liebe zur schönen Redekunst in Frankreich eigentlich begonnen hat. Oh, versteht sich: das Wesentliche begann mit Ludwig XIV. Es ist doch merkwürdig, daß in Frankreich alles mit Ludwig XIV. angefangen hat, tatsächlich. Aber noch merkwürdiger ist, daß auch im ganzen übrigen Europa alles mit Ludwig XIV. angefangen hat. Wodurch gerade dieser König das erreicht hat – begreife ich nicht! Er stand doch gar nicht so sehr viel höher als alle die anderen früheren Könige. Es sei denn dadurch, daß er als erster gesagt hat: l’état – c’est moi.[33] Das hat allerdings ungeheuer gefallen, das hat damals ganz Europa durchflogen. Ich glaube, nur durch eben dieses eine Wörtchen wurde er denn auch berühmt. Sogar bei uns in Rußland ist es erstaunlich schnell bekannt geworden. Ja, dieser Ludwig XIV. war wirklich ein überaus nationaler Herrscher, war so ganz im französischen Geiste, daß ich nicht begreife, wie in diesem Frankreich schließlich alle diese kleinen Unarten geschehen konnten ... nun, so, die da zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Man war wohl nur ein Weilchen unartig und kehrte dann zum früheren Geiste zurück; darauf läuft es hinaus; aber die Redekunst, die schöne Redekunst, oh – die ist der Stein des Anstoßes für den Pariser. Er ist bereit, vom Früheren alles zu vergessen, alles, alles, ist bereit, die vernünftigsten Gespräche zu führen und der artigste und fleißigste Knabe zu sein, nur die Redekunst, einzig die schöne Redekunst, die kann er bis heute auf keine Weise vergessen. Er grämt sich und seufzt und sehnt sich nach ihr; denkt an Thiers, Guizot, Odilon Barrot. „Wie blühte doch damals die Redekunst!“ sagt er sich mitunter wehmütig und beginnt nachzudenken. Napoleon III. begriff das, entschied sofort, daß Jacques Bonhomme nicht nachdenken dürfe, und führte allmählich die Schönrednerei wieder ein. Zu dem Zweck werden nun in der gesetzgebenden Körperschaft sechs liberale Abgeordnete unterhalten, sechs beständige, unabänderliche, wirklich liberale Abgeordnete, d. h. solche, die vielleicht auch nicht zu bestechen sind, wenn man es mit dem Bestechen bei ihnen versuchen wollte, aber es sind ihrer doch nur sechs, – sechs waren es, sechs sind es und sechs werden es im ganzen bleiben. Weitere werden nicht hinzukommen, da seien Sie unbesorgt, und auch weniger werden es nicht werden. Und das ist auf den ersten Blick eine überaus verzwickte Einrichtung. Aber in Wirklichkeit ist die Sache viel einfacher und wird mit Hilfe des suffrage universel[34] bewerkstelligt. Natürlich sind entsprechende Maßnahmen vorgesehen, damit sie im Reden nicht zu weit gehen. Aber zu schwätzen ist erlaubt. Alljährlich werden also zur gebotenen Zeit die wichtigsten Staatsfragen erörtert und der Pariser lebt in süßer Erregung. Er weiß, daß es nun Redekunst geben wird, und Freude erfüllt ihn darob. Selbstverständlich weiß er nicht minder gut, daß er nur schöne Redekunst hören wird und nichts weiter, daß es Worte, Worte und Worte geben, aus diesen Worten jedoch nicht das Geringste hervorgehen wird. Aber er ist auch damit sehr, sehr zufrieden. Und er selbst ist der erste, der alles das überaus vernünftig findet. Die Reden einzelner dieser sechs liberalen Vertreter erfreuen sich einer besonderen Popularität. Und der Vertreter ist immer gern bereit, zum Vergnügen des Publikums Reden zu halten. Sonderbar ist nur eines: er weiß es doch selber ganz genau, daß durch alle seine Reden entschieden nichts erfolgt, daß dieses ganze Reden nur ein Zeitvertreib ist, ein Zeitvertreib und nichts weiter, ein harmloses Spiel, eine Maskerade, und trotzdem redet er, redet jahrelang, redet sogar wunderbar und redet mit großem Vergnügen. Und allen anderen Mitgliedern, die ihn reden hören, fließt vor Vergnügen das Wasser im Munde zusammen. „Schön spricht der Mann!“ – und selbst dem Präsidenten und ganz Frankreich läuft das Wasser im Munde zusammen. Doch schließlich hat der Vertreter seine Rede beendet und nun erhebt sich der Präsident oder vielmehr der Erzieher dieser lieben, artigen Kinder. Er erklärt feierlich, daß die Rede über das gestellte Thema, sagen wir, „Der Sonnenaufgang“, von dem geehrten Herrn Volksvertreter vorzüglich entwickelt und ausgearbeitet gewesen sei. „Wir bewunderten das Talent des geehrten Herrn Redners,“ fährt er fort, „seine Gedanken und seine tadellose Erziehung, die in diesen Gedanken ihren Ausdruck fand; es war uns allen, allen ein Vergnügen, seinen Worten zu lauschen ... Jedoch – zu meinem Leidwesen muß ich sagen, obgleich das verehrte Mitglied zur Belohnung durchaus eine Prämie in Gestalt eines Buches mit der Inschrift ‚Für gute Aufführung und Fortschritte in den Wissenschaften‘ verdient hat, ja, wie gesagt, ungeachtet dessen, meine Herren, ist die Rede des verehrten Herrn Redners aus gewissen höheren Erwägungen zu nichts nütze. Ich hoffe, meine Herren, daß Sie mir ohne weiteres zustimmen werden?“ Hier wendet er sich gewissermaßen an alle Anwesenden und sein Blick beginnt vor Strenge zu blitzen. Die Herren Vertreter, denen während der Rede das Wasser im Munde zusammenlief, klatschen dem Herrn Erzieher sogleich mit unbändiger Begeisterung ihren Beifall zu, doch das hindert sie nicht, gleich darauf dem liberalen Volksvertreter gerührt die Hände zu drücken, für das genossene Vergnügen zu danken und dabei die Bitte auszusprechen, ihnen dieses liberale Vergnügen mit Erlaubnis des Herrn Erziehers das nächste Mal wieder zu bereiten. Wohlwollend erlaubt dies der Herr Erzieher und der Verfasser der Rede über den „Sonnenaufgang“ entfernt sich, stolz auf seinen Erfolg. Die übrigen Vertreter entfernen sich gleichfalls, kehren in den Schoß ihrer Familie zurück und lecken sich noch die Lippen in der Erinnerung an das genossene Vergnügen, und wenn der Abend kommt, gehen sie Arm in Arm mit ihren Epousen im Garten des Palais-Royal spazieren und lauschen dem wohltuenden Geplätscher der tugendsamen Springbrünnlein; ihr Herr Erzieher aber erklärt, nachdem er an zuständiger Stelle Bericht erstattet hat, dem ganzen Frankreich, daß alles in schönster Ordnung sei.

Manchmal übrigens, wenn man sich an wichtigere Dinge heranmacht, wird das Spiel auch ein wenig wichtiger gestaltet. In eine der Kammersitzungen führt man sogar den Prinzen Napoleon ein. Der Prinz Napoleon beginnt plötzlich zum größten Schrecken aller dieser lernenden Jünglinge Opposition zu machen. In der Kammer herrscht wie in einer Klasse von lauter Musterschülern feierliche Stille. Prinz Napoleon spielt den Liberalen, Prinz Napoleon ist mit der Regierung nicht einverstanden, seiner Meinung nach müsse dies und jenes geschehen. Der Prinz verurteilt die Regierung, – kurz, es wird dasselbe gesagt, was (vermutlich) auch alle diese artigen Kinder sagen könnten, wenn ihr Hofmeister nur auf einen Augenblick die Klasse verließe. Selbstredend würde auch dann alles nur mit Maß geschehen; und eigentlich ist auch das schon eine ganz unsinnige Vermutung, denn alle diese lieben Kinder sind ja so lieb erzogen, daß sie, selbst wenn ihr Hofmeister sie eine ganze Woche allein ließe, sich doch nicht einmal rühren würden. Und siehe, nachdem der Prinz Napoleon zu Ende gesprochen hat, erhebt sich der Herr Hofmeister und erklärt feierlichst, der Aufsatz über das Thema „Der Sonnenaufgang“ sei von dem verehrten Herrn Redner vorzüglich entwickelt und ausgearbeitet worden. „Wir bewunderten das Talent, die beredten Gedanken und die Sittsamkeit des Allergnädigsten Prinzen ... Wir sind bereit, ihm für Fleiß und Fortschritte in den Wissenschaften ein Buch zu überreichen, aber ... usw., usw.,“ kurz alles, was schon gesagt wurde. Selbstverständlich klatscht die ganze Klasse Beifall, und zwar mit einer Begeisterung, die an Raserei grenzt, der Prinz wird nach Hause geleitet, die sittsamen Schüler verlassen den Klassenraum, ganz wie es artigen Musterkindern geziemt, und abends spazieren sie mit ihren Epousen im Garten des Palais-Royal, lauschen dem wohltuenden Geplätscher der Springbrünnlein usw., usw. usw., kurz, die Ordnung, die sie eingeführt haben, ist fabelhaft.

Bei einem Besuch des Justizpalais versahen wir uns in der Salle des pas perdus[35] und gelangten, statt in die Abteilung für Kriminalsachen, in die der Zivilprozesse. Ein Rechtsanwalt mit lockigem Haar, in langer Robe, das Barett auf dem Kopf, hielt eine Rede, in der er mit wahren Perlen der Redekunst nur so um sich streute. Der Vorsitzende, die Richter, die Zuhörer schwammen in Wonne und Entzücken. Andächtige Stille herrschte im Raum: wir schlichen auf den Fußspitzen hinein. Es handelte sich um eine Erbschaftsgeschichte, in die eine Ordensbruderschaft verwickelt war. Ordensbrüder sind jetzt oft in Rechtsstreite verwickelt, namentlich in solche, wo es sich um Erbschaften handelt. Die skandalösesten, die schmutzigsten Begebenheiten werden aufgedeckt; doch das Publikum schweigt und ist sehr wenig schockiert, da die Patres gegenwärtig eine beträchtliche Macht haben und der Bourgeois ja so ungemein folgsam ist. Die geistlichen Väter stellen sich immer mehr auf den Boden der Ansicht, daß Geld doch das Beste sei, besser als alle diese Schwärmereien und dergleichen, und daß man, wenn man erst Geld beisammen hat, dann auch Macht haben kann, Redekunst dagegen sei doch nur Redekunst! Mit der allein mache man’s jetzt nicht mehr. Aber darin irren sie sich ein wenig, wie mir scheint. Freilich ist so ein Kapitalchen eine lobesame Sache, aber auch mit der Redekunst kann man beim Franzosen viel erreichen. Besonders die Epousen sind’s, die sich dem Einfluß der Ordensväter ergeben, jetzt sogar noch mehr, als es früher zu bemerken war. Und es steht zu hoffen, daß auch der Bourgeois einlenken wird. In jenem Prozeß stellte sich nun heraus, wie die Väter durch langjährige, schlaue, ja sogar wissenschaftliche Quälerei (sie haben zu dem Zweck eine ganze Wissenschaft entwickelt) eine gute und sehr reiche Dame veranlaßt hatten, ins Kloster überzusiedeln, wie diese Dame dort von ihnen so lange geängstigt worden war, bis sie krank wurde, wie man sie bis zur Hysterie mit allen Schrecknissen geschreckt hatte, und alles das mit feiner Berechnung, in wissenschaftlich abgewogener Steigerung. Und schließlich, als man das Opfer richtig krank und fast idiotisch gemacht hatte, begann man ihr noch vorzuhalten, daß es vor Gott dem Herrn doch eine große Sünde sei, an irdischen Verwandten zu hängen und sich mit ihnen abzugeben, und so hatten die Väter schließlich jedes Wiedersehen mit ihren Verwandten zu hintertreiben und diese von ihr vollkommen fernzuhalten gewußt. „Selbst ihre Nichte, diese jungfräuliche, kindliche Seele, dieser fünfzehnjährige Engel der Reinheit und Keuschheit, – selbst dieser Engel durfte sich nicht mehr unterfangen, die Zelle der vergötterten Tante zu betreten, dieser Tante, die ihre Nichte über alles auf der Welt liebte und nun infolge jener ränkevollen Hinterlist der Möglichkeit beraubt ward, le front virginal[36] dieses Mädchens zu küssen, diese Stirn, auf der noch der weiße Engel der Unschuld thront ...“ Kurz, alles war in dieser Art; es war erstaunlich schön. Der redende Rechtsanwalt schmolz sichtlich selber vor Freude darüber, daß er so schön zu reden verstand, desgleichen schmolz der Vorsitzende, schmolz der Gerichtshof, schmolz das Publikum. Die Ordensväter verloren die Schlacht einzig dank der Redekunst. Natürlich werden sie deshalb den Kopf nicht hängen lassen ... Einmal haben sie verloren, fünfzehnmal werden sie gewinnen.

„Wer ist dieser Rechtsanwalt?“ fragte ich einen jungen Studenten, der dort unter den andächtigen Zuhörern mir am nächsten stand. Studenten gab es da eine Menge und alle benahmen sie sich so artig. Der Student sah mich verwundert an.

„Jules Favre!“ sagte er schließlich, sagte es aber mit so verachtendem Mitleid, daß ich mich natürlich ganz verwirrt fühlte. So hatte ich denn Gelegenheit gehabt, die Blüten der französischen Redekunst und ihren Geist sozusagen aus der ersten Quelle kennen zu lernen.

Doch solcher Quellen gibt es eine Menge. Der Bourgeois ist bis in die Fingerspitzen mit Redekunst durchtränkt. Einmal gingen wir ins Pantheon, um die Ruhestätte der großen Männer Frankreichs zu sehen. Es war aber nicht die vorschriftsmäßige Besuchszeit und man verlangte von uns zwei Franken. Darauf nahm der vor Alter zitterige Invalide die Schlüssel und führte uns in die Grabgewölbe. Unterwegs sprach er noch wie ein Mensch, wenn auch aus Mangel an Zähnen ein wenig undeutlich. Doch kaum waren wir unten beim ersten Sarge angelangt, da begann er auch schon zu singen.

Ci-gît Voltaire,[37]Voltaire, dieses große Genie des schönen Frankreich – de la belle France![38] Er rottete die Vorurteile aus, vernichtete die Unwissenheit, kämpfte mit dem Engel der Finsternis und hielt die Leuchte der Aufklärung hoch. In seinen Tragödien hat er Großes erreicht, obschon Frankreich bereits Corneille besaß.“

Er sprach offenbar auswendig Gelerntes. Irgend jemand wird ihm wohl einmal diese Litanei auf ein Blatt Papier geschrieben haben und die hatte er dann für sein ganzes Leben auswendig gelernt. Sein altes, gutmütiges Gesicht verklärte sich förmlich vor Wonne, als er seinen hohen Stil vor uns ausbreiten konnte.

Ci-gît Jean Jacques Rousseau,“[39] fuhr er fort, an einen anderen Sarg tretend. „Jean Jacques, l’homme de la nature et de la vérité![40]

Mich wandelte plötzlich Lachlust an. Durch hochtrabende Rede kann man tatsächlich alles lächerlich machen. Und zudem sah man doch, daß der arme Alte, als er von der nature und der vérité[41] sprach, selber entschieden keine Ahnung hatte, um was es sich handelte.

„Sonderbar!“ sagte ich. „Von diesen beiden großen Männern hat der eine den andern sein Lebelang einen Lügner und üblen Menschen genannt, und dieser den ersteren wiederum einfach einen Dummkopf. Und nun liegen sie hier fast Seite an Seite.“

„Mßjö, mßjö!“ entfuhr es dem Invaliden – offenbar wollte er mir widersprechen, aber dann tat er es doch nicht, sondern führte uns schneller zu einem anderen Sarkophag.

Ci-gît Lannes,[42] der Marschall Lannes,“ begann er von neuem zu singen, „einer der größten Helden Frankreichs, das so überreich mit Helden gesegnet ist. Das war nicht nur ein großer Marschall, der geschickteste Heerführer, ausgenommen den großen Kaiser, sondern ihm ward auch noch das höchste Glück zuteil. Er war der Freund ...“

„Nun ja, er war der Freund Napoleons,“ sagte ich, um die Rede abzukürzen.

„Mßjö! Erlauben Sie, daß ich rede,“ unterbrach mich der Invalide mit gleichsam ein wenig gekränkter Stimme.

„Reden Sie, reden Sie nur, ich höre.“

„Ihm ward auch noch das höchste Glück zuteil. Er war der Freund des großen Kaisers. Kein anderer von allen seinen Marschällen hatte das Glück, dem großen Manne Freund zu werden. Einzig der Marschall Lannes ward dieser großen Ehre gewürdigt. Als er auf dem Schlachtfelde für sein Vaterland fiel ...“

„Nun ja, ein Geschoß zerschmetterte ihm beide Beine.“

„Mßjö, mßjö! Gestatten Sie doch, daß ich es selber sage,“ rief der Invalide mit fast klagender Stimme. „Sie wissen das vielleicht schon ... Aber so lassen Sie es doch auch mich erzählen!“ – Der wunderliche Alte wollte sich schon gar zu gern reden hören, auch wenn wir alles bereits wußten.

„Als nun der Marschall im Sterben lag,“ fuhr er also von neuem fort, „für sein Vaterland, auf dem Felde der Schlacht, da kam der Kaiser, aufs Tiefste erschüttert und schmerzlich beklagend den großen Verlust ...“

„Um Abschied von ihm zu nehmen,“ plagte es mich wieder, ihm ins Wort zu fallen, aber ich fühlte sogleich, daß es häßlich von mir war; ich schämte mich sogar.

„Mßjö, mßjö!“ sagte der Alte, sah mir mit traurigem Vorwurf in die Augen und schüttelte langsam sein greises Haupt. „Mßjö! Ich weiß, ich bin überzeugt, daß Sie alles das wissen, vielleicht besser wissen als ich. Aber Sie haben doch selber die Führung mir überlassen; also erlauben Sie, daß ich jetzt rede. Es ist auch nicht mehr viel zu sagen ... Da kam der Kaiser, aufs tiefste erschüttert und schmerzlich beklagend den großen Verlust, den er, die Armee und ganz Frankreich erlitten, an das Sterbelager des Marschalls und linderte durch diesen letzten Abschied die grausamen Qualen des vor seinen Augen hinscheidenden Heerführers. – C’est fini, monsieur,“[43] fügte er mit einem vorwurfsvollen Blick auf mich hinzu und ging weiter.

„Und hier sind dann noch ein paar Särge: das sind so ... quelques sénateurs,“[44] bemerkte er gleichmütig, mit einer nachlässigen Kopfbewegung auf die übrigen Sarkophage deutend, die in der Nähe standen. Seine ganze Redekunst hatte sich für Voltaire, Jean Jacques und den Marschall Lannes verschwendet. Das war nun schon ein unmittelbares, ein sozusagen volkliches Beispiel der Liebe des Franzosen zur schönen Redekunst. Sollten wirklich alle die Reden der Redner ihrer Nationalversammlung, des Konvents und der Klubs, an denen das Volk doch fast unmittelbaren Anteil hatte und wo es doch förmlich umerzogen wurde, nur eine einzige Spur in ihm hinterlassen haben – die Liebe zur Redekunst um der Redekunst willen?

Achtes Kapitel.
Bribri und Mabisch.

Und nun die Epousen. Die Epousen führen ein glückseliges Leben, wie gesagt. Übrigens: Sie werden mich gewiß fragen wollen, weshalb ich anstatt „Frauen“ hier immer „Epousen“ sage? Aus Gründen des Stils, meine Herrschaften, nur aus Gründen des Stils. Der Bourgeois pflegt nämlich, wenn er sich vornehm ausdrücken will, stets „mon épouse[45] zu sagen. Und wenn auch die anderen Klassen, ganz wie überall in der Welt, einfach „ma femme[46] – meine Frau – sagen, so erscheint es mir doch richtiger, dem nationalen Geist der Mehrheit und der höheren Ausdrucksform zu folgen. Es ist charakteristischer. Im übrigen aber gibt es auch noch andere Benennungen. Zum Beispiel, wenn der Bourgeois gefühlvoll wird oder seine Frau betrügen will, so nennt er sie stets „ma biche“.[47] Und die liebende Frau wiederum nennt in Augenblicken graziöser Tändelei ihren lieben Bourgeois: „bribri“ – womit der Bourgeois seinerseits sehr zufrieden ist. Bribri und Mabisch stehen zwar immer in Blüte, gerade jetzt aber blühen sie üppiger denn je. Ganz abgesehen davon, was nun einmal nach allseitiger (und nahezu stillschweigender) Übereinkunft festgestellt ist, nämlich: daß Mabisch und Bribri in unserer vielgestaltigen Zeit das Musterbeispiel der Tugend, Eintracht und des paradiesischen Zustandes der gegenwärtigen Gesellschaft sind, letzteres besonders zur Widerlegung aller schändlichen Faseleien der unsinnigen Kommunistenvagabunden, – also ganz abgesehen davon, und überdies wird Bribri jetzt noch mit jedem Jahre nachgiebiger in Fragen des Ehestandes. Er begreift bereits, daß, mag man auch noch so viel reden oder noch so viele Vorkehrungen treffen, Mabisch doch nicht zu halten ist, daß die Pariserin nun einmal für den Liebhaber geschaffen ward, daß es für einen Ehemann eben ganz unmöglich ist, der Kopfzier zu entgehen, und so schweigt er denn wohlweislich, allerdings nur so lange wie er erst wenig Geld erspart hat und noch nicht viele Sachen und Sächelchen[91] besitzt. Sobald aber sein Besitzstand sich in der einen wie in der anderen Richtung abzurunden beginnt, wird Bribri sogleich bedeutend anspruchsvoller, sintemal er sich dann selber ungemein zu achten anfängt. Nun und dann beginnt er auch den Gustave anders zu beurteilen, namentlich wenn dieser zum Überfluß noch irgendso ein armer Schlucker ist, der nichts weniger als viele Sachen und Sächelchen besitzt. Überhaupt wird ein Pariser, der heiraten will und selber Geld hat, sei es auch noch so wenig, unbedingt eine Braut mit Geld heiraten. Ja, die Mitgift ist für ihn sogar unbedingt die erste Frage und nur wenn es sich herausstellt, daß die Franken und Sachen auf beiden Seiten in gleicher Zahl vorhanden sind, dann erst, aber auch nur dann wird geheiratet. Das pflegt zwar überall vorzukommen, hier aber ist es schon zu einem Gesetz von der Gleichheit der Geldbeutel, ist es zu allgemein anerkannter Sitte geworden. Hat z. B. die Braut nur ein wenig mehr Geld, so wird sie dem Bewerber, der weniger hat, nicht mehr gegeben, sondern es wird für sie ein besserer Bribri gesucht. Liebesheiraten werden immer unmöglicher und gelten fast schon für unanständig. Diese vernünftige Sitte der unbedingten Gleichheit der Geldbeutel oder der Verheiratung des einen Kapitals mit dem anderen Kapital wird nur äußerst selten nicht befolgt, ja, ich glaube, in Frankreich viel, viel seltener als gleichviel wo in der übrigen Welt. Und das Verfügungsrecht über das Vermögen der Frau hat der Bourgeois ganz vortrefflich zu seinen Gunsten festzusetzen verstanden. Das ist denn auch der Grund, weshalb er in vielen Fällen sich dazu versteht, bei Abenteuern seiner Bisch ein Auge zuzudrücken, durch die Finger zu sehen und manche ärgerlichen Dinge nicht zu bemerken, da bei einem Zerwürfnis die Frage der Auszahlung ihrer Mitgift doch recht unangenehm wäre. So kommt es denn, daß, wenn Mabisch sich manchmal eleganter kleidet, als ihre Mittel es gestatteten, Bribri sich innerlich damit zufrieden gibt, selbst wenn er alles bemerkt hat: verlangt sie doch in dem Falle von ihm weniger Toilettengeld. Auch ist Mabisch dann bedeutend verträglicher. Und schließlich, da die Ehe doch größtenteils nur eine Verbindung seines und ihres Geldes ist und man sich um die gegenseitige Zuneigung recht wenig kümmert, so ist auch Bribri nicht abgeneigt, trotz seiner Bisch sich nach anderen Seiten hin umzusehen. Und somit tut man am besten, wenn man sich gegenseitig nicht stört. So gibt es auch mehr Eintracht im Hause und das zärtliche Geflüster der lieblichen Namen Bribri und Mabisch kommt dann zwischen den Gatten viel häufiger vor. Und schließlich, wenn man schon alles sagen soll: auch in dieser Richtung hat Bribri wunderbar für sich vorgesorgt. Der Polizeikommissar steht jeden Augenblick zu seiner Verfügung. So bestimmen es die Gesetze, die er selbst für sich zurecht gemacht hat. Im äußersten Fall, d. h. wenn er die Liebenden en flagrant délit[48] ertappt, kann er sie beide sogar totschlagen, ohne sich dadurch auch nur der geringsten Strafe auszusetzen. Mabisch weiß das und ist damit durchaus einverstanden. Durch lange Vormundschaft hat man Mabisch soweit gebracht, daß sie nicht einmal murrt oder unzufrieden ist, geschweige denn davon träumt, wie es in manchen barbarischen und komischen Ländern geschieht, z. B. irgend etwas zu lernen, an Hochschulen zu studieren, an Sitzungen teilzunehmen, einem Klub anzugehören und in Ausschüssen zu sitzen, oder gar Abgeordnete zu werden. Nein, Mabisch zieht es vor, in ihrem gegenwärtigen luftigen und sozusagen kanarienvogelmäßigen Stande zu verbleiben. Sie wird geputzt, sie wird behandschuht, sie wird auf die Promenade geführt und spazieren gefahren, sie tanzt, sie nascht Zuckerwerk, äußerlich wird sie wie eine Königin empfangen und äußerlich liegen die Männer vor ihr einfach im Staube. Die Form dieses Verhältnisses ist bewundernswert geschickt und anstandsgemäß durchgebildet. Mit einem Wort, die ritterlichen Formen werden gewahrt, also was will man mehr? Gustave wird ihr ja nicht genommen! Irgendwelche sittlichen, höheren Lebensziele usw. usw. braucht sie nicht: im Grunde ist sie genau so eine Kapitalistenseele und genau so geldgierig wie ihr Mann. Wenn die Kanarienvogeljahre vorüber sind, d. h. wenn sie sich schon auf gar keine Weise noch irgend etwas vortäuschen, wenn sie sich also wirklich nicht mehr für einen Kanarienvogel halten kann und wenn der Gedanke an einen neuen Gustave selbst bei üppigster Einbildungskraft und höchster Eigenliebe schon völlig aussichtslos wird, – dann pflegt Mabisch sich plötzlich, in kürzester Zeit und ganz greulich zu verwandeln. Koketterie, Putzsucht, Munterkeit verschwinden spurlos. Sie wird meistenteils so böse! wird zu einer solchen Wirtschafterin! Sie geht in die Kirchen, spart mit dem Manne Geld und ein eigentümlicher Zynismus schaut auf einmal von allen Seiten hervor: plötzlich stellen sich eine gewisse Müdigkeit, Verdrossenheit, rohe Instinkte ein, hinzu kommt eine Zwecklosigkeit des Daseins, kommen zynische Reden. Sogar in ihrer Kleidung werden manche von ihnen nachlässig und schlampig. Selbstverständlich ist das nicht immer und bei allen der Fall, es gibt natürlich auch andere, lichtere Erscheinungen, o, und selbstredend gibt es auch anderswo, gibt es überall ebensolche gesellschaftlichen Verhältnisse, aber ... aber bei den Franzosen ist das alles bodenständiger, ist es gewissermaßen das Original selber, ist ursprünglicher, ausgeprägter, kurz, alles das ist in Frankreich nationaler. Hier ist die Quelle, ist der Keim jener bourgeoisen gesellschaftlichen Form, die jetzt in der ganzen Welt herrscht – in Gestalt ewiger Nachahmung der großen Nation.

Ja, äußerlich ist Mabisch – eine Königin. Es ist schwer, sich auch nur vorzustellen, von was für einer verfeinerten Höflichkeit, was für einer zudringlichen Aufmerksamkeit sie überall, in der Gesellschaft und auf der Straße, umgeben ist. Doch die wirklich erstaunliche Zweideutigkeit dieser Aufmerksamkeit wird mitunter zu einer so fühlbaren Gemeinheit, daß manch eine ehrliche Seele so etwas einfach nicht ertragen könnte. Die so offensichtliche Falschheit der vorgetäuschten Ehrerbietung würde sie aufs tiefste verletzen. Aber Mabisch ist ja selber eine große Spitzbübin und ... mehr als den Schein verlangt sie doch gar nicht ... Auf ihre Rechnung aber kommt sie dabei doch, und immer wird sie es vorziehen, mit so einem kleinen Betrug auf ihre Rechnung zu kommen, als ehrlich den geraden Weg zu gehen: denn so ist es ihrer Meinung nach für sie sicherer, und es ist auch mehr Spiel dabei. Spiel aber, Intrige – das ist doch das wichtigste für Mabisch; das ist ja die Hauptsache. Dafür – wie kleiden sie sich, wie verstehen sie auf der Straße zu gehen! Mabisch ist manieriert, geziert, in allem unnatürlich, aber gerade das ist es ja, was bestrickt, besonders gewisse blasierte und mehr oder weniger verdorbene Männer, die den Geschmack an frischer, unmittelbarer Schönheit verloren haben. Geistig ist Mabisch äußerst wenig entwickelt; Verstand und Herz sind bei ihr nicht größer als bei einem Vogel, aber dafür ist sie graziös, dafür kennt sie die Geheimnisse so unzähliger Kniffe und Mittelchen, daß man sich besiegen läßt und ihr wie einer pikanten Neuheit folgt. Sie ist sogar nur selten schön an sich. Sie hat sogar etwas Böses im Gesicht. Aber das hat nichts zu sagen; dafür ist dieses Gesicht beweglich, lebhaft und beherrscht in vollendeter Weise die geheimnisvolle Kunst, Gefühl und Natürlichkeit vorzutäuschen. Vielleicht gefällt einem an ihr gar nicht einmal der Umstand, daß ihre Nachahmung der Natur gleichkommt, sondern eben dieser Vorgang, wie sie die Natur durch Nachahmung erreicht, bezaubert einen: die Kunst selbst übt den Zauber aus. Für den Pariser ist es meistenteils vollkommen gleich, ob es echte Liebe ist oder eine gute Nachahmung der Liebe. Ja, vielleicht gefällt ihm die Nachahmung sogar von vornherein besser. Eine gewissermaßen orientalische Auffassung von der Frau tritt in Paris immer deutlicher hervor. Die Kamelie wird immer mehr Mode. „Nimm Geld und betrüge gründlich, d. h. täusche Liebe vor“ – das ist es, was von der Kamelie verlangt wird. Und von der Epouse wird kaum mehr verlangt, wenigstens ist man auch damit zufrieden, und deshalb wird ihr denn auch schweigend und nachsichtig Gustave zugestanden. Außerdem weiß der Bourgeois, daß Mabisch im Alter ganz in seinen Interessen aufgehen und im Geldzusammenscharren seine eifrigste Gehilfin sein wird. Sogar in der Jugend hilft sie ihm bereits außerordentlich. Manchmal führt sie das ganze Geschäft, lockt die Käufer herein, kurz, sie ist seine rechte Hand, sein erster Kommis. Wie sollte man ihr da nicht so eine kleine Schwäche für irgendeinen Gustave verzeihen! Auf der Straße ist die Frau unantastbar. Niemand beleidigt sie, alle machen ihr Platz, und es ist dort nicht so, wie bei uns, wo eine Frau, wenn sie nicht gerade ganz alt ist, keine zwei Schritt auf der Straße gehen kann, ohne daß ihr irgendeine kriegerische oder müßig-kecke Physiognomie unter das Hütchen blickte und vorschlüge, Bekanntschaft zu machen.

Übrigens ist, ungeachtet der Möglichkeit eines Gustave, die alltägliche zeremonielle Umgangsform zwischen Bribri und Mabisch recht nett und oft sogar naiv. Überhaupt sind die Menschen im Auslande – das ist mir sofort in die Augen gesprungen – fast alle unvergleichlich naiver als wir Russen. Es ist schwer, das näher zu erklären: man muß das selbst erleben. Le Russe est sceptique et moqueur,“[49] sagen die Franzosen von uns und das stimmt. Wir sind mehr Zyniker, schätzen das Eigene weniger, ja, wir lieben es nicht einmal, wenigstens achten wir es nicht im geringsten, ohne dabei zu begreifen, um was es sich handelt; wir drängen uns in europäische, allmenschliche Interessen, ohne überhaupt zu einer Nation zu gehören, und so verhalten wir uns natürlich zu allem viel kühler, gleichsam nur so pflichtschuldigst und jedenfalls abstrakter. Übrigens bin ich von meinem Thema abgekommen.

Ja, Bribri ist mitunter wirklich ungeheuer naiv. Wenn er z. B. um die Springbrünnlein herumspaziert, beginnt er gar, seiner Bisch zu erklären, warum das Wasser der Springbrünnlein nach oben steigt; er erklärt ihr die Gesetze der Natur, brüstet sich vor ihr chauvinistisch mit der Schönheit des Boulogner Wäldchens, mit der Illumination, dem Spiel der Versailler grandes eaux,[50] mit den Erfolgen des Kaisers Napoleon und mit der gloire militaire,[26] genießt ihre Neugier und ihr vergnügtes Staunen und ist mit allem überaus zufrieden. Und was Mabisch betrifft, so verhält sich selbst die durchtriebenste Französin gleichfalls recht zärtlich zu ihrem Gemahl, d. h. nicht etwa indem sie sich verstellt, sondern wirklich aufrichtig zärtlich, ohne eigennützige Hintergedanken und das ungeachtet der Kopfzier dieses ihres Gemahls. Selbstredend stehe ich nicht für das Ergebnis einer sehr genauen Untersuchung ein, ich will da nicht weiter die Dächer von den Häusern abheben. Ich erzähle bloß, was mir aufgefallen ist, was ich so als allgemeinen Eindruck davongetragen habe. „Mon mari n’a pas encore vu la mer,“[51] sagt Ihnen da so manch eine Mabisch und ihre Stimme drückt den aufrichtigsten, naivsten Mitschmerz aus. Das bedeutet, daß ihr Mann noch niemals irgendwohin nach Brest oder Boulogne gefahren ist, um dort das Meer zu sehen. Nun muß man wissen, daß der Bourgeois einige überaus naive und doch äußerst ernste Bedürfnisse hat, die fast zu einer allgemeinen bourgeoisen Angewohnheit geworden sind. Der Bourgeois hat nämlich außer dem Bedürfnis, Geld zu sparen und dem Bedürfnis nach schönem Redefluß, noch zwei andere Bedürfnisse, zwei durchaus gesetzmäßige Bedürfnisse, die durch die allgemeine Gewohnheit geheiligt sind und zu denen er sich selber ungeheuer ernst, ja nahezu pathetisch verhält. Das erste dieser Bedürfnisse ist: voir la mer[52] – das Meer zu sehen. Der Pariser lebt und handelt manchmal sein ganzes Leben lang nur in Paris und sieht niemals das Meer. Wozu er es nötig hat, das Meer zu sehen? – Das weiß er wohl selber nicht, nichtsdestoweniger wünscht er krampfhaft und gefühlvoll, das Meer zu sehen, wenn er auch vorläufig die Reise von Jahr zu Jahr aufschiebt, da ihn gewöhnlich Geschäfte festhalten; aber er trauert darob und seine Frau teilt aufrichtig seinen Schmerz. Überhaupt spricht da viel Gefühl mit und ich achte das. Einmal aber kommt es dann doch dazu, daß er sich freimachen kann und seine Mittel ihm die Reise erlauben, so macht er sich denn auf und reist auf ein paar Tage hinaus, „um das Meer zu sehen“. Nach seiner Rückkehr schildert er seiner Frau, seiner ganzen Sippe, allen Freunden und Bekannten hochtrabend und mit Begeisterung seine Eindrücke und hernach schwelgt er noch sein Leben lang süß in dem Gedanken, daß er das Meer gesehen hat.

Das zweite, ebenso gesetzmäßige und nicht minder starke Bedürfnis des Bourgeois ist – se rouler dans l’herbe.[53] Der Pariser, der aus Paris hinaus in die Umgebung fährt, liebt es nämlich über alles und hält es sogar für seine Pflicht, sich im Grase zu wälzen, was er denn auch unfehlbar und sogar mit Würde tut, durchdrungen von dem Bewußtsein, daß er sich nun avec la nature[54] vereinigt; und besonders angenehm ist es ihm dann, wenn ihm jemand dabei zusieht. Überhaupt hält es der Pariser außerhalb der Stadt sogleich für seine Pflicht, liebenswürdiger, heiterer, ja sogar kühner zu werden, kurz, sich als ein natürlicherer, der nature näherstehender Mensch zu geben. L’homme de la nature et de la vérité![38] – Sollte es nicht gar bis in die Tage ihres Jean Jacques zurückreichen, daß im Bourgeois diese übertriebene Verehrung der nature zutage tritt? Übrigens erlaubt sich der Pariser, diese beiden Bedürfnisse – voir la mer und se rouler dans l’herbe – meistenteils erst dann zu haben, wenn er bereits ein Vermögen zusammengespart hat, oder mit anderen Worten: wenn er sich selbst zu achten, stolz zu sein und sich für einen Menschen zu halten anfängt. Se rouler dans l’herbe ist aber für ihn noch dreimal, oder womöglich zehnmal süßer, wenn es auf eigenem Grund und Boden, den er mit mühsam erarbeitetem Gelde erkauft hat, geschehen kann. Deshalb kauft der Bourgeois, wenn er sich vom Geschäftsleben zurückzieht, mit Vorliebe irgendwo ein Stückchen Land, baut sich ein eigenes Haus, legt sich einen eigenen Garten an, mit einem Zaun herum, dazu eigene Hühner, eine eigene Kuh. Und wenn auch alles nur im winzigsten Maßstabe vorhanden ist, gleichviel – der Bourgeois schwelgt in kindlichstem, in rührendstem Entzücken: „mon arbre, mon mur,“[55] sagt er jeden Augenblick zu sich selber wie zu allen, die er zu sich einlädt, und so geht das fort bis zu seinem seligen Ende. Ja, auf eigenem Grund und Boden ist se rouler dans l’herbe am süßesten für ihn. Um diese Lebenspflicht erfüllen zu können, legt er sich vor seinem Hause unbedingt einen kleinen Rasenplatz an. Irgend jemand hat einmal von einem Bourgeois erzählt, der das Unglück hatte, daß auf der Stelle seines Gartens, die für den Rasenplatz bestimmt war, das Gras nicht wachsen wollte. Er tat sein möglichstes, begoß regelmäßig, belegte den Platz mit anderswo gewachsenem Rasen, – es half alles nichts. Die Stelle vor dem Hause war nun einmal so sandig, daß nichts darauf wachsen wollte. Da soll er sich denn einen künstlichen Rasen gekauft haben, ist einzig zu diesem Zweck nach Paris gefahren, hat sich dort einen runden Grasteppich von zwei Meter Größe im Durchmesser bestellt und diesen imitierten gazon[56] dann jeden Nachmittag vor seinem Hause ausgebreitet, um sein recht- und gesetzmäßiges Bedürfnis befriedigen und im Grase liegen zu können. Einem Bourgeois, der sich im Zustande des ersten Entzückens über seinen wohlerworbenen Besitz befindet, ist das allerdings zuzutrauen, so daß dieser Fall in moralischer Hinsicht nichts Unwahrscheinliches an sich hat.

Doch nun noch zwei Worte über Gustave. Gustave ist natürlich nichts anderes, als was auch der Bourgeois ist, nämlich Kommis, Kaufmann, Beamter, homme de lettres,[19] Offizier. Gustave ist der bloß noch unverheiratete, sonst aber genau derselbe Bribri. Doch das ist nicht die Hauptsache; die ist vielmehr: als was Gustave sich jetzt verkleidet, womit er sich jetzt drapiert, was er vorstellt, was für Federn ihn schmücken. Das Ideal des Liebhabers verändert sich entsprechend dem Zeitgeist und spiegelt sich auf der Bühne immer in der Gestalt, in der er in der Gesellschaft gerade umgeht. Der Bourgeois liebt nun zwar besonders das Vaudeville, aber noch mehr liebt er das Melodrama. Das anspruchslose, heitere Vaudeville (nebenbei bemerkt: das einzige Kunsterzeugnis, das sich nahezu in überhaupt keinen fremden Boden verpflanzen läßt, sondern nur auf dem Boden gedeiht, auf dem es entstanden ist, nämlich in Paris) – das Vaudeville vermag den Bourgeois zwar zu fesseln, aber es befriedigt ihn doch nicht vollständig. Er nimmt es immerhin nicht ernst. Was er braucht, ist Erhabenes, er braucht unaussprechlichen Edelmut, er braucht Gefühlvolles, und alles das bietet ihm das Melodrama. Ohne Melodrama kann der Pariser einfach nicht leben. Das Melodrama wird deshalb auch nicht aussterben, solange es den Bourgeois gibt. Um so beachtenswerter ist es, daß jetzt selbst das Vaudeville sich zu verändern anfängt. Es ist freilich wie immer heiter und von überwältigender Komik, aber jetzt beginnt sich ihm doch schon stark ein anderes Element beizumischen, und zwar – Moral. Der Bourgeois liebt nämlich außerordentlich, und hält’s jetzt für die heiligste und notwendigste Verrichtung, bei jeder passenden Gelegenheit sich selbst und seiner Bisch gute Lehren und Moral zu predigen. Nicht zu vergessen: der Bourgeois herrscht jetzt unumschränkt; er ist eine Macht; jene Leutchen aber, die die Vaudevilles und Melodramen liefern, sind immer Lakaien und schmeicheln immer der Macht. Also aus diesem Grunde geschieht es nun, daß der Bourgeois auf der Bühne jetzt immer als Sieger hervorgeht, selbst dann, wenn er als komische Figur auftritt, und deshalb wird ihm zu guter Letzt auch immer vermeldet, daß alles in Ordnung sei. Es ist anzunehmen, daß solche Berichte den Bourgeois tatsächlich beruhigen. Stellt sich doch bei jedem ängstlichen Menschen, der von dem Erfolge seiner Sache nicht ganz überzeugt ist, das quälende Bedürfnis ein, sich überzeugen, ermutigen, beruhigen zu lassen. Ja, ein solcher Mensch beginnt sogar, abergläubisch an günstige Vorbedeutungen zu glauben. Genau so verhält es sich auch mit dem Bourgeois. Zu einem Melodrama aber gehören erhabene Züge und erhabene Lehren. Da handelt es sich schon nicht mehr um irgendwelchen Humor; da ist es bereits der pathetische Triumph alles dessen, was Bribri so liebt und was ihm so sehr gefällt. Am meisten gefällt ihm politische Zufriedenheit und das Recht, Geld zusammenzuscharren zwecks besserer Ausstattung des eigenen Heims. In diesem Sinne werden also jetzt auch die Melodramen verfaßt. Und dementsprechend wird jetzt auch Gustave gezeichnet. Und je nach dem wie Gustave gezeichnet ist, kann man immer mit Sicherheit feststellen, was Bribri im Augenblick für das Ideal unaussprechlichen Edelmuts hält. Früher – das ist schon lange her – erschien Gustave als Dichter, Künstler, verkanntes Genie, verfolgt, gequält durch Ungerechtigkeiten. Er kämpfte lobenswert und es endete immer damit, daß die Frau Vicomtesse, die sich im geheimen um ihn verzehrt, doch zu der er sich verachtend-gleichgültig verhält, ihn schließlich mit ihrer Pflegetochter Cécile vermählt, mit Cécile, die zunächst keinen Sou hat, doch plötzlich, wie sich herausstellt, ein riesiges Vermögen besitzt. Gustave rebelliert gewöhnlich und will von Geld nichts wissen. Doch siehe, plötzlich hat sein Bild auf der Kunstausstellung den glänzendsten Erfolg und alsbald stürzen drei lächerliche Mylords in seine Wohnung und bieten ihm je hunderttausend Franken für sein nächstes Bild. Gustave macht sich mit Verachtung lustig über alle drei und erklärt in bitterer Verzweiflung, daß alle Menschen Schurken seien, seines Pinsels nicht wert, erklärt, daß er nie und nimmer die Kunst, die heilige Kunst zur Profanation den Pygmäen ausliefern werde, diesen Zwergen, die bis heut noch nicht begriffen haben, wie groß Er ist. Aber da stürzt die Vicomtesse herein und erklärt, Cécile sterbe vor Liebe zu ihm, und daß er deshalb das Bild malen müsse. Da erst errät Gustave, daß die Vicomtesse, seine Feindin, dank welcher bisher kein einziges seiner Bilder in die Ausstellung gelangt war, ihn im geheimen liebt; daß sie sich nur aus Eifersucht an ihm gerächt hat. Natürlich nimmt Gustave nun gleich von allen drei Mylords das Geld, schimpft sie noch einmal aus, womit sie sehr zufrieden sind, eilt darauf zu Cécile, willigt ein, ihre Million mitzuheiraten, verzeiht der Vicomtesse, die nun auf ihr Gut zurückkehrt, und nachdem er sich vorschriftsmäßig hat trauen lassen, beginnt er sich Kinder zuzulegen, einen Hausrock aus Flanell, einen bonnet de coton[57] und abends mit Mabisch um die tugendsamen Springbrünnlein zu spazieren, deren sanftes Wasserplätschern ihm, versteht sich, nur die Beständigkeit, Dauerhaftigkeit und Ruhe seines Erdenglückes zu Bewußtsein bringt.

Mitunter kommt es auch vor, daß Gustave nicht ein Kommis ist, sondern irgendein verfolgter, verprügelter Waisenknabe, jedoch einer, der innerlich von unaussprechlichstem Edelmut erfüllt ist. Plötzlich aber stellt sich heraus, daß er keineswegs ein Waisenknabe, sondern der rechtmäßige Sohn und Erbe eines Rothschild ist. Millionen fallen ihm zu. Doch Gustave lehnt stolz und mit Verachtung sämtliche Millionen ab. Warum? – Ja, das ist nun mal so wegen der Redekunst vonnöten. Doch siehe, plötzlich stürzt Madame Beaupré herein, die Gattin des Bankiers, bei dem er eine Anstellung hat und die in ihn verliebt ist. Sie erklärt ihm, daß Cécile sogleich vor Liebe zu ihm sterben werde und daß er sie retten müsse. Gustave errät, daß Madame Beaupré in ihn verliebt ist, nimmt die abgelehnten Millionen an und nachdem er alle mit den gemeinsten Worten beschimpft hat, weil es im ganzen Menschengeschlecht nicht noch einmal soviel unaussprechlichen Edelmut gibt, wie in ihm, begibt er sich zu Cécile und verbindet sich mit ihr. Die Bankiersfrau reist auf ihr Gut, Herr Beaupré triumphiert, da seine Frau, die sich am Rande des Verderbens befand, rein und makellos geblieben ist, Gustave aber setzt Kinder in die Welt und spaziert abends um die tugendsamen Springbrünnlein, deren sanftes Wasserplätschern ihm nur usw., usw. zu Bewußtsein bringt.

Gegenwärtig wird der unaussprechliche Edelmut am häufigsten durch einen aktiven Offizier verkörpert, oder durch einen Militäringenieur oder etwas Ähnliches, jedenfalls am häufigsten durch eine Militärperson, die im Knopfloch unbedingt das Band der Ehrenlegion trägt, das mit „eigenem Blut erkauft“ ist. Nebenbei: dieses Bändchen ist etwas Entsetzliches. Jeder Träger desselben brüstet sich mit diesem Bändchen dermaßen, daß ein Zusammensein mit ihm fast unerträglich wird, man kann mit ihm weder in demselben Eisenbahnwagen fahren, noch im Theater neben ihm sitzen, geschweige denn im Restaurant. Es fehlte nur noch, daß er Sie anspuckt, bis zu solcher Schamlosigkeit tut er sich vor Ihnen mit seinem Ordensbande wichtig. Er schnauft, er bläht die Nüstern, so erfüllt ist er von sich selbst, daß Ihnen schließlich übel wird oder die Galle überläuft und Sie nach dem Arzt schicken müssen. Doch den Franzosen gefällt das sehr. Merkwürdig ist ferner, daß im Theater jetzt auch dem Monsieur Beaupré eine schon gar zu auffallende Beachtung, oder mindestens weit mehr Beachtung geschenkt wird als früher. Selbstredend hat Monsieur Beaupré bereits viel Geld in Sicherheit und auch schon sehr viele Sachen und Sächelchen in seinem Besitz. Als Mensch ist er bieder, offenherzig, ein wenig lächerlich mit seinen bourgeoisen Angewohnheiten und infolge des Umstandes, daß er Gatte ist; aber er ist gutmütig, ehrlich, großmütig und von unsagbarem Edelmut in dem Auftritt, in welchem er an dem Argwohn, seine Bisch sei ihm untreu, zu leiden hat. Doch ungeachtet dessen entschließt er sich großmütig, ihr alles zu verzeihen. Natürlich stellt es sich dann heraus, daß sie so unschuldig wie eine Taube ist, daß sie mit ihrem Interesse für Gustave nur gescherzt hat und daß Bribri, dessen Großmut sie aufs tiefste erschüttert, ihr teurer als alles andere ist. Cécile ist natürlich ganz wie immer zu Anfang bettelarm, ist es aber jetzt nur noch im ersten Akt; schon im zweiten stellt es sich heraus, daß sie eine Million besitzt. Gustave ist stolz und gleichfalls wie immer von alles verachtendem Edelmut, nur tut er jetzt viel wichtiger, da er ja nun ein Krieger ist. Das teuerste auf der Welt ist für ihn sein Orden, den er mit seinem „Blut erkauft“ hat; und „l’épée de mon père“.[58] Von diesem Degen seines Vaters spricht er in jedem Augenblick, immer und überall, bei jeder unpassenden Gelegenheit; man begreift oft gar nicht, um was es sich dabei handelt; er schimpft, entrüstet sich, doch alle machen Bücklinge vor ihm und die Zuschauer weinen und klatschen Beifall (sie weinen buchstäblich). Selbstverständlich hat er keinen Sou, das ist sine qua non. Madame Beaupré ist natürlich in ihn verliebt, Cécile gleichfalls, er aber ahnt nicht einmal, daß Cécile ihn liebt. Fünf Akte hindurch hört man Cécile vor Liebe ächzen. Schließlich schneit es oder es geschieht etwas Ähnliches. Cécile will sich aus dem Fenster stürzen. Da fallen plötzlich draußen unter dem Fenster zwei Schüsse, alles eilt herbei: Gustave tritt bleich, mit verbundenem Arm langsam auf die Bühne. Das Ehrenband, das er mit seinem „Blut erkauft“ hat, leuchtet auf seiner Brust. Céciles Verleumder, der sie zu verführen trachtete, ist bestraft. Gustave begreift schließlich, daß Cécile ihn liebt und daß alle diese Widerwärtigkeiten von Madame Beaupré angestiftet worden sind. Doch Madame Beaupré steht jetzt bleich und erschrocken da und Gustave errät, daß auch sie ihn liebt. Plötzlich fällt wieder ein Schuß. Das kann nur ein Schuß von Beaupré sein, der sich das Leben nimmt. Madame Beaupré schreit auf, stürzt zur Tür, doch schon erscheint Beaupré in eigener Person, mit einem erlegten Fuchs in der Hand oder mit einem anderen Tier. Die Lehre ist gut: Mabisch wird sie nie vergessen. Sie schmiegt sich an Bribri, der ihr alles verzeiht. Gustave erfährt aber nun, daß Cécile eine Million besitzt, und er rebelliert von neuem. Er will nicht heiraten. Gustave ziert sich gewaltig, Gustave ergeht sich in Schimpfworten und flucht. Das Fluchen und das Spucken auf die Million ist unbedingt erforderlich; der Bourgeois würde es ihm nicht verzeihen, wenn er das unterließe: sein Bedürfnis nach unaussprechlichem Edelmut käme doch sonst zu kurz, – nur bitte deshalb nicht zu glauben, daß der Bourgeois sich selbst untreu werde! Beruhigen Sie sich: die Million geht dem glücklichen Paar nicht verloren, die Million ist unvermeidlich und erscheint zum Schluß immer in Gestalt einer Belohnung der Tugend. Nein, der Bourgeois wird sich selbst nicht untreu. Natürlich nimmt Gustave zu guter Letzt die Million samt Cécile, und dann kommt wieder das Geplätscher der Springbrünnlein, die baumwollene Nachtmütze usw., usw. Auf die Weise gibt es dann sowohl viel Gefühlvolles, wie unaussprechlichen Edelmut mehr als man fassen kann, und dazu den Bourgeois Beaupré als Sieger, der mit seinen Familientugenden alle bis zur Ergriffenheit rührt, und die Hauptsache, die Hauptsache – die Million, die Million als Fatum, als Naturgesetz, dem alle Ehre, aller Ruhm, alle Anbetung gebührt, usw., usw. Bribri und Mabisch verlassen das Theater vollkommen befriedigt, beruhigt und getröstet. Gustave begleitet sie, und während er Mabisch in den Wagen hebt, küßt er ihr heimlich das Händchen ... Kurz, alles geht, wie es muß.

„Tagebuch eines Schriftstellers.“
Aus der Zeitschrift „Der Bürger“ vom Jahre 1873.

Einführung[92].

Am zwanzigsten Dezember erfuhr ich, daß alles schon entschieden und ich nunmehr Redakteur des „Bürger“ war[93]. Dieses außergewöhnliche Ereignis, d. h. außergewöhnlich nur für mich (ich will niemanden beleidigen) – vollzog sich indes auf eine ganz einfache Weise. Und an demselben zwanzigsten Dezember las ich in den „Moskauer Nachrichten“ einen Bericht über die Hochzeit des Kaisers von China, der einen mächtigen Eindruck in mir hinterließ. Dieses großartige und allem Anscheine nach überaus komplizierte Ereignis hat sich nämlich gleichfalls auf eine erstaunlich einfache Weise abgespielt: es war da alles schon seit tausend Jahren vorgesehen und festgesetzt, alles bis in die kleinste Einzelheit, in fast zweihundert Bänden des Zeremoniells. Als ich nun die ganze Größe dieses chinesischen Ereignisses mit meiner Ernennung zum Redakteur verglich, – empfand ich plötzlich eine gewisse Undankbarkeit für unsere vaterländischen Einrichtungen, ungeachtet dessen, daß man mich so leicht bestätigt hatte, und ich dachte bei mir, daß es für uns, d. h. für mich und den Fürsten Meschtscherski, in China ganz unvergleichlich leichter wäre als hier, den „Bürger“ herauszugeben. Dort ist alles so klar ... Wir würden uns beide an dem bestimmten Tage auf dem dortigen Hauptamt für die Presseangelegenheiten einfinden und vertreten. Nachdem wir mit der Stirn auf den Fußboden gestoßen und diesen mit der Zunge geleckt, würden wir aufstehen, die Zeigefinger vor uns in die Höhe heben und zugleich ehrfurchtsvoll die Köpfe neigen. Der Hauptgewalthaber in Sachen der Presse würde natürlich keine Miene verziehen und tun, als schenke er uns nicht die geringste Beachtung, wie irgendwelchen hereingeflogenen zwei Fliegen. Doch der dritte Gehilfe seines dritten Sekretärs würde sich hierauf erheben und, das Diplom meiner Ernennung zum Redakteur in der Hand, mit eindringlicher, jedoch freundlicher Stimme die von den Gesetzen des Zeremoniells hierfür bestimmte Belehrung aufsagen, – eine an sich so klare und so verständliche Belehrung, daß uns beiden das Anhören derselben unsagbar angenehm wäre. Und im Falle ich in China so dumm und so reinen Herzens wäre, daß ich, der Schwäche meiner Fähigkeiten mir wohl bewußt, nun, wo ich mich zur Übernahme einer Schriftleitung anschickte, Angst und Gewissensbisse verspürte, so würde mir sofort bewiesen werden, daß ich doppelt dumm sei, wenn ich solche Empfindungen hegte. Daß ich vielmehr von eben diesem Augenblicke an überhaupt keinen Verstand brauchte, selbst wenn ich einen hätte! Ja, es sei sogar, im Gegenteil, unvergleichlich zuverlässiger, wenn gar keiner vorhanden sei. So etwas aber wäre doch – ohne Zweifel – wirklich höchst angenehm zu hören. Und nachdem der dritte Gehilfe des dritten Sekretärs mit den schönen Worten die Rede geschlossen: „Gehe hin, Redakteur, von nun an kannst du mit neuer Gewissensruhe Reis essen und Tee trinken,“ würde er mir ein schönes Diplom, das auf rotem Atlas mit goldenen Lettern gedruckt ist, überreichen. Fürst Meschtscherski würde eine schwerwiegende Sportel aus seiner Hand gleiten lassen, und dann würden wir beide, nach Hause zurückgekehrt, sogleich die prachtvollste Nummer des „Bürger“ herausgeben, eine, wie wir sie hier niemals herausgeben werden. In China würde es uns vortrefflich gelingen.

Allein ich argwöhne, daß in China Fürst Meschtscherski mich unbedingt mit einem Hintergedanken aufgefordert haben würde, Redakteur zu werden, nämlich hauptsächlich zu dem Zweck, um sich von mir auf dem Hauptamt der Presseangelegenheiten stets dann vertreten zu lassen, wenn er ersucht wird, sich dort einzufinden, um Schläge mit Bambusstäben auf die Fußsohlen in Empfang zu nehmen. Doch ich würde ihn dort schnell überlisten: ich würde sofort aufhören, den „Bismarck“[94] weiter zu drucken, dafür aber selbst vorzügliche Artikel schreiben, – so daß man mich höchstens nach jeder zweiten Nummer zu den besagten Bambusstäbchen rufen würde. Dafür würde ich aber lernen, Artikel zu schreiben.

Dort in China würde ich vorzüglich schreiben; hier ist das bedeutend schwieriger. Dort ist alles vorgesehen und alles vorausberechnet schon auf tausend Jahre; hier dagegen geht alles drunter und drüber noch auf tausend Jahre. Dort würde ich sogar unwillkürlich verständlich schreiben; so daß ich eigentlich nicht weiß, wer meine Artikel überhaupt lesen würde. Hier dagegen ist es, wenn man gelesen werden will, sogar weit ratsamer, unverständlich zu schreiben. Nur in den „Moskauer Nachrichten“ werden die Leitartikel anderthalb Spalten lang geschrieben und sind – sonderbar! – dennoch verständlich; allerdings nur, wenn sie von der bekannten Feder herrühren[95]. In der „Stimme“ dagegen werden sie in einer Länge von acht, von neun, von zwölf und selbst von dreizehn Spalten geschrieben. Daraus ersieht man, wieviel Spalten man hier verschwenden muß, um es durchzusetzen, daß man geachtet wird[96].

Das Sprechen mit anderen, – das ist bei uns eine ganze Wissenschaft. D. h., auf den ersten Blick mag es ja scheinen, daß es hier dasselbe sei wie in China: ganz wie dort gibt es auch bei uns einzelne sehr vereinfachte und rein wissenschaftliche Bräuche. Früher, zum Beispiel, bedeuteten die Worte „ich verstehe nichts davon“ nur, daß der Betreffende, der sie aussprach, dumm war; hingegen jetzt – jetzt bringen sie einem die größte Ehre ein. Man braucht neuerdings nur mit offener Miene und stolz zu sagen: „Ich verstehe nicht die Religion, ich verstehe nichts von Rußland, ich verstehe so gut wie nichts von der Kunst“ – und Sie stellen sich damit sogleich auf eine ganz außergewöhnliche Höhe. Und das ist besonders vorteilhaft, wenn Sie tatsächlich nichts verstehen.

Doch diese vereinfachte Manier beweist nichts. Im Grunde verdächtigt bei uns ein jeder den anderen der Dummheit, ohne jedes Nachdenken und ohne die Frage auch an sich selbst zu richten: „Oder sollte, in der Tat, nicht gerade ich dumm sein?“ Also ein alle befriedigender Zustand, wie man meinen sollte, und doch, siehe da, ist niemand mit ihm zufrieden, sondern alle ärgern sich. Aber Nachdenken in unserer Zeit ist ja auch fast unmöglich: kostet zuviel. Man kauft lieber fertige Ideen. Die werden überall verkauft, sogar unentgeltlich; doch gerade unentgeltlich kommen sie noch teurer zu stehen, und das beginnt man schon zu ahnen. Das Ergebnis ist also: überhaupt kein Gewinn, sondern die Unordnung herrscht nach wie vor.

Freilich, wir sind ein ebensolches China, bloß ohne seine Ordnung. Wir fangen kaum erst mit dem an, was in China schon beendet wird. Zweifellos werden wir einmal zu demselben Ende kommen, aber wann? Um tausend Bände „Zeremonien“ anzunehmen, zwecks endgültiger Erwerbung des Rechts, über nichts mehr nachdenken zu müssen, – dazu müssen wir noch mindestens ein Jahrtausend des Nachdenkens durchleben. Und was sehen wir? – niemand will den Ablauf der Frist beschleunigen, denn niemand will nachdenken.

Hinwiederum: wenn niemand nachdenken will, so muß doch, sollte man meinen, der russische Schriftsteller es um so leichter haben. Ja, das ist allerdings der Fall; und wehe dem Schriftsteller und dem Herausgeber, der in unserer Zeit nachdenkt! Noch schlimmer erginge es dem, der selber lernen und begreifen wollte; doch am schlimmsten ist der daran, der das aufrichtig eingesteht; und wenn er dann gar erklärt, daß er manches schon ein wenig begriffen habe und seinen Gedanken nun aussprechen wolle, so wird er im Handumdrehen von allen verlassen. Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als sich irgendein passendes Menschlein herauszusuchen oder ein solches womöglich zu mieten und sich nur mit diesem Menschen zu unterhalten; vielleicht nur für ihn allein die Zeitschrift herauszugeben.

Eine höchst widerwärtige Lage, denn das ist doch ebensogut wie mit sich selbst sprechen und die Zeitschrift nur zum eigenen Vergnügen herausgeben. Ich vermute stark, daß der „Bürger“ noch lange mit sich allein zum eigenen Vergnügen wird sprechen müssen. Und da bedenke man meinetwegen nur dies Eine, daß nach der medizinischen Wissenschaft Gespräche mit sich selbst Anlage zum Irrsinn bedeuten. Der „Bürger“ muß aber doch unbedingt mit Bürgern sprechen und eben darin besteht sein ganzes Unglück!

Nun wohl, einem solchen Unternehmen habe ich mich jetzt angeschlossen. Meine Lage ist im höchsten Maße unbestimmt. Ich werde also mit mir selbst sprechen und nur zu meinem Vergnügen, – in der Form dieses „Tagebuchs“, gleichviel was dabei herauskommt. Wovon ich sprechen werde? Von allem, was mir auffällt oder was mich zum Nachdenken zwingt. Sollte ich aber einen Leser finden oder – Gott behüte! – gar einen Opponenten, so weiß ich doch, daß man eine Unterhaltung zu führen verstehen und stets wissen muß, mit wem man und wie man spricht. Das zu erlernen werde ich mir Mühe geben, denn bei uns ist das ja am schwersten, ich meine: in der Literatur. Zudem gibt es ja auch verschiedene Opponenten: nicht mit jedem kann man ein Gespräch anfangen. Ich will hierzu eine Fabel erzählen, die ich vor ein paar Tagen hörte. Man sagte mir, es sei eine uralte Fabel, womöglich indischen Ursprungs, was überaus beruhigend ist.

Einmal geriet ein Schwein mit einem Löwen in Streit und forderte ihn zum Duell. Nach Hause zurückgekehrt, besann es sich und bekam Angst. Die ganze Herde versammelte sich, man dachte nach und beschloß also:

„Sieh’, Schwein, hier in der Nähe ist eine gewisse Grube; geh’ hin, wälze dich gründlich in ihr herum und erscheine dann so auf dem Kampfplatz. Du wirst sehen.“

Das Schwein tat wie ihm geheißen. Der Löwe kam, schnupperte, zog die Nase kraus und ging weg. Noch lange nachher rühmte sich das Schwein, daß der Löwe Angst bekommen habe und vom Kampfplatz weggelaufen sei.

Dies die Fabel. Natürlich, Löwen gibt es bei uns nicht, – das Klima ist nicht danach; und es wäre auch gar zu großartig. Doch setzen Sie an die Stelle des Löwen einen anständigen Menschen, der zu sein eines jeden Pflicht ist, und die Moral ist dieselbe.

Übrigens, ich will hier noch ein kleines Erlebnis erzählen.

Einmal, während eines Gesprächs mit dem seligen Herzen[97], äußerte ich mich mit größtem Beifall über eines seiner Werke, – über das Buch „Vom anderen Ufer“. Über dieses Buch hat sich zu meiner aufrichtigen Freude auch M. P. Pogodin[98] – in einem ausgezeichneten und interessanten Artikel über seine Zusammenkunft mit Herzen im Auslande – durchaus lobend geäußert. Dieses Buch ist in der Form eines Gesprächs zwischen dem Autor und seinem Widerpart geschrieben.

„Und besonders gefällt mir daran,“ bemerkte ich unter anderem, „daß Ihr Opponent gleichfalls sehr klug ist. Sie müssen doch zugeben, daß er Sie in vielen Fällen an die Wand drückt.“

„Ja, eben darin liegt ja der ganze Witz,“ sagte Herzen lachend. „Warten Sie, ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen. Einmal, als ich in Petersburg war, schleppte mich Bjelinski zu sich, ich mußte mich hinsetzen und einen Artikel anhören, an dem er gerade mit Eifer schrieb: ‚Ein Gespräch zwischen Herrn A. und Herrn B.‘ (Der Artikel ist später in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen worden.) In diesem Artikel ist Herr A., natürlich Bjelinski selbst, als ein sehr kluger Mensch gezeichnet, Herr B. dagegen, sein Opponent, als etwas weniger klug. Als er geendet hatte, fragte er mich in fieberhafter Erwartung:

„Nun, was, wie findest du’s?“

„Tja, gut, ganz gut, und man sieht, daß du sehr klug bist, nur – was macht dir denn das für einen Spaß, mit einem solchen Dummkopf deine Zeit zu vergeuden?“

Bjelinski warf sich auf den Diwan, mit dem Gesicht aufs Kissen, und schrie, fast erstickend vor Lachen:

„Erschlagen! Erschlagen!“

Menschen von damals[99].

Diese Anekdote von Bjelinski erinnert mich an mein erstes Auftreten in der Literatur vor Gott weiß wieviel Jahren; eine traurige, für mich verhängnisvolle Zeit. Mir fällt gerade Bjelinski selbst ein, wie er damals war, als ich ihn kennen lernte, und wie er mich zum erstenmal empfing[100]. Mir fallen jetzt oft Menschen von damals ein, natürlich deshalb, weil ich jetzt oft auf Menschen von heute stoße. Bjelinski war die begeisterungsfähigste Persönlichkeit von allen, die mir in meinem Leben je begegnet sind. Herzen war etwas ganz anderes: Der war ein Produkt unseres Herrentums, war vor allen Dingen gentilhomme russe et citoyen du monde,[59] – ein Typ, der nur in Rußland erschienen ist und der auch außer in Rußland nirgendwo hätte erscheinen können. Herzen ist nicht emigriert, er hat nicht die Grundlage zur russischen Emigration gelegt, – nein, er war einfach schon als Emigrant geboren. Sie sind ja alle, alle die von seiner Art und seines Standes, ganz einfach schon als Emigranten bei uns geboren, wenn auch die Mehrzahl von ihnen nie aus Rußland hinausgekommen ist. In den hundertundfünfzig Jahren des verflossenen Lebens unserer russischen Herrenschicht sind – mit sehr wenigen Ausnahmen – die letzten Wurzeln, die diese Schicht in der russischen Erde hatte, vermodert, haben sich ihre letzten Verbindungen mit der russischen Wahrheit gelockert. Herzen ward gleichsam von der Geschichte selbst die Aufgabe zugeteilt, diesen Bruch der ungeheuren Mehrheit unseres gebildeten Standes mit dem Volke in seiner Person wie in einem grellsten Typ darzustellen. In diesem Sinne war er ein historischer Typ. Indem sie sich vom Volke absonderten, verloren sie natürlicherweise auch Gott. Die Unruhigen unter ihnen wurden Atheisten; die Schlaffen und Ruhigen wurden Indifferente. Für das russische Volk empfanden sie einzig und allein Verachtung, bildeten sich aber gleichzeitig ein und glaubten, daß sie es liebten und ihm nur das Beste wünschten. Aber sie liebten es negativ, nämlich indem sie sich statt seiner, wie es wirklich ist, irgendein Idealvolk dachten, das nach ihren Vorstellungen das russische Volk sein sollte. Dieses Idealvolk nahm damals für manche führende Vertreter dieser Mehrheit unwillkürlich die Gestalt des Pariser Pöbels vom Jahre 93 an. Damals war dieser das bezauberndste Ideal eines Volkes. Natürlich mußte Herzen Sozialist werden, und zwar gerade als russischer Junker, d. h. soviel wie ohne jede Not und ohne Ziel, eben nur und einzig aus dem „logischen Fluß der Ideen“ und aus der Herzensleere in der Heimat. Er sagte sich von den Grundlagen der bisherigen Gesellschaft los und war dabei, glaube ich, ein guter Vater und Gatte. Er verneinte das Eigentum, doch vorläufig wußte er sein Vermögen sicherzustellen und empfand im Auslande mit Vergnügen seine materielle Unabhängigkeit. Er stiftete Revolutionen an, spornte andere dazu an, und gleichzeitig liebte er Komfort und Ruhe im eigenen Heim. Er war ein Künstler, ein Denker, ein glänzender Schriftsteller, ein außergewöhnlich belesener Mensch, geistreich, schlagfertig, ein bewundernswerter Unterhalter und Gesellschafter (er sprach sogar noch besser, als er schrieb) und ein prachtvoller Reflekteur. Die Reflexion – ich meine damit die Fähigkeit, aus dem eigenen tiefsten Empfinden ein Objekt zu machen, es vor sich hinzustellen, sich anbetend davor zu verbeugen und sich gleich darauf über dasselbe meinetwegen auch lustig zu machen – war in ihm bis zum höchsten Grade entwickelt. Zweifellos war er ein außergewöhnlicher Mensch; aber was immer er war – ob er da seine Aufzeichnungen schrieb oder mit Proudhon eine Zeitschrift herausgab, oder in Paris auf die Barrikaden ging (was er in seinen Aufzeichnungen so launig geschildert hat); ob er litt oder sich freute oder zweifelte, ob er 1863 den Polen den Gefallen tat und jenen Aufruf an die russischen Revolutionäre schrieb, obschon er gleichzeitig den Polen nichts glaubte und sogar wußte, daß sie ihn betrogen, und wußte, daß er mit seinem Aufruf Hunderte dieser unglücklichen jungen Menschen ins Verderben brachte; ob er das alles später in einem seiner letzten Artikel mit unerhörter Naivität selbst eingestand, ohne auch nur zu argwöhnen, in welch ein Licht er sich mit einem solchen Geständnis selbst stellte – immer und überall und in seinem ganzen Leben war und blieb er vor allen Dingen gentilhomme russe et citoyen du monde, schlechthin ein Produkt der früheren Leibeigenschaft, die er haßte und zu der er doch gehörte, nicht nur durch seinen Vater, den Herrn aus der Leibeigenschaftszeit; sondern eben durch die Entzweiung mit dem Heimatboden und dessen Idealen. Bjelinski dagegen, oh, Bjelinski war keineswegs gentilhomme, oh nein. (Er stammte von Gott weiß wem ab. Sein Vater war, wenn ich nicht irre, Militärarzt.[101])

Bjelinski war eine unreflektierende Natur par excellence, war gerade eine schrankenlos ekstatische Natur, war und blieb das sein ganzes Leben lang. Meine erste Erzählung „Arme Leute“ entzückte ihn (später, fast ein Jahr darauf, gingen wir auseinander – aus verschiedenen Gründen, übrigens aus sehr unwichtigen, in jeder Hinsicht). Damals aber, in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft, als er sich gleich mit ganzem Herzen an mich schloß, beeilte er sich sofort, und zwar mit der treuherzigsten Hast, mich zu seinem Glauben zu bekehren. Ich übertreibe seinen glühenden Drang zu mir, wenigstens in den ersten Monaten unserer Bekanntschaft, nicht im geringsten. Ich lernte ihn als leidenschaftlichen Sozialisten kennen und er begann mit mir sogleich vom Atheismus zu sprechen. Darin sehe ich viel Bezeichnendes, – nämlich seinen erstaunlichen Spürsinn und seine ungewöhnliche Fähigkeit, sich aufs tiefste von einer Idee durchdringen zu lassen. Die Internationale hat ja auch einen ihrer Aufrufe – vor etwa zwei Jahren – unmittelbar mit der bezeichnenden Erklärung begonnen: „Wir sind vor allem eine atheistische Gesellschaft,“ d. h. sie begann sogleich mit dem Kern der Sache, mit dem Wesentlichen; damit begann damals auch Bjelinski. Er, der Vernunft, Wissenschaft und Realismus am höchsten schätzte, begriff doch zu gleicher Zeit tiefer als alle anderen, daß Vernunft, Wissenschaft und Realismus allein – bloß einen Ameisenhaufen erschaffen können, nicht aber eine soziale „Harmonie“, in der es dem Menschen möglich wäre sich einzuleben. Er wußte, daß die Grundlage zu allem – sittliche Grundsätze sind. An die neuen sittlichen Grundlagen des Sozialismus (der übrigens bisher noch keine einzige neue aufgewiesen, sondern nur widerliche Entstellungen der Natur und des gesunden Verstandes hervorgebracht hat), glaubte Bjelinski bis zum Wahnsinn und ohne jede Reflexion; das war bei ihm nichts als eine einzige Ekstase. Doch als Sozialist mußte er natürlich als Erstes das Christentum niederwerfen, – er wußte, daß die Revolution unbedingt mit dem Atheismus zu beginnen hatte. Es galt für ihn also, zunächst die Religion niederzureißen, aus der die sittlichen Grundlagen der von ihm bekämpften Gesellschaft hervorgegangen waren. Familie, Eigentum, sittliche Verantwortlichkeit des Einzelnen – alles das wurde von ihm radikal verneint. (Ich bemerke hierzu, daß er gleichfalls ein guter Gatte und Vater war, ganz wie Herzen.) Zweifellos begriff er, daß er, indem er die sittliche Verantwortung der Persönlichkeit verneinte, eben damit auch ihre Freiheit verneinte; aber er glaubte mit seinem ganzen Wesen (viel blinder als Herzen, der, wenn ich nicht irre, zum Schluß zu zweifeln begann), daß der Sozialismus die Freiheit der Persönlichkeit nicht nur nicht zerstöre, sondern, im Gegenteil, diese Freiheit in noch nie dagewesener Großartigkeit wiederherstelle, jedoch auf einer neuen und bereits unerschütterlichen Grundlage[102].

Aber da gab es nun noch die strahlende Persönlichkeit Christi selbst, gegen die der Kampf am schwersten war. Die Lehre Christi mußte er als Sozialist unbedingt zerstören, sie eine falsche und unwissende Menschenliebe nennen, die von der heutigen Wissenschaft und den heutigen ökonomischen Grundlagen schon verurteilt sei; aber – immerhin – es blieb das lichte Bild des Gottmenschen, seine sittliche Unerreichbarkeit, seine wunderbare und wunderwirkende Schönheit. Doch Bjelinski blieb in seiner ununterbrochenen, unerlöschlichen Ekstase selbst vor diesem unüberwindlichen Hindernis nicht stehen, wie Renan es noch tut, der in seinem von Unglauben erfüllten Buch „Vie de Jésus[60] dennoch sagt, daß Christus das Ideal der menschlichen Schönheit sei, eine unerreichbare Gestalt, deren Wiederholung auch in der Zukunft schon nicht mehr möglich wäre.

„Ja, wissen Sie auch,“ rief Bjelinski damals an einem Abend mit seiner heiseren Stimme mir zu (er konnte manchmal eigentümlich kreischen, besonders wenn ihn irgend etwas sehr erregte), „wissen Sie auch, daß man dem Menschen nicht seine Sünden anrechnen und ihn mit Schulden und hingehaltenen Backen belasten darf, wenn die Gesellschaft so gemein eingerichtet ist, daß sie es dem Menschen unmöglich macht, keine Übeltaten zu begehen, wenn er ökonomisch zum Verbrechen geführt wird, und daß es sinnlos und grausam ist, vom Menschen etwas zu verlangen, was er schon auf Grund der Naturgesetze nicht erfüllen kann, selbst wenn er es wollte ...“

An diesem Abend waren wir nicht allein; einer seiner Freunde, den er überaus achtete und auf dessen Urteil er viel gab, war gleichfalls bei ihm; und außer diesem war noch ein ganz junger Schriftsteller zugegen, der erst später in der Literatur bekannt geworden ist.

„Wissen Sie, ich bin immer ordentlich gerührt, wenn ich ihn so ansehe,“ unterbrach plötzlich Bjelinski seinen wütenden Ausbruch, indem er sich zu seinem Freunde wandte und dabei auf mich wies; „jedesmal, wenn ich so wie jetzt von Christus rede, verändert sich sein ganzes Gesicht, als wolle er gleich zu weinen anfangen ... Aber so glauben Sie mir doch, Sie naiver Mensch,“ fiel er wieder über mich her, „so glauben Sie es doch, daß Ihr Christus, wenn er in unserer Zeit geboren wäre, sich als der unauffälligste und gewöhnlichste Mensch erweisen würde; er verschwände nur so angesichts der heutigen Wissenschaft und der heutigen Beweger der Menschheit.“

„N–n–nein, nicht doch!“ bemerkte da Bjelinskis Freund. (Ich weiß noch, wir anderen saßen, er aber ging im Zimmer auf und ab.) „N–nein: wenn Christus jetzt erschiene, würde er sich der Bewegung anschließen und an ihre Spitze stellen.“

„Nun ja, nun ja,“ stimmte Bjelinski plötzlich und mit erstaunlicher Eilfertigkeit ihm bei. „Er würde sich gerade den Sozialisten anschließen und ihnen folgen.“

Unter jenen „Bewegern der Menschheit“, denen Christus sich anzuschließen hätte, verstand man damals lauter Franzosen: vor allen anderen George Sand, dann den jetzt vollkommen vergessenen Cabet, Pierre Leroux und Proudhon, der gerade erst bekannt zu werden begann. Diese vier wurden von Bjelinski, soweit mir erinnerlich ist, damals am meisten geachtet. Fourier wurde schon längst nicht mehr so geschätzt. Und dann gab es da noch einen Deutschen, den er in jener Zeit auch sehr verehrte: Feuerbach. (Bjelinski, der in seinem ganzen Leben keine einzige fremde Sprache zu erlernen vermochte, sprach den Namen immer „Fijerbach“ aus.) Von Strauß wurde mit Ehrfurcht gesprochen.

Bei einem so warmen Glauben an seine Idee war er natürlich der glücklichste der Menschen. Oh, grundlos hat man später geschrieben, daß Bjelinski, wenn er länger gelebt hätte, zum Slawophilentum übergegangen wäre. Niemals hätte er mit dem Slawophilentum geendet. Bjelinski hätte vielleicht mit der Emigration geendet, wenn er länger gelebt hätte und wenn es ihm gelungen wäre, über die Grenze zu kommen, und würde sich jetzt als kleiner und begeisterter alter Herr mit demselben warmen Glauben, der nicht die geringsten Zweifel zuläßt, irgendwo auf den Kongressen in Deutschland und in der Schweiz herumtreiben, oder sich irgendeiner deutschen Madame Goegg[103] als Adjutant anschließen und für irgendeine Frauenfrage den Laufburschen spielen.

Dieser glückselige Mensch, der eine so erstaunliche Gewissensruhe besaß, war übrigens mitunter sehr traurig, doch diese Trauer war von besonderer Art, – nicht eine Folge von Zweifeln, nicht von Enttäuschungen, oh nein, – sondern ihre Ursache war die Frage: warum nicht heute, warum nicht morgen? Er war der ungeduldigste Mensch in ganz Rußland. Einmal traf ich ihn gegen drei Uhr mittags bei der Snamenski-Kirche. Er sagte mir, er sei spazieren gegangen und gehe nun nach Hause.

„Ich komme oft hierher, um zu sehen, wie der Bau fortschreitet“ (der Bau des Bahnhofs der Nikolai-Bahn, die damals erst gebaut wurde). „Ich erleichtere mir damit wenigstens das Herz, daß ich hier eine Weile stehe und der Arbeit zusehe: endlich wird es auch bei uns wenigstens eine Eisenbahn geben. Sie glauben nicht, wie dieser Gedanke mich manchmal aufatmen läßt!“

Das war heiß und schön gesagt; Bjelinski war nie pathetisch. Wir gingen zusammen weiter. Ich weiß noch, unterwegs sagte er zu mir:

„Ja, erst wenn ich verscharrt sein werde“ (er wußte, daß er schwindsüchtig war), „wird man sich besinnen und gewahr werden, wen man verloren hat.“

In seinem letzten Lebensjahr ging ich bereits nicht mehr zu ihm. Er mochte mich nicht mehr; doch ich nahm damals mit Leidenschaft seine ganze Lehre an. Und wieder ein Jahr später, es war in Tobolsk, als wir in Erwartung unseres ferneren Schicksals im Ostrogg saßen, bis man uns von dort weiter transportierte, gelang es den Frauen der Dekabristen, den Aufseher des Ostrogg durch Bitten zu bewegen, ihnen eine heimliche Zusammenkunft mit uns in seiner Wohnung zu gestatten. Wir sahen diese großen Märtyrerinnen, die freiwillig mit ihren Männern nach Sibirien gegangen waren. Sie hatten alles hingegeben: Adel, Reichtum, Verbindungen und Verwandte, hatten alles geopfert für die höchste sittliche Pflicht, für die freieste Pflicht, die es überhaupt gibt. Sie, die selbst in nichts schuldig waren, ertrugen in langen fünfundzwanzig Jahren alles, was ihre verurteilten Männer zu ertragen hatten. Unser Zusammensein währte eine Stunde. Sie segneten uns auf den neuen Weg, bekreuzigten uns und schenkten einem jeden das Neue Testament – das einzige Buch, das im Ostrogg erlaubt ist. Vier Jahre lang lag es im Zuchthause unter meinem Kopfkissen. Ich las es manchmal und las auch anderen daraus vor. Nach diesem Buch lehrte ich einen jungen Zuchthäusler lesen. Um mich herum waren dort gerade die Menschen, die nach Bjelinskis Glauben ihre Verbrechen nicht hatten nicht begehen können, die also im Recht und nur unglücklicher als die anderen waren. Ich wußte, daß auch das ganze russische Volk uns „Unglückliche“ nannte, und habe diese Benennung selbst unzählige Male von unzähligen Menschen gehört. Aber es war da immer etwas anderes, es war da gar nicht das, wovon Bjelinski sprach und was jetzt zum Beispiel aus manchen Urteilssprüchen unserer Geschworenen hervorklingt. In jenem Worte „Unglückliche“, in jenem Urteilsspruch des Volkes klang ein anderer Gedanke. Vier Jahre Zuchthaus waren eine lange Schule; ich hatte Zeit, mich zu überzeugen ...

Eine der zeitgemäßen Fälschungen[104].

Einige unserer Kritiker haben neuerdings bemerkt, daß ich in meinem letzten Roman „Die Dämonen“ die Geschichte des bekannten Netschajeff-Prozesses[105] benutzt hätte; doch gleichzeitig stellen sie fest, daß eigentliche Porträts oder eine buchstäbliche Verwendung des Falles Netschajeff in meinem Roman nicht enthalten sei; es sei bloß die Erscheinung an sich genommen und ich hätte nur versucht, die Möglichkeit einer solchen in unserer Gesellschaft zu erklären, und zwar schon im Sinne einer gesellschaftlichen Erscheinung, nicht im Sinne einer zufälligen Begebenheit, also sei es nicht eine Darstellung des Moskauer speziellen Falles. Alles dies ist, das sage ich von mir aus, vollkommen richtig. Auf die Person des bekannten Netschajeff wie auf die seines Opfers Iwanoff habe ich in meinem Roman keinen Bezug genommen. Die Gestalt meines Netschajeff gleicht natürlich keineswegs dem wirklichen Netschajeff. Ich wollte nur die Frage aufstellen und dann in der Form eines Romans eine möglichst klare Antwort auf die Frage geben: wie in unserer, in einem Übergangszustande befindlichen und wunderlichen Gesellschaft nicht speziell dieser eine Netschajeff möglich war, sondern wie überhaupt Netschajeffs in ihr möglich sind und auf welche Weise es geschehen kann, daß diese Netschajeffs schließlich Netschajewzen um sich zu sammeln vermögen?

Nun habe ich unlängst – übrigens ist es doch schon einen Monat her – in der „Russischen Welt“ folgende merkwürdige Zeilen gelesen:

„... Der Prozeß Netschajeff hat, wie uns scheint, einen jeden überzeugen können, daß die studierende Jugend bei uns in ähnliche Verrücktheiten nicht verwickelt zu sein pflegt. Ein idiotischer Fanatiker von der Art Netschajeffs konnte seine Proselyten nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend finden.“

Und weiter:

„... um so mehr, als noch vor ein paar Tagen der Minister der Volksaufklärung erklärt hat (in Kiew), er könne nach der Besichtigung der Unterrichtsanstalten in sieben Kreisen nur sagen, daß ‚in den letzten Jahren die Jugend sich unvergleichlich ernster zur Wissenschaft verhalte, viel mehr und unvergleichlich gründlicher arbeite, als früher‘.“

An und für sich sind ja diese Zeilen, d. h. wenn man sie unbezüglich nimmt, ziemlich nichtssagend (ich hoffe, der Verfasser wird mich entschuldigen). Aber sie sind eine Ausrede und enthalten eine alte, schon so zuwider gewordene Lüge. Der ganze Grundgedanke besteht darin, daß, wenn bei uns manchmal auch Netschajeffs auftauchen, diese doch unbedingt alle nur Idioten und Fanatiker seien; und wenn es ihnen auch gelinge, Proselyten zu machen, so geschehe das unbedingt „nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend“. Ich weiß nicht, was der Verfasser dieses kleinen Artikels mit dieser Ausrede eigentlich hat beweisen wollen: vielleicht wollte er der studierenden Jugend schmeicheln? Oder wollte er, im Gegenteil, mittels eines schlauen Manövers und sozusagen in der Form einer Schmeichelei die Jugend ein wenig überlisten, jedoch nur mit den achtbarsten Absichten, nämlich nur zu ihrem eigenen Besten, und da hat er es denn, um den Zweck zu erreichen, mit einem Mittel versucht, das Gouvernanten und Kinderfrauen ihren kleinen Pfleglingen gegenüber anzuwenden pflegen: „Seht, meine lieben Kinderchen, was jene dort für ungezogene Rangen sind, wie sie schreien und wie sie sich prügeln, und sicher werden sie dafür Ruten bekommen, daß sie so ‚unreif‘ sind; ihr aber seid so liebe, artige Kinderchen, sitzt bei Tische hübsch gerade, schlenkert nicht mit den Beinchen unter dem Tisch, und dafür werdet ihr auch bestimmt etwas Schönes bekommen“. Oder vielleicht hat der Verfasser unsere studierende Jugend vor der Regierung „verteidigen“ und zu dem Zweck einen Kunstgriff anwenden wollen, den er vielleicht selber für ungemein schlau und fein hält?

Doch ich sage offen: obschon ich alle diese Fragen gestellt habe, erwecken die persönlichen Absichten des Verfassers doch nicht das geringste Interesse in mir. Und ich füge sogar hinzu, um die Entschuldigung gleich abzutun, daß ich geneigt bin, die Lüge und die alte faule Ausrede, die in jenem Artikel zum Ausdruck kommen, im vorliegenden Fall für etwas Unbeabsichtigtes und Zufälliges zu halten, d. h. ich glaube, daß der Verfasser sich selbst von seinen Worten hat überzeugen lassen und sie für wahr hält – mit jenem höheren Biedersinn, der so löblich und in jedem anderen Fall durch seine Harmlosigkeit sogar rührend ist. Doch abgesehen davon, daß eine Lüge, die für Wahrheit gehalten wird, immer die gefährlichste Lüge ist (selbst dann, wenn sie in der „Russischen Welt“[106] erscheint), – es fällt einem außerdem sofort auch dies auf, daß sie noch nie in so nackter, bestimmter und ungeprüfter Gestalt aufgetreten ist, wie in diesem kleinen Artikel. In der Tat, man sagt ja auch: zwinge einen anderen Menschen zum Beten und er schlägt sich die Stirn ein[107]. Gerade in dieser Gestalt aber ist die Lüge interessant zu untersuchen und nach Möglichkeit aufzudecken. Hinzu kommt, daß man doch nicht weiß, wie lange man wird warten müssen, bis man wieder einmal auf eine so ungeprüfte Aufrichtigkeit stößt!

Da ist es nun von der liberalen Presse schon seit unseren uralten pseudo-liberalen Zeiten zur Regel erhoben, „die Jugend zu verteidigen“. Gegen wen? gegen was? – das bleibt meist im Dunkel der Ungewißheit und auf die Weise bekommt das ganze Vorgehen oft etwas überaus Sinnloses und sogar höchst Komisches, besonders bei Angriffen auf andere Organe der Presse in dem Sinne von: „Seht, wir sind liberaler, ihr aber fallt über die Jugend her, folglich seid ihr reaktionärer.“ Ich bemerke hierzu in Klammern, daß derselbe kleine Artikel der „Russischen Welt“ eine Anschuldigung enthält, die im besonderen gegen den „Bürger“ gerichtet ist: angeblich weil in ihm unsere studierende Jugend in Petersburg, Moskau und Charkoff ausnahmslos angeklagt werde. Ich will mich nicht weiter dabei aufhalten, daß der Verfasser des Artikels selbst ganz vorzüglich weiß, daß es in unserem Blatt nichts, was einer allgemeinen und ausnahmslosen Anklage auch nur ähnlich wäre, gegeben hat noch gibt, sondern bitte unseren Ankläger nur zu erklären: was heißt das, die Jugend ausnahmslos anklagen? Ich verstehe diesen Satz überhaupt nicht! Das soll natürlich heißen, daß wir aus irgendeinem Grunde die ganze Jugend ohne Ausnahme nicht lieben, – und nicht einmal so sehr die Jugend überhaupt, als gerade ein gewisses Alter unserer jungen Menschen? Was ist das für ein Unsinn! Wer kann eine solche Anklage ernst nehmen? Es ist klar, daß sowohl die Anklage wie die Verteidigung mit größter Oberflächlichkeit geschrieben worden sind, ohne daß man sich viel dabei gedacht hätte. Ja, eben: „Lohnt es sich denn überhaupt, darüber nachzudenken? Ich habe gezeigt, daß ich selbst liberal bin, daß ich die Jugend lobe und diejenigen schelte, die sie nicht loben, na und damit ist der Artikel fertig und ist’s abgetan!“ Ja, eben: und ist’s abgetan; denn nur der schlimmste Feind unserer Jugend könnte sich entschließen, sie auf die Weise zu verteidigen, – und dabei auf eine so erstaunliche Ausrede verfallen (unvermutet, ungewollt – davon bin ich jetzt überzeugter denn je), wie der harmlose Verfasser des kleinen Artikels in der „Russischen Welt“.

Die ganze Wichtigkeit des Falles besteht nur darin, daß dieses Verfahren nicht eine Erfindung bloß der „Russischen Welt“ ist, sondern von vielen Organen unserer pseudo-liberalen Presse angewandt wird, von diesen aber geschieht das vielleicht nicht mehr so aus reiner Einfalt. Das Wesen dieses Verfahrens besteht erstens: im ausnahmslosen Lob der Jugend, und zwar in jeder Beziehung und in jedem Fall; und zweitens: in plumpen Angriffen auf alle anderen, die sich in dem einen oder anderen Fall erlauben, sich auch zu der Jugend kritisch zu verhalten. Aufgebaut ist dieses Verfahren auf der lächerlichen Annahme, daß die Jugend noch so unreif sei und Lob so liebe, daß sie nichts zu unterscheiden verstehe und alles für bare Münze nehme. Und in der Tat, sie haben erreicht, daß schon sehr viele unter der Jugend (wir glauben fest, daß es bei weitem nicht alle sind) an plumpem Lob wirklich Geschmack gefunden haben, daß sie nun schon Schmeichelei verlangen und bereit sind, alle diejenigen, die ihnen nicht ausnahmslos und auf Schritt und Tritt, besonders aber in gewissen Fällen, Beifall spenden, ohne Unterschied anzuklagen. Übrigens ist das vorläufig nur ein zeitweiliger Übelstand; mit zunehmender Erfahrung und zunehmendem Alter werden sich die Anschauungen auch dieser Jugend ändern. Aber es gibt noch eine andere Seite der Lüge, die bereits unmittelbaren und wesentlichen Schaden stiftet.

Diese andere Seite der „Verteidigung unserer Jugend vor der Gesellschaft und vor der Regierung“ nach besagtem Verfahren besteht in einfacher Verneinung der Tatsache, – in einer bisweilen überaus plumpen und frechen Verleugnung: „Nein,“ heißt es, „die Tatsache gibt es nicht und hat es nie gegeben, ja, hat es gar nicht geben können; wer das Gegenteil behauptet, verleumdet die Jugend, ist also ein Feind der Jugend!“

Dies die Manier. Ich wiederhole: selbst der schlimmste Feind unserer Jugend hätte nichts ersinnen können, das ihren eigensten Interessen schädlicher wäre. Das möchte ich auf alle Fälle beweisen.

Mit der Verneinung der Tatsache um jeden Preis kann man erstaunliche Ergebnisse erreichen.

Nun, was beweisen Sie damit, meine Herrschaften, und um was erleichtern Sie die Sache, wenn Sie zu versichern anfangen (und zwar, was sehr wichtig ist, zu Gott weiß welchem Zweck), daß die Jugend, die sich „hinreißen“ läßt, d. h. jene, die sich „hinreißen“ lassen können (meinetwegen selbst von einem Netschajeff), unbedingt nur „müßige, unreife“ Jugend sei, die keineswegs studiert, – mit einem Wort: das seien eben nur Faulenzer mit den schlechtesten Neigungen. Auf die Weise geschieht es, daß Sie, indem Sie den Fall absondern, aus der Sphäre der Studierenden ausschließen und ihn ausschließlich für die „Müßigen und Unreifen“ vorbehalten, eben damit schon im voraus diese Unglücklichen anklagen und sich von ihnen endgültig lossagen. „Es ist ihre eigene Schuld, sie waren Raufbolde und Faulenzer und verstanden bei Tisch nicht artig zu sitzen.“ Indem Sie den Fall also absondern und ihm das Recht nehmen, im Zusammenhang mit dem allgemeinen Ganzen untersucht zu werden (eben daraus aber ergibt sich die einzig mögliche Verteidigung der unglücklichen „Verirrten“!), unterschreiben Sie gewissermaßen nicht nur deren endgültige Verurteilung, sondern entfernen von ihnen sogar jedes Erbarmen, denn Sie versichern doch unumwunden, daß die Verirrungen dieser Jugend einzig aus ihren abstoßenden Eigenschaften hervorgingen, und daß diese Jünglinge sogar ohne jedes begangene Verbrechen schon Verachtung und Abscheu erwecken müßten.

Und andererseits: wenn es nun geschähe, daß in einen solchen oder ähnlichen „Fall“ keineswegs nur unreife, ungezogene Jungen, die unter dem Tisch mit den Beinen schlenkern, keineswegs nur Faulenzer verwickelt sind, sondern, im Gegenteil, Jugend, die fleißig ist, voll Glut, die gerade eifrig lernt und sogar ein gutes, reines Herz hat, jedoch nur in eine schlechte Richtung eingestellt ist, was dann? (Beachten Sie und erfassen Sie diesen Ausdruck: in eine Richtung eingestellt. Wo, in welch einem Teil Europas finden Sie jetzt eine größere Unsicherheit in allen nur möglichen Richtungen als bei uns heute!) Ja, dann würden nach Ihrer Theorie, nach der es sich nur um „Unreife und Faulenzer“ handeln könnte, diese neuen „Unglücklichen“ als dreimal schuldiger dastehen, denn: „ihnen waren die Mittel und die Möglichkeiten gegeben, sich richtiges Wissen anzueignen, sie haben den Kursus der Wissenschaften absolviert, sie haben alles von Grund auf durchgearbeitet, – für die gibt es keine Rechtfertigungen! Sie verdienen dreimal weniger Nachsicht als die müßige unreife Jugend!“ Das wäre dann die folgerichtige Konsequenz Ihrer Theorie.


Erlauben Sie, meine Herrschaften (ich spreche jetzt im allgemeinen, nicht nur zu dem einen Mitarbeiter der „Russischen Welt“), – Sie behaupten, auf der Basis der „Verneinung der Tatsache“, daß die „Netschajeffs“ unbedingt Idioten, „idiotische Fanatiker“ sein müssen. Stimmt das nun wieder? Ist das gerecht? Ich lasse nunmehr Netschajeff selbst ganz aus dem Spiel und spreche von den „Netschajeffs“, im Plural. Ja, unter den Netschajeffs kann es überaus finstere, überaus unerfreuliche und entartete Geschöpfe geben, mit einer – hinsichtlich des Ursprungs sehr komplizierten, vielfach zusammengesetzten – großen Lust an Intrigen, mit Machtgier, mit einem leidenschaftlichen und krankhaft frühen Bedürfnis, sich als Persönlichkeit zu zeigen, aber – warum sollen sie deshalb „Idioten“ sein? Im Gegenteil, sogar richtige Monstra unter ihnen können geistig sehr entwickelte, äußerst schlaue und auch gebildete Menschen sein. Oder glauben Sie, das bestandene Examen, das Schulwissen, (ja selbst Universitätswissen) forme die Seele des Jünglings schon so endgültig, daß er mit dem Empfang des Diploms zugleich und für immer einen unerschütterlichen Talisman erhält, der ihn die Wahrheit sofort unfehlbar erkennen läßt und vor allen Versuchungen, Leidenschaften und Lastern schützt? Somit würden ja Ihrer Meinung nach alle diese Jünglinge mit dem bestandenen Schlußexamen zu einer Art unzähliger kleiner Päpste werden, die allesamt unfehlbar sind.

Und warum nehmen Sie an, daß die Netschajeffs unbedingt Fanatiker sind? Sehr oft sind das einfach Spitzbuben. „Ich bin ein Spitzbube, aber kein Sozialist,“ sagt ein Netschajeff allerdings nur bei mir, in meinem Roman, aber ich versichere Ihnen, daß er das ebensogut in der Wirklichkeit sagen könnte. Es sind das Spitzbuben von großer Schlauheit, die gerade die großmütige Seite der Menschenseele, am häufigsten der jungen Seele, studiert haben, um dann auf ihr wie auf einem Musikinstrument zu spielen. Ja glauben Sie denn im Ernste, daß die Proselyten, die irgendein Netschajeff bei uns machen könnte, unbedingt ausnahmslos Faulenzer und Nichtstuer sein müssen? Ich glaube das nicht; nicht alle würden das sein; ich bin selbst ein alter „Netschajewze“, ich stand gleichfalls auf dem Schafott, zum Tode verurteilt, und ich versichere Ihnen, daß ich in einem Kreise von gebildeten Menschen dort stand. Die Angehörigen dieses Kreises hatten fast alle die ersten Hochschulen beendet. Einige von ihnen haben sich später, als alles das schon der Vergangenheit angehörte, durch besondere Spezialkenntnisse, durch Werke hervorgetan. Nein, mit Verlaub, die Netschajewzen rekrutieren sich nicht immer nur aus Faulenzern, die überhaupt nichts gelernt haben.

Ich weiß, Sie werden mir nun zweifellos entgegenhalten, daß ich ja gar nicht ein Netschajewze, sondern bloß ein „Petraschewze“ sei. Gut, meinetwegen ein Petraschewze (obschon diese Bezeichnung meiner Ansicht nach unrichtig ist, denn eine unverhältnismäßig größere Anzahl von genau solchen Petraschewzen wie wir, blieb vollkommen unbehelligt und unberührt. Es ist wahr, sie haben Petraschewski selbst nie gekannt, aber auf Petraschewski kam es ja in dieser ganzen längstvergangenen Geschichte gar nicht an – nur das wollte ich hiermit bemerkt haben).

Doch gut, mag ich nur einer von den Petraschewzen gewesen sein. Aber woher wissen Sie denn, ob die Petraschewzen nicht Netschajewzen hätten werden können, d. h. ob sie nicht auch auf den „Netschajewschen“ Weg hätten geraten können, im Falle die Sache die Wendung genommen hätte? Natürlich, damals wäre es ganz unmöglich gewesen, sich auch nur vorzustellen, wie sich die Sache so hätte wenden können? Es waren ja ganz andere Zeiten. Doch erlauben Sie mir, von mir einzelnem zu sagen: ein Netschajeff hätte ich wahrscheinlich niemals werden können, aber ein Netschajewze – dafür verbürge ich mich nicht, vielleicht hätte ich das auch gekonnt ... in den Tagen meiner Jugend.

Ich habe hier von mir gesprochen, um das Recht zu haben, von anderen zu sprechen. Trotzdem werde ich von mir allein fortfahren, von den anderen dagegen werde ich, wenn ich sie einmal erwähne, nur im allgemeinen sprechen, also ganz unpersönlich und nur im abstrakten Sinne. Der Prozeß aber der Petraschewzen, – das ist doch eine so längstvergangene Sache und gehört einer so uralten Zeit an, daß wohl kein Unglück daraus entstehen kann, wenn ich auf ihn zu sprechen komme, um so weniger, als ich ihn ja nur streife und ganz abstrakt davon rede[108].

„Ungeheuer“ und „Spitzbuben“ gab es unter uns, den „Petraschewzen“, nicht einen, weder unter denen, die auf dem Schafott standen, noch unter den anderen, die unbehelligt blieben. Ich glaube nicht, daß sich jemand finden wird, der diese meine Erklärung zu widerlegen versuchen wollte. Daß viele von uns, wie ich schon bemerkte, gebildete Menschen waren, das wird wohl auch niemand bestreiten. Doch mit dem bekannten Zyklus von Ideen und Begriffen, die sich damals in der jungen Gesellschaft stark verwurzelt hatten, den Kampf aufzunehmen, dazu war von uns zweifellos kaum jemand imstande. Wir waren mit den Ideen des damaligen theoretischen Sozialismus infiziert. Den politischen Sozialismus gab es damals noch nicht in Europa und die europäischen Führer der Sozialisten verwarfen ihn sogar.

Louis Blanc ist von seinen Kollegen in der Nationalversammlung, den Abgeordneten der Rechten, ganz unrechterweise geohrfeigt und an den Haaren gezerrt worden (an Haaren, die, wie dazu vorherbestimmt, lang, schwarz und üppig waren), bis ihn Arago (der Astronom, damals Mitglied der Regierung, jetzt schon lange tot) aus den Fängen der anderen herausriß, – an jenem unseligen Vormittage im Mai 1848, als eine Horde ungeduldiger und hungriger Arbeiter in den Sitzungssaal hereinbrach. Der arme Louis Blanc, der eine zeitlang Mitglied der zeitweiligen Regierung war, hatte diese Horde ja gar nicht dazu aufgehetzt: er hatte doch nur im Luxemburg-Palais diesen bedauernswerten und hungrigen Menschen, die infolge der Revolution und Ausrufung der Republik plötzlich arbeitslos geworden waren, einen Vortrag über ihr „Recht auf Arbeit“ gehalten. Freilich, da er immerhin Mitglied der Regierung war, so waren seine Vorträge in gewissem Sinne schrecklich unpolitisch und – versteht sich – auch lächerlich. Die Zeitschrift von Considérant aber, wie die Artikel und Broschüren von Proudhon hatten sich doch zur Aufgabe gemacht, in eben diesen hungrigen und überhaupt nichts besitzenden Arbeitern unter anderem auch einen tiefen Ekel vor dem Erbschaftsrecht zu verbreiten. Zweifellos ist aus alledem (d. h. aus der Ungeduld der hungrigen Menschen, die mit den Theorien einer zukünftigen Seligkeit geschürt und entfacht wurden) in der Folge der politische Sozialismus hervorgegangen, dessen Wesen, trotz aller verkündeten Ziele, vorläufig nur in dem Wunsch der besitzlosen Klassen besteht, die Besitzer allerorts zu plündern, und dann: „mag kommen was kommt“. (Denn in Wirklichkeit ist doch bis heute noch nicht festgestellt, was nun in der zukünftigen Gesellschaft der Ersatz sein wird, sondern beschlossen ist einzig dies: daß das Gegenwärtige einstürzen muß, – und das ist bisher die ganze Formel des politischen Sozialismus).

Doch damals wurde die Sache noch in rosigstem und paradiesisch sittlichem Lichte aufgefaßt. Es ist wirklich wahr, daß der keimende Sozialismus damals sogar von manchen seiner Führer mit dem Christentum verglichen und nur für eine der Zeit und Zivilisation entsprechende Verbesserung und Vervollkommnung desselben gehalten wurde. Alle diese damaligen neuen Ideen gefielen uns in Petersburg ungeheuer, erschienen uns als im höchsten Grade heilig und sittlich und vor allem allgemeinmenschlich, erschienen uns als das zukünftige Gesetz der ganzen Menschheit ohne eine Ausnahme. Wir waren schon lange vor der Pariser Revolution im Jahre 48 dem berauschenden Einfluß dieser Ideen verfallen. Schon im Jahre 1846 war ich in die ganze Wahrheit dieser kommenden „Welterneuerung“ und in die ganze Heiligkeit der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft noch von Bjelinski eingeweiht worden. Alle diese Überzeugungen von der Unsittlichkeit schon der Grundlagen (der christlichen Grundlagen) der gegenwärtigen Gesellschaft, von der Unsittlichkeit der Religion, der Familie; von der Unsittlichkeit des Besitzrechts; alle diese Ideen von einer Aufhebung der Nationalitäten im Namen einer allgemeinen Brüderlichkeit der Menschen, von der Verachtung gegen das Vaterland als den Hemmschuh in der allgemeinen Entwicklung, usw. usw., alles das waren, wie gesagt, solche Einflüsse, die wir nicht bewältigen konnten, ja die, im Gegenteil, unsere Herzen und Gehirne im Namen einer gewissen Großmut erfaßten. Jedenfalls: der Grundgedanke nahm sich erhaben aus und stand, wie es schien, hoch über dem Niveau der damals herrschenden Begriffe. Und gerade das war es, was verführte. Diejenigen von uns, d. h. nicht nur von uns Petraschewzen, sondern von allen damals Angesteckten, die jedoch in der Folge diese ganze verschwärmte Schädlichkeit radikal ablehnten, diese ganze Finsternis und dies Entsetzen, das da für die Menschheit als ihre Erneuerung und Auferstehung vorbereitet wurde, – die von uns kannten damals noch nicht die Ursachen ihrer Krankheit, und deshalb konnten sie auch noch nicht mit ihr kämpfen. Also auf was hin glauben Sie denn, daß wir – wenn auch natürlich nicht alle, so doch wenigstens manche von uns – vor einer Tat wie meinetwegen selbst einem Mord à la Netschajeff zurückgeschreckt wären? – in jener glühenden Zeit, inmitten der Lehren, die die Seele ergriffen, und der erschütternden europäischen Ereignisse, die wir, während wir das Vaterland ganz vergaßen, mit fieberhafter Spannung verfolgten?

Die ungeheuerliche und widerliche Ermordung des Studenten Iwanoff ist von dem Mörder Netschajeff seinen Opfern, den „Netschajewzen“, ganz zweifellos als politische und für die zukünftige „allgemeine und große Sache“ notwendige Tat hingestellt worden. Anderenfalls wäre es ja nicht zu verstehen, wie eine Anzahl Jünglinge (gleichviel wer sie waren), sich zu einem so finsteren Verbrechen bereitfinden konnten. In meinem Roman „Die Dämonen“ habe ich unter anderem auch versucht, jene vielfältigen und verschiedenartigen Beweggründe darzulegen, mit deren Hilfe sogar die treuherzigsten und lautersten Menschen zur Ausführung eines ebenso ungeheuerlichen Verbrechens herangezogen werden können. Und gerade darin liegt ja das Entsetzen, daß man bei uns die schändlichste und abscheulichste Tat begehen kann, manchmal ohne überhaupt ein schändlicher Mensch zu sein! Das ist nicht nur bei uns so, sondern ist in Übergangszeiten in der ganzen Welt so, immer und seit Jahrtausenden, – in Zeiten der Erschütterungen im Leben der Menschen, in Zeiten der Zweifel und Verneinungen, der Skepsis und des Schwankens in den grundlegenden gesellschaftlichen Überzeugungen. Aber bei uns ist das noch mehr als sonstwo möglich, und zwar gerade heutigestags, und dieser Zug ist der krankhafteste und traurigste Zug unserer gegenwärtigen Zeit. In der Möglichkeit, sich selbst nicht für einen schändlichen Menschen zu halten und manchmal sogar fast wirklich kein schändlicher Mensch zu sein, während man gleichzeitig eine ganz offenbare, unbestreitbare Schändlichkeit begeht – sehen Sie, darin besteht unser gegenwärtiges Unglück!

Wodurch ist denn die Jugend im Vergleich mit den anderen Altersstufen so besonders geschützt oder gesichert, daß Sie, meine Herren Verteidiger der Jugend, von ihr, kaum daß sie gearbeitet und fleißig gelernt hat, schon gleich eine Festigkeit und eine Reife der Überzeugungen verlangen dürfen, wie sie ja nicht einmal die Väter dieser Jünglinge gehabt haben, jetzt aber noch weniger haben als je zuvor? Unsere jungen Menschen aus unseren intelligenten Ständen, die in ihren Familien herangewachsen sind, in denen man jetzt am häufigsten Unzufriedenheit, Ungeduld und die gröbste Unwissenheit findet (ungeachtet der Zugehörigkeit dieser Klassen zur Intelligenz) und wo fast allenthalben die wirkliche Bildung nur durch nachgeplapperte freche Verneinung aufs Geratewohl ersetzt wird; wo die materiellen Beweggründe die Oberherrschaft über jede höhere Idee haben; wo die Kinder ohne Basis außerhalb der natürlichen Wahrheit erzogen werden, in Nichtachtung oder Gleichgültigkeit zum Vaterlande und in dieser spottenden Verachtung des Volkes, die sich in der letzten Zeit so besonders verbreitet hat, – ist das nun der Bronnen, aus dem unsere jungen Menschen die Wahrheit und Fehlerlosigkeit der Richtung ihrer ersten Schritte im Leben schöpfen könnten? Sehen Sie, hier liegt der Anfang des Übels: in der Überlieferung, in der Vererbung der Ideen, in der Jahrhunderte alten, nationalen Unterdrückung jedes unabhängigen Gedankens, in der Vorstellung von dem hohen Rang des Europäers unter der unerläßlichen Bedingung der Nichtachtung für sich selbst als russischen Menschen!


Doch Sie werden diesen gar zu allgemeinen Hinweisen wahrscheinlich keinen Glauben schenken. „Bildung“, wiederholen Sie immer wieder, „Fleiß“; und Sie bleiben bei Ihrer Phrase von den müßigen „Unreifen“. Beachten Sie wohl, meine Herren, daß diese unsere höheren europäischen Lehrer, diese unsere Hoffnung und unser Licht, alle diese Mill, Darwin und Strauß, mitunter eine höchst wunderliche Auffassung von den sittlichen Pflichten des Menschen unserer Zeit haben. Und dabei sind das doch schon wirklich keine Faulenzer, die nichts gelernt haben, und keine ungezogenen Kinder, die mit den Beinen unterm Tisch schlenkern. Sie werden nun auflachen und mich fragen: warum es mir denn einfällt, gerade diese Namen anzuführen? Ganz einfach, weil, wenn man von unserer Jugend spricht, von der intelligenten, glühenden und lernenden Jugend, die Vorstellung fast undenkbar ist, daß diese Namen ihr nicht schon bei den ersten Schritten ins Leben begegnet sein könnten. Kann denn der russische Jüngling dem Einfluß dieser Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens, sowie dem Einfluß anderer, ihnen ähnlicher Führer, und besonders der russischen Seite ihrer Lehren gegenüber gleichgültig bleiben? Diesen komischen Ausdruck von der „russischen Seite ihrer Lehren“ verzeihe man mir schon deshalb, weil es diese russische Seite dieser Lehren tatsächlich gibt. Sie besteht aus jenen Schlußfolgerungen in Gestalt unerschütterlicher Axiome, wie sie nur in Rußland gezogen werden; in Europa dagegen wird selbst die Möglichkeit solcher Schlußfolgerungen, wie man hört, nicht einmal für möglich gehalten. Man wird mir nun vielleicht sagen, daß diese Herrschaften keineswegs Böses lehren; daß, wenn z. B. Strauß Christus auch haßt und die Verspottung und Bespeiung des Christentums sich auch zum Lebensziel gesetzt hat, er doch gleichzeitig die Menschheit im ganzen vergöttert, und daß seine Lehre so erhaben und edel ist, wie nur denkbar. Es ist sehr gut möglich, daß alles das sich wirklich so verhält, und daß die Ziele aller gegenwärtigen Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens menschenfreundlich und großartig sind. Doch dafür scheint mir folgendes unzweifelhaft zu sein: daß, wenn man allen diesen gegenwärtigen höheren Lehrern die volle Möglichkeit gäbe, die alte Gesellschaft zu zerstören und eine neue aufzubauen, – eine solche Finsternis entstünde, ein solches Chaos, etwas dermaßen Rohes, Blindes und Unmenschliches, daß das ganze Gebäude unter den Flüchen der Menschen zusammenbrechen würde, noch bevor es vollendet wäre. Wenn der Menschenverstand erst einmal Christus verworfen hat, kann er zu erstaunlichen Resultaten kommen. Das ist ein Axiom. Europa lehnt, – wenigstens in den höheren Vertretern seines Gedankens, – Christus ab, wir aber sind bekanntlich verpflichtet, Europa nachzuahmen.

Es gibt im Leben der Menschen historische Momente, wo ein unzweifelhaftes, freches, rohestes Verbrechen nur für Seelengröße gelten kann, nur für edle Mannhaftigkeit der Menschheit, die sich aus den Ketten reißt. Bedarf es hierzu wirklich noch der Anführung von Beispielen, gibt es deren nicht Tausende, nicht Zehn-, nicht Hunderttausende? Das ist natürlich ein verzwicktes und unbegrenzbares Thema und in einem Feuilletonartikel ist es sehr schwer, darauf einzugehen, aber immerhin kann man, als Resultat, denke ich, auch meine Annahme zulassen: daß sogar ein ehrlicher, auch ein treuherziger Junge, sogar ein gut lernender, sich mitunter in einen Netschajewzen verwandeln kann ... selbstverständlich: wenn er auf einen Netschajeff stößt; das ist schon sine qua non ...

Wir, wir Petraschewzen, standen auf dem Schafott und hörten die Verlesung unserer Verurteilung ohne die geringste Reue an. Selbstverständlich kann ich mich nicht für alle verbürgen; aber ich glaube, daß ich mich nicht irre, wenn ich sage, daß damals, in jenen Minuten, wenn auch nicht alle ohne Ausnahme, so doch mindestens die übergroße Mehrzahl von uns es für eine Ehrlosigkeit gehalten hätte, sich von ihren Überzeugungen loszusagen. Dieser ganze Prozeß gehört nun schon einer alten Vergangenheit an und darum ist es vielleicht schon gestattet, zu fragen: waren dieser Starrsinn und diese Reuelosigkeit wirklich nur die Anzeichen schlechter Naturen, waren sie das Kennzeichen unreifer Raufbolde? Nein, wir waren keine Raufbolde, ja vielleicht waren wir nicht einmal schlechte junge Menschen. Die Verlesung des Urteils, das auf Tod durch Erschießen lautete, erfolgte durchaus nicht wie zum Scherz, sondern in allem Ernst; fast alle Verurteilten waren überzeugt, daß das Urteil unfehlbar vollstreckt werden würde und ertrugen mindestens zehn furchtbare, maßlos schreckliche Minuten der Erwartung des Todes. In diesen letzten Minuten haben manche von uns (ich weiß das bestimmt), indem sie sich instinktiv in sich selbst versenkten und in einem Augenblick ihr ganzes noch so junges Leben durchprüften, – vielleicht auch manch ein schweres Vergehen bereut (eines von jenen, die jeder Mensch sein ganzes Leben lang im geheimen auf seinem Gewissen liegen hat); aber die Angelegenheit, für die man uns verurteilte, die Gedanken, die Begriffe, die unseren Geist beherrschten, – die erschienen uns nicht nur nicht reueheischend, sondern geradezu als etwas uns Läuterndes, als ein Märtyrertum, für das uns vieles vergeben werden würde! Und das blieb so für eine lange Zeit. Weder Jahre der Verbannung, noch Leiden brachen uns. Im Gegenteil, nichts brach uns, und unsere Überzeugungen taten nur dies, daß sie unseren Geist durch das Bewußtsein der erfüllten Pflicht aufrecht erhielten. Nein, es war etwas anderes, was unseren Blick, unsere Ansichten, Überzeugungen und Herzen änderte (ich erlaube mir natürlich nur von jenen aus unserer Schar zu sprechen, von denen die Tatsache, daß sie ihre Überzeugungen geändert haben, bereits bekannt und in der einen oder anderen Form auch schon von ihnen selbst bestätigt ist). Dieses andere war: die unmittelbare Berührung mit dem Volke, die brüderliche Vereinigung mit ihm im gemeinsamen Unglück, die Einsicht, daß man selbst zu Volk geworden, mit ihm gleichgestellt, ja sogar auf seine niederste Stufe hinabgedrückt war.

Ich sage nochmals, diese Änderung vollzog sich nicht so schnell, sondern ganz allmählich und erst nach sehr, sehr langer Zeit. Es war nicht Stolz, nicht Eigenliebe, was dem Eingeständnis im Wege stand. Und dabei war ich vielleicht einer von jenen (ich spreche nun wieder von mir allein), denen die Rückkehr zur Volkswurzel, zum Erkennen der russischen Seele, zur Anerkennung des Volksgeistes von Hause aus am meisten erleichtert war. Ich stammte aus einer Familie, die russisch und gottesfürchtig war. Soweit ich überhaupt zurückdenken kann, erinnere ich mich der Liebe meiner Eltern zu mir. Mit dem Evangelium waren wir in unserer Familie bereits seit der frühesten Kindheit vertraut. Schon mit zehn Jahren kannte ich alle wichtigeren Geschehnisse der russischen Geschichte nach dem Werk Karamsins, aus dem uns der Vater abends vorlas. Der Besuch des Kremls und der alten Moskauer Kirchen war für mich stets etwas Feierliches gewesen. Vielleicht hatten die anderen Petraschewzen keine Erinnerungen solcher Art, wie ich sie hatte. Ich denke jetzt sehr oft darüber nach und frage mich: was für Eindrücke mag die heutige Jugend in der Mehrzahl aus ihrer Kindheit ins Leben mitnehmen? Und nun, wenn es sogar mir, der ich schon auf ganz natürliche Weise über jene verhängnisvolle neue Umgebung, in die das Unglück uns hineingeschleudert hatte, nicht hochmütig hinwegsehen konnte, wenn es sogar mir, der ich mich zu der Offenbarung des Volksgeistes vor meinen Augen nicht herablassend verhalten oder sie nur mit einem flüchtigen Blick streifen konnte, – wenn es also auch mir, sage ich, so schwer war, mich schließlich von der Lüge und Unwahrheit fast alles dessen, was wir zu Hause für Licht und Wahrheit gehalten hatten, zu überzeugen, so frage ich mich: wie schwer muß es dann erst den anderen gefallen sein, allen denen, die viel tiefer dem Volk entfremdet waren, die aus Familien stammten, in denen die Entzweiung mit dem Volk ererbt war und schon von den Vätern und Großvätern übernommen wurde?

Es würde mir sehr schwer fallen, die Geschichte der Wandlung meiner Überzeugungen zu erzählen, um so mehr, als sie vielleicht auch gar nicht so interessant ist; und überdies paßt es auch irgendwie nicht zu einem Feuilletonartikel ...


Meine Herren Verteidiger unserer Jugend, prüfen Sie doch schließlich auch das Milieu, prüfen Sie die Gesellschaft, in der diese Jugend aufwächst, und fragen Sie sich dann: gibt es in unserer Zeit überhaupt etwas, das gegen gewisse Einflüsse noch weniger geschützt ist, als diese Jugend?

Stellen Sie zunächst die Frage: wenn selbst die Väter dieser Jünglinge in ihren Überzeugungen nicht besser, nicht fester, nicht gesünder sind; wenn diese Kinder in ihren Familien schon von kleinauf nur Zynismus und hochmütige, gleichgültige (meistenteils gleichgültige) Verneinung erlebt haben; wenn das Wort Vaterland vor ihnen nie anders als mit einem spöttischen Zug um den Mund ausgesprochen worden ist; wenn alle, die sie erzogen, sich zu der Sache Rußlands nur mit Verachtung oder Gleichgültigkeit verhalten haben; wenn die großmütigsten unter ihren Vätern und Erziehern ihnen immer nur „allgemein-menschliche“ Ideen gepredigt haben; wenn schon ihre Kinderwärterinnen davongejagt wurden, weil sie an ihren Wiegen trotz des Verbots das Gebet an die Gottesmutter sprachen, – so sagen Sie doch: was kann man danach von diesen Kindern verlangen, und ist es dann noch human, bei einer Verteidigung der Jugend, wenn sie einer solchen bedarf, das Ganze für sich selbst mit einfacher Leugnung der Tatsache abzutun?

Vor kurzem fiel mir in unserer Tagespresse folgendes Entrefilet auf:

„Die ‚Kama- und Wolga-Zeitung‘ berichtet, daß in diesen Tagen drei Gymnasiasten des zweiten Gymnasiums in Kasan, Quintaner, zur Verantwortung gezogen worden sind wegen eines Vergehens, das mit ihrer geplanten Flucht nach Amerika in Verbindung stand“ ... (St. Petersburger Nachrichten vom 13. November.)

Vor zwanzig Jahren wäre mir die Nachricht, ein paar Gymnasiasten, Quintaner, hätten nach Amerika zu fliehen beschlossen, als unsinniges Geschwätz erschienen. Doch schon in dem einen Umstande, daß eine solche Nachricht mir jetzt nicht mehr als Unsinn erscheint, sondern als eine Sache, die ich, im Gegenteil, verstehe, – ja, schon in diesem einen Umstande sehe ich bereits ihre Rechtfertigung!

Ihre Rechtfertigung! Mein Gott, kann man denn das so sagen!

Ich weiß, das sind nicht die ersten Gymnasiasten, auch andere sind schon vor ihnen geflohen, und zwar, weil wiederum ihre älteren Brüder oder ihre Väter geflohen waren. Erinnern Sie sich der Erzählung Kelssijeffs von dem armen kleinen Offizier, der zu Fuß über Torneo und Stockholm zu Herzen nach London floh, wo dieser ihn in seiner Druckerei als Setzer anstellte?[109] Und erinnern Sie sich der Erzählung Herzens von dem jungen Kadetten, der, wenn ich mich nicht irre, nach den Philippinen auswanderte, um dort die Kommune einzuführen, und Herzen 20000 Franken für die zukünftigen Emigranten übergab?[110] Und solche Fälle gab es schon in einer Zeit, die heute für uns doch bereits längst historisch ist! Und wer ist seitdem nicht schon ausgewandert, um in Amerika „freie Arbeit“ in einem „freien Staate“ zu erproben: Greise, Väter, Brüder, Jungfrauen, Gardeoffiziere ... höchstens Seminaristen hat es unter ihnen vielleicht noch nicht gegeben. Sind nun diese kleinen Kinder anzuklagen, diese drei Gymnasiasten aus der Quinta, wenn die großen Ideen von der „freien Arbeit im freien Staate“ und von der Kommune und vom allgemein-europäischen Menschen auch ihre schwachen Köpfchen überwältigt haben? Sind sie anzuklagen, weil dieses ganze Gewäsch ihnen als Religion und der Absenteismus und der Verrat am Vaterlande als lobsame Tat erschienen? Wenn man sie aber anklagt, dann stelle man doch fest, inwieweit das ihre Schuld war? – das ist doch noch die Frage.

Der Verfasser des kleinen Artikels in der „Russischen Welt“ führt zur Bekräftigung seiner Auffassung, daß an „ähnlichen Verrücktheiten“ nur müßige, unreife Faulenzer beteiligt seien, die schon bekannten und so erfreulichen Worte des Ministers der Volksaufklärung an, die der Minister in Kiew nach der Besichtigung der Unterrichtsanstalten in sieben Kreisen geäußert hat: daß „in den letzten Jahren die Jugend sich unvergleichlich ernster zur Wissenschaft verhalte, viel mehr und unvergleichlich gründlicher arbeite, als früher“.

Ja, das sind natürlich erfreuliche Worte, Worte, die vielleicht unsere einzige Hoffnung enthalten. In der Unterrichtsreform der gegenwärtigen Regierung liegt fast unsere ganze Zukunft und wir wissen das. Aber derselbe Minister hat in derselben Rede, wie ich mich erinnere, auch erklärt, daß man auf die definitiven Früchte der Reform noch lange wird warten müssen. Wir haben immer daran geglaubt, daß unsere Jugend mehr als nur befähigt ist, sich ernster zur Wissenschaft zu verhalten. Doch vorläufig ist rings um uns noch ein solcher Nebel von falschen Ideen, umgeben so viele Vorspiegelungen und Vorurteile sowohl uns wie auch unsere Jugend, und nimmt unser ganzes gesellschaftliches Leben, das Leben der Väter und Mütter dieser Jugend, immer mehr eine so sonderbare Gestalt an, daß man manchmal unwillkürlich nach allen nur möglichen Mitteln sucht, um aus den Zweifeln herauszukommen. Eines von solchen Mitteln ist: selbst etwas weniger herzlos zu sein, sich wenigstens manchmal nicht dessen zu schämen, daß irgend jemand einen deshalb einen Bürger nennt, und ... wenigstens manchmal die Wahrheit zu sagen, – selbst wenn diese nach Ihrer Meinung, meine Herren, nicht genügend liberal ist.

„Tagebuch eines Schriftstellers“
aus dem Jahre 1876.

George Sands Tod[111].

Das vorige Heft des Tagebuches – die Mai-Nummer – war schon gesetzt und wurde bereits gedruckt, als ich in den Zeitungen die Nachricht vom Tode George Sands las (am 27. Mai oder 8. Juni neuen Stils). So war es mir nicht mehr möglich, ein Wort über diesen Tod zu sagen. Aber es war mir, als ich die Nachricht las, im Augenblick ganz klar geworden, was dieser Name in meinem Leben bedeutet hatte, wieviel gerade dieser Dichter seinerzeit Entzücken und Verehrung in mir erweckt und auf seinen Namen vereint hat, und wieviel Freuden, ja Glück er mir einst gegeben! Ich schreibe dreist jedes dieser Worte hin, denn alles das war buchstäblich so. Das war eine unserer (d. h. unserer) Zeitgenossinnen im vollen Sinn des Wortes – diese Idealistin der dreißiger und vierziger Jahre. Es ist das einer jener Namen unseres mächtigen, selbstgewissen und gleichzeitig kranken Jahrhunderts, das voll ist von noch ungeklärtesten Idealen und unstatthaftesten Wünschen – einer jener Namen, die, nachdem sie dort bei sich im „Lande der heiligen Wunder“ auftauchten, von uns, aus unserem ewig sich erschaffenden Rußland gar zu viel Denken, Liebe, heilige und edle Aufschwungskraft, lebendiges Leben und teure Überzeugungen zu sich hinüberzogen. Doch nicht steht es mir an, darüber zu klagen: indem hier solche Namen erhöht und verehrt wurden, erfüllten und erfüllen die Russen nur ihre unmittelbare Bestimmung. Möge man sich nicht über diese meine Worte wundern, im besonderen über ihre Verbindung mit George Sand, über deren Wert als Schriftstellerin man ja immer noch geteilter Ansicht sein kann und die man bei uns heute zur Hälfte, wenn nicht gar zu neun Zehnteln schon vergessen hat. Aber ihre Tat hat sie bei uns zu ihrer Zeit immerhin vollbracht und darum: wer sollte sich nun an ihrem Grabe versammeln und ihrer gedenken, wenn nicht wir, ihre Zeitgenossen aus der ganzen Welt? Wir Russen haben doch zwei Vaterländer: unser Rußland und Europa, und das selbst in dem Fall, wenn wir uns Slawophile nennen (mögen diese sich deshalb nicht über mich ärgern). Dagegen zu streiten ist nicht nötig. Die größte von den großartigen zukünftigen Bestimmungen, die von den Russen vorausschauend bereits erkannt sind, ist die allgemein-menschliche Bestimmung, ist das der Menschheit Dienen, – nicht Rußland allein, nicht dem Panslawismus allein, sondern der Allmenschheit. Denken Sie nach und Sie werden zugeben, daß die Slawophilen dasselbe bekannt haben, und eben deshalb aber rief man uns auf, strenge, feste und verantwortungsbewußte Russen zu sein: indem man dies so versteht, daß Allmenschlichkeit die wichtigste persönliche Note und Bestimmung des Russen ist. Übrigens bedarf alles das noch vielfacher Erläuterung: so schon dies allein, daß jenes Dienen der allgemein-menschlichen Idee und das leichtsinnige Herumtreiben in Europa, nachdem man freiwillig und launisch dem Vaterlande den Rücken gekehrt hat, zwei ganz verschiedene und entgegengesetzte Dinge sind, die aber bisher immer noch miteinander verwechselt werden, als handle es sich dabei im wesentlichen um dasselbe. Im Gegenteil, vieles, sehr vieles von dem, was von uns aus Europa genommen und zu uns verpflanzt worden ist, haben wir nicht einfach kopiert wie Sklaven nach Herren, und wie das von gewissen Leuten unbedingt gefordert wird, sondern wir haben es unserem Organismus, unserem Fleisch und Blut eingeimpft; manches aber haben wir ganz selbständig erlebt und sogar durchlitten, ganz wie jene dort, im Westen, für die alles das ihr blutlich Eigenes war. Die Europäer werden uns das zwar um keinen Preis glauben wollen; sie kennen uns nicht, und vorläufig ist es auch besser so. Um so unmerklicher und ruhiger wird sich der notwendige Prozeß vollziehen, der in der Folge die ganze Welt in Erstaunen setzen wird. Gerade diesen Prozeß aber kann man am klarsten und greifbarsten auch an unserem Verhältnis zu den Literaturen der anderen Völker verfolgen. Ihre Dichter stehen uns, wenigstens der Mehrzahl unserer entwickelten Menschen, genau so nah, wie ihnen dort in ihrer Heimat, im Westen. Ich behaupte und wiederhole, daß jeder europäische Dichter, Denker, Philantrop außerhalb seines Landes am meisten und allernächsten auf der ganzen übrigen Welt immer in Rußland verstanden und aufgenommen wird. Shakespeare, Byron, Walter Scott, Dickens sind den Russen verwandter und verständlicher, als zum Beispiel den Deutschen, obschon natürlich von den Übersetzungen dieser Schriftsteller bei uns nicht einmal ein Zehntel der Exemplare verkauft werden, wie in dem bücherreichen Deutschland. Der französische Konvent, der im Jahre 1793 ein Patent auf das Bürgerrecht au poète allemand Schiller, l’ami de l’humanité[61] schickte, vollbrachte damit zwar eine sehr schöne, großartige und prophetische Tat, nur ahnte er nicht einmal, daß am anderen Ende Europas, im barbarischen Rußland, derselbe Schiller viel nationaler war, den russischen Barbaren viel näher stand, als viel verwandter, eigener empfunden wurde, als dies in Frankreich von seiten der Franzosen geschah, und das war nicht nur damals so, sondern auch später, in unserem ganzen Jahrhundert, in dem diesen Schiller, den französischen Bürger und ami de l’humanité,[62] in Frankreich nur die Professoren der Literatur kannten, und selbst von diesen nicht alle und auch die nur kaum-kaum. Bei uns aber hat er sich, zugleich mit Shukowski[112], in die russische Seele hineingesogen, einen Stempel in ihr hinterlassen, hat in der Geschichte unserer Entwicklung fast eine ganze Epoche bedeutet. Dieses russische Verhältnis zur Weltliteratur ist eine Erscheinung, die sich in der ganzen Weltgeschichte bei den anderen Völkern in einem solchen Grade fast nicht wiederholt hat, und wenn diese Eigenschaft nun wirklich unsere nationale russische Besonderheit ist, – welcher empfindliche Patriotismus, welcher Chauvinismus hätte dann noch das Recht, gleichviel was gegen diese Erscheinung zu sagen, und würde nicht, im Gegenteil, gerade darin vor allen Dingen die meist versprechende und prophetischste Tatsache in den Mutmaßungen über unsere Zukunft sehen. Oh, natürlich, viele werden vielleicht lächeln, wenn sie in dem oben Geschriebenen lesen, was für eine Bedeutung ich George Sand beilege; aber die Lachenden werden unrecht haben. Es ist über all diesen vergangenen Dingen jetzt schon mehr als genug Zeit vergangen und auch George Sand selbst ist nun als siebzigjährige Greisin gestorben, nachdem sie vielleicht schon längst ihren Ruhm überlebt. Doch alles das, was in der Erscheinung dieses Dichters das „neue Wort“ ausmachte, alles, was in ihm „Allmenschliches“ war, alles das fand seinerzeit bei uns, in unserem Rußland, einen mächtigen Widerhall, hinterließ einen starken und tiefen Eindruck, verfehlte uns nicht und bewies damit, daß jeder Dichter, jeder Novator Europas, jeder, der dort mit einem neuen Gedanken und einer neuen Kraft vorübergegangen ist, sofort auch zu einem russischen Dichter wird, dem russischen Denken nicht zu entgehen vermag, ja, nicht umhin kann, fast zu einer russischen Kraft zu werden. Doch übrigens will ich keineswegs eine literarische Kritik über George Sand schreiben, sondern ich wollte bloß der Toten, die uns verlassen hat, ein paar Geleitworte an ihrem frischen Grabe sagen.

Ein paar Worte über George Sand.

Das Auftreten George Sands in der Literatur fällt zeitlich mit den Jahren meiner ersten Jugend zusammen, und es freut mich sehr, gerade jetzt, daß dies schon so lange her ist, denn nun darf man doch wohl, nach guten dreißig Jahren, nahezu ganz offen darüber sprechen. Es sei hier vorausgeschickt, daß damals nur so etwas erlaubt war, – d. h. nur Romane, alles übrige, fast jeder Gedanke, besonders wenn er aus Frankreich kam, war strengstens verboten. Oh, versteht sich, sehr oft verstand man nicht zu sehen, aber von wem hätten sie denn das auch lernen sollen: verstand doch selbst Metternich nicht zu sehen, wie sollten es da unsere Nachahmer verstehen. Und deshalb schlüpften denn auch „schreckliche Sachen“ durch (zum Beispiel der ganze Bjelinski). Dafür wurde dann, gleichsam um das wettzumachen, besonders zum Ende hin und um Versehen auszuschließen, so gut wie alles verboten, so daß es zu guter Letzt, wie man weiß, bei den Transparenten endete. Aber Romane waren erlaubt, sowohl zu Anfang, wie in der Mitte und sogar ganz zuletzt[113], und gerade auf diesem Gebiet, und zwar speziell hinsichtlich George Sand’s, schossen die Beschützer damals einen großen Bock. Erinnern Sie sich des Gedichts:

„Die Werke von Thiers und Rabeau

kennt auswendig unser Mann,

Und wie der feurige Mirabeau

preist er die Freiheit an.“

Dieses Gedicht ist ungemein talentvoll, sogar selten talentvoll, und es ist natürlich unvergänglich, denn es ist historisch; doch gerade das erhöht ja seinen Wert, sintemal es von Denis Dawydoff[114] stammt, somit von einem Dichter, Schriftsteller und ehrlichsten Russen. Doch wenn selbst Denis Dawydoff, und zwar wen – Thiers (wegen seiner „Geschichte der Revolution“, selbstredend) damals für gefährlich hielt und in diesem Gedicht erwähnte, nebst irgendeinem Rabeau (also hat es auch so einen gegeben, ich weiß es übrigens nicht), so muß damals doch wohl gar zu wenig offiziell erlaubt gewesen sein. Und was dabei herauskam, war: daß das, was damals in der Form von Romanen bei uns eindrang, nicht nur genau so der Sache zustatten kam, sondern vielleicht noch in der „gefährlichsten“ Form erschien, wenigstens zu der Zeit, denn für einen Rabeau hätten sich dazumal wohl schwerlich so viele Liebhaber gefunden, für George Sand dagegen fanden sie sich zu Tausenden. Hier muß bemerkt werden, daß bei uns ungeachtet aller Magnitzkis und Liprandis[115] schon seit dem vorigen Jahrhundert jede intellektuelle Bewegung in Europa immer sofort bekannt wurde und die Kunde davon aus den höheren Schichten unserer Intelligenz sofort in die Masse aller auch nur ein wenig sich dafür interessierenden und denkenden Menschen drang. Genau so geschah es mit der europäischen Bewegung in den dreißiger Jahren. Von dieser riesigen Bewegung der europäischen Literaturen bereits ganz zu Anfang der dreißiger Jahre bekam man bei uns schon sehr bald einen Begriff. Man kannte auch schon die Namen von vielen neuen Rednern, Historikern, Tribunen, Professoren. Es wurde sogar, wenn auch nur teilweise, wenn auch nur annähernd, sogar das bekannt, in welcher Richtung diese ganze Bewegung sich bewegte. Besonders deutlich aber kam diese Bewegung in der Kunst zum Ausdruck, in Romanen, hauptsächlich aber bei – George Sand. Allerdings wurde das Publikum bei uns schon vor dem Erscheinen ihrer Romane in russischer Sprache von Ssenkowski und Bulgarin[116] gewarnt. Vornehmlich schreckte man die russischen Damen damit, daß sie in Hosen gehe: man wollte mit ihrem ausschweifenden Leben die Leser einschüchtern, man wollte sie lächerlich machen. Ssenkowski, der sich ja selbst daranmachte, George Sand zu übersetzen und in seiner Zeitschrift „Bibliothek für Lektüre“ zu veröffentlichen, begann sie „Frau Jegor Sand“ zu nennen und blieb, wie’s scheint, sehr zufrieden mit seinem Witz. Später, im Jahre 1848, schrieb Bulgarin in seiner „Nordischen Biene“, daß sie sich mit Pierre Leroux tagtäglich an der Barrière betrinke und an den Athenischen Abenden teilnehme, im Ministerium des Innern, bei diesem Räuber und Minister des Inneren Ledru-Rollin. Ich habe das selbst gelesen und erinnere mich dessen noch sehr gut. Doch damals, im Jahre 1848, war George Sand bei uns bereits so gut wie dem ganzen lesenden Publikum bekannt und niemand glaubte den Berichten Bulgarins. Zum erstenmal aber erschienen ihre Werke in russischer Sprache ungefähr um die Mitte der dreißiger Jahre; schade, daß ich mich nicht mehr entsinnen kann, welches ihrer Werke zuerst übersetzt wurde und wann es erschien; doch um so wunderbarer wird wohl der Eindruck gewesen sein. Ich denke, alle Leser wird, ganz wie mich, der ich damals noch ein Jüngling war, diese keusche, hohe Reinheit der Typen und Ideale und die schlichte Schönheit des strengen, zurückhaltenden Tons ihrer Erzählung betroffen gemacht haben, – und eine solche Frau ging in Hosen und führte ein ausschweifendes Leben! Ich war, wenn ich nicht irre, sechzehn Jahre alt, als ich zum erstenmal ihre Novelle „L’Uscoque[63] las – eines ihrer schönsten ersten Werke. Ich weiß noch, ich fieberte nachher die ganze Nacht. Ich glaube, mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß George Sand, wenigstens nach meinen Erinnerungen, bei uns alsbald fast den ersten Platz einnahm in der Reihe jener ganzen Plejade neuer Schriftsteller, die damals plötzlich berühmt wurden und deren Ruhm ganz Europa durchflog. Selbst Dickens, der bei uns ungefähr um dieselbe Zeit erschien, stand ihr in der Aufmerksamkeit unseres Publikums vielleicht nach. Ich rede schon gar nicht von Balzac, der schon vor ihr erschienen war, aber in den dreißiger Jahren doch solche Werke gab, wie Eugénie Grandet“ und „Père Goriot[64] (und den Bjelinski so ungerecht beurteilte, da er seine Bedeutung in der französischen Literatur ganz übersah). Übrigens sage ich das alles nicht vom Standpunkte irgendeiner kritischen Abschätzung, nein, ich spreche nur aus der Erinnerung von dem Geschmack der damaligen Masse der russischen Leser, von dem unmittelbar auf sie ausgeübten Eindruck. Die Hauptsache war, daß der Leser alles das, wovor er damals so behütet und beschützt wurde, aus diesen Romanen herauszulesen verstand. Wenigstens war bei uns Mitte der vierziger Jahre selbst der Masse der Leser schon bekannt, wenn auch nur so im allgemeinen, daß George Sand eine der hellsten, strengsten und folgerichtigsten Vertreterinnen jener Kategorie der damaligen neuen Menschen des Westens war, die mit der einfachen Verneinung jener „positiven“ Errungenschaften auftraten und begannen – der Errungenschaften, mit denen die blutige französische (oder richtiger europäische) Revolution vom Ende des vorigen Jahrhunderts ihre Tätigkeit abschloß. Nach der Beendung der Revolution (nach Napoleon I.) zeigten sich neue Versuche, die neuen Wünsche und neuen Ideale auszudrücken. Die fortgeschrittensten Geister begriffen nur zu gut, daß sich nur der Despotismus erneuert, daß sich nur „ôtes-toi de là que je m’y mette[65] vollzogen hatte, daß die neuen Besieger der Welt (die Bourgeois) vielleicht schlimmer denn die früheren Despoten (die Adligen) waren, und daß „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sich nur als laute Phrasen und nichts weiter erwiesen hatten. Damit aber noch nicht genug: es kamen Lehren auf, nach denen sie aus lauten Phrasen schon zu auch unmöglichen Phrasen wurden. Die Sieger sprachen von diesen drei sakramentalen Worten oder richtiger erwähnten sie bereits nur noch spöttisch; sogar die Wissenschaft (die Volkswirtschaftler) erschien in ihren glänzenden Vertretern, die damals auch gleichsam mit einem neuen Wort kamen, als Hilfstruppe zu dieser Verspottung, sowie zu der Verurteilung der utopistischen Bedeutung dieser drei Worte, für die soviel Blut vergossen worden war. So kam es, daß neben den triumphierenden Siegern bereits trostlose und traurige Gesichter, die die Triumphierenden schreckten, zu erscheinen begannen. Und siehe, gerade in diesem Zeitraum tauchte plötzlich wirklich ein neues Wort auf und begannen sich neue Hoffnungen zu verbreiten: es erschienen Menschen, die geradeheraus erklärten, daß die Sache unrechterweise und an der falschen Stelle zum Stehen gekommen sei, daß mit einem politischen Wechsel der Sieger nichts erreicht sei, daß man die Sache fortsetzen müsse, daß die Erneuerung der Menschheit eine radikale, soziale sein müsse. Oh, natürlich, neben diesen Ausrufen ließen sich auch eine Menge der verderblichsten und ungeheuerlichsten Folgerungen vernehmen, aber das wichtigste war dabei, daß wieder Hoffnung zu leuchten und erstorbener Glaube aufzuleben begann. Die Geschichte dieser Bewegung ist bekannt, – sie setzt sich bis heute fort und hat, wie es scheint, durchaus nicht die Absicht, stehen zu bleiben. Ich will hier weder für noch gegen diese Bewegung sprechen, ich wollte nur George Sands eigentlichen Platz innerhalb dieser Bewegung bezeichnen. Diesen Platz muß man ganz im Anfang der Bewegung suchen. Damals, als man sie in Europa begrüßte, hieß es, sie predige eine neue Stellung der Frauen und weissage von „Rechten der freien Frau“ (so drückte sich Ssenkowski über sie aus); aber das stimmte nicht ganz, denn sie predigte keineswegs nur von der Frau allein und erfand überhaupt keine „freie Frau“. George Sand gehörte der ganzen Bewegung an, nicht bloß einer Bewegung für Frauenrechte. Allerdings, da sie selbst Frau war, stellte sie natürlicherweise lieber Heldinnen auf, als Helden, und selbstverständlich müßten jetzt die Frauen der ganzen Welt Trauer um sie tragen, denn mit ihr ist nicht nur eine der höchsten und schönsten Vertreterinnen ihres Geschlechts gestorben, sondern außerdem eine Frau von fast noch nie dagewesener Verstandeskraft und Begabung – ein Name, der historisch geworden ist, ein Name, dem es nicht bestimmt ist, vergessen zu werden und innerhalb der europäischen Menschheit zu verschwinden.

Was nun ihre Heldinnen anbelangt, so war ich, ich wiederhole, schon beim erstenmal, als ich sie las, noch als Sechzehnjähriger, erstaunt über die Seltsamkeit des Widerspruchs zwischen dem, was man über sie schrieb und sprach, und dem, was ich nun selbst in ihren Büchern fand. In dieser Wirklichkeit waren viele oder zum mindesten manche ihrer Heldinnen Typen einer so hohen sittlichen Reinheit, wie sie überhaupt nicht denkbar wäre, ohne eine ungeheure sittliche Anforderung in der Seele des Dichters selbst, ohne das Bekenntnis zum vollsten Pflichtbegriff, ohne Erkenntnis und ohne Anerkennung der höchsten Schönheit im Erbarmen, in der Geduld und Gerechtigkeit. Allerdings, zwischen dem Erbarmen, der Geduld und der Anerkennung der Pflichtschuldigkeit trat auch ein ganz außergewöhnlicher Stolz der Anforderung und des Protestes hervor, aber dieser Stolz war ja gerade deshalb kostbar, weil er aus jener höheren Wahrheit hervorging, ohne die die Menschheit sich niemals auf ihrer ganzen sittlichen Höhe hätte erhalten können. Dieser Stolz ist nicht Feindschaft quand même[66] auf Grund dessen, daß ich sozusagen besser bin als du, und du schlechter bist als ich, sondern ist einzig und allein das Gefühl der keuschesten Unfähigkeit, sich mit Unwahrheit und Laster auszusöhnen, obschon dieses Gefühl, ich sage das nochmals, weder Allverzeihen noch Erbarmen ausschließt; ja, nicht nur das, sondern diesem Stolz entsprechend wurde freiwillig auch eine ungeheure Pflicht sich selbst auferlegt. Diese ihre Heldinnen sehnten sich nach Selbstopfer, nach einer großen Tat. Besonders gefielen mir damals in ihren ersten Werken ein paar Typen junger Mädchen, zum Beispiel in ihren damals sogenannten venezianischen Novellen (zu denen auch „L’Uscoque“ und „La dernière Aldini[67] gehören), Typen, die später in dem Roman „Jeanne“ ihre Vollendung fanden, in diesem bereits genialen Werk, das eine hellklare und vielleicht unbestreitbare Lösung der historischen Frage der Jeanne d’Arc gibt. In einem Bauernmädchen unserer Zeit läßt sie plötzlich die Gestalt der historischen Jeanne d’Arc vor uns erstehen und rechtfertigt anschaulich die wirkliche Möglichkeit dieser großartigen und wunderbaren historischen Erscheinung, – eine durchaus George Sand’sche Aufgabe, denn außer ihr hat von allen anderen Dichtern ihrer Zeit wohl niemand ein so reines Ideal des unschuldigen Mädchens in seiner Seele getragen, – ein so reines und durch seine Unschuld so machtvolles Ideal. Alle diese Typen junger Mädchen, von denen ich oben sprach, erfüllen in einer Reihe aufeinanderfolgender Werke eine ganz bestimmte Aufgabe; sie haben dasselbe Thema (übrigens haben das nicht die Mädchen allein: dasselbe Thema wiederholt sich später in ihrer prachtvollen Novelle „La Marquise“, die gleichfalls noch zu ihren früheren Werken gehört). Es ist der gerade, ehrliche, doch unerfahrene Charakter eines jungen weiblichen Wesens von jener stolzen Keuschheit, die sich nicht fürchtet, beschmutzt zu werden, und die gar nicht beschmutzt werden kann, auch nicht von der Berührung mit dem Laster, ja selbst dann nicht, wenn dieses Wesen durch einen Zufall plötzlich unmittelbar in eine Höhle des Lasters gerät. Das Bedürfnis, sich hochherzig zu opfern (im Glauben, daß dieses Opfer gerade von ihr erwartet wird), erschüttert das Herz des jungen Mädchens, und ohne zu zögern, ohne mit sich zu geizen, tut sie plötzlich uneigennützig, ohne an sich zu denken und furchtlos den gefährlichsten und verhängnisvollsten Schritt. Das, was sie sieht und was ihr begegnet, verwirrt und ängstigt sie nachher nicht im geringsten, – im Gegenteil, es erhöht sofort nur den Mut im jungen Herzen, das sich jetzt erst zum erstenmal aller seiner Kräfte bewußt wird – der Kräfte der Unschuld, der Ehrlichkeit, der Reinheit –; es verdoppelt nur ihre Energie und weist ihrem bis dahin sich selbst noch nicht kennenden, doch mutigen und frischen Verstande, der sich mit Konzessionen an das Leben noch nicht beschmutzt hat, neue Wege und neue Horizonte. Dazu alles in der fehlerlosesten und reizendsten Form eines Poems: George Sand ließ ihre Dichtungen damals mit Vorliebe glücklich enden, mit dem Triumph der Unschuld, Aufrichtigkeit und des jungen, furchtlosen Vertrauens. Und solche Gestalten hätten die Gesellschaft empören, Zweifel und Befürchtungen erwecken können? Ganz gewiß nicht; vielmehr geschah das Gegenteil und selbst die strengsten Väter und Mütter begannen in ihren Familien die Lektüre der Werke George Sands zu erlauben und wunderten sich: „Was reden die Menschen nur so von ihr?“ Und erst auf diese Verwunderung hin wurden dann warnende Stimmen laut, die darauf hinwiesen, daß „in eben diesem Stolz der weiblichen Anforderung, in eben dieser Unversöhnlichkeit der Keuschheit mit dem Laster, in eben dieser Weigerung, dem Laster auch nur irgendwelche Konzessionen zu machen, in eben dieser Furchtlosigkeit, mit der die Unschuld sich zum Kampf erhebt und dem Unrecht klar in die Augen sieht, das Gift liege, das zukünftige Gift des weiblichen Protestes, der weiblichen Emanzipation“. Nun wohl! vielleicht hatte das, was man da vom Gift sagte, seine Richtigkeit. Es entstand tatsächlich ein Gift, doch was dieses Gift vertilgen wollte, was durch dieses Gift umkommen und was sich durch dasselbe retten sollte, – das war nun sofort die neue Frage und die wurde lange nicht beantwortet.


Jetzt sind diese Fragen schon lange beantwortet (dem Anscheine nach). Hier muß bemerkt werden, daß in der Mitte der vierziger Jahre der Ruhm George Sands und der Glaube an die Kraft ihres Genies so hoch standen, daß wir, ihre Zeitgenossen, alle noch etwas unvergleichlich Größeres in der Zukunft von ihr erwarteten, irgendein unerhörtes neues Wort, sogar etwas Entscheidendes und bereits Endgültiges. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht: es zeigte sich, daß sie zu der Zeit, d. h. gegen Ende der vierziger Jahre, bereits alles gesagt hatte, was auszusprechen ihr oblag und vorherbestimmt war. Jetzt aber an ihrem frischen Grabe kann man über sie schon durchaus das letzte Wort sagen.

George Sand ist kein Denker, aber sie ist eine der hellsehendsten Vorausfühlerinnen (wenn es nur erlaubt ist, sich in einer so krausen Form auszudrücken) einer glücklicheren Zukunft, die die Menschheit erwartet, an deren Erreichung der Ideale sie mutig und großherzig ihr ganzes Leben lang glaubte, und zwar gerade deshalb glaubte, weil sie selbst in ihrer Seele fähig war, das Ideal aufzurichten. Die Bewahrung dieses Glaubens bis zum Ende ist gewöhnlich das Los aller hohen Seelen, aller, die die Menschen wirklich lieben. George Sand starb als Deïstin, in festem Glauben an Gott und an ihr unsterbliches Leben. Doch von ihr nur das zu sagen, ist zu wenig: sie war überdies vielleicht auch die größte Christin unter allen ihren Genossen – den französischen Schriftstellern, obgleich sie sich formell (als Katholikin) nicht zu Christum bekannte. Natürlich, als Französin – der Anschauung ihrer Landsleute gemäß – konnte George Sand sich nicht wissentlich zu der Idee bekennen, daß es „in der ganzen Welt keinen Namen außer dem Seinen gibt, durch den man selig werden kann“ – die Hauptidee der Orthodoxie. Doch ungeachtet des scheinbaren und formalen Widerspruchs war George Sand, ich sage das nochmals, vielleicht eine der größten Bekennerinnen Christi, ohne daß sie es selbst wußte. Sie baute ihren Sozialismus, ihre Überzeugungen, Hoffnungen und Ideale auf dem sittlichen Gefühl des Menschen auf, auf dem geistigen Durst der Menschheit, auf dem Streben dieser Menschheit zur Vollkommenheit und zur Reinheit, nicht aber auf ameisenhafter Notwendigkeit. Sie glaubte an die menschliche Persönlichkeit ohne Vorbehalt (sogar bis zur Unsterblichkeit des einzelnen), sie erhöhte und erweiterte die Vorstellung von der Persönlichkeit ihr Leben lang, in jedem ihrer Werke, und eben dadurch stimmte sie sowohl gedanklich wie gefühlsmäßig mit einer der ersten Grundideen des Christentums, d. h. mit der Anerkennung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Freiheit (also folglich auch ihrer Verantwortlichkeit) überein. Hieraus ergab sich dann auch die Anerkennung der Pflicht wie das strenge sittliche Verlangen danach, wie die vollkommene Anerkennung der menschlichen Verantwortlichkeit. Und vielleicht gab es zu ihrer Zeit nicht einen Denker, nicht einen Schriftsteller, der in einem solchen Maße begriff, daß „der Mensch nicht lebt von Brot allein“. Was aber den Stolz ihrer Forderungen und ihres Protestes anbelangt, so schloß, ich wiederhole es nochmals, dieser Stolz niemals Barmherzigkeit aus oder Verzeihen eines Unrechts, ja nicht einmal unbegrenzte Geduld einfach aus Mitleid mit dem Beleidiger; im Gegenteil, George Sand hat sich in ihren Werken nicht nur einmal von der Schönheit dieser Wahrheiten einnehmen lassen und hat nicht nur einmal Typen der aufrichtigsten Vergebung und Liebe geschaffen. Man berichtet von ihr, daß sie eine prachtvolle Mutter gewesen sei, daß sie sich bis zu ihrem Lebensende gemüht und gearbeitet habe; gestorben sei sie als Freund aller Bauern in der Umgebung, grenzenlos geliebt von ihren Freunden. Es scheint, daß sie zum Teil geneigt war, die Vornehmheit ihrer Abstammung zu schätzen (sie stammte mütterlicherseits vom sächsischen Königshause ab), doch immerhin kann man mit Sicherheit sagen, daß, wenn sie auch den Aristokratismus in den Menschen schätzte, er für sie doch nur auf der Vollkommenheit der Menschenseele beruhte: sie konnte nicht anders als Größe lieben, sie konnte sich nicht mit Niedrigem aussöhnen, konnte nicht die Idee abtreten – ja, in diesem Sinne war sie vielleicht auch ein wenig gar zu stolz. Es ist wahr, sie liebte auch nicht in ihren Romanen erniedrigte Menschen darzustellen, gerechte, doch nachgiebige, entartete und eingeschüchterte, wie sie in fast jedem Roman des großen Christen Dickens zu finden sind; im Gegenteil, sie zeichnete ihre Heldinnen stolz, stellte geradezu Königinnen hin. Das liebte sie und diese Besonderheit muß bemerkt werden; sie ist ziemlich charakteristisch.

„Tagebuch eines Schriftstellers“
aus dem Jahre 1877.

Alte Erinnerungen[117].

Im Januar-Heft der „Vaterländischen Annalen“ habe ich „Die letzten Lieder“ von Njekrassoff[118] gelesen. Leidenschaftliche Lieder und nicht zu Ende gesprochene Worte, wie immer bei Njekrassoff, aber dazwischen was für ein qualvolles Aufstöhnen eines Kranken! – Unser Dichter ist augenblicklich sehr krank und weiß, wie er mir selbst sagte, über seinen Zustand ganz genau Bescheid. Aber ich will’s nicht glauben ... Es ist ein starker, widerstandsfähiger Organismus. Er leidet furchtbar (er hat irgendein Geschwür in den Eingeweiden, eine Krankheit, die sich schwer auch nur feststellen läßt), doch ich glaube nicht, daß er nicht bis zum Frühling durchhalten kann, dann aber – so schnell wie möglich in ein Heilbad ins Ausland, in ein anderes Klima, und er wird wieder gesund werden, davon bin ich überzeugt.

Es geht manchmal eigentümlich zu mit den Menschen; wir haben einander nicht oft im Leben gesehen, es hat zwischen uns auch Mißverständnisse gegeben, doch einmal hat sich mit uns etwas ereignet, und dieses Erlebnis habe ich ihm nie vergessen können. Das war unsere erste Begegnung im Leben. Und als ich ihn nun kürzlich besuchte, begann er, der Kranke, Erschöpfte, gleich nach dem ersten Wort davon zu sprechen, daß er sich jener Tage erinnere. Damals (das war vor dreißig Jahren!), geschah etwas so Jugendliches, Frisches, Gutes, – es war eines jener Ereignisse, die im Herzen der Beteiligten ewig unvergeßlich fortleben. Wir waren damals zwanzig und einige Jahre alt. Ich lebte in Petersburg, nachdem ich schon ein Jahr vorher meinen Abschied als Ingenieur genommen hatte, ohne selbst zu wissen warum, mit den unklarsten und unbestimmtesten Zielen vor mir. Es war im Maimonat, im Jahre fünfundvierzig. Zu Anfang des Winters hatte ich plötzlich meine Erzählung „Arme Leute“ zu schreiben begonnen, meine erste Arbeit, denn bis dahin hatte ich noch nichts geschrieben. Als die Arbeit beendet war, wußte ich nicht, was ich nun tun und wem ich sie geben sollte. Literarische Bekanntschaften hatte ich überhaupt nicht, außer allenfalls D. W. Grigorowitsch, aber der hatte damals selbst noch nichts geschrieben, nur eine kleine Skizze „Petersburger Leiermänner“, die in einem Almanach erschienen war. Ich glaube, er war damals im Begriff, für den Sommer zu den Seinen aufs Land zu fahren und wohnte noch einige Zeit bei Njekrassoff. Als er einmal bei mir war, sagte er: „Bringen Sie doch Ihr Manuskript mit“ (er hatte es selbst noch nicht gelesen): „Njekrassoff will zum nächsten Jahr einen Sammelband herausgeben, ich werde es ihm zeigen“. Ich brachte ihm das Manuskript, sah Njekrassoff einen Augenblick, wir reichten einander die Hand. Ich wurde verlegen bei dem Gedanken, daß ich mit meiner Dichtung gekommen war, und ging so schnell wie möglich fort, fast ohne mit Njekrassoff ein Wort gesprochen zu haben. Ich dachte kaum an einen Erfolg, vor dieser „Partei der Vaterländischen Annalen“ aber – so nannte man sie damals – fürchtete ich mich. Bjelinski las ich zwar schon seit ein paar Jahren mit Entzücken, doch er erschien mir drohend und furchtbar und – „verspotten wird er meine ‚Armen Leute‘!“ hatte ich hin und wieder bei mir gedacht. Jedoch nur hin und wieder: denn geschrieben hatte ich sie mit Leidenschaft, ja fast unter Tränen. „Sollte nun wirklich alles das, sollten alle diese Stunden, die ich mit der Feder in der Hand über dieser Erzählung durchlebt habe, – sollte das wirklich alles Lüge, Einbildung, unwahres Gefühl gewesen sein?“ Aber so dachte ich natürlich nur in kurzen Augenblicken, denn das Mißtrauen und die Zweifel waren stets gleich wieder da. Am Abend desselben Tages, an dem ich das Manuskript abgegeben hatte, ging ich zu einem weitab wohnenden ehemaligen Kameraden; wir sprachen die ganze Nacht über die „Toten Seelen“ und lasen sie, ich weiß nicht zum wievielten Mal. Damals war das so gang und gäbe unter den jungen Leuten: kamen zwei oder drei zusammen, hieß es bald: „Wollen wir nicht etwas im Gogol lesen, meine Herrschaften?“ – und man setzte sich und las, und zwar meist gleich die ganze Nacht durch. Damals gab es unter den jungen Leuten sehr, sehr viele, die gleichsam von irgend etwas durchdrungen waren, und es war, als erwarteten sie alle irgend etwas. Erst gegen vier Uhr kehrte ich nach Hause zurück, in einer weißen, fast taghellen Petersburger Nacht. Es war wunderbar warmes Wetter, und als ich in meine Wohnung kam, legte ich mich nicht schlafen, sondern öffnete das Fenster und setzte mich dort am offenen Fenster hin. Plötzlich klingelt es – ich wunderte mich nicht wenig. Doch da stürzen schon Grigorowitsch und Njekrassoff herein, fallen über mich her, umarmen mich mit wahrer Begeisterung und es fehlt nicht viel, daß sie beide in Tränen ausbrechen. Sie waren am Abend zeitig heimgekehrt, hatten mein Manuskript in die Hand genommen und zu lesen angefangen, nur so zur Probe: „nach zehn Seiten wird man schon sehen“. Doch nachdem sie zehn Seiten gelesen hatten, beschlossen sie, weitere zehn zu lesen, dann aber lasen sie schon ohne Unterbrechung die ganze Nacht durch bis zum Morgen, laut und sich gegenseitig ablösend, wenn der eine ermüdete. „Er liest da vom Tode des Studenten,“ erzählte mir Grigorowitsch später, als wir allein waren, „und da, an der Stelle, wo der Vater dem Sarge nachläuft, merke ich, Njekrassoffs Stimme schwankt, einmal, das zweitemal, und plötzlich hält er’s nicht aus und schlägt mit der flachen Hand aufs Manuskript: ‚Ach, daß ihn doch!‘ – damit meinte er Sie, und so ging’s die ganze Nacht!“ Als sie zu Ende gelesen hatten (sieben Druckbogen!), beschlossen sie einstimmig, sofort mich aufzusuchen: „Was tut’s, daß er schläft, wir wecken ihn auf, das ist höher als Schlaf!“ – Später, als ich den Charakter Njekrassoffs schon kannte, habe ich mich oft über jene Stunde gewundert: er ist doch von Natur ein verschlossener, fast mißtrauischer Mensch, vorsichtig, wenig mitteilsam. So wenigstens ist er mir immer erschienen, und danach zu urteilen, muß jener Augenblick unserer ersten Begegnung in Wahrheit der Durchbruch eines tiefsten Gefühls gewesen sein. Sie blieben damals ungefähr eine halbe Stunde bei mir, und in dieser halben Stunde sprachen wir Gott weiß was alles durch, verstanden einander schon nach halben Worten, uns überstürzend, sprachen mehr in Ausrufen als in Sätzen, hastend: sprachen auch von der Dichtkunst, auch von der Wahrheit, auch von der „damaligen Lage“, natürlich auch von Gogol, zitierten aus seinem „Revisor“ und aus den „Toten Seelen“, aber das wichtigste war Bjelinski. „Ich bringe ihm noch heute Ihr Manuskript und Sie werden sehen – das ist ein Mensch, wenn Sie wüßten, was das für ein Mensch ist! Sie werden ihn ja kennen lernen, dann werden Sie selbst sehen, was das für eine Seele ist!“ sagte Njekrassoff, der mich mit beiden Händen an den Schultern hielt und schüttelte, einfach mit Begeisterung. „Na, aber jetzt schlafen Sie, schlafen Sie, wir gehen schon, morgen aber sofort zu uns!“ – Als ob ich danach hätte schlafen können! Welch ein Entzücken das war, – solch ein Erfolg! Doch vor allem – das Gefühl war mir teuer, ich weiß noch genau: „Ein anderer hat Erfolg, nun, man lobt ihn, begegnet ihm, man beglückwünscht; aber die hier kamen doch mit Tränen in den Augen hergelaufen, um vier Uhr morgens, um mich aufzuwecken, denn ‚das ist höher als Schlaf‘! ... Ach, – wie ist das schön!“ Das war es, was ich damals dachte, wie hätte ich da schlafen können!

Njekrassoff brachte das Manuskript noch am selben Tage zu Bjelinski. Er verehrte Bjelinski über alle Maßen und ich glaube, er hat ihn sein Leben lang von allen am meisten geliebt. Damals hatte Njekrassoff noch nichts von solcher Bedeutung geschrieben, wie es ihm erst bald darauf, im folgenden Jahre, gelang. Soviel ich weiß, war Njekrassoff als Sechzehnjähriger nach Petersburg gekommen, ganz allein. Und geschrieben hatte er auch schon fast seit seinem sechzehnten Lebensjahre. Über seine Bekanntschaft mit Bjelinski weiß ich nicht viel, aber Bjelinski hat ihn sofort, schon beim ersten Anfang richtig eingeschätzt und die Stimmung seiner ganzen Kunst vielleicht stark beeinflußt. Sicherlich hatte es zwischen ihnen bereits damals, trotz der Jugend Njekrassoffs und ihres Altersunterschiedes, schon Augenblicke gegeben und waren schon Worte gefallen, die fürs ganze Leben beeinflussen und untrennbar verbinden.

„Ein neuer Gogol ist erschienen!“ rief Njekrassoff laut, als er mit meinen „Armen Leuten“ bei Bjelinski eintrat. „Bei Euch wachsen ja die Gogols wie die Pilze,“ bemerkte Bjelinski in strengem Ton, aber er nahm doch das Manuskript. Als Njekrassoff am Abend wieder zu ihm kam, empfing Bjelinski ihn „einfach in Aufregung“: „Bringen Sie ihn mir, bringen Sie ihn so schnell wie möglich her!“

Und da brachten sie mich denn (das war also schon am dritten Tage) zu ihm. Ich weiß noch, daß mich auf den ersten Blick sein Äußeres sehr frappierte, seine Nase, seine Stirn; ich hatte ihn mir, ich weiß nicht warum, ganz anders vorgestellt, „diesen furchtbaren, diesen schrecklichen Kritiker.“ Er empfing mich ungeheuer ernst und zurückhaltend. „Nun was, vielleicht ist das gerade das Richtige,“ dachte ich, aber es verging, ich glaube, noch nicht einmal eine Minute und schon verwandelte sich alles: der Ernst war nicht die vorbedachte Haltung einer berühmten Persönlichkeit, eines großen Kritikers, der einen zweiundzwanzigjährigen Neuling empfing, sondern dieser Ernst entsprang sozusagen seiner Achtung vor jenen Gefühlen, die er so schnell wie möglich in mich ergießen wollte, vor jenen schweren Worten, die mir zu sagen er sich selbst hetzte. Er begann flammend zu sprechen, sah mich mit glühenden Augen an: „Ja, begreifen Sie denn überhaupt selbst,“ wiederholte er mehrere Male, nach seiner Gewohnheit stoßweise schreiend, „was Sie da geschrieben haben!“ Er schrie immer so, wenn er mit starkem Gefühl sprach. „Sie haben nur mit unmittelbarem Instinkt, nur als Künstler das schreiben können, aber haben Sie das alles auch mit dem Verstande erfaßt, diese ganze furchtbare Wahrheit, auf die Sie uns hinweisen? Es ist nicht möglich, daß Sie mit Ihren zwanzig Jahren das schon begriffen hätten. Ja dieser unglückliche Beamte, den Sie da gezeichnet haben, – der ist doch durch das ewige Dienen schon dahin gekommen –, hat sich ja selber schon dahin gebracht, daß er sich vor lauter Unterwerfung nicht einmal mehr für unglücklich zu halten wagt und auch die geringste Klage fast schon für Freidenkerei ansieht, ja, der sich sogar das Recht, sich unglücklich zu fühlen, nicht einmal mehr zuzusprechen wagt, und als ihm ein guter Mensch, sein General, jene 100 Rubel gibt – da ist er zermalmt, vernichtet vor Verwunderung, daß einen solchen Menschen wie er ‚Ihre Exzellenz‘ haben bemitleiden können, nicht ‚Seine Exzellenz‘, sondern ‚Ihre Exzellenz‘, wie er sich bei Ihnen ausdrückt! Und dieser abgerissene Knopf, dieser Augenblick, wo er dem General die Hand küßt, – ja da ist doch nicht mehr Mitleid mit diesem Unglücklichen, sondern Grauen, Grauen! Gerade in dieser seiner Dankbarkeit liegt das Grauen! Das ist eine Tragödie! Sie haben hier das Wesen der Sache, den Kern selbst berührt, das Allerwichtigste mit einem Blick gezeigt. Wir Publizisten und Kritiker, wir deuteln bloß, wir bemühen uns, mit Worten das klar zu machen, Sie aber, der Künstler, Sie stellen mit einem einzigen Zug sofort bildlich greifbar das Wesen selbst der Sache hin, daß man es mit der Hand befühlen kann, daß auch einem Leser, der überhaupt nicht zu denken gewohnt ist, alles sofort verständlich ist! Das ist das Geheimnis des Künstlertums, das ist die Wahrheit in der Kunst! Da steht der Künstler im Dienst der Wahrhaftigkeit! Ihnen ist die Wahrheit offenbar und kund, als einem Künstler, Sie haben das als eine Gabe mitbekommen, schätzen Sie nun Ihre Gabe, bleiben Sie treu, und Sie werden ein großer Künstler sein!“

Alles das sagte er damals zu mir. Alles das sagte er später über mich auch vielen anderen, die heute noch leben und es bezeugen können. Ich verließ ihn wie in einem Rausch. Ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen, sah den Himmel über mir, sah den hellen Tag, sah die vorübergehenden Menschen an und fühlte voll und ganz, empfand mit meinem ganzen Wesen, daß in meinem Leben ein feierlicher Augenblick eingetreten war, eine Scheidung für immer, daß etwas ganz Neues begann, jedoch etwas, das ich auch in meinen leidenschaftlichsten Träumen nicht gedacht hatte. (Und ich war damals ein schrecklicher Träumer.) „Sollte es wahr sein, bin ich denn wirklich so groß?“ dachte ich schamhaft in einer Art schüchterner Entzückung. Oh, lachen Sie nicht, nachher habe ich niemals mehr gedacht, daß ich groß sei, doch damals – konnte man denn das so ertragen! „Oh, ich will dieses Lobes würdig werden! Und was für Menschen das sind, was für Menschen! Ja, das sind Menschen! Ich werde mir dieses Lob verdienen, ich werde mir Mühe geben, auch ein so wunderbarer Mensch zu werden wie sie, ich werde ‚treu bleiben‘! Oh, wie bin ich noch leichtsinnig, und wenn Bjelinski nur erführe, was für nichtsnutzige, schändliche Dinge in mir sind! Und dabei reden die Leute immer davon, daß diese Literaten stolz seien, eigenliebig und ehrgeizig. Übrigens, es gibt ja überhaupt nur diese Menschen in Rußland, nur sie allein zählen. – Sie stehen zwar allein, doch nur bei ihnen ist Wahrhaftigkeit, diese aber und das Gute und Wahre siegen und triumphieren immer über das Laster und das Böse, also werden wir siegen! – Oh, zu ihnen, mit ihnen!“

Alles das dachte ich damals, ich erinnere mich jenes Augenblicks noch mit der größten Klarheit. Und ich habe ihn später niemals vergessen können. Es war das der berauschendste Augenblick meines ganzen Lebens. Wenn er mir in der sibirischen Katorga einfiel, richtete er mich geistig wieder auf. Noch jetzt denke ich jedesmal mit Entzücken daran zurück. Und nun kürzlich, nachdem dreißig Jahre darüber vergangen sind, hat sich mir dieser ganze Augenblick gleichsam wieder vergegenwärtigt, als ich am Bette des kranken Njekrassoff saß: es war mir, als erlebte ich alles das von neuem. Ich erinnerte ihn nicht ausführlich an das Gewesene, ich erwähnte nur, daß wir einmal etwas gemeinsam erlebt hatten, und da sah ich, wie er sich dessen auch ohne meine Erwähnung erinnerte. Eigentlich wußte ich das schon. Als ich aus der Katorga zurückgekehrt war, hatte er auf eines seiner Gedichte hingewiesen, in einem Bande: „Das habe ich damals auf Sie gedichtet.“ Und doch haben wir das ganze Leben getrennt verbracht. Auf seinem Schmerzenslager gedenkt er jetzt in seinen „letzten Liedern“ der schon toten Freunde:

„Unvollendet blieben ihre Lieder.

Starben sie doch durch Verrat

in der Blüte der Jahre.

Bosheit zerbrach sie.

Vorwurfsvoll sehen die Bilder der Toten

von stummen Wänden mich an.“

Ein schweres Wort ist hier dieses „vorwurfsvoll“. Sind wir denn „treu“ geblieben, sind wir es geblieben? Möge das ein jeder nach eigenem Wissen und Gewissen selbst entscheiden ...

Fußnoten

[1] Den Namen dieser Kinderfrau finden wir im Roman „Die Dämonen“, und in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ kommt Dostojewski einmal ausführlich auf sie zu sprechen (s. Bd. 23 der deutschen Ausgabe), wie auch auf den leibeigenen Bauer Marei (Bd. 13 und 18 der deutschen Ausgabe). E. K. R.

[2] Familiäre Abkürzung von Fjodor. E. K. R.

[3] Den Namen finden wir in D.s letztem Roman „Die Brüder Karamasoff“. E. K. R.

[4] Alexander Wojeikoff, Satiriker, lebte von 1778 bis 1839. E. K. R.

[5] Puschkin ist am 10. Febr. 1837 qualvoll gestorben – an einer Verwundung, die er im Duell mit einem Gardeoffizier davongetragen, der seiner schönen Frau den Hof gemacht hatte. E. K. R.

[6] S. Band 24 der Ausgabe. E. K. R.

[7] Zögling einer Militär-Ingenieurschule. Eine Art Kadett. E. K. R.

[8] Siehe die „Vorbemerkung“ zu diesem Bande. E. K. R.

[9] Sein Klassenkamerad D. W. Grigorowitsch schreibt in seinen Erinnerungen an Dostojewski (s. Vorbemerkung) nach der Erwähnung ihres durch die Lektüre angeregten Gedankenaustausches, der ihm jede Lust zum Lernen nahm: „Auch Dostojewski gehörte nicht zu den besten Schülern. Vor den Prüfungen machte er immer die größten Anstrengungen, um versetzt zu werden. Das gelang ihm nicht immer: bei einer Prüfung fiel er einmal durch und blieb sitzen. Dieser Mißerfolg erschütterte ihn so sehr, daß er erkrankte und einige Zeit im Lazarett liegen mußte.“ E. K. R.

[10] Nach der Angabe von Dostojewski’s Tochter habe er braune Augen gehabt.

[11] Ein Mitschüler Dostojewskis aus dem Pensionat Tschermak; er war damals Beamter im Finanzministerium, schrieb Gedichte, nahm sich eine unglückliche Liebe sehr zu Herzen und verkam später infolge von Trunksucht. E. K. R.

[12] Dies bestätigen auch die Notizbuchaufzeichnungen seiner Frau. O. M.

[13] Hundertundfünfzig Rubel. O. M.

[14] Gemeint ist der Vormund und dessen Familie. O. M.

[15] Der jüngere Bruder blieb bis zum Dezember 1842 bei ihm. E. K. R.

[16] Dmitri Wassiljewitsch Grigorowitsch (1822–99), Romanschriftsteller. Entdecker der russischen Bauern für die russische Literatur. Urteil Ssaltykoffs über seine beiden ersten (1847) Erzählungen „Das Dorf“ und „Anton Goremyka“: „Durch Grigorowitsch blieb der Gedanke, daß es den Bauern gibt und daß auch er ein Mensch ist, fest in der russischen Dichtung und russischen Gesellschaft verwurzelt“. Siehe im übrigen die deutsche Ausgabe der Briefe Dostojewskis und die ihnen beigegebenen Berichte der Zeitgenossen. E. K. R.

[17] Welches Drama er hiermit meint, läßt sich nicht feststellen, ebensowenig wo dieses Manuskript, wie das der unbeendeten Dramen „Maria Stuart“ und „Boris Godunoff“, geblieben ist. O. M.

[18] In Gogols Komödie „Der Revisor“ ist Chlestakoff – ein Petersburger Dandy, der in einer Provinzstadt aus Geldmangel seine Reise aufs Land nicht fortsetzen kann – schließlich darauf gefaßt, daß man ihn wegen seiner Schulden ins Gefängnis bringen werde. Dem entgeht er auch nur, weil man plötzlich in ihm den erwarteten Revisor vermutet. E. K. R.

[19] Nikolai Alexejewitsch Njekrassoff (1821–1877), lyrischer Dichter, von 1846–66 Herausgeber der literarischen Monatsschrift „Der Zeitgenosse“. Zwischen ihm und Dostojewski trat schon Ende 1846 eine Entfremdung ein – man sagte ihm gar zu großen Geschäftssinn nach. Die liberale Richtung des „Zeitgenossen“ führte später (1863) zur Gegnerschaft der Monatsschrift „Die Zeit“, die von den Brüdern Dostojewski herausgegeben wurde. E. K. R.

[20] Wissarion Grigorjewitsch Bjelinski (1810–1848), der bedeutendste und einflußreichste Kritiker, Westler extrem-liberaler Richtung. E. K. R.

[21] Im vorliegenden Bande. E. K. R.

[22] Alexander Herzen (1812–1870) stand damals, in den Jahren zwischen seiner Verbannung nach Wjätka und seiner Emigration nach Europa, in seiner „russischen Periode“ und veröffentlichte u. a. den Roman „Wer ist schuld?“ E. K. R.

[23] Iwan Gontscharoff (1812–1890) schrieb damals seinen ersten großen Roman „Eine gewöhnliche Geschichte“. E. K. R.

[24] Von anderer Seite (N. Hoffmann, „Dostojewski“) wird hierzu bemerkt, daß der Umzug in diese billigeren Zimmer unterblieben ist. E. K. R.

[25] Der jung, im Jahre 1847, gestorbene Ästhetiker, Sohn des Malers und Bruder des Lyrikers. E. K. R.

[26] Klassizistischer Lyriker, dessen erste Gedichtsammlung 1841 erschienen war. E. K. R.

[27] Von Dostojewski im Jahre 1848 vollendet, also in der Zeit, als er die hier erwähnten Petersburger Kreise besuchte, deren einer der Petraschewskikreis war. E. K. R.

[28] Siehe „Menschen von damals“ im vorliegenden Bande. Siehe ferner Dostojewskis Äußerungen und Ausbrüche der Empörung über Bjelinski in den „Literarischen Schriften“. Sehr scharf äußert sich Dostojewski über den antichristlich gesinnten Kritiker u. a. in einem leider spurlos verschwundenen Artikel „Meine Bekanntschaft mit Bjelinski,“ dessen N. N. Strachoff sich erinnert, sowie in einem Briefe vom 18. Mai 1870 an Strachoff (siehe die deutsche Ausgabe der Briefe Dostojewskis), und gelegentlich in seinen Romanen, besonders in den „Dämonen“. Dostojewski brach den persönlichen Verkehr mit Bjelinski schon im letzten Jahre vor dem Tode des Kritikers (1848) ab. E. K. R.

[29] Lorenz von Steins „Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreich“ erschien 1848. O. M.

[30] Von Haxthausens Studien über die inneren Zustände des Völkerlebens und die ländlichen Einrichtungen Rußlands, die zum ersten Male mit dem Mir bekannt machten, erschienen von 1847 bis 1852. E. K. R.

[31] Louis Blancs „Histoire de dix ans[4] erschien 1840. E. K. R.

[32] Fouriers Idee der Phalanstère war in den dreißiger Jahren propagiert worden, Fourier selbst bereits 1837 gestorben. E. K. R.

[33] Proudhons „Was ist Eigentum?“ erschien 1840. E. K. R.

[34] Literaturkritiker und Kulturhistoriker. Verfasser von „Erinnerungen an Dostojewski“ (siehe die deutsche Ausgabe der Briefe Dostojewskis). E. K. R.

[35] Siehe die „Dämonen“, die in vieler Beziehung autobiographisch sind. Die Verpflichtung, die in dem Roman ein Jeder der politischen Verschwörer vor seiner Aufnahme in den „Kreis“ einer „Fünf“ eingehen muß, stimmt inhaltlich mit einem Entwurf für eine zu gründende Geheimgesellschaft überein, den der Petraschewze N. Speschnjoff verfaßt hatte. Nach der Aussage, die N. Speschnjoff später beim Verhör machte, war die Skizze von ihm im Auslande entworfen worden, als er, da er sich studienhalber mit den geschichtlichen Geheimbünden überhaupt befaßt habe, auf den Gedanken gekommen sei, einen ähnlichen Bund in Rußland zu gründen. Die „Geschichte der Geheimbünde“, die er begonnen habe, sei von ihm später vernichtet worden. Nur dieses einzelne Blatt habe sich, von ihm selbst ganz vergessen, unter seinen sonstigen Papieren erhalten. Es sei in Rußland niemandem gezeigt worden. O. M.

[36] Moskauer Gelehrter aus dem Kreise der eng-nationalen slawophilen Romantiker und Orthodoxen. E. K. R.

[37] Hier sei erwähnt, daß auch heute (1882) L. Beaulieu ... eine Übereinstimmung unserer „Sozialisten“ und „Slawophilen“ in ihrem „gemeinsamen Abscheu vor der europäischen Gesellschaft“ erblickt. O. M.

[38] Sergej Duroff, Petraschewze, Mittelpunkt eines besonderen „Kreises.“ E. K. R.

[39] Alexander Palm, gleichfalls Petraschewze, wie die Träger der weiterhin genannten Namen. E. K. R.

[40] In den Anklageakten wird von dem „Petraschewzen“ Ippolit Desbut gesagt, er habe die Absicht gehabt, Fourier zu übersetzen. Desbut bestreitet das: an eine regelrechte Übersetzung wäre gar nicht zu denken gewesen, da Fourier für das lesende Publikum viel zu schwer sei. O. M.

[41] Alexander Chanykoff, gleichfalls „Petraschewze“, gehörte dem Kreise an, der sich innerhalb der Studentenschaft gebildet hatte. Die Zugehörigen dieses Kreises wurden „die Fourieristen“ genannt. E. K. R.

[42] Wassili Golowinski, Petraschewze. E. K. R.

[43] Diesen feudalen Standpunkt eines Teiles der Großgrundbesitzer läßt Dostojewski später in den „Dämonen“ in der Stellungnahme des Adels zu dem Manifest vom 19. Februar 1861, mit dem Alexander II. die Leibeigenschaft endlich aufhob, durchblicken. E. K. R.

[44] Schriftsteller, gleichfalls Petraschewze. E. K. R.

[45] Allerdings gab es unter den Dekabristen auch einzelne, die weiter sahen – z. B. Rylejeff (es geht das Gerücht, auch Pestel habe an Zuteilung von Land gedacht). Aber sie alle wollten als erstes die Konstitution, bei einer solchen aber wäre natürlich die Minderheit, die in die Zuteilung von Land eingewilligt hätte, der Mehrheit gegenüber machtlos gewesen. O. M.

[46] Radischtscheff, Verfasser der „Reise von Petersburg nach Moskau“, die zum ersten Male auf die furchtbaren Leiden der leibeigenen Bauern hinwies, ein ganz unpolitisches, ein rein sentimentales Buch, für das der Verfasser zum Tode verurteilt und dann zur Verbannung nach Sibirien begnadigt wurde. E. K. R.

[47] Vgl. „Eine der zeitgemäßen Fälschungen“ in dem vorliegenden Bande. E. K. R.

[48] Felix Toll, Petraschewze. E. K. R.

[49] Alexander Pleschtschejeff, Petraschewze. E. K. R.

[50] Iwan Jastrshemski, Petraschewze. E. K. R.

[51] Nikolaus Speschnjoff, Petraschewze. E. K. R.

[52] Petraschewzen. E. K. R.

[53] Eine Redensart, seit im Jahr 1597 Zar Boris Godunoff den Befehl erließ, daß vom nächsten Georgian die Freizügigkeit der Bauern aufzuhören habe, wodurch der Grund zur Leibeigenschaft gelegt wurde. Diese Redensart besagt soviel wie: „Da haben wir die Bescherung.“ E. K. R.

[54] Die berüchtigte politische Abteilung der Geheimpolizei, unter Paul I. „für immer“ abgeschafft, zu Anfang der Regierung Nikolaus I., im Jahre 1826, wiederhergestellt, unter Alexander II. im Jahre 1880 scheinbar aufgehoben – eine Maßregel, die als eine der wesentlichsten Reformen des Zarbefreiers begrüßt wurde, aber in Wirklichkeit lediglich eine Unterstellung dieser Abteilung unter das Ministerium des Innern bedeutete, dessen Machtbefugnis sich bis dahin nur auf die kriminellen und administrativen Polizeibehörden erstreckte. Offiziere und Beamte der Dritten Abteilung waren durch ihre hellblauen Uniformen kenntlich. E. K. R.

[55] Messer und Gabeln wurden ihnen vorsichtshalber nicht gegeben. Das Essen war recht nahrhaft und gut (was auch von den anderen bestätigt wird). Es wurde gestattet, die Mahlzeiten auf eigene Kosten zu vervollständigen und Wein zu kaufen. O. M.

[56] Siehe Band 23 der Ausgabe. E. K. R.

[57] Vergl. den Aufsatz „Eine der zeitgemäßen Fälschungen“ in dem vorliegenden Bande. E. K. R.

[58] Vergl. die deutsche Ausgabe der Briefe Dostojewskis, S. 46. E. K. R.

[59] Siehe in der deutschen Ausgabe der Briefe Dostojewskis die „Berichte der Zeitgenossen“. E. K. R.

[60] Auch Strachoff erwähnt in seinen Aufzeichnungen (s. Bd. XII, S. 6 der Ausgabe) die große Weichheit im jungen Dostojewski, im Gegensatz zu seiner Art in den letzten Lebensjahren. E. K. R.

[61] Ein Brief vom 22. Februar 1854, den Dostojewski unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause an seinen Bruder geschrieben hat und der Michail Michailowitsch nicht auf dem offiziell erlaubten Wege – durch das Korps-Kommando in Sibirien und den Chef der III. Abteilung –, sondern durch andere Personen heimlich zugestellt worden ist, schildert er die Wirklichkeit seines Zuchthauslebens ohne jeden Gedanken an die Zensur. Diese aber mußte in der Zeit, als Dostojewskis Aufzeichnungen erschienen, selbst von Schriftstellern, gegen die nichts vorlag, trotz aller liberalen Neuerungen immer noch sehr im Auge behalten werden. Dieser Brief vom 22. II. 1854, wie auch andere Briefe, haben O. Miller bei der Zusammenstellung des biographischen Materials noch nicht vorgelegen. Ein paar nebensächliche Angaben in dem erwähnten Brief stimmen mit einzelnen Daten in den Aufzeichnungen Miljukoffs und Jastrshemskis nicht ganz überein. Vgl. „D.s Briefe und Berichte der Zeitgenossen“ S. 46–60. E. K. R.

[62] Mit der Niederschrift seiner Erlebnisse im Zuchthaus hat Dostojewski bereits 1855 in Sibirien, im ersten Jahr nach der Abbüßung seiner Strafzeit, begonnen, doch in der Hauptsache hat er die Aufzeichnungen erst nach seiner Rückkehr ins europäische Rußland (1859) fertiggestellt. Beendet und veröffentlicht wurden sie 1861–62, das erwähnte (in der Gesamtausgabe vorvorletzte) Kapitel im Dezember 1862. Es heißt dort u. a.: „Welch eine Beschuldigung wäre aber damals ... in jener kaum vergangenen alten Zeit ...“ (d. h. in der Regierungszeit Nikolais I.) für die Vorgesetzten „furchtbarer gewesen, als daß man mit gewissen Sträflingen Nachsicht habe! So kam es denn, daß jeder Vorgesetzte uns gegenüber Nachsicht zu zeigen sich fürchtete und wir ebenso gehalten wurden, wie alle anderen ...“ Somit überläßt er es dem Leser, zu erraten, daß mit den „gewissen Sträflingen“ die politischen Verbrecher gemeint sind. E. K. R.

[63] Alle näheren Mitteilungen über die Teilnahme Dostojewskis und seiner Freunde an dieser Sache, wie über das ihnen zugefallene Los, sind erst seit dem Tode Dostojewskis nach und nach veröffentlicht worden. In den dazwischen liegenden 22 Jahren waren die S. 119, 120 im Auszug wiedergegebenen flüchtigen Andeutungen des vom Kriegsministerium herausgegebenen „Russischen Invaliden“ alles, was man über die Petraschewskische „Verschwörung“ überhaupt bekanntgegeben hatte. Zu Lebzeiten Dostojewskis wußte man nur, wie J. Eckardt als Zeitgenosse berichtet, daß die Verschwörer von 1848 in das am Krönungstage von Kaiser Alexander II. (26. Aug. 1856) erlassene Gnadenmanifest nicht einbegriffen worden waren, daß der Gardeoffizier Lwoff noch 1859 in Irkutsk Polizeischreiber war, Speschnjoff in Sibirien die Zeitung „Amur“ herausgab, daß Petraschewski 1866 als Sträfling gestorben war – er hatte ein späteres Gnadenangebot abgelehnt und die Revision seines Prozesses verlangt – und daß die Begnadigung des Schriftstellers Dostojewski 1859 auf die Fürsprache eines älteren Studiengefährten hin, des berühmten General Todleben (berühmt wegen seiner Verteidigungsanlagen in der Krim während des Orientkrieges 1853–56) erfolgt war. Die Erinnerung an die übrigen Verurteilten wäre, nach Eckardts Bericht, im Gedächtnis ihrer Landsleute völlig erloschen, wenn nicht der einflußreiche Alexander Herzen, das Haupt der russischen Emigration, in seiner Zeitschrift „Der Polarstern“ wiederholt daran erinnert hätte, daß man diese Männer nicht wegen dessen, was sie getan, sondern wegen dessen, was sie gedacht und untereinander geredet, verurteilt hatte.

Eine Bestätigung dieser Aussage ist eine gelegentliche Bemerkung Dostojewskis, nach der viele seiner Leser, besonders in der Provinz, von ihm glaubten, er sei wegen Ermordung seiner Frau Sträfling gewesen, wie der angebliche Verfasser der „Aufzeichnungen aus einem Totenhause“. E. K. R.

[64] Es gibt über die Krankheit Fjodor Michailowitschs allerdings noch eine besondere Aussage, die sich auf seine früheste Jugend bezieht und die Krankheit mit einem tragischen Fall in dem Familienleben der Eltern Dostojewskis in Verbindung bringt. Doch obgleich mir diese Aussage von einem Menschen, der F. M. sehr nahe stand, mündlich mitgeteilt worden ist, kann ich mich nicht entschließen, da ich von keiner Seite eine Bestätigung dieses Gerüchts erhalten habe, die erwähnte Angabe hier ausführlich und genau wiederzugeben. O. M.

[65] Die Dokumente in den Archiven der III. Abteilung geben als Tag der Enthaftung den 23. Jan. 1854 an. Nach der Entlassung aus dem Zuchthause haben Dostojewski und Duroff, dessen Gesundheit vom Zuchthausleben vollkommen zerrüttet worden war, wie aus einem späteren Brief des ersteren hervorgeht, „fast einen ganzen Monat“ in Omsk im Hause von Frau O. I. Iwanowa, der Tochter des Dekabristen Annenkoff, verbracht und sich gesundheitlich ein wenig erholt. Am 2. März ist Dostojewski dann als Gemeiner in das 7. Bataillon des Sibirischen Linienregiments in Semipalatinsk eingereiht worden. E. K. R.

[66] Vergl. Anm. S. 134. E. K. R.

[67] In den Briefen vom 22. Februar und vom 27. März 1854 bittet er den Bruder um den Koran, Kants „Critique de raison pure“,[9] „und wenn du die Möglichkeit haben wirst, mir etwas nicht offiziell zu schicken, dann noch unbedingt Hegel; besonders aber Hegels ‚Geschichte der Philosophie‘. Davon hängt meine ganze Zukunft ab. Um Gottes willen verwende dich für mich, daß man mich nach dem Kaukasus versetzt; suche ... zu erfahren, ob man mir gestatten wird, meine Werke zu drucken ... Ich bitte dich, mich so lange auszuhalten. Ohne Geld werde ich vom Soldatenleben erdrückt werden ... Vielleicht werden mich im Anfang auch die anderen Verwandten irgendwie unterstützen? ... (Vergl. „D.s Briefe und Berichte der Zeitgen.“). Im März bittet er, ihm keine Zeitschriften zu schicken, sondern „europäische Historiker, Ökonomisten, Kirchenväter, womöglich alle alten (Herodot, Thukydides, Tacitus, Plinius, Flavius, Plutarch und Diodor usw.) ... und ein deutsches Lexikon. Nicht alles auf einmal ... Begreife, wie nötig mir diese geistige Nahrung ist! ...“ E. K. R.

[68] Unter Nikolai I. war es zum mindesten nicht ratsam, an einen verbannten Staatsverbrecher Briefe zu schreiben, selbst wenn es sich um einen Bruder handelte. E. K. R.

[69] Am 19. Februar 1855 kam Alexander II. auf den Thron, nach dem plötzlichen Ableben Nikolais I., dessen ganzes System im Orientkrieg (1853–56) gescheitert war. E. K. R.

[70] Baron Wrangel war als Bezirks-Staatsanwalt nach Sibirien gekommen; seine intime Freundschaft mit dem gewöhnlichen Soldaten hatte für ihn anfangs verschiedene kleine Unannehmlichkeiten zur Folge. In seinen „Erinnerungen“ gibt er über Dostojewskis Leben in Semipalatinsk mit einer Kenntnis des Sachverhalts und einer Ausführlichkeit Auskunft, die im Jahre 1883 O. Miller, der nur Briefe aus dieser Zeit zur Hand hatte, gar nicht möglich gewesen wäre. Wrangel ist bisher auch der einzige, der über Dostojewskis erste Frau näheres berichtet hat, bzw. berichten kann. (Vgl. „Aus den Erinnerungen des Barons A. Wrangel“ in „D.s Briefe u. Berichte der Zeitgenossen“). E. K. R.

[71] Marja Dmitrijewnas Mann war als Gymnasiallehrer nach Kusnezk versetzt worden und hatte mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn erst kurz vorher Semipalatinsk verlassen. E. K. R.

[72] Nach den „Erinnerungen“ Wrangels kam Dostojewski im Januar 1860 nach Petersburg. „Dostojewski brauchte damals viel Geld, besaß aber keinen Heller. Er hatte zahllose Schulden und nur die eine Hoffnung, daß ihm die vielen Erzählungen und Romane, die in seinem Kopfe ... entstanden, etwas einbringen würden ... Wir sahen uns sehr oft, doch immer nur flüchtig, denn wir beide waren in den Strudel des Petersburger Lebens geraten ...“ Trotzdem sagt Wrangel, daß Dostojewski Tag und Nacht gearbeitet habe. (Vgl. „D.s Briefe und Berichte der Zeitgenossen“.) Da das Petersburger Klima für den Gesundheitszustand seiner Frau schädlich gewesen wäre, verbrachte sie die folgenden Jahre in Moskau, wo sie am 16. April 1864 an der Schwindsucht starb. Den Winter 1863–64 bis zu ihrem Tode weilte Dostojewski deshalb in Moskau. Sein Stiefsohn war auf Befehl des Kaisers 1860 als Stipendiat in eine Lehranstalt aufgenommen worden. Dostojewski hatte die Bitte darum mit seinem eigenen Gnadengesuch verbunden. In einem späteren Brief an Wrangel schreibt Dostojewski über seine Ehe mit der verstorbenen Frau: „Wir waren beide durchaus unglücklich, konnten aber nicht aufhören, einander zu lieben; je unglücklicher wir waren, um so mehr hingen wir aneinander“. (Vgl. „D.s Briefe und Berichte der Zeitgenossen“). E. K. R.

[73] Die Gegner dieser Form der Bauernbefreiung – tatsächlich ist durch die gleichzeitige Zuteilung von Land an die Bauern ein überaus großer Teil der Grundbesitzer ruiniert worden – hatten meist die höchsten Ämter inne, und so geschah es häufig, daß die vom Kaiser gewünschten freiheitlichen Reformen ihren entschiedensten Gegnern zur Ausführung übergeben wurden. Neuerdings mehren sich die Stimmen, die in jener Bauernbefreiung, die den einzelnen Bauern nicht zum Landbesitzer, sondern zum Landproletarier oder Genossenschaftler machte – zu einem Arbeiter auf dem Gemeindeland – die Grundlage jener Ereignisse sehen, die sich seit 1917 in Rußland abspielen. Die von Stolypin und Kriwoschein begonnene Agrarreform – Aufhebung des Agrarkommunismus („Mir“), das Land sollte Eigenbesitz des Bauern werden – wurde nach den ersten Versuchen vom Kriege unterbrochen, worin wiederum die äußerste Linke eine Bestätigung der welthistorischen Aufgabe Rußlands sieht: das Land der neuen Lebensordnung, der neuen Menschheit zu werden. E. K. R.

[74] Slawophiler Publizist (1819–76), nächst den Begründern des Slawophilismus – Chomjäkoff, Kirejewski, Akssakoff – der einflußreichste Vertreter der Partei. E. K. R.

[75] Schriftsteller und Zensor, als Leibeigener geboren. E. K. R.

[76] O. Miller setzt die Vorgeschichte des erwähnten Ereignisses als noch erinnerlich oder bekannt voraus und begnügt sich daher mit einer kurzen Beleuchtung einiger Einzelheiten. Da nun diese seine Voraussetzung bei dem deutschen Leser von heute nicht zutrifft, die Aufzeichnungen anderer Zeitgenossen aber aus Zensurgründen manche „Triebfedern“ kaum andeuten dürfen, wird hier zunächst eine Darstellung der Sachlage von J. Eckardt angeführt aus seinen „St. Petersburger Beiträgen zur neuesten russischen Geschichte“, die er 1881 anonym und nicht in Rußland erscheinen ließ (im Verlage von Duncker & Humblot, Leipzig).

Nach Eckardt ist „der für die gesamte spätere Entwicklung so außerordentlich verhängnisvoll gewordene Petersburger Studentenkrawall vom Herbst 1861 ... lediglich dadurch veranlaßt worden, daß der (neue) Universitätskurator Philipson zu den Freiheiten scheel sah, die der Kaiser persönlich und der frühere Unterrichtsminister Kowalewski der akademischen Jugend erteilt hatten, und daß der damalige Generalgouverneur von Petersburg Ignatjeff Studenten und Professoren grundsätzlich verabscheute und von Zugeständnissen an ‚Zivilisten‘ überhaupt nichts wissen wollte“. 1861 war u. a. auch die der militärischen sehr ähnliche Studentenuniform abgeschafft worden, um – alsbald wieder eingeführt zu werden.

N. N. Strachoff, der Mitherausgeber der „Materialien zur Lebensbeschreibung Dostojewskis“, der als Anhänger der Hegelschen Rechten dieselben Vorgänge von einem konservativeren Standpunkt aus sieht als es O. Miller tut, gibt in seinen „Erinnerungen an Dostojewski“ einen weiteren Überblick über die Vorgeschichte der Studentenunruhen, der gleichzeitig einen Einblick in die Petersburger Stimmung jener Zeit gewährt und auch Dostojewskis politische Stellungnahme beleuchtet, weshalb seine Ausführungen über die „Studentengeschichte“ hier in folgendem wiedergegeben sind:

„Ich will nun eines der wichtigen Ereignisse jener Zeit erzählen, die sogenannte Studentengeschichte, die sich zu Ende des Jahres 1861 abspielte und die den damaligen Zustand der Gesellschaft am besten beleuchtet. In dieser Geschichte wirkten wahrscheinlich verschiedene innere Triebfedern mit; doch diese werde ich nicht berühren,“ (Als Strachoff 1883 unter Alexander III. dies schrieb, wären Angaben, wie Eckardt sie gibt, von der Zensur nicht durchgelassen worden. E. K. R.) „sondern werde nur ihre äußere, öffentliche Erscheinung schildern, die für die Mehrzahl der handelnden Personen, wie für die Mehrzahl der Zuschauer die größere Bedeutung hatte.

„Die Universität, an der infolge des Zustroms von Liberalismus ein reges Leben herrschte, begann von diesem Leben mehr und mehr überzuschäumen; doch zum Unglück war das ein Leben, das die Beschäftigung mit der Wissenschaft verdrängte. Die Studenten hielten Versammlungen ab, gründeten eine Kasse, gründeten eine Bibliothek, gaben ein Sammelwerk heraus, führten eine Art Gerichtshof ein, in dem sie über ihre Kameraden das Richteramt ausübten, usw.; aber alles dieses zerstreute und beschäftigte sie so sehr, daß die Mehrzahl von ihnen, und sogar viele der Klügsten und Begabtesten, schließlich aufhörte, sich auch noch mit ihrem eigentlichen Studium zu befassen. Hinzu kam, daß es auch noch andere Unzulässigkeiten gab, d. h. Überschreitungen aller möglichen Dispense, und so entschloß sich die Universitätsbehörde zu guter Letzt, Maßregeln zu ergreifen, um diesem Lauf der Dinge ein Ende zu machen. Um sich eine unbestreitbare Autorität zu sichern, erwirkte sie einen allerhöchsten Befehl, durch den Zusammenkünfte, Kassen, Deputationen und Ähnliches den Studenten verboten wurden. Der Befehl wurde während der Sommerferien ausgegeben, und als die Studenten im Herbst sich wieder auf der Universität einfanden, mußte er in Anwendung gebracht werden. Die Studenten beschlossen, sich zu widersetzen, einigten sich aber auf die einzige Art von Widerstand, die mit liberalen Grundsätzen vereinbar ist, d. h. auf den ausschließlich passiven. Sie benutzten nun die verschiedensten Vorwände, um den Behörden möglichst viel Arbeit und der ganzen Sache möglichst viel öffentliches Aufsehen zu verschaffen. Und richtig brachten sie sehr geschickt den größten Skandal zustande, den man auf die Weise überhaupt in Szene setzen konnte. Die Regierung war zwei- oder dreimal gezwungen, sie mitten am Tage von der Straße in großen Scharen fortzuführen. Zur noch größeren Freude der Studenten wurden sie sogar in die Peter-Pauls-Festung gesetzt. Sie unterwarfen sich ohne Widerspruch diesem Arrest, dann der Verurteilung und Verschickung, – die für viele sehr schwer und langwährend ausfiel. Nachdem sie das getan hatten, glaubten sie, alles getan zu haben, was nötig war, d. h. sie hatten laut die Verletzung ihrer Rechte festgestellt, waren selbst nicht über die Grenzen der Gesetzlichkeit geschritten und hatten eine schwere Strafe auf sich genommen, gleichsam nur darum, weil sie für ihre Forderungen einstanden.

„Obwohl nun diese juridischen Begriffe auf Studierende eigentlich nicht anwendbar sind, so muß man doch sagen, daß die Studenten dieses liberal-juridische Drama zur Belehrung der übrigen Bürger tadellos und mit echter Begeisterung durchführten. Es war durchaus kein Aufruhr, nicht einmal einer im kleinsten Maßstabe. Das Interessanteste und Charakteristischste dabei war aber, daß sich schon damals sofort Leute fanden, die diese Studentengeschichte gar zu gern in einen Aufruhr verwandelt hätten; ja, daß diese Leute mit den Studenten schon in Verbindung zu treten suchten und sich mit Vorschlägen an sie heranmachten, wie z. B. ein Verbrechen zu begehen, durch das die Regierung in die Enge getrieben werden würde, u. a. m. Die revolutionären Elemente in der Gesellschaft waren schon herangereift; doch diesmal bewahrte der Liberalismus seine Reinheit, und so hatte es denn bei der lauten Demonstration sein Bewenden, also gewissermaßen bei einer öffentlichen Anklage vor der gesellschaftlichen Meinung. Um deswillen hatten viele junge Leute die Laufbahn ihres Lebens frohen Herzens für immer verdorben.

„Natürlich sprach nun die ganze Stadt von nichts anderem als von den Studenten. Die Verhafteten durften besucht werden und so kamen täglich eine Menge Menschen in die Festung, schon um den Studenten ihre Anteilnahme zu bezeugen. Auch von der Redaktion der ‚Zeit‘ wurde ihnen ein Gastgeschenk gesandt.“ (Strachoff war einer der Hauptmitarbeiter an dieser literarischen Monatsschrift, die die Brüder Dostojewski seit 1861 herausgaben, bis die Zeitschrift im Mai 1863 wegen eines von der Zensur mißverstandenen, in Wirklichkeit sehr national gedachten Artikels von Strachoff über die Polenfrage sistiert wurde. Vgl. Bd. XII der deutsch. Ausg. E. K. R.) „Bei Michail Michailowitsch wurde ein riesiges Roastbeef gebraten und mit einer Flasche Kognak und einer Flasche Rotwein in die Festung geschickt. Und als man diejenigen Studenten, die man als die Schuldigsten befunden hatte, schließlich zu verschicken begann, da wurden sie von Verwandten und Bekannten noch weit über das Weichbild der Stadt hinaus begleitet. Der Abschied war geräuschvoll und fand unter vielseitiger Beteiligung statt, und die Verschickten schauten zum größten Teil wie Helden drein.

„Der weitere Verlauf dieser Geschichte spielte sich in demselben Geiste ab. Die Universität wurde geschlossen: man wollte sie einer vollständigen Umgestaltung unterwerfen. Da baten die Professoren um die Erlaubnis, öffentliche Vorlesungen zu halten, und erhielten diese Erlaubnis ohne Mühe. Die Duma (der Stadtrat) überließ ihnen ihre Säle und die Universitätskurse fanden von nun an außerhalb der Universität ihre Fortsetzung. Alle Mühe für das Zustandekommen der Vorlesungen, sowie alle Sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung nahmen die Studenten auf sich und waren mit dieser neuen, freien Universität sehr zufrieden und sehr stolz auf ihre Leistung.

„Aber ihre Gedanken waren doch nicht bei der Wissenschaft, um die sie sich allem Anscheine nach so mühten, sondern waren mit etwas anderem beschäftigt, und das verdarb schließlich alles. Den Anlaß zur Aufhebung dieser Duma-Universität gab im Frühjahr 1862 der bewußte literarisch-musikalische Abend vom 2. März. Dieser Abend war im Grunde mit der Absicht veranstaltet worden, gewissermaßen eine Schau aller führenden fortschrittlich gesinnten literarischen Kräfte zu bieten. Die Auswahl der Schriftsteller war denn auch in diesem Sinne mit größter Sorgfalt vorgenommen worden; und in demselben Sinne war auch das Publikum das sorgsam ausgewählteste. Sogar die Musikstücke, mit denen die literarischen Vorträge abwechselten, wurden von den Frauen und Töchtern der Schriftsteller der guten Richtung ausgeführt. Fjodor Michailowitsch befand sich unter den Lesenden und seine Nichte unter den Mitwirkenden. Die Hauptsache jedoch war nicht das, was vorgetragen wurde, sondern waren die Ovationen, die man den Vertretern der fortschrittlichen Ideen darbrachte. Der Lärm, der Enthusiasmus war ein ungeheurer. Es hat mir später immer geschienen, daß die liberale Bewegung in unserer Gesellschaft an diesem Abend ihren höchsten Punkt erreichte, der zugleich der Kulminationspunkt unserer in der Luft sich abspielenden Revolution war. Eine der Episoden dieses Abends bildete den Anfang des schnellen Verfalls und der Enttäuschung unserer damaligen Fortschrittsbewegung. Es begann damit, daß Professor P-ff. seinen Artikel, der wie alles an diesem Abend Vorgetragene von der Zensur genehmigt worden war, wohl ohne jede Wortänderung, jedoch mit so ausdrucksvollen Betonungen und Gesten vortrug, daß alles einen ganz zensurwidrigen Sinn erhielt. Es erhob sich ein wahres Freudengeheul, ein nicht zu beschreibender Beifallsorkan. Doch siehe da: am nächsten Tage verbreitet sich überall die Kunde, daß Professor P. verhaftet und aus Petersburg bereits entfernt worden sei. Was war nun zu tun? Gegen eine solche Maßregel mußte man protestieren, aber wie, in welcher Form? Die Studenten folgerten ganz richtig, daß die Entfernung des einen Professors eine Drohung für die übrigen Professoren in sich schloß, so daß diese ihre Vorlesungen nicht gut fortsetzen konnten, wenn sie nicht gerade zu zeigen wünschten, daß sie ihren Kollegen für schuldig hielten, selbst aber vor der Regierung schuldlos dastehen wollten. So wurde denn beschlossen, die Duma-Universität zu schließen und damit gegen solche Eingriffe zu protestieren. Es war das ein Protest von der Art, wie unter Umständen die Professoren ihren Abschied zu nehmen pflegen – ein bekanntlich sich fortwährend wiederholender Vorgang an den russischen Universitäten, etwas Ähnliches wie der japanische Selbstmord. Die Studenten setzten bei dieser Beschlußfassung natürlich voraus, daß die ganze Gesellschaft von Schmerz und Zorn erschüttert sein werde, wenn die Universität, diese Hauptquelle ihrer Aufklärung, plötzlich geschlossen wurde. Die Professoren willigten denn auch ein, ihre Vorlesungen abzusagen, wie es die Studenten wünschten; nur einer oder zwei von ihnen setzten ihre Vorlesungen fort, wofür ihnen die Hörer Skandale zu machen begannen. Da griff schließlich die Regierung ein und machte der Sache ein Ende, indem sie den Professoren überhaupt verbot, öffentliche Vorlesungen zu halten.

„Was war nun das Ergebnis der ganzen Affäre? Es wurde sofort offenbar, daß die schlaue Berechnung, die Gesellschaft zu erregen und gegen die Regierung aufzubringen, vollkommen fehlgegangen war. Die Gesellschaft rührte sich nicht, und, statt zu wachsen, erlosch die Erregung vollständig. Die Anführer in dieser Sache hatten gar zu naiv geglaubt, daß der Lärm, der in ihren Studentenkreisen herrschte, der Ausdruck der allgemeinen Stimmung sei, und daß es ein leichtes wäre, das Publikum zu täuschen. In Wirklichkeit aber konnte doch niemand ernstlich daran glauben, daß man in der Regierung den Feind und Bedrücker der Aufklärung zu sehen habe. Die Unterlage der Sache war denn auch allen nur zu sichtbar, besonders als gleich darauf Proklamationen aufzutauchen begannen, eine nach der anderen, Proklamationen, von denen die erste hunderttausend Menschen als dem allgemeinen Wohl in Rußland im Wege stehend erklärte, während die letzte schon unverhüllt drohte, ‚die Straßen mit Blut zu überschwemmen und keinen Stein auf dem anderen zu lassen‘. Jedenfalls sah sich die Regierung, die in ihren Maßnahmen stets den liberalen Charakter zu wahren suchte, in eine recht schwierige Lage versetzt; es zeigte sich, daß jede liberale Maßnahme in der Gesellschaft eine Bewegung hervorruft, die sich der Maßnahme zu ihren Zwecken zu bedienen sucht, zu Zwecken, die nicht liberal, sondern durchaus radikal sind. Diese schwierige Lage der Regierung wurde erst durch die Petersburger Brände, die augenscheinlich infolge planmäßiger Brandstiftung entstanden, und den polnischen Aufstand beseitigt, als es endlich klar wurde, daß man das Böse, das so erschreckende Dimensionen annahm, nicht dulden und nicht seinem natürlichen Lauf überlassen darf.“

So weit N. N. Strachoff.

Nach den Aufzeichnungen J. Eckardts folgte „der Krisis vom Herbst 1861 allerdings etwas wie ein Systemwechsel ... Aber das durch die bisherigen Widersprüche erzeugte und von den bereits damals außerordentlich zahlreichen Radikalen genährte Mißtrauen gegen die Umgebung des Kaisers ließ sich nicht mehr völlig beschwichtigen und – die folgenden Maßregeln waren ebenso widerspruchsvoll wie die vorhergehenden.“ Diese Widersprüche in den Regierungsmaßnahmen erklärt Eckardt zum Teil dadurch, daß in den höchsten Ämtern Reaktionäre und Liberale einander „in regelmäßigem Turnus ablösten“.

Zur Geschichte der Zeit sei hier bemerkt, daß den Studentenunruhen, den Proklamationen, den Brandstiftungen, den seit der Bauernemanzipation stetig zunehmenden Agrarunruhen, dem Polnischen Aufstande usw. – am 4. Sept. 1866 bereits das erste Attentat auf das Leben Alexanders II., den „Zar-Befreier“ erfolgte, der schließlich dem sechsten Attentat am 1. März 1881 zum Opfer fiel, vier Wochen nach dem Tode Dostojewskis. E. K. R.

[77] Bedeutender literarischer Kritiker und radikaler Publizist (1828–1889, seit 1863 verbannt, starb in der Verbannung). Verehrer Lessings, Feuerbachs. Seit 1854 als Mitarbeiter, bald als Leiter der von Njekrassoff herausgegebenen Zeitschrift („Der Zeitgenosse“, gegen den Dostojewskis „Zeit“ – besonders Strachoff – später heftig polemisierte) gewissermaßen „Fortsetzer der literarischen Arbeit Bjelinskis“. Dem großen Einfluß seiner politischen Ideen auf die Jugend werden zum Teil auch die Studentenunruhen wegen der reaktionären Unterrichtspolitik zugeschrieben. Der Roman „Was tun?“, den er 1863 während seiner Untersuchungshaft in der Peter-Pauls-Festung schrieb – eine anschauliche Vorführung der Menschen und Einrichtungen, die er propagierte – hatte einen durchschlagenden Erfolg bei der jungen Generation. Die Geheimakten über seinen Prozeß sind von der „Dritten Abteilung“ bis heute noch nicht veröffentlicht. Als vermeintlicher Verfasser der Proklamation „An die junge Generation“ wurde Tschernyschewskis Mitarbeiter, der Dichter M. Michailoff, verschickt, während in Wirklichkeit ein anderer Mitarbeiter Tschernyschewskis, Schelgunoff, sie verfaßt hatte. Tschernyschewski nannte sich noch „Realist“; den „Realisten“ zu Anfang der sechziger Jahre folgten die „Nihilisten“ zu Ende des Jahrzehnts. In dem Tschernyschewski nahestehenden Kritiker und Mitarbeiter an derselben Zeitschrift Dobroljuboff, den man in vielem einen Schüler Tschernyschewskis nennen kann, glaubt man das Urbild von Turgenjeffs Basaroff – der erste Typ des Nihilisten im Roman „Väter und Söhne“ – zu erkennen (vgl. Masaryk: „Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie“, Verlag Diederichs, Jena). Auch Dostojewskis Pjotr Stepanowitsch Werchowenski – im Roman „Die Dämonen“ – erinnert namentlich in seinem Verhalten zu dem „großen Schriftsteller“ Karmasinoff, in dem Dostojewski Turgenjeff karikiert hat, an den jungen Dobroljuboff und dessen Umgang mit dem berühmten Turgenjeff. E. K. R.

[78] Anspielung u. a. auch auf Bakunin und den von diesem mitgerissenen Alexander Herzen, die Führer der russischen Emigration in London, die mit den polnischen Aufständischen gemeinsame Sache machten. E. K. R.

[79] Siehe die Einleitung zu Bd. XII der deutschen Ausgabe: N. N. Strachoff über Dostojewski. E. K. R.

[80] Nach Dostojewskis erster Reise ins Ausland, vom 7. Juni bis August 1862, im Winter desselben Jahres geschrieben und im Frühjahr 1863 in seiner literarischen Monatsschrift „Die Zeit“ veröffentlicht. E. K. R.

[81] Unbedeutender Dichter, versuchte in seinen „Petersburger Höhlen“ Eugène Sue’s „Geheimnisse von Paris“ nachzuahmen. E. K. R.

[82] Karamsins „Briefe eines russischen Reisenden“, in denen der nachmalige Historiograph des russischen Staates seine europäischen Eindrücke schildert, sind reichlich gefühlvoll geschrieben und namentlich in den Naturschilderungen oft überschwänglich im Ausdruck. Sie wurden 1791 veröffentlicht, hatten einen ungeheuren Erfolg und – gleich seinen späteren Werken – einen unabschätzbaren Einfluß auf die russische Sprachbildung. E. K. R.

[83] Denis I. Vonwisin (1745–92), Zeitgenosse Katharinas II., Verfasser der satirischen Lustspiele „Der Brigadier“ und „Das Muttersöhnchen“, die epochemachend wirkten, da sie nach den langweiligen Oden Lomonossoffs und Derschawins und den billigen Nachahmungen europäischer Literatur die ersten selbständigen Werke in russischer Sprache waren, die der russischen Wirklichkeit ihr Spiegelbild zeigten. Mit ihnen beginnt die russische Selbstkritik, die sogen. „Anklageliteratur“, die später in Gribojedoffs „Kummer durch Verstand“, Tschaadajeffs Briefen, Gogols Komödien und „Toten Seelen“ ihre Fortsetzung fand. Vonwisins „Briefe aus Frankreich“, in denen neben manchen Lästerungen zum ersten Mal Kritik an den Lehrern geübt wird, laufen im wesentlichen auf den Satz hinaus: „nous commençons et ils finissent“.[14] E. K. R.

[84] Dandy und Geschichtsphilosoph (1794–1856), Westler mit katholischen Sympathien, erhob in seinen „Lettres sur la philosophie de l’histoire“,[15] die an eine Dame gerichtet waren, die wuchtigsten Anklagen gegen Rußland, dem er geistige Schöpfungsmöglichkeiten absprach. Der erste Brief wurde 1836 in russischer Übersetzung veröffentlicht und erregte ungeheures Aufsehen: er wirkte, wie im 18. Jahrhundert Vonwisins satirischer Zeitspiegel kaum gewirkt hatte, und erreichte fast den Einfluß, der von Gribojedoffs Satire „Kummer durch Verstand“ seit 1825 ausgegangen war. E. K. R.

[85] Villenort bei Petersburg in einer hügeligen Landschaft. E. K. R.

[86] Vonwisin zeichnet die russischen Menschen alten Schlages als unglaublich unwissende, rohe, geistig und seelisch beschränkte Leute; doch auch die Söhne sind nicht besser: Hohlköpfe mit französischem Schliff oder Flegel, die nichts lernen, nichts wissen, sich von der Affenliebe der Mutter päppeln lassen. Die positiven Typen der Gebildeten, Aufgeklärten (Ssofja) bleiben bei ihm im Raisonneurhaften stecken. E. K. R.

[87] Turgenjeffs Roman „Väter und Söhne“ hatte bei seinem Erscheinen 1862 einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Daraufhin brachte Dostojewskis Freund N. N. Strachoff in der „Zeit“ einen Artikel, der als einzige Kritik dem Werk gerecht wurde und die Richtigkeit der aufgestellten Typen, die man als Verleumdungen verschrieen hatte, (den Nihilisten in Basaroff, die intellektuelle Frau in der Kukschina usw.) nachwies. E. K. R.

[88] Der Held in der epochemachenden Komödie „Kummer durch Verstand“, in der Gribojedoff (1794–1829) die moskauer Gesellschaft geißelte. Tschatzki kehrt nach dreijähriger Reise durch Europa nach Moskau zurück, erkennt die ganze Parodie, zu der die Europäisierung in den russischen Menschen geworden ist und reißt – zum Teil auch mit dem gerechten Fremdenhaß des Patrioten – den Vertretern der Gesellschaft die Masken ab. Tschatzki ist noch kein Mann der Tat: enttäuscht begibt er sich wieder ins Ausland. Als Tat aber ist die Komödie selbst zu betrachten, da sie in einer Zeit erschien, als nach der Hinrichtung der Dekabristen (1826), denen Gribojedoff nahe stand, niemand eine Kritik wagte. Tschatzkis (Gribojedoffs) Anklagen und Aphorismen wurden zu Bestandteilen der Umgangssprache und machten eine Propaganda, wie sie in anderer Form damals nicht denkbar gewesen wäre. Die Komödie war bis 1833 nur handschriftlich verbreitet, jedoch in Zehntausenden von Abschriften. Gribojedoff hat nur dieses eine Meisterwerk geschrieben: er wurde als bevollmächtigter Minister in Teheran vom Pöbel ermordet. E. K. R.

[89] Gribojedoffs Komödie spielt im Hause des höheren Staatsbeamten Famussoff: sie beginnt mit dem Morgen, an dem Tschatzki aus dem Auslande eintrifft, und endet mit dem späten Abend desselben Tages, nach dem Ball, im Vestibül. In Famussoff hat Gribojedoff seinen eigenen Onkel gezeichnet, dessen Festlichkeiten berühmt waren. E. K. R.

[90] Die Namen sind noch nach alter französischer Art Kennzeichnungen ihrer Träger. Repetiloff heißt etwa „Schwätzer“. Oberst Skalosub („Grinser“) ist ein beschränkter Gamaschenknopf. Natalja Dmitrijewnas ewig besorgte Liebe will aus ihrem früher frischfröhlichen Mann einen zugempfindlichen Stubenhocker machen. Die alte bissige Hlestowa (hlestatj – mit der Gerte schlagen) ist als Typ auch von Tolstoj in „Krieg und Frieden“ gebracht. Moltschalin („Schweiger“) ist Famussoffs Sekretär, der sich durch zwei „Tugenden“ auszeichnet: durch „Mäßigkeit und Akkuratesse,“ – ein gehorsamster Diener und Streber, der aus Berechnung sogar dem Hofhunde schmeichelt. E. K. R.

[91] Den meisten Russen ist die große Vorliebe des Bourgeois für zahlreiche Möbelstücke, Teppiche, Bilder, Bibelots, Nippes usw. etwas Unbegreifliches. E. K. R.

[92] Erster Beitrag Dostojewskis in Nr. 1 der Wochenschrift „Der Bürger“, Januar 1873. Siehe Einführung S. IX. E. K. R.

[93] Fürst W. Meschtscherski (geb. 1845), der Gründer und Herausgeber der Petersburger konservativen Wochenschrift „Der Bürger“, hatte Ende des Jahres 1872 Dostojewski zur Mitarbeiterschaft aufgefordert und dessen Bestätigung als Schriftleiter am 20. Dezember ohne Schwierigkeiten erlangt, da man Dostojewskis politische Richtung nun anders beurteilte, als in den vierziger Jahren und nach seiner Rückkehr aus Sibirien. – Von Dostojewskis ersten Werken waren „Arme Leute“ im „Petersburger Almanach“ erschienen, den Njekrassoff, der linksstehende Dichter des Proletariats, 1846 herausgab; die übrigen Werke Dostojewskis bis zu seiner Verhaftung 1849 erschienen in Krajewskis liberalen „Vaterländischen Annalen“, deren Kritiker und Zugstück der „gefährliche“ Bjelinski war. Auch 1859, nach seiner Rückkehr aus Sibirien, veröffentlichte Dostojewski die kleineren Romane „Der kleine Held“ und „Das Gut Stepantschikowo“ in den „Vaterländischen Annalen“. Von 1861–63 erschien alles, was er schrieb, in seiner Zeitschrift „Die Zeit“, so auch die „Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke“, die, geschrieben nach seinem Besuch bei Herzen in London, deutlich Herzens Einfluß verraten. Die Herausgeber und Mitarbeiter der „Zeit“ (der amtlich allein bestätigte Herausgeber war Dostojewskis Bruder, gegen den politisch nichts vorlag), Dostojewski, Apollon Grigorjeff und Strachoff, nannten sich „die Bodenständigen“ („Potschwenniki“), und namentlich der konservative Hegelianer Strachoff polemisierte in der „Zeit“ aufs schärfste gegen Njekrassoffs „Zeitgenossen“, das Organ der Radikalen (der später sog. „Nihilisten“), doch gleichzeitig wurde von Grigorjeff – der neben Strachoff von entscheidendem Einfluß auf Dostojewskis politisches Denken war – trotz seiner Beziehung zu den Slawophilen und seiner Mitarbeiterschaft an Pogodins „Moskowiter“, der ultranationale Katkoff verspottet (die Literatur sei für Katkoff Hekuba, er habe nur ihre politische Macht erkannt und suche diese auszunutzen). Jedenfalls waren die Zensoren sich noch nicht darüber klar, ob sie die „Zeit“ bezw. die „Bodenständigen“ als linksstehend oder rechtsstehend betrachten sollten, und auf Katkoffs Denunziation hin wurde die Zeitschrift 1863 sistiert (vgl. S. 160 Anm.). Der Aufstand der Polen, der Erbfeinde, bewirkte einen allgemeinen Umschwung der Geister in Rußland. Herzens Aufruf für die Polen (vgl. S. 175 Anm.) entzog ihm mit einem Schlage die ganze große Liebe der plötzlich national gesinnten russischen Intelligenz und trieb diese seinem Gegner Katkoff zu, der nun in den „Moskauer Nachrichten“ (1863 von neuem von ihm übernommen) einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Herzen begann. Herzens in London erscheinendes Blatt „Die Glocke“ (mit dem Motto „vivos voco“), das bis dahin die führende Stimme der nicht reaktionären Mehrheit der Intelligenz gewesen war, verlor in kürzester Zeit vier Fünftel seiner Abonnenten. Im Jahre 1864–65 arbeitete Dostojewski nach dem frühen Tode Grigorjeffs (1864) mit Strachoff in konservativ-nationalem Sinne an der Herausgabe der „Epoche“ (die Fortsetzung der sistierten „Zeit“), die aus finanziellen Gründen im Frühjahr 1865 einging. 1866 erschien sein erster großer Roman „Rodion Raskolnikoff“ in Katkoffs konservativem „Russischen Boten“, 1868 „Der Idiot“ und 1871–72 „Die Dämonen“ in demselben Blatt, das inzwischen zum Organ der geistigen Elite geworden war. Auf Grund dieser Romane und der Verschiebung seiner offiziellen Parteizugehörigkeit nach rechts, wurde er dann 1872 ohne Bedenken von seiten der Polizei als Redakteur bestätigt. E. K. R.

[94] Gemeint ist einer der zahlreichen Romane des Fürsten Meschtscherski „Einer von unseren Bismarcks“, der damals im „Bürger“ erschien und die Petersburger höhere Gesellschaft nicht ohne satirischen Beigeschmack schildert. E. K. R.

[95] Gemeint sind die Artikel des reaktionären Publizisten Katkoff (1820–87), der seit 1863 eine so führende Rolle spielte, daß Herzen von ihm sagen konnte, er habe dem Zarismus den Journalismus aufgezwungen. 1877 setzte er gegen den ursprünglichen Willen der Regierung den Krieg für die Balkanslawen durch, für den auch Dostojewski mit aller Überzeugung eintrat. Seit 1881 unter Alexander III. war Katkoff bei Hofe persona grata. E. K. R.

[96] „Die Stimme“ wurde in Petersburg von Krajewski, dem Gründer der „Vaterländischen Annalen“, herausgegeben und vertrat die liberale Richtung. E. K. R.

[97] Im Sommer 1862 in London. Das erwähnte Buch ist eine erste Abrechnung Herzens mit seinen revolutionären Illusionen. E. K. R.

[98] Historiker (1800–75), reaktionärer Chauvinist, gab die slawophile Zeitschrift „Der Moskowiter“ heraus, zu deren Mitarbeitern früher auch Apollon Grigorjeff gehört hatte. Pogodin war ein Kollege und Freund von Schewyreff (vgl. S. 84). 1835 wurde er vom Grafen Uwaroff (Unterrichtsminister von 1833–49) zum Professor der Geschichte an der Moskauer Universität ernannt, damit er die Orthodoxie im imperialistischen Sinne verteidige. Uwaroff hatte das offizielle Programm der Reaktion folgendermaßen formuliert: „Unsere gemeinsame Aufgabe besteht darin, dahin zu wirken, daß die Bildung der Nation in dem vereinten Geiste der Orthodoxie, Autokratie und Nationalität vor sich gehe ...“ und „... Inmitten des schnellen Verfalls der religiösen und bürgerlichen Institutionen in Europa, bei der Verbreitung der revolutionären Ideen allerorts, ist es Pflicht, das Vaterland auf einem unerschütterlichen Boden zu befestigen ...“ Auf diesem Boden der Formel Uwaroffs „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“ stand dann auch das Zarenwort an den Unterrichtsminister: „Schränke die Bildung ein“, und gegen diesen „Prometheus (Uwaroff), der das Feuer nicht Jupiter, sondern den Menschen stahl“, richtete Herzen seine geistreichsten Angriffe. E. K. R.

[99] Veröffentlicht im Januar 1873 in Nr. 2 des „Bürgers“ als zweiter Beitrag unter dem fortlaufenden Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“. E. K. R.

[100] Im Jahre 1845. Siehe „Alte Erinnerungen“ im vorliegenden Bande. E. K. R.

[101] Näheres über die Ursache dieser Einstellung Dostojewski’s zu den Revolutionären in der Einführung zum Roman „Die Dämonen“, neue Auflage, 1921. E. K. R.

[102] Bjelinski hat 1843 geheiratet. Es ist charakteristisch für die Radikalen und Revolutionäre Bjelinski, Herzen, Tschernyschewski, wie auch für Dobroljuboff und Pissareff, sowie für die späteren Lawroff und Michailowski –, daß sie eine überaus hohe und reine Auffassung von der Ehe hatten und auch sonst makellose Charaktere waren. E. K. R.

[103] Gattin des deutschen, 1848 nach der Schweiz geflohenen revolutionären Politikers, Gründers der internationalen Freiheits- und Friedensliga. E. K. R.

[104] Veröffentlicht im Dezember 1873 in Nr. 50 des „Bürgers“ als sechzehnter und letzter Beitrag Dostojewskis unter dem fortlaufenden Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“. E. K. R.

[105] Der Bakuninist Netschajeff hatte 1869 in Moskau unter der studierenden Jugend einen Geheimbund gegründet, der unter seiner Leitung alsbald den eigenen Genossen Iwanoff ermordete, weil dieser sie alle angeblich zu verraten beabsichtigte. Netschajeff wollte durch dieses Verbrechen die übrigen Mitglieder ganz in seine Macht bekommen und dann seinen „Katechismus der Revolution“ verwirklichen. Seine Ideen – „radikale und allgemeine Pandestruktion“ unter Verpönung aller Pläne für den zukünftigen Aufbau (vgl. S. 155 seinen Ausspruch vom „Werk der Zerstörung“) – veröffentlichte er in Genf in einem Blatt, das er „Volksgericht“ nannte und von dem 1869 und 70 je eine Nummer erschien. Der Prozeß wegen der Ermordung Iwanoffs („Der Prozeß der Siebenundachtzig“) begann 1871. Im folgenden Jahr wurde Netschajeff von der Schweiz als gemeiner Verbrecher ausgeliefert und 73 zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb 1882 in der Peter-Pauls-Festung. – Inwieweit Dostojewski in seinem Roman „Die Dämonen“, der 1870 begonnen, 71–72 veröffentlicht worden ist, den Fall Netschajeff als Vorlage benutzt hat, geht annähernd aus diesem Artikel hervor. Ob Dostojewski schon in den vierziger Jahren von Speschnjoffs „Entwurf“ (vgl. S. 82) gehört hat, muß dahingestellt bleiben; jedenfalls lagen diese Ideen schon in der Luft. Dostojewskis Freund, W. Ssolowjoff, nennt ihn gelegentlich einen „Propheten“, der nicht nur die Idee Raskolnikoffs, sondern auch den Prozeß Netschajeff „in den ‚Dämonen‘ bereits vorweggenommen hat“. Der Roman „Raskolnikoff“ war im Druck, jedoch noch nicht erschienen, als in Moskau gleichfalls von einem Studenten und in Paris aus denselben Gründen ein Mord verübt wurde. E. K. R.

[106] Unbedeutende liberale Zeitschrift. E. K. R.

[107] Bei der Berührung des Fußbodens mit der Stirn während des Gebets, – dem Sinne nach eine Redensart wie „blinder Eifer schadet nur“. E. K. R.

[108] Dieser Satz ist ausschließlich für die Zensoren geschrieben. Vgl. S. 135 Anm. E. K. R.

[109] Es war für alle vom Emigrationsfieber ergriffenen Russen jener Zeit zur unverbrüchlichen Gewohnheit geworden, sich mit der Bitte um Beschäftigung oder Unterstützung an Herzen zu wenden. Auch Kelssijeff – ein zum Radikalismus übergegangener Exseminarist, der die Priesterlaufbahn aufgegeben hatte, ein wertloser Mensch und sehr unerfreulicher Charakter – war 1860 mit seiner Frau und zwei kranken Kindern zu Schiff nach London gereist, um sich dort an Herzen zu wenden, der ihn als Korrektor in einer englischen Druckerei, die u. a. russische Bibeln druckte, unterbrachte und ihm aus Mitleid immer wieder half. E. K. R.

[110] Über die Geschichte dieser Stiftung „für revolutionäre Propaganda“, die nicht nur den einen jungen Russen von damals charakterisiert, geben die 1881 erschienenen „St. Petersburger Beiträge zur neuesten russischen Geschichte“ (vgl. S. 156 Anm.) folgenden Überblick:

„Im Jahre 1858 war ein blutjunger, durch radikale Zeitungslektüre europamüde gewordener Russe nach London gekommen, um von hier nach den (ihm kaum dem Namen nach bekannten) Marquesas-Inseln auszuwandern. Dieser Jüngling ... hatte seinen berühmten Landsmann gebeten, von den in seinem Besitz befindlichen 50000 Franken die Hälfte anzunehmen und für propagandistische Zwecke zu verwenden. Trotz aller Einwendungen Herzens, der wiederholt geltend machte, daß es ihm an Geld nicht fehle und daß er um die Verwendung der ihm angebotenen Summe verlegen sei, hatte der künftige Bürger der Marquesas-Inseln auf seinem Wunsche so nachdrücklich bestanden, daß Herzen schließlich nachgeben mußte. Er begleitete also seinen neuen Bekannten zu Rothschild, dessen Geschäftsleute sich vor Verwunderung nicht zu lassen wußten, als der junge Schwärmer sie fragte, welche Geldsorten auf den Marquesas-Inseln Kurs hätten und ob es nicht möglich wäre, ihm auf diesen Inseln einen Kredit zu eröffnen ... Nach langem Verhandeln kam man überein, daß der junge Auswanderer 30000 Franken in Gold auf die Reise mitnahm (allen Warnungen zum Trotz tat er diese Summe in einen kleinen schlecht verschlossenen Reisekoffer) und daß der Rest Herzen und Ogarew zur Verfügung gestellt werden sollte: beide Männer waren übereingekommen, diese Summe zinstragend anzulegen und unangetastet zu lassen, bis der Marquesas-Bürger dieselbe zurückfordere. Dabei behielt es sein Bewenden, obgleich der wunderliche Spender wider Erwarten nie wieder etwas von sich hören ließ und obgleich Bakunin sein möglichstes tat, um diese Summe in die Hände zu bekommen und mit Hilfe derselben an der Wolga oder in Odessa oder sonst irgendwo eine Revolution in Szene zu setzen. Gleichen Widerstand setzte Herzen den Werbungen der jungen ‚Nihilisten‘ entgegen, die einige Jahre später auf diesen ‚Allgemeinen Revolutions-Fonds‘ Anspruch erhoben und deren Verleumdungen er (eigener Angabe nach) ebenso gründlich verachtete, wie ihre albernen Unternehmungen. Der bezügliche Abschnitt seines Buches (‚Nachgelassene Schriften‘) gehört zum Schärfsten und zum Lehrreichsten, was über den Nihilismus überhaupt geschrieben worden ist und verdiente es, in Rußland öffentlich bekannt gemacht zu werden“.

Herzens Schriften durften in Rußland erst nach 1905 – in einer vielfach gekürzten Ausgabe – erscheinen. E. K. R.

[111] Veröffentlicht 1876 in der Juni-Nummer der Monatshefte, die Dostojewski seit dem Januar 1876 als „Tagebuch eines Schriftstellers“ allein schrieb und im Selbstverlage herausgab. E. K. R.

[112] Russischer Dichter (1783–1852), Romantiker, dessen Übersetzungen besonders der Balladen von Schiller, Goethe, Bürger, Byron, den Originalen fast gleichkommen. E. K. R.

[113] D. h. in den letzten Jahren der Regierungszeit Nikolais I., etwa von 1848–55. E. K. R.

[114] Unbedeutender Dichter, liberaler Aristokrat. E. K. R.

[115] Magnitzki – berüchtigter Zensor, bereits unter Alexander I. im streng reaktionären Sinne tätig. Staatsrat Liprandi zeichnete sich als Beamter des Polizeidepartements durch rücksichtslose Härte aus und erfreute sich der besonderen Gunst seines Gönners Dubbelt. Vgl. S. 100. E. K. R.

[116] Überpatriotische Schriftsteller und Herausgeber von Zeitschriften. Bulgarin, ein Expole, dessen Romane zu Anfang der dreißiger Jahre viel gelesen wurden, ist von Puschkin als Polizeispitzel charakterisiert worden. E. K. R.

[117] Veröffentlicht 1877 in der Januar-Nummer der Monatshefte „Tagebuch eines Schriftstellers“. E. K. R.

[118] Siehe S. 62 Anm. E. K. R.

Übersetzung französischer Textstellen

[1] Die Memoiren des Teufels

[2] fixe Idee

[3] Meisterwerk

[4] Geschichte der zehn Jahre

[5] Nein, Voltaire liebte die Menschen nicht genug.

[6] Rückzug

[7] dementsprechend

[8] Daß sie als stärkste Männer dennoch viel von der weiblichen Natur besitzen.

[9] Kritik der reinen Vernunft

[10] Die Extreme berühren sich.

[11] Ich hasse diese Räuber.

[12] Kölnisch Wasser

[13] Kölnisch Wasser oder das Leben!

[14] Wir fangen es an und sie beenden es.

[15] Briefe zur Geschichte der Philosophie

[16] zum Schein

[17] Aber bei mir ist das was anderes.

[18] auf halber Besoldung

[19] Ihr Berufsstand?

[20] Literat

[21] Eigentümer

[22] um Paris zu sehen

[23] Glaubst du daran?

[24] Der Dritte Stand ist alles. (Dem Dritten Stand gehörten laut französischer Ständegesellschaft alle außer Adel und Klerus an.)

[25] nach mir die Sintflut

[26] Eintopf

[27] militärischer Ruhm

[28] aufständischer Bauer aus dem 14. Jahrhundert

[29] ihr Glück machen

[30] Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

[31] Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - oder den Tod!

[32] Tisch der Pension

[33] Der Staat bin ich (Leitsatz der absolutistischen Monarchie, wird Ludwig dem XIV. zugeschrieben).

[34] allgemeines Wahlrecht

[35] Vorhalle

[36] jungfräuliche Stirn

[37] Hier liegt Voltaire.

[38] des schönen Frankreichs

[39] Hier liegt Jean Jacques Rosseau.

[40] der Mann der Natur und der Wahrheit

[41] Natur und Wahrheit

[42] Hier liegt Lannes.

[43] Das ist das Ende, mein Herr.

[44] gewisse Senatoren

[45] meine Gattin

[46] meine Frau

[47] Schatz (Aussprache: Mabisch)

[48] in flagranti

[49] Der Russe ist skeptisch und verspottet gern.

[50] große Wasserspiele

[51] Mein Mann hat das Meer noch nicht gesehen.

[52] das Meer sehen

[53] sich im Gras rollen

[54] mit der Natur

[55] mein Baum, meine Mauer

[56] Rasen

[57] Baumwollmütze

[58] der Degen meines Vaters

[59] russischer Gentleman und Weltbürger

[60] Das Leben Jesu

[61] an den deutschen Dichter Schiller, den Freund der Menschheit

[62] Freund der Menschheit

[63] Der Uskoke (Uskoken = ehemalige kroatische Piratengruppe)

[64] Vater Goriot

[65] Aus dem Weg - Hier komme ich!

[66] etwa

[67] Der letzte Aldini

Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Elfter Band
Autobiographische Schriften
R. Piper & Co. Verlag, München, 1921.
4. bis 8. Tausend

Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.

Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der public domain zur Verfügung gestellt.

Diese zusätzlichen Fußnoten sind durch kursiven Textstil gekennzeichnet.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

Derschawin (Dershawin)
Ludmila (Ludmilla)
Petraschewski (Petrachewski)
Wassili (Wassily)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™
Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life.
Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws.
The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact
Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS.
The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate.
While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate.
International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
Please check the Project Gutenberg web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works
Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support.
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