The Project Gutenberg EBook of Der Amateursozialist, by Bernhard Shaw This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Amateursozialist Roman Author: Bernhard Shaw Translator: Wilhelm Cremer Release Date: October 8, 2014 [EBook #47077] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER AMATEURSOZIALIST *** Produced by Peter Becker, Norbert H. Langkau and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net +------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ markiert, kursiver Text als | | ~kursiv~, Text in Antiqua ist als =Antiqua=, und Fettdruck als | | $fett$. | | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs. | +------------------------------------------------------------------+ Bernard Shaw Der Amateursozialist Roman Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam 1921 _Aus dem Englischen übersetzt_ von Wilhelm Cremer _Autorisierte Ausgabe_ Druck der Buchdruckerei Gustav Ascher G. m. b. H., Berlin SW 61 Erstes Kapitel. In der Dämmerung eines Oktoberabends trat eine nervös aussehende Frau von etwa vierzig Jahren durch eine Eichenholztür auf einen breiten Flur, der sich im ersten Stockwerk eines alten englischen Landhauses befand. Eine Haarlocke war über ihre Stirne gefallen, als ob sie tiefgebückt beim Lesen oder Schreiben gesessen hätte, und sie stand jetzt einen Augenblick still, um sie zurückzustreichen, und starrte nachdenklich -- aber durchaus nicht träumerisch -- durch das hohe, schmale Fenster. Von der Pracht des Sonnenuntergangs konnte sie nichts sehen, denn dieses Fenster ging nach Osten zu, wo die Landschaft mit ihren Schaftriften und Weidegründen langsam in dem trüben, grauen Dunkel versank. Die Dame blieb eine Zeitlang unschlüssig auf dem Flur stehen, wie jemand, der nur selten Ruhe und Frieden genießen kann. Dann ging sie auf eine andere Tür zu, auf der in weißen Buchstaben »Klassenzimmer Nr. 6« geschrieben stand. An der Schwelle machte sie aber wieder halt, da sie im oberen Stockwerk eine flüsternde Stimme hörte, und blickte vorsichtig an dem breiten, runden Geländer hinauf, das in einer ununterbrochenen Kurve und in gleichmäßiger Neigung durch alle Stockwerke des Hauses lief. Eine jugendliche Stimme, die offenbar jemand nachäffte, erscholl jetzt von oben. »Bitte, meine Damen, wir gehen nunmehr zu den =Etudes de la vélocité= über.« In demselben Augenblick schoß ein Mädchen in einem Leinenkleid an dem Geländer herunter. Sie wirbelte in furchtlosem Schwung um die Kurve und verschwand unten in der Dunkelheit. Ein stattliches Mädchen in Grün, das beim Abwärtsgleiten ängstlich den Atem anhielt, folgte ihr, und dann kam eine schon fast erwachsene Dame in Schwarz, die mit den Zähnen auf ihre Unterlippe biß und entsetzt ihre schönen braunen Augen aufriß. Ihr Flug erregte einen Miniatursturmwind, der die Haare der Dame auf dem Flur von neuem in Unordnung brachte. In atemloser Aufregung wartete sie, bis ein zweimaliges leichtes Aufspringen und ein schwereres Hinplumpsen des großen Mädchens ihr zeigten, daß die Luftschifferinnen glücklich im Hausflur gelandet waren. »Himmel!« rief die Stimme, die auch vorhin gesprochen hatte. »Da ist Susanna.« »Sie können Gott danken, daß Sie nicht den Hals gebrochen haben,« entgegnete eine aufgeregte Stimme. »Diesmal erzähl ich es Miß Wylie! Wirklich, ich tu es. Und Sie, Miß Carpenter: ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem Alter und Ihrer Größe nicht mehr Vernunft haben! Miß Wilson muß Sie ja hören, wenn Sie so aufplumpsen. Das ganze Haus zittert.« »Ach, Unsinn!« sagte Miß Wylie. »Die Lady Abbeß hütet sich, uns jedes Geräusch zu verbieten. Jetzt wollen wir --« »Mädchen,« sagte die Dame oben mit ruhiger, aber unheilvoll fester Stimme. Schweigen und äußerste Bestürzung folgten. Dann antwortete Miß Wylie in honigsüßem Tone. »Riefen Sie uns, _liebe_ Miß Wilson?« »Ja. Bitte, kommen Sie alle drei herauf.« Sie zauderten eine Weile, da jede der andern den Vortritt anbot. Zuletzt kamen sie alle drei herauf, in derselben Reihenfolge, in der sie heruntergeflogen waren, nur nicht in derselben Schnelligkeit. Sie folgten Miß Wilson in das Klassenzimmer und standen in einer Reihe vor ihr, während vom Westen her aus den drei Fenstern sie ein orangerotes Licht überstrahlte. Miß Carpenter, die größte von den dreien, glühte vor Verwirrung. Sie ließ die Arme herunterhängen und spielte mit den Fingern an den Falten ihres Kleides. Miß Gertrude Lindsay, die in blasses Seegrün gekleidet war, hatte einen kleinen Kopf, eine zarte Figur und perlenfeine Zähne. Sie stand aufrecht da, mit dem Ausdruck kühler Verachtung für Vorwürfe jeder Art. Das Leinenkleid der dritten Sünderin, das in dem grauen Zwielicht des Treppenhauses gelb gewesen war, sah jetzt im Zimmer in der warmen Abendglut weiß aus. Ihr Gesicht hatte einen glänzenden, olivenfarbenen Ton und schien wie von einem goldenen Flimmer überzogen. Ihre Augen und Haare waren nußbraun, und ihre Zähne, deren obere Reihe sie offen zeigte, waren wie aus feinem Marmor. Sie standen übrigens ziemlich nach außen und hätten ihren Mund verunziert, wären sie nicht von einer vollen Unterlippe und einem fein geschwungenen, etwas dreisten Kinn getragen worden. Ihrem halb schmeichelnden und halb spöttischen Gesicht und ihrem schnellen Lächeln konnte man nicht leicht ernst entgegentreten. Miß Wilson wußte das, und sie wollte sie nicht ansehen, selbst als sie ein krampfhaftes Auffahren und einen ärgerlichen Seitenblick Miß Lindsays bemerkte, die von ihrer Nachbarin gezwickt worden war. »Sie wissen, daß Sie die Regeln übertreten haben,« sagte Miß Wilson ruhig. »Es war nicht unsere Absicht. Wirklich nicht«, sagte das Mädchen in dem Leinenkleid in schmeichelndem Tone. »Bitte, Miß Wylie, was war denn Ihre Absicht?« Miß Wylie nahm dies unerwarteterweise als eine witzige Entgegnung und nicht als einen Vorwurf auf. Sie stieß einen komischen Schrei aus, der in einen langen Ausbruch von Gelächter überging. »Agatha, wollen Sie wohl still sein!« sagte Miß Wilson streng. Agatha machte ein zerknirschtes Gesicht, und Miß Wilson wandte sich hastig zu der ältesten von den dreien. »Über Sie, Miß Carpenter, bin ich am meisten erstaunt. Sie scheinen keine Lust zu haben, mir Ihr Wort zu halten und sich nach den Regeln zu richten, obgleich Sie alt genug sind, um deren Notwendigkeit einzusehen. Ich werde Sie nicht mit Vorwürfen oder Bitten belästigen, denn ich bin jetzt überzeugt, daß Sie sich doch nichts daraus machen« -- hier brach Miß Carpenter nach einem stummen Protest in Tränen aus -- »aber Sie sollten wenigstens die Gefahr bedenken, in die Sie die jüngeren Mädchen durch Ihre Kinderei bringen. Was würden Sie sagen, wenn Agatha ihr Genick gebrochen hätte?« »Oh!« rief Agatha und faßte sich schnell mit der Hand nach ihrem Nacken. »Ich glaubte nicht, daß eine Gefahr dabei sei,« sagte Miß Carpenter, mit ihren Tränen kämpfend. »Agatha hat es schon so oft getan -- oh, mein Gott, du hast mir das Kleid zerrissen!« Miß Wylie hatte ihre Mitschülerin am Rock gezogen, und der Ruck war zu stark gewesen. »Miß Wylie«, sagte Miß Wilson leicht errötend, »ich muß Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.« »O nein,« schrie Agatha und faltete betrübt die Hände. »Bitte, tun Sie es nicht, liebe Miß Wilson. Es tut mir so leid. Ich bitte Sie um Verzeihung.« »Da Sie nicht tun wollen, um was ich Sie bitte, muß ich selbst gehen,« sagte Miß Wilson streng. »Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer,« fügte sie, zu den beiden andern gewendet, hinzu. »Wenn Sie versuchen sollten, mir zu folgen, Miß Wylie, werde ich das als eine Zudringlichkeit ansehen.« »Aber ich will ja gehen, wenn Sie es wünschen. Ich wollte Ihnen nicht ungehorsam --« »Ich werde Sie jetzt nicht stören. Kommen Sie beide!« Die drei gingen hinaus, und Miß Wylie, die in Ungnade zurückblieb, schnitt Miß Lindsay ein grimmiges Gesicht, als diese sich noch einmal nach ihr umsah. Als sie allein war, ließ ihre Lebhaftigkeit nach. Sie ging langsam zu dem Fenster und blickte verzweiflungsvoll auf die Landschaft. Einmal, als von oben der Klang der Stimmen zu ihr herunterdrang, leuchteten ihre Augen auf und ihre flinke Lippe bewegte sich. Aber dann wurde es wieder still, und sie versank in eine verdrießliche Gleichgültigkeit, bis ihre zwei Genossinnen mit sehr ernsten Gesichtern wieder hereinkamen. »Nun,« sagte sie plötzlich munter, »hat sie moralische Überredung angewandt? Müßt ihr euch in das Sündenbuch eintragen?« »Still, Agatha,« sagte Miß Carpenter. »Du solltest dich über dich selber schämen.« »Nein, du solltest es, du Gans. Du hast mich in eine hübsche Patsche gebracht!« »Du warst es selbst schuld. Du hast mein Kleid zerrissen.« »Ja, als du mich verklatschtest, weil ich manchmal das Geländer heruntergleite.« »Oh!« sagte Miß Carpenter langsam, als ob sie daran noch gar nicht gedacht hatte. »Deshalb hast du mich am Kleid gezogen?« »Mein Gott! Das wird dir jetzt erst klar? Du bist ein schrecklich blödsinniges Mädchen, Jane. Was hat die Lady Abbeß gesagt?« Miß Carpenter begann wieder zu weinen und konnte nicht antworten. »Sie ist natürlich entrüstet über uns,« sagte Miß Lindsay. »Sie sagte, du wärest an allem schuld,« schluchzte Miß Carpenter. »Oh, Liebste, das macht nichts,« sagte Agatha begütigend. »Schreib es in das Sündenbuch.« »Ich schreibe kein Wort in das Sündenbuch, wenn du es nicht zuerst tust,« sagte Miß Lindsay ärgerlich. »Du hast mehr Schuld als wir.« »Gewiß, Liebste,« entgegnete Agatha. »Meinetwegen eine ganze Seite.« »Ich -- ich glaube, du schreibst _gern_ in das Sündenbuch,« sagte Miß Carpenter hämisch. »Ja, Jane. Das ist der beste Spaß, den man hier in diesem Loch hat.« »Es mag dir Spaß machen,« sagte Miß Lindsay scharf, »aber für mich ist es nicht sehr rühmlich, wie Miß Wilson grade sagte, daß ich in der Moralphilosophie einen Preis bekommen habe und dann einschreiben muß, ich wüßte mich selbst nicht zu benehmen. Außerdem laß ich mir nicht gerne sagen, ich sei schlecht erzogen.« Agatha lachte. »Was für eine kluge, alte Person sie ist! Sie weiß uns stets bei unseren kleinen Schwächen zu fassen, die sie genau kennt. Meinst du, sie würde jemals mir oder Jane erzählen, wir wären schlecht erzogen!« »Ich verstehe dich nicht,« sagte Miß Lindsay stolz. »Natürlich nicht. Du verstehst aber von der Moralphilosophie nicht soviel wie ich, trotzdem ich niemals einen Preis darin bekam.« »Du hast überhaupt noch keinen Preis bekommen,« sagte Miß Carpenter. »Und hoffentlich bekomm ich auch in Zukunft keinen,« sagte Agatha. »Lieber würde ich mich wie die Straßenjungens im Schnee um heißgemachte Pfennige herumbalgen, als mich darum streiten, wer die meisten Fragen beantworten kann. Ich habe genug Moralphilosophie an Doktor Watts. Aber jetzt wollen wir uns das Sündenbuch holen.« Sie ging an ein Gestell und holte ein schweres, in schwarzes Leder gebundenes Buch in Quartformat herunter, auf dem in roten Buchstaben die Inschrift _Meine Vergehen_ stand. Sie warf es unehrerbietig auf ein Pult und blätterte die Seiten um, bis sie an eine kam, die erst zum Teil mit Bekenntnissen ausgefüllt war. »Merkwürdig,« sagte sie, »hier sind ja zwei Eintragungen, die nicht von mir herstammen. Sarah Gerram! Was hat sie gebeichtet?« »Lies es nicht,« sagte Miß Lindsay schnell. »Du weißt, das ist das Schändlichste, was eine von uns tun kann.« »Puh! Wegen unserer kleinen Sünden braucht man nicht solches Geschrei zu machen. Ich habe es immer gern, wenn andere meine Eintragungen lesen, ich komme mir dann wie eine Schriftstellerin vor. Natürlich lese ich dann aus christlicher Nächstenliebe auch das von den andern. Also das Schuldbekenntnis der armen Sarah. >1. Oktober. Es tut mir sehr leid, daß ich heute morgen im Badezimmer Miß Chambers einen Klaps gab und ihr dabei einen Zahn ausschlug. Es war sehr häßlich, aber er fiel schon von selbst aus, und sie hat mir verziehen, weil ein neuer kommt. Sie hat auch nur geschwindelt, als sie sagte, sie hätte ihn heruntergeschluckt. Sarah Gerram.<« »So ein Schaf!« sagte Miß Lindsay. »Und mit solchen kleinen Kindern muß man sich in dasselbe Buch einschreiben!« »Hier ist ein rührendes Bekenntnis. >4. Oktober. Helen Plantagenet tut es sehr leid, daß sie gestehen muß, sie hat den ersten Platz in Algebra gestern mit Unrecht erhalten. Miß Lindsay sagte mir vor, und --<« »Oh!« rief Miß Lindsay errötend aus. »So dankt sie mir für das Vorsagen? Wie darf sie _meine_ Vergehen in das Sündenbuch eintragen?« »Das geschieht dir recht, weil du ihr vorgesagt hast,« sagte Miß Carpenter. »Sie war immer eine falsche Katze, und du hättest sie besser kennen sollen.« »Oh, du kannst mir glauben, ich tat es nicht um ihretwillen,« entgegnete Miß Lindsay. »Ich wollte nur verhindern, daß das Jackson-Mädchen den ersten Platz bekam. Helen Plantagenet kann ich nicht ausstehen, aber sie ist wenigstens eine Dame.« »Unsinn, Gertrude,« sagte Agatha mit etwas Ernst in ihrer Stimme. »Wenn man dich hört, glaubt man, deine Großmutter ist eine Köchin gewesen. Sei doch nicht so albern.« »Miß Wylie,« sagte Gertrude heftig errötend, »Sie sind sehr -- oh! oh! Halt Ag-- oh! Ich werde es Miß W-- oh!« Agatha hatte einen Finger zwischen ihre Rippen gesteckt und kitzelte sie unerträglich. »Sst,« flüsterte Miß Carpenter ängstlich. »Die Tür ist offen.« »Bin ich Miß Wylie?« fragte Agatha, indem sie unbarmherzig mit ihrer Folterung fortfuhr. »Bin ich wirklich -- was du da sagen wolltest? Bin ich --? bin ich --? bin ich?« »Nein, nein,« keuchte Gertrude und sank fast in Krämpfen in einen Stuhl. »Du bist sehr böse, Agatha. Du hast mir weh getan.« »Du verdienst es. Wenn du mir noch einmal zürnst oder mich Miß Wylie nennst, werde ich dich _töten_. Ich werde dir die Fußsohlen mit einer Feder kitzeln« -- Miß Lindsay schüttelte sich und verbarg ihre Füße unter dem Stuhl -- »bis deine Haare weiß werden. Und jetzt, wenn du wirklich solche Reue fühlst, schreibe dich in das Buch ein.« »Du mußt es zuerst tun. Du warst an allem schuld.« »Aber ich bin die jüngste,« sagte Agatha. »Nun gut,« sagte Gertrude in dem Bestreben, die Sache zu beschleunigen, aber entschlossen, nicht zuerst zu schreiben, »dann laß Jane Carpenter beginnen. Sie ist die älteste.« »Oh, natürlich,« sagte Jane mit kläglicher Ironie. »Laß Jane alle häßlichen Sachen zuerst tun. Ich halte das für sehr unfreundlich. Ihr bildet euch ein, Jane sei euer Narr, aber ihr irrt euch.« »Du bist sicher nicht so närrisch, wie du aussiehst, Jane,« sagte Agatha ernst. »Aber wenn ihr wollt, will ich zuerst schreiben.« »Nein, du sollst nicht,« schrie Jane und riß ihr die Feder aus den Händen. »Ich bin die älteste, und ich laß mich nicht von meinem Platz verdrängen.« Sie tauchte entschlossen die Feder in die Tinte und schickte sich an, zu schreiben. Dann hielt sie inne, überlegte und machte ein verwirrtes Gesicht. Schließlich wandte sie sich flehend an Agatha. »Was soll ich schreiben?« fragte sie. »Du verstehst dich auszudrücken, ich nicht.« »Setz zuerst das Datum,« sagte Agatha. »Natürlich,« sagte Jane, indem sie es schnell schrieb. »Ich vergaß das. Und dann?« »Jetzt schreibe: Es tut mir leid, daß mich Miß Wilson sah, als ich heute abend das Geländer hinunterglitt. Jane Carpenter.« »Das ist alles?« »Das ist alles. Oder du kannst auch noch etwas Selbsterfundenes hinzufügen.« »Hoffentlich ist es nicht unpassend,« sagte Jane und warf Agatha einen mißtrauischen Blick zu. »Doch es kann nichts Schlimmes dabei sein, denn es ist die einfache Wahrheit. Wenn du mir aber wieder einen Streich spielst, bist du ein häßliches, gemeines Geschöpf, und ich sehe dich nicht mehr an. Jetzt kommst du an die Reihe, Gertrude. Bitte, sieh mal nach, ob ich keinen Fehler gemacht habe.« »Ich bin nicht dein Orthographielehrer,« sagte Gertrude, indem sie die Feder in die Hand nahm. Und während Jane etwas über ihre Ungeschliffenheit murmelte, schrieb sie in flotten, großen Buchstaben: »Ich habe die Regeln übertreten, indem ich heute mit Miß Carpenter und Miß Wylie das Geländer herunterglitt. Miß Wylie tat es zuerst.« »Du Schuft!« rief Agatha aus, die ihr über die Schultern sah. »Und _dein_ Vater ist ein Admiral!« »Ich glaube, es ist ganz aufrichtig,« sagte Miß Lindsay eingeschüchtert, aber doch in dem Ton eines Sittenrichters. »Es ist die reine Wahrheit.« »All mein Vermögen ist im Handel erworben,« sagte Agatha, »aber ich würde mich doch vor mir selber schämen, wenn ich meine Schuld auf deine aristokratischen Schultern abwälzte. Du armseliges Ding! Hier, gib mir die Feder.« »Ich will es ausstreichen, wenn du es wünschst! Aber ich glaube --« »Nein, es soll da stehen bleiben und gegen dich zeugen. Jetzt paß auf, wie ich meine Sünden bekenne.« Und sie schrieb in einer feinen, flinken Handschrift: »Heute abend trafen mich Gertrude Lindsay und Jane Carpenter oben auf der Treppe. Sie sagten, sie möchten gerne das Geländer heruntergleiten, und würden es auch tun, wenn ich voranginge. Ich sagte ihnen, es sei gegen die Regeln, aber sie meinten, das machte nichts. Und da sie älter sind als ich, ließ ich mich von ihnen verleiten und glitt hinunter.« Agatha legte das Buch offen hin. »Nun, was haltet ihr davon?« fragte sie. Sie lasen es und erhoben lauten Widerspruch. »Es ist die reine Wahrheit,« sagte Agatha feierlich. »Es ist schmutzig, gemein,« sagte Jane energisch. »Erst wirfst du Gertrude ihren Fehler vor und dann gehst du hin und handelst selbst zweimal so schlecht! So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.« »Ja, wer Wind sät, wird Sturm ernten! heißt es in unserm Lesebuch,« sagte Agatha und fügte ihrer Beichte noch einen weiteren Abschnitt hinzu. »Aber ich war an allem schuld. Ich war auch ungezogen gegen Miß Wilson und weigerte mich, das Zimmer zu verlassen, als sie es mir befahl. Ich war aber nur beim Hinabgleiten mit Vorsatz böse. Ich liebe das Hinabgleiten so sehr, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte.« »Laß dich warnen, Agatha,« sagte Jane eindrücklich. »Wenn du unverschämte Bemerkungen in das Buch schreibst, wirst du weggejagt.« »Allerdings!« entgegnete Agatha bedeutsam. »Warte nur, bis Miß Wilson sieht, was _du_ geschrieben hast.« »Gertrude,« schrie Jane in plötzlicher Besorgnis, »hat sie mich verleitet, etwas Ungehöriges zu schreiben? Agatha, _bitte_, sag es mir, wenn --« Eine Glocke ertönte. Die drei Mädchen riefen wie aus einem Munde »Futtern!« und stürmten aus dem Zimmer. Zweites Kapitel. An einem sonnigen Nachmittag trieb ein Hansom mit großer Schnelligkeit die Belsize Avenue, St. Johns Wood, hinunter und hielt vor einem großen, vornehmen Hause. Eine junge Dame sprang heraus, rannte die Stufen hinauf und klingelte ungeduldig. Sie hatte einen bräunlichen Teint und scharfgeschnittene Gesichtszüge, dunkle Augen mit langen Wimpern, einen feinen Kopf, kleine Füße, Hände mit langen, spitzen Fingern und einen geschmeidigen und sehr schlanken Körper, der sich mit schlangenartiger Anmut bewegte. Ein orientalischer Geschmack schien die Farben ihrer Kleidung zusammengestellt zu haben. Sie trug ein weißes, eng anschließendes Kleid, das mit kunstvollen chinablauen Mustern bedruckt war, ferner einen gelben Strohhut, der mit künstlichem Weißdorn und roten Beeren bedeckt war. Die lohgelben Handschuhe reichten bis an die Ellbogen und waren mit einer Überfülle von goldenen Armbändern behangen. Da die Türe nicht sofort geöffnet wurde, klingelte sie in heftiger Weise noch einmal und wurde gleich darauf von einem Mädchen hereingelassen, das erstaunt schien, sie zu sehen. Ohne sich mit einer Frage aufzuhalten, stürzte sie die Treppen hinauf in das Gesellschaftszimmer, wo eine gesundaussehende Matrone, deren Züge den feinsten jüdischen Typus zeigten, beim Lesen saß. Ein hübscher Knabe in schwarzem Samtanzug war noch im Zimmer. »Mama,« rief er, »da ist Henrietta!« »Arthur,« sagte die junge Dame erregt, »geh sofort hinaus. Und du brauchst nicht wiederzukommen, bis du Erlaubnis bekommst.« Die gute Laune des Knaben verschwand, und er ging mürrisch hinaus, ohne ein Wort zu sprechen. »Ist etwas passiert?« fragte die Matrone und legte das Buch hin mit der sorglosen Gleichgültigkeit eines erfahrenen Menschen, der einen Sturm in einem Wasserglase voraussieht. »Wo ist Sidney?« »Fort ist er -- fort! Er hat mich verlassen! Ich --« Der jungen Dame versagten plötzlich die Worte, und sie ließ sich mit leidenschaftlichem Schluchzen auf eine Ottomane hinsinken. »Unsinn! Ich glaubte, Sidney hätte mehr Vernunft. Henrietta, sei nicht so töricht. Ihr habt euch natürlich gezankt.« »Nein! Nein!! Nein!!!« schrie Henrietta und stampfte auf den Teppich. »Nicht ein Wort haben wir uns gesagt. Seit meiner Verheiratung habe ich nicht ein einziges Mal meine gute Laune verloren -- ich schwör es dir feierlich. Ich werde Selbstmord begehen, es gibt keinen andern Weg. Auf mir liegt ein Fluch. Ich bin bestimmt, unglücklich zu sein. Er --« »Schweig still! Was ist denn geschehen, Henrietta? Du bist doch jetzt schon sechs Wochen verheiratet und darfst dich nicht wundern, wenn einmal ein kleiner Zwist ausbricht. Du bist so leicht erregbar! Du kannst aber nicht erwarten, daß der Himmel immer wolkenlos ist. Wahrscheinlich trägst du die Schuld, denn Sidney ist viel vernünftiger als du. Hör mit Weinen auf und benimm dich wie eine verständige Frau. Ich werde selbst zu Sidney hingehen und alles wieder in Ordnung bringen.« »Aber er ist fortgegangen, und ich weiß gar nicht, wohin. Oh, was soll ich tun?« »Was ist denn geschehen?« Henrietta machte eine ungeduldige Bewegung. Dann zwang sie sich dazu, ihre Geschichte zu erzählen, und sagte: »Wir verabredeten am Montag, ich sollte auf zwei Tage zu Tante Judith auf Besuch gehen, anstatt ihn nach Birmingham auf diesen schrecklichen Gewerkschaftskongreß zu begleiten. Wir schieden im besten Einvernehmen voneinander. Er konnte nicht herzlicher sein. Aber ich gehe in den Tod, mir ist jetzt alles gleich. Und als ich Mittwoch zurückkam, da war er fort, und dieser Brief --« Sie zog einen Brief aus der Tasche und weinte noch bitterlicher als vorher. »Laß mich ihn lesen.« Henrietta zauderte, aber ihre Mutter nahm ihr den Brief ab, setzte sich nahe ans Fenster und begann ihn zu lesen, ohne den heftigen Schmerz ihrer Tochter im geringsten zu beachten. Der Brief lautete folgendermaßen: Montag abend. Meine einzig Geliebte, ich bin fortgegangen, übersättigt von Liebe, und will mein eigenes Leben leben und meine eigene Arbeit tun. Ich hätte Dich auf diese Absicht nur durch Kälte oder Vernachlässigung vorbereiten können. Aber das war mir unmöglich, solange der Zauber Deiner Anwesenheit auf mich wirkte. Darum mußte ich fliehen, um mich selbst zu retten. Ich fürchte, ich kann Dir für meinen Schritt keine genügenden und verständlichen Gründe angeben. Du bist ein schönes und kostbares Geschöpf, das Leben gibt Dir nur dann volle Befriedigung, wenn es ein Karneval der Liebe ist. Mein Fall liegt grade umgekehrt. Bevor mir drei zärtliche Worte entschlüpft sind, mache ich mir schon Vorwürfe wegen meiner Torheit und Unaufrichtigkeit. Bevor eine Liebkosung erkalten kann, regt sich schon in mir in stärkster Weise das entgegengesetzte Gefühl. Ich muß wieder zu meinem alten, einsam strengen Einsiedlerleben zurückkehren, zu meinen trocknen Büchern, meiner Agitation für den Sozialismus, meinen Entdeckungsreisen durch die Wildnis des Gedankens. Ich heiratete Dich in dem unsinnigen Glauben, ich hätte auch jene natürliche Zuneigung, die andere Männer eine lebenslange Ehe ertragen läßt. Aber ich habe meinen Irrtum eingesehen. Du bist für mich die lieblichste Frau von der Welt. Nun habe ich fünf Wochen lang mit der lieblichsten Frau von der Welt zusammengelebt, ich habe mit ihr geplaudert und gescherzt, und das Ende ist, daß ich von ihr fliehe und in eine Einsiedelei gehe, bis ich sterbe. Die Liebe kann mich nicht beherrschen. Alles, was stark ist in mir, lehnt sich gegen sie auf und schüttelt sie ab. Vergib mir, daß ich Dir Unsinn schreibe, den Du nicht verstehst, und urteile nicht zu hart über mich. Ich war gegen Dich so gut, wie ich es mit meinem selbstsüchtigen Wesen sein konnte. Suche mich nicht aus meiner Verborgenheit aufzustören, in der ich bleiben will und bleiben muß. Mein Anwalt wird Deinem Vater schreiben und alle geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Du sollst so glücklich sein, wie Wohlstand und Freiheit Dich machen können. Wir werden uns wiedersehen -- später einmal. Leb wohl, meine letzte Liebe. Sidney Trefusis. »Nun?« fragte Mrs. Trefusis, die durch ihre Trauen bemerkte, daß ihre Mutter den Brief gelesen hatte und voll Verwirrung nachdachte. »Wahrhaftig!« sagte Mrs. Jansenius mit erregter Stimme. »Glaubst du, daß er ganz richtig im Kopf ist, Henrietta? Oder hast du zuviel Aufmerksamkeit von ihm verlangt. Die Männer widmen nicht gerne ihr ganzes Wesen ihren Frauen, selbst in den Flitterwochen nicht.« »Er sagte, er sei nur in meiner Nähe glücklich,« schluchzte Henrietta. »Noch nie hat es so etwas Grausames gegeben. Ich habe oft selbst nach einer Veränderung verlangt, aber ich fürchtete, seine Gefühle zu verletzen, wenn ich es sagte. Und jetzt hat er gar keine Gefühle. Aber er _muß_ zu mir zurückkommen. Nicht wahr, Mama?« »Natürlich müßte er. Hoffentlich ist er nicht mit einer andern davongelaufen?« Henrietta sprang auf, und ihre Wangen wurden rot. »Wenn ich das dächte, ich würde ihn bis an das Ende der Welt verfolgen und sie ermorden. Aber nein, er ist nicht wie die andern. Er haßt mich. Alle hassen sie mich. Du machst dir auch nichts daraus, ob ich verlassen bin oder nicht, und Papa nicht und niemand hier im Hause.« Mrs. Jansenius blieb noch immer gleichgültig bei der Aufregung ihrer Tochter. Sie überlegte einen Augenblick und sagte dann friedlich: »Du kannst nichts tun, bis wir Nachricht von dem Anwalt bekommen. Inzwischen kannst du hier bei uns wohnen, wenn du es willst. Ich habe nicht erwartet, daß du mich sobald besuchen würdest, aber dein Zimmer ist, seit du fortgegangen, noch nicht benutzt worden.« Mrs. Trefusis hörte auf zu weinen. Diese erste Andeutung, daß ihres Vaters Haus nicht mehr das ihrige sei, kühlte sie ab. Ein wirkliches Gefühl von Verlassenheit kam über sie. Unter seinem kalten Einfluß gewann sie ihre Fassung wieder, und ihr Stolz legte sich wie eine Schranke zwischen sie und ihre Mutter. »Ich will nicht lange hierbleiben,« sagte sie. »Wenn sein Anwalt mir nicht sagen will, wo er ist, werde ich ganz England nach ihm durchstöbern. Es tut mir leid, daß ich euch hier Störung mache.« »Oh, du wirst uns keine größere Störung machen, als du es immer getan hast,« sagte Mrs. Jansenius ruhig und war befriedigt, weil ihre Tochter den Wink verstanden hatte. »Du gehst jetzt am besten hinauf und wäschst dein Gesicht. Es kann Besuch kommen, und du willst doch die Leute nicht in dem Zustand empfangen. Wenn du Arthur auf der Treppe siehst, sag ihm, bitte, er solle hereinkommen.« Henrietta verzog boshaft ihre Lippen und verließ das Zimmer. Dann kam Arthur herein und stellte sich in mürrischem Schweigen an das Fenster, indem er darüber brütete, warum er wohl vorhin aus dem Zimmer verjagt war. Plötzlich rief er: »Da kommt Papa, und es ist noch nicht fünf Uhr!«, worauf ihn seine Mutter zum zweiten Male hinausschickte. Mr. Jansenius war ein Mann von würdigem Aussehen. Er war noch keine fünfzig Jahre alt, aber auch nicht weit davon ab. Er bewegte sich mit abgemessener Ruhe und machte ein Gesicht, als ob hinter seinen wulstigen Brauen kostbare Gedanken verborgen lägen. Seine schöne Adlernase und die scharfen, dunklen Augen verrieten seine jüdische Abstammung, deren er sich übrigens schämte. Die Leute, die das nicht wußten, glaubten natürlich, er sei stolz darauf, und begriffen nicht, warum er seine Kinder als Christen erziehen ließ. Er war wohlerfahren in Geschäftsangelegenheiten und hatte außer seiner Liebe zur Familie, seinem Streben nach Ansehen, Behaglichkeit und Wohlhabenheit keine Leidenschaften. So hatte er nicht nur das ererbte väterliche Vermögen bewahrt, sondern es auch beträchtlich vergrößert. Er war Bankier und stand auf dem Standpunkt, die unendlichen Ersparnisse, die das Banksystem mit sich führt, soviel wie möglich aufzufangen und in seine Tasche zu stecken und im übrigen die Welt grade so hart arbeiten zu lassen, wie sie es tat, bevor das Banksystem eingeführt war. Da aber die Welt unter solcher Bedingung überhaupt nicht zur Bank gegangen wäre, so gab er ihr, um sie anzulocken, ein wenig von diesen Ersparnissen ab. So hatten die Leute ihren kleinen Vorteil und er seine Genugtuung, daß er zugleich ein wohlhabender Staatsbürger und ein öffentlicher Wohltäter war, schwer an Geld und leicht im Gewissen. Er trat schnell in das Zimmer, und seine Frau sah, daß ihn etwas erregt hatte. »Weißt du, was geschehen ist, Ruth?« fragte er. »Ja, sie ist oben.« Mr. Jansenius starrte sie an. »Was, sie ist schon fortgegangen?« fragte er. »Welche Veranlassung hat sie, hierher zu kommen?« »Das ist doch ganz natürlich. Wo sollte sie sonst hingehen?« Mr. Jansenius, der nie seiner eigenen Ansicht traute, wenn sie von der seiner Frau abwich, entgegnete langsam: »Warum ging sie nicht zu ihrer Mutter?« Mrs. Jansenius war diesmal daran, erstaunt zu werden. Sie sah ihn mit kühler Verwunderung an und bemerkte: »Ich bin doch ihre Mutter, oder nicht?« »Ich wußte das nicht. Ich bin erstaunt, es zu hören, Ruth. Hast du auch einen Brief bekommen?« »Ich habe den Brief gelesen. Aber was wolltest du damit sagen, du wüßtest nicht, daß ich Henriettas Mutter sei? Du willst wohl Witze machen?« »Henrietta! Ist _sie_ hier? Ist das _noch_ ein Ärger?« »Ich weiß es nicht. Wovon sprichst du eigentlich?« »Ich spreche von Agatha Wylie.« »Oh, und ich sprach von Henrietta.« »Was ist denn mit Henrietta los?« »Was ist mit Agatha Wylie los?« Jetzt geriet Mr. Jansenius in Zorn, und sie hielt es für das beste, ihm Henriettas Bericht mitzuteilen. Als sie ihm Trefusis Brief gab, sagte er etwas ruhiger: »Ein Unglück kommt nie allein. Lies das,« und gab ihr einen andern Brief, so daß sie beide zu gleicher Zeit zu lesen begannen. Mrs. Jansenius las folgendes: An Mrs. Wylie, Acacia Lodge, Chiswick. Alton College, Lyvern. Sehr geehrte, gnädige Frau, zu meinem großen Bedauern muß ich Sie bitten, sofort Miß Wylie von Alton College zurückzuholen. In einem Institut wie dem meinigen, in dem die Schülerinnen so wenig wie möglich in ihrer Freiheit beschränkt sind, ist es notwendig, daß alle sich ohne Klagen und Widerstreben den wenigen unentbehrlichen Vorschriften fügen. Miß Wylie hat sich diesen Bedingungen nicht unterworfen. Sie erklärt, daß sie fortgehen will, und maßt sich ein Benehmen gegen mich und meine Kolleginnen an, das wir in Rücksicht auf uns selbst und auf ihre Mitschülerinnen nicht so hinnehmen können. Sollte Miß Wylie irgendeinen Grund haben, sich über ihre Behandlung oder über den Schritt, zu dem sie uns gezwungen hat, zu beklagen, so wird sie Ihnen das sicher mitteilen. Vielleicht sind Sie so freundlich und setzen sich mit Miß Wylies Vormund, Mr. Jansenius, ins Einvernehmen. Ich werde dann mit ihm ein Abkommen treffen, da Sie ja das Schulgeld für das laufende Jahr schon bezahlt haben. Mit vorzüglicher Hochachtung Maria Wilson. »Das ist ja eine hübsche, junge Dame!« sagte Mrs. Jansenius. »Das verstehe ich nicht,« sagte Mr. Jansenius, der einen roten Kopf bekommen hatte, als er den Brief seines Schwiegersohnes las. »Ich kann das nicht fassen. Was bedeutet das, Ruth?« »Ich weiß es auch nicht. Sidney ist wahrscheinlich verrückt, die Flitterwochen haben die Krankheit zum Ausbruch gebracht. Aber du darfst nicht dulden, daß er mir Henrietta wieder auf den Hals lädt.« »Verrückt! Glaubt er vielleicht, er könnte sich seinen Pflichten gegen seine Frau entziehen, weil sie meine Tochter ist? Glaubt er, weil sein Großvater von mütterlicher Seite ein Baron war, er könnte Henrietta an die Seite werfen, sobald er ihrer Gesellschaft überdrüssig geworden ist?« »Oh, das ist es nicht. An uns hat er gar nicht gedacht.« »Aber ich werde dafür sorgen, daß er an uns denkt,« schrie Mr. Jansenius mit lauter, aufgeregter Stimme. »Er soll mir Genugtuung geben.« Grade jetzt trat Henrietta wieder ins Zimmer und sah ihren Vater wütend auf und ab gehen und mehrmals wiederholen: »Er soll mir Genugtuung dafür geben.« Mrs. Jansenius winkte ihrer Tochter, daß sie ruhig bleiben sollte, und sagte begütigend: »Rege dich nicht auf, John.« »Aber ich will mich aufregen. Verdammter Hund! Verfluchter Schurke!« »Das ist er nicht!« schluchzte Henrietta, indem sie sich hinsetzte und nach ihrem Taschentuch griff. »Laß das nun endlich sein!« sagte Mrs. Jansenius scharf. »Du hast genug geweint, ich will nichts mehr davon hören.« Henrietta sprang leidenschaftlich auf. »Ich sage und tue, was ich will,« schrie sie. »Ich bin eine verheiratete Frau und lasse mir nichts befehlen. Und ich will meinen Mann wieder haben, und wenn er sich wer weiß wo versteckt. Papa, kannst du ihn nicht veranlassen, zurückzukehren? Ich sterbe sonst. Versprich mir, daß du ihn zurückbringst.« Dann warf sie sich ihrem Vater an die Brust und verhinderte jede weitere Auseinandersetzung, indem sie in einen Weinkrampf verfiel und das Haus durch ihr Geschrei in Aufruhr brachte. Drittes Kapitel. Eine der Lehrerinnen in Alton College war eine Mrs. Miller, eine altmodische Schulmeisterin, die nicht an Miß Wilsons System, die Mädchen durch moralische Überredung zu erziehen, glaubte und sich nur unter Protest danach richtete. Sie war zwar nicht bösartig, aber doch engherzig genug, um manchmal kleinlich zu handeln, und sie hatte alle Welt im Verdacht, sie gering zu schätzen. Besonders glaubte sie das von Agatha und behandelte sie, wenn sie mit ihr zu tun hatte, was glücklicherweise selten war, mit verächtlicher Höflichkeit. Agatha fühlte sich dadurch nicht verletzt, denn Mrs. Miller war eine unsympathische Frau, die unter den Mädchen wenig Freundinnen hatte und alle ihre Herzensgefühle auf einen großen Kater namens Gracchus übertrug, den man meistens Bacchus nannte, indem man die harten Anfangsbuchstaben milderte. Eines Nachmittags saß Mrs. Miller mit Miß Wilson im Arbeitszimmer und korrigierte einige Prüfungsarbeiten. Plötzlich hörte sie einen entfernten Schrei, der wie das Klagen einer Katze klang. Sie eilte an die Türe und lauschte. Gleich darauf erhob sich ein langgezogener Klagelaut, der durch zwei Oktaven hinaufging und dann langsam wieder abnahm. Es war wirklich das Schreien einer Katze, obgleich sie nicht bestimmen konnte, woher es kam. Aber jetzt folgte ein Kreischen und Fauchen, ein wütendes Spucken und Raufen, das ohne Zweifel aus einem Zimmer im unteren Stockwerk herausdrang, in welchem die älteren Mädchen zu studieren pflegten. »Mein armer Gracchus!« rief Mrs. Miller und lief so schnell die Treppe hinunter, wie sie konnte. Sie fand das Zimmer ungewöhnlich still. Jedes Mädchen war in das Lernen vertieft, nur Miß Carpenter, die so tat, als ob sie ein hingefallenes Buch aufhebe, saß da keuchend vor unterdrücktem Lachen, und alles Blut war ihr durch das Bücken in den Kopf gestiegen. »Wo ist Miß Ward?« fragte Mrs. Miller. »Miß Ward holt einige astronomische Zeichnungen, die wir brauchen,« sagte Agatha mit ernstem Blick. Grade jetzt kam Miß Ward mit den Zeichnungen in der Hand zurück. »Ist dieser Kater hier gewesen?« fragte sie, ohne Mrs. Miller zu bemerken, und in ihrem Ton lag ein starker Widerwillen gegen Gracchus. Agatha fuhr auf und zog ihre Füße an sich, als fürchtete sie gebissen zu werden. Sie schaute aufmerksam unter das Pult und sagte dann: »Es ist kein Kater hier, Miß Ward.« »Er muß aber irgendwo stecken, ich habe ihn gehört,« sagte Miß Ward gleichgültig, indem sie ihre Zeichnungen aufrollte und sie ohne weiteres zu erklären begann. Mrs. Miller, die um ihren Liebling besorgt war, beeilte sich, ihn anderswo zu suchen. Im Flur traf sie eins von den Hausmädchen. »Susanna,« sagte sie, »haben Sie Gracchus gesehen?« »Er schläft vor dem Kamin in Ihrem Zimmer, Madame.« »Aber ich hörte ihn doch vorhin hier unten schreien. Es ist sicher eine andere Katze eingedrungen, und sie haben sich gebissen.« Susanna lächelte mitleidig. »Aber, Madame,« sagte sie, »das war doch Miß Wylie. Sie spielt nur Theater. Sie macht die Biene an der Fensterscheibe, den Soldat im Kamin, die Katze unter dem Küchentisch. Alles ist so natürlich wie in der Wirklichkeit.« »Den Soldat im Kamin!« wiederholte Mrs. Miller entsetzt. »Ja, Madame. Wie ein Liebhaber, der sich im Kamin verbirgt, weil er die Hausfrau kommen hört.« Mrs. Millers Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. Sie kehrte in das Arbeitszimmer zurück und berichtete, was grade geschehen war. Dabei machte sie einige spöttische Bemerkungen darüber, wie großartig die moralische Überredung die Disziplin in der Anstalt fördere. Miß Wilson machte ein ernstes Gesicht, überlegte eine Zeitlang und sagte schließlich: »Ich muß darüber nachdenken. Wollen Sie für den Augenblick die Sache in meine Hände legen?« Mrs. Miller antwortete, es sei ihr gleichgültig, in wessen Händen sie bliebe, vorausgesetzt, daß sie selbst damit nicht mehr behelligt würde, und nahm ihre Korrekturarbeit wieder auf. Miß Wilson, die allein sein wollte, ging in das leere Klassenzimmer auf der andern Seite des Flurs. Sie nahm das Sündenbuch von dem Gestell und legte es vor sich hin. Seine Bekenntnisse schlossen mit einem Absatz in Agathas Handschrift. »Miß Wilson nannte mich unverschämt und schrieb meinem Onkel, ich gehorchte nicht den Vorschriften. Aber ich war nicht unverschämt, und ich habe mich niemals geweigert, den Vorschriften zu gehorchen. Das nennt man moralische Überredung!« Miß Wilson erhob sich zornig und rief: »Sie soll erfahren, ob --« Sie stockte plötzlich und sah sich schnell um. Es überkam sie die schreckliche Idee, Agatha könnte sich unbemerkt in das Zimmer eingeschlichen haben. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie allein war, prüfte sie ihr Gewissen, ob sie nicht doch Unrecht getan hätte, als sie Agatha unverschämt nannte, und kam zu dem beruhigenden Beschluß, Agatha sei in der Tat unverschämt gewesen. Aber sie erinnerte sich auch, daß sie vor kurzem Jane Carpenter, die eine Mitschülerin eine Lügnerin genannt hatte, es nicht gestattet hatte, sich auf gleiche Weise zu rechtfertigen. War sie nun damals ungerecht gegen Jane gewesen oder jetzt rücksichtslos gegen Agatha? Ihre Kasuistik wurde durch jemand unterbrochen, der leise eine Stelle aus der Ouvertüre des >Masaniello< pfiff, die in dem Pensionat beliebt war, weil man sie auf sechs Klavieren zwölfhändig spielen konnte. Nun gab es nur eine Schülerin, die unweiblich und musikalisch genug war, zu pfeifen, und Miß Wilson schämte sich, weil sie bei der Aussicht, mit Agatha zusammenzutreffen, nervös wurde. Agatha kam in trüber Stimmung und noch immer pfeifend herein. Als sie sah, in wessen Gegenwart sie sich befand, bat sie höflich um Verzeihung und wollte sich gerade wieder entfernen, als Miß Wilson, indem sie alle ihre Autorität und Sicherheit zusammennahm und hoffte, sie würde ihre anfängliche Verlegenheit schon überwinden, sagte: »Agatha, kommen Sie einmal her. Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Agatha preßte ihre Lippen zusammen, atmete tief durch die Nasenflügel ein und trat bis auf einen Schritt an Miß Wilson heran, wo sie mit gefalteten Händen stehen blieb. »Setzen Sie sich.« Agatha setzte sich mit einer einzigen Bewegung hin, wie eine Puppe. »Ich verstehe das nicht, Agatha,« sagte sie, indem sie auf die Eintragung im Sündenbuch hinwies. »Was meinen Sie damit?« »Ich werde ungerecht behandelt,« sagte Agatha mit Anzeichen beginnender Erregung. »In welcher Weise?« »In _jeder_ Weise. Man erwartet von mir, daß ich etwas mehr bin als andere Sterbliche. Jeder darf sich beklagen und schwach und töricht sein. Aber ich soll keine Gefühle haben. Ich muß immer in richtiger Verfassung sein. Alle andern können Heimweh haben, zornig werden oder niedergeschlagen sein. Ich darf keine Nerven haben und muß die andern den ganzen Tag am Lachen halten. Alle dürfen mürrisch werden, wenn man ein Wort des Vorwurfs an sie richtet, so daß die Lehrerinnen Angst haben, sie zu tadeln. Ich muß die Beschimpfung meiner Lehrerinnen ertragen, obgleich sie weniger Selbstbeherrschung haben als ich, ein Mädchen von siebzehn Jahren, und ich muß ihnen schmeicheln, bis ihre schlechte Laune, in die sie sich selbst gebracht haben, verschwunden ist.« »Aber, Agatha --« »Oh, ich weiß, ich rede Unsinn, Miß Wilson, aber können Sie von mir erwarten, daß ich immer vernünftig -- daß ich unfehlbar bin?« »Ja, Agatha, ich glaube, es ist nicht zu viel von Ihnen verlangt, immer vernünftig zu sein und --« »Dann haben Sie selbst weder Vernunft noch Gefühl,« sagte Agatha. Es entstand eine peinliche Pause. Sie wußten beide nicht, wie lange sie dauerte. Agatha fühlte, sie müßte etwas Verzweifeltes tun oder sagen, oder sie müßte fliehen. Sie machte eine verstörte Bewegung und rannte aus dem Zimmer. Sie traf ihre Kolleginnen in dem großen Saal des Hauses, in dem sie sich nach ihren Schulstunden zur >Erholung< versammelten. Diese Erholung war ein sehr geräuschvoller Vorgang, der stets sofort begann, wenn die Lehrerinnen gegangen waren. Agatha saß gewöhnlich mit ihren zwei besten Freundinnen auf einer hohen Fensterbank nahe am Herd. Diesen Platz hatte jetzt ein kleines Mädchen mit flachsgelbem Haar eingenommen, aber Agatha packte sie, ohne an das Prinzip der moralischen Überredung zu denken, bei den Schultern und setzte sie auf den Boden. Dann nahm sie ihren Platz ein und sagte: »Kinder, ich weiß etwas _ganz_ Neues!« Miß Carpenter riß begierig ihre Augen auf. Gertrude Lindsay stellte sich gleichgültig. »Jemand wird fortgejagt,« sagte Agatha. »Fortgejagt! Wer?« »Du wirst es bald genug erfahren, Jane,« entgegnete Agatha und wurde plötzlich ernst. »Es ist jemand, der eine unverschämte Eintragung in das Sündenbuch gemacht hat.« Jane bekam plötzlich Angst, und sie wurde ganz rot. »Agatha,« sagte sie, »Du hast mir gesagt, was ich schreiben sollte. Du weißt das und kannst es nicht leugnen.« »Ich kann das nicht leugnen? Ich bin bereit, es zu _beschwören_, daß ich dir nie in meinem Leben ein Wort diktiert habe.« »Gertrude weiß, daß du es getan hast,« sagte Jane erbleichend und fast in Tränen. »Ach, das Kind,« sagte Agatha und streichelte sie, als ob sie ein Riesenbaby wäre. »Nein, es wird nicht weggejagt werden. Hat schon jemand in den letzten Tagen das Sündenbuch gesehen?« »Seit unserer letzten Eintragung nicht mehr,« sagte Gertrude. »Knirps,« sagte Agatha zu dem flachshaarigen Mädchen, »geh hinauf auf Numero 6, und wenn Miß Wilson nicht da ist, dann hol mir das Sündenbuch.« Das kleine Mädchen knurrte etwas Undeutliches und rührte sich nicht. »Knirps,« fuhr Agatha fort, »hast du schon einmal gewünscht, nie geboren zu sein?« »Warum gehst du nicht selbst?« fragte das Kind eigensinnig, aber offenbar schon etwas in Angst. »Denn du wirst den Wunsch haben,« fuhr Agatha fort, ohne die Frage zu beachten, »daß du tot und begraben unter den schwärzesten Fliesen im Kohlenkeller liegst, wenn du mir das Buch nicht bringst, bevor ich sechzehn zähle. Eins -- zwei --« »Geh sofort und tu, was dir befohlen ist, du abscheuliches kleines Geschöpf,« sagte Gertrude scharf. »Wie kannst du es wagen, ungehorsam zu sein?« »-- neun -- zehn -- elf --« fuhr Agatha fort. Das Kind bekam Angst. Es ging hinaus und kam gleich darauf wieder, das Sündenbuch mit den Armen umspannend. »Du bist ein liebes, prächtiges Kind, sobald man deine besseren Eigenschaften durch strenge Anwendung der moralischen Überredung zum Vorschein bringt,« sagte Agatha lustig. »Erinnere mich daran, daß ich dir morgen abend die Rosinen aus meinem Pudding aufhebe. Und jetzt, Jane, sollst du die Eintragung sehen, wegen derer das gutherzigste Mädchen aus der ganzen Schule weggejagt wird. =Voilà!=« Die beiden Mädchen lasen es und waren entsetzt. Jane öffnete ihren Mund und schnappte nach Luft, Gertrude schloß ihre Lippen und sah sehr ernst drein. »Du willst doch nicht sagen, du hast den schrecklichen Mut gehabt, das der Lady Abbeß zu zeigen?« fragte Jane. »Pah, das hätte sie mir schon vergeben. Aber ihr hättet hören sollen, was ich ihr gesagt habe! Sie wurde dreimal ohnmächtig.« »Das ist ein Märchen,« sagte Gertrude ernst. »Was sagtest du?« fragte Agatha, indem sie schnell nach Gertrudes Knie griff. »Nichts,« schrie Gertrude und wand sich krampfhaft. »Tu es nicht, Agatha.« »Wie oft ist Miß Wilson in Ohnmacht gefallen?« »Dreimal. Ich schreie, Agatha, ich schreie wirklich.« »Dreimal, wie du sagtest. Und ich wundere mich, wie ein Mädchen, das, wie ihr, durch moralische Überredung erzogen wurde, solch eine Unwahrheit wiederholen kann. Aber wir hatten wirklich und wahrhaftig einen schrecklichen Streit. Sie verlor ihre Fassung. Glücklicherweise verliere ich die meine nie.« »Den Teufel glaub ich das!« rief Jane zweifelnd. »Aber nur weiter.« »Du willst aus einer alten Familie stammen und bist überaus gewöhnlich. Ich weiß nicht, was ich ihr sagte, aber die Entweihung ihres teuren Buches wird sie mir nicht vergeben. Ich werde so sicher fortgejagt, wie ich hier sitze.« »Was, du meinst, du gehst wirklich weg?« fragte Jane und bekam Angst, als sie an die Folgen dieses Fortgehens dachte. »Natürlich. Aber was aus dir werden soll, wenn ich dir nicht mehr bei deinen Aufgaben helfe, oder aus Gertrude, wenn ich ihr nicht mehr diese eingefleischte Vornehmtuerei austreibe, das weiß ich selber nicht.« »Ich bin nicht vornehmtuerisch,« sagte Gertrude, »obgleich ich mich nicht mit jedem gemein mache. Aber gegen dich habe ich nie etwas eingewendet, Agatha.« »Nein, ich würde es dir auch nicht geraten haben. Hallo, Jane!« rief sie, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. »Was ist denn los? Hoffentlich erlaubst du dir nicht die Freiheit, meinetwegen zu weinen.« »Ja, Agatha,« schluchzte Jane unwillig. »Ich weiß, ich mache mich durch mein Mitgefühl lächerlich. Aber du hast kein Herz.« »Gewiß machst du dich lächerlich, indem du das bei jeder Gelegenheit zeigst,« sagte Agatha und schlang ihre Arme um Jane, ohne auf deren ärgerliches Sträuben zu achten. »Aber wenn ich wirklich etwas Herz hätte, würde ich jetzt durch diesen Beweis deiner Zuneigung gerührt sein.« »Nie habe ich gesagt, du hättest kein Herz,« widersprach Jane. »Ich kann nur nicht leiden, wenn du wie ein Buch sprichst.« »Du kannst nicht leiden, wenn ich wie ein Buch spreche? Meine liebe, närrische alte Jane! Ich werde dich sehr vermissen.« »Jawohl, das wirst du,« sagte Jane mit bitterer Ironie. »Wenigstens wird dich jetzt mein Schnarchen nicht mehr im Schlafe stören.« »Du schnarchst ja gar nicht, Jane. Wir haben uns nur verschworen, dir das einzureden. Ist es nicht schön von mir, daß ich dir das erzähle?« Jane war überwältigt von dieser Aufklärung. Nach einer langen Pause sagte sie in tiefer Überzeugung, »das wußte ich schon immer, daß ihr das tatet. Aber die Art, wie ihr es durchführtet! Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich von jetzt ab niemand mehr glauben will.« »Nun, und was denkst _du_ über die ganze Sache?« fragte Agatha, indem sie ihre Aufmerksamkeit Gertrude zuwandte, die sehr ernst geworden war. »Ich denke -- und ich meine es wirklich so, Agatha -- daß du vollständig im Unrecht bist.« »Bitte, warum denkst du das?« fragte Agatha etwas erregt. »Du mußt es sein, sonst wäre Miß Wilson nicht böse über dich! Natürlich, nach deiner eigenen Darstellung bist du immer im Recht, und alle andern haben unrecht. Aber du hättest das nicht in das Buch hineinschreiben sollen. Du weißt, ich spreche als deine Freundin.« »Bitte, was weiß deine armselige kleine Seele von meinen Gedanken und Gefühlen?« »So schwer ist das nicht, dich zu verstehen,« entgegnete Gertrude gereizt. »Eigendünkel ist keine solche seltene Sache, daß man ihn nicht erkennen könnte. Und denke daran, Agatha Wylie,« fuhr sie, wie von einer unerträglichen Erinnerung angestachelt, fort, »wenn du wirklich fortgehst, dann ist es mir gleich, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht. Ich hab den Tag nicht vergessen, da du mich eine boshafte Katze nanntest.« »Ich habe es bereut,« sagte Agatha ruhig. »Ich habe mich einmal hingesetzt und Bacchus beobachtet, der auf dem Feuerplatz saß. Er blickte mit seinen träumerischen Augen so gedankenvoll und geduldig in die Ferne, daß ich ihn um Verzeihung bat, weil ich ihn mit dir verglichen habe. Wenn ich ihn eine boshafte Katze nannte, er würde es mir einfach nicht glauben.« »Weil er wirklich eine Katze ist,« sagte Jane mit dem Lächeln, das meist so schnell auf Tränen folgt. »Nein, aber weil er nicht boshaft ist. Gertrude bewahrt ein Sündenbuch in ihrem eigenen kleinen Kopf, und es ist so voll von andrer Leute Sünde -- alle in großen Buchstaben hineingeschrieben und durch ein Vergrößerungsglas zu lesen -- daß sie keinen Platz hat, ihre eigenen einzutragen.« »Du drückst dich sehr poetisch aus,« sagte Gertrude. »Aber ich verstehe, was du meinst, und ich werde es nicht vergessen.« »Du undankbarer Wicht,« schrie Agatha, indem sie sich so plötzlich und heftig gegen sie wandte, daß sie unwillkürlich zur Seite wich. »Wie oft habe ich nicht, wenn du unverschämt und falsch gegen mich sein wolltest, deinen bösen Engel vertrieben, indem ich dich kitzelte? Hattest du, bevor ich hierher kam, eine Freundin in der Anstalt, außer einem halben Dutzend Bauernmädchen? Und jetzt, weil ich dich manchmal zu deinem eigenen Nutzen auf deine Fehler aufmerksam gemacht habe, hegst du Groll gegen mich und sagst, es sei dir gleichgültig, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht!« »Das habe ich nicht gesagt.« »Oh, Gertrude, du weißt ganz gut, daß du es gesagt hast,« bemerkte Jane. »Du denkst wohl, ich hätte kein Gewissen,« sagte Gertrude jammernd. »Ich wollte, du hättest keins,« sagte Agatha. »Sieh mich an! Ich habe kein Gewissen und weiß, wieviel vergnügter ich dabei bin.« »Du kümmerst dich nur um dich selbst,« sagte Gertrude. »Nie glaubst du, daß andere Leute auch Gefühle haben. Auf mich nimmt überhaupt niemand Rücksicht.« »Oh, so hör ich dich gerne reden,« rief Jane ironisch. »Auf dich wird überhaupt viel mehr Rücksicht genommen, als dir gut tut. Und je mehr man auf dich Rücksicht nimmt, desto größere Ansprüche stellst du.« »Der Appetit,« deklamierte Agatha theatralisch, »kommt mit dem Essen. Das wußte auch schon Shakespeare.« »Zum Henker mit Shakespeare!« sagte Jane ungestüm. »Der alte Narr bildet sich etwas darauf ein, daß er abgedroschene Redensarten vorträgt. Aber wenn _du_ dich beklagst, Gertrude, weil auf dich keine Rücksicht genommen wird, was soll _ich_ denn sagen, die von allen zum Narren gehalten wird? Aber ich bin nicht so närrisch wie --« »Wie du aussiehst,« warf Agatha dazwischen. »Ich hab es dir unendlich oft gesagt, Jane, und es freut mich, daß du dich endlich zu meiner Meinung bekehrt hast. Was möchtest du lieber sein, ein größerer Narr als du --« »Oh, halt ein,« sagte Jane ungeduldig, »du hast mich das diese Woche schon zweimal gefragt.« Die drei schwiegen hierauf eine kurze Zeit. Agatha überlegte, Gertrude war verdrießlich, Jane gedankenlos und unruhig. Schließlich sagte Agatha: »Dann leidet ihr zwei wohl auch unter der Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht der andern, die euch mißverstehen, die alles von euch erlangen und nie Entschuldigungen für euch gelten lassen?« »Ich weiß nicht, was du damit meinst, daß wir zwei darunter auch leiden!« sagte Gertrude kühl. »Ich ebenfalls nicht,« sagte Jane ärgerlich. »Das ist doch grade die Art, wie alle mich behandeln. Du kannst lachen, Agatha, und sie mag ihre Nase rümpfen, wie sie will, du weißt, daß es wahr ist. Gertrudes Idee, uns einzureden, es würde nicht genug Rücksicht auf sie genommen, ist weiter nichts als Gefühlsduselei, Eitelkeit und Blödsinn.« »Sie sind außerordentlich roh, Miß Carpenter,« sagte Gertrude. »Meine Manieren sind so gut wie die Ihrigen und vielleicht besser,« entgegnete Jane. »Meine Familie ist sicher so gut.« »Kinder, Kinder,« sagte Agatha in ermahnendem Tone, »vergeßt nicht, daß Ihr geschworene Freundinnen seid.« »Wir haben nicht geschworen,« sagte Jane. »Wir wollten drei geschworene Freundinnen werden, und Gertrude und ich waren auch dabei, aber du wolltest nicht schwören, und so wurde nichts aus der Sache.« »So ist es,« sagte Agatha. »Und jetzt verschwende ich all meine Zeit, um zwischen euch Frieden zu halten. Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, ist es einer von euch schon einmal in den Sinn gekommen, daß niemand auf _mich_ Rücksicht nimmt?« »Ich glaube, du hältst das für etwas Spaßhaftes. Du handelst wirklich danach, daß man auf dich Rücksicht nimmt,« sagte Jane spöttisch. »Du kannst nicht sagen, ich nähme keine Rücksicht auf dich,« sagte Gertrude vorwurfsvoll. »Ja, weil ich dich kitzle.« »Ich nehme Rücksicht auf dich und bin nicht kitzlich,« sagte Jane zärtlich. »Wirklich! Laß mich einmal versuchen,« sagte Agatha und schlang ihren Arm um Janes umfangreiche Taille, worauf sie ihr eine durchdringende Mischung von Lachen und Schreien entlockte. »Sst--sch!« flüsterte Gertrude schnell. »Da ist die Lady Abbeß.« Miß Wilson war grade in das Zimmer eingetreten. Agatha tat so, als bemerkte sie ihre Anwesenheit nicht. Sie zog verstohlen ihren Arm zurück und sagte laut: »Wie _kannst_ du nur so ein Geschrei machen, Jane? Du bringst ja das ganze Haus in Aufruhr.« Jane wurde rot vor Unwillen, aber sie mußte jetzt still sein, denn die Augen der Vorsteherin ruhten auf ihr. Miß Wilson hatte ihren Hut auf. Sie sagte, sie müßte nach Lyvern gehen, zum nächsten Dorfe. Ob einige Damen aus der sechsten Klasse sie begleiten wollten? Agatha sprang sofort von ihrem Sitz herunter, und Jane unterdrückte ein Lachen. »Miß Wilson sagte, die sechste Klasse, Miß Wylie,« bemerkte Miß Ward, die auch hereingetreten war. »Sie sind nicht in der sechsten Klasse.« »Nein,« sagte Agatha sanft, »aber ich möchte mitgehen, wenn ich darf.« Miß Wilson sah sich um. Die sechste Klasse bestand aus vier lernbegierigen jungen Damen, deren Lebensziel für den Augenblick eine Aufnahmeprüfung an einer Universität, oder wie man auf der Schule sagte, das Cambridgezeugnis war. Keine von ihnen antwortete. »Dann die fünfte Klasse,« sagte Miß Wilson. Jane, Gertrude und vier andere erhoben sich und stellten sich neben Agatha. »Gut,« sagte Miß Wilson. »Machen Sie nicht so lange mit dem Anziehen.« Sie eilten schnell hinaus und stürmten mit Geräusch die Treppen hinauf. Agatha, die für das Cambridgezeugnis gar kein Interesse hatte, strebte voll Ehrgeiz danach, stets am schnellsten die Treppen hinauf- oder hinunterzueilen. Sie kamen bald zum Spaziergang gekleidet zurück und verließen zwei und zwei in einer Prozession das Institut. Jane und Agatha gingen voran, Gertrude und Miß Wilson kamen zuletzt. Die Landstraße nach Lyvern führte über Weideland, das früher urbar gewesen war, aber jetzt dem Vieh überlassen wurde, weil dieses dem Eigentümer mehr Geld einbrachte als die Pächter, denen er es weggenommen hatte. Miß Wilsons junge Damen hatten auch Unterricht in der Volkswirtschaft. Sie wußten, daß jeder Gegenstand zu dem Zweck benutzt wurde, der am notwendigsten war, und wenn hier der ganze Ertrag nur dem Eigentümer zufiel, so war das ganz natürlich, weil er der vornehmste Gentleman in der Gegend war. Zwar hatte dieser Zustand auch seine unangenehme Seite. Es gab da eine Menge Rinder, so daß sie Angst hatten, die Felder zu überschreiten, es gab eine Menge Vagabonden, so daß sie sich fürchteten, über die Landstraße zu gehen, und es waren viel zu wenig Gentlemen da, die Verständnis für den Zauber weiblicher Reize hatten. Der Himmel war bewölkt. Agatha, die nichts auf schmutzige Schuhe gab, watete durch die Haufen gefallener Blätter mit dem Entzücken eines Kindes, das im Wasser herumpatscht. Gertrude setzte ihre Füße sorgfältig hin, und die andern gingen leise plaudernd des Weges, höchstens, daß sie hier und da einmal in lauterem Tone eine wissenschaftliche oder philosophische Bemerkung machten, damit Miß Wilson sie hörte und auch eine Freude hatte. Außer einem Viehtreiber, der etwas von dem Wesen und Ausdruck der Rinder, die er leitete, angenommen zu haben schien, trafen sie keinen Menschen, bis sie sich dem Dorfe näherten. Hier aber tauchten hinter einer Anhöhe zwei Personen männlichen Geschlechts in der Gestalt zweier Geistlichen auf. Einer war groß und mager, hatte ein glatt rasiertes Gesicht, ein Buch unter dem Arm und einen lang herausgereckten Hals. Der andere war von mittlerer Größe, kräftigem Körper und grader Haltung. Er sah unternehmungslustig aus mit seinem schwarzen Backenbart, und auf seinem Gesicht lag ein energischer Protest gegen alle solche Ansichten, als ob ein Geistlicher nicht heiraten, jagen, Kricketspielen oder sonst an einem anständigen, weltlichen Sport teilnehmen dürfte. Der Geschorene war Mr. Josephs und sein Begleiter Mr. Fairholme. Agatha hatte eine böse biblische Veränderung dieser beiden Namen erfunden. »Da kommen Pharao und Joseph,« sagte sie zu Jane. »Joseph wird erröten, wenn du ihn ansiehst. Pharao errötet erst, wenn er an Gertrude vorbeikommt, obgleich wir das heute nicht sehen können.« »Wahrhaftig, Josephs!« sagte Jane verächtlich. »Er liebt dich, Jane. Magere Männer wollen dicke Frauen haben. Pharao, der ein Bauer ist, liebt blaues Blut, weil Gegensätze sich anziehen. Deshalb fesselt ihn Gertrudes aristokratische Miene.« »Wenn er nur wüßte, wie sehr sie ihn verachtet!« »Er ist zu eitel, um das zu vermuten. Übrigens verachtet Gertrude jeden Menschen, auch uns beide. Oder vielmehr, sie verachtet niemand im besondern, sie ist nur hochmütig von Natur wie du dick bist.« »Pah! Ich will lieber dick als eingebildet sein. Sollen wir uns verneigen?« »Ich tu es sicher. Ich will doch Pharao erröten machen.« Die zwei Geistlichen taten so, als betrachteten sie mit Interesse den wolkigen Himmel, und blickten erst auf die Mädchen, als sie dicht bei ihnen waren. Jane warf Josephs mit solcher Verschlagenheit einen Blick zu, daß an ihrer Lieblingsversicherung, sie sei nicht so dumm, wie die Leute meinten, doch etwas Wahres sein mußte. Er errötete und zog seinen niedrigen, weichen Filzhut. Fairholme grüßte sehr feierlich, denn Agatha verneigte sich vor ihm in ausgeprägter Würde. Aber als seine Ernsthaftigkeit und sein vornehmer Zylinderhut sich in ihrem höchsten Glanze zeigten, warf sie ihm schnell ein spöttisches Lächeln zu, und auch er errötete, und zwar um so tiefer, weil er über sein Erröten wütend wurde. »Hast du schon einmal zwei solche Narren gesehen?« flüsterte Jane kichernd. »Sie sind einmal Männer. Sie sagen immer, Frauen seien Narren, und sie haben recht. Aber so schlimm wie die Männer sind wir Gott sei Dank doch noch nicht! Ich möchte mich nach Pharao umsehen, wie er an Gertrude vorbeigeht. Aber, wenn er das bemerkt, denkt er, ich bewundere ihn. Er ist so schon eingebildet genug.« Die beiden Geistlichen erröteten immer mehr, als sie an der Prozession junger Mädchen vorbeischritten. Miß Lindsay blickte nach der andern Seite der Straße, und Miß Wilsons Nicken und Lächeln waren nicht ganz aufrichtig. Sie sprach nie mit den Geistlichen und unterhielt auch mit dem Vikar nicht mehr Verkehr, als unbedingt notwendig war. Er hatte sie im Verdacht, eine Ungläubige zu sein, obgleich weder er, noch sonst ein Sterblicher in Lyvern je ein Wort über ihre religiösen Ansichten von ihr gehört hatte. Aber er wußte, daß eine weltliche >Moralwissenschaft< in der Anstalt gelehrt wurde, und hatte das Gefühl, wenn erst die Moral zu einer Sache der Wissenschaft gemacht würde, daß dann das Interesse für Religion entsprechend sinken werde. »Welch ein Leben ist das, und welch eine Gegend!« rief Agatha aus. »Wir treffen zwei Kreaturen, die mehr wandelnden schwarzen Kostümen als Menschen gleichen, und das ist ein Ereignis -- ein aufregendes Ereignis in unserm Leben!« »Ich denke, sie sind schrecklich komisch,« sagte Jane, »schon, daß Josephs solche großen Ohren hat.« Sie kamen jetzt an eine Stelle, wo der Weg durch eine Anpflanzung von dunklen Maulbeerbäumen und Roßkastanien ging. Als sie hineinschritten, erhob sich ein Wind, die welken Blätter wurden vom Boden aufgewirbelt, und durch die Zweige strich eine lange, rauschende Bewegung. »Diesen Teil vom Wege hasse ich,« sagte Jane und eilte weiter. »Grade an solchen Stellen werden Leute ausgeplündert und ermordet.« »Es ist gar kein schlechter Platz, um uns vor dem Regen zu schützen, denn der kommt sicher, bevor wir zurück sind,« sagte Agatha, die bei den Windstößen, die ihr ins Gesicht jagten, Angst bekam. »Ich werde schön eingeweicht werden, besonders mit diesen leichten Schuhen. Ich wollte, ich hätte meine schweren Stiefel angezogen. Wenn es arg regnet, lauf ich in die alte Hütte.« »Miß Wilson wird es nicht gestatten, es ist verboten.« »Was schadet das? Es wohnt doch niemand darin, und das Tor ist aus den Angeln. Ich will mich nur unter die Veranda stellen -- in das elende Haus dringe ich gar nicht ein. Übrigens kennt der Eigentümer Miß Wilson, und er macht sich nichts daraus. Da fällt ein Tropfen.« Miß Carpenter blickte auf und bekam sofort einen schweren Regentropfen in ihr Auge. »Oh!« schrie sie. »Es gießt! Wir werden durch und durch naß.« Agatha blieb stehen, und der Zug sammelte sich um sie in einer Gruppe. »Miß Wilson,« sagte sie, »es wird in Strömen regnen, und Jane und ich haben nur unsere Schuhe an.« Miß Wilson schwieg, um die Lage zu überlegen. Ein Mädchen meinte, wenn sie liefen, könnten sie noch Lyvern erreichen, bevor der Regen einsetzte. »Über zwanzig Minuten,« sagte Agatha verächtlich, »und es regnet doch schon!« Ein anderes Mädchen riet, nach Hause zurückzukehren. »Das sind dreiviertel Stunden,« sagte Agatha. »Wir würden inzwischen ertränkt werden.« »Es bleibt uns nichts übrig, als hier unter den Bäumen zu warten,« sagte Miß Wilson. »Die Zweige sind ganz kahl,« sagte Gertrude ängstlich. »Wenn es richtig regnet, tropfen sie schlimmer als der Regen selbst.« »Viel schlimmer,« sagte Agatha. »Ich denke, wir gehen am besten unter die Veranda vor dem alten Landhaus. Es ist nur eine halbe Minute von hier.« »Aber wir haben kein Recht --« Jetzt wurde der Himmel bedrohlich dunkel. Miß Wilson unterbrach sich selbst: »Ich denke, es wird noch unbewohnt sein.« »Natürlich,« antwortete Agatha voller Ungeduld, fort zu kommen. »Es ist ja eine halbe Ruine.« »Dann laßt uns in Gottes Namen hingehen,« sagte Miß Wilson, die nicht auf die Gefahr hin, naß zu werden, an ihren Bedenken festhalten wollte. Sie eilten weiter und kamen gleich darauf an eine grüne Anhöhe neben dem Wege. Auf ihrer Höhe stand ein zerfallenes Schweizerhaus, umgeben von einer Veranda, die auf schlanken Holzsäulen ruhte. Ein paar Ranken von verwelkten Schlinggewächsen hingen daran, und die äußersten Spitzen, die noch bebten von den Stößen des Windes, wurden jetzt still, als lauschten sie auf das Kommen des Regens. Ein Tor von rohem Holz, das sich in der Hecke befand, führte von der Landstraße in das Haus. Zu ihrem Erstaunen fand Agatha, daß das Tor nicht mehr aus den Angeln war, wie das letztemal, als es nur noch durch eine rostige Kette und ein Schloß an dem Pfosten befestigt war; man hatte es jetzt wieder eingehängt und mit neuen Haken befestigt. Aber das Wetter erlaubte keine langen Betrachtungen über diese Ausbesserungen. Sie öffnete das Tor und eilte den Hügel hinauf, gefolgt von dem Trupp der andern Mädchen. Ihr Hinaufsteigen endete in einem Rennen, denn der Regen kam plötzlich in Strömen herunter. Als sie sicher unter der Veranda waren, die einen keuchend und murrend, die andern lachend und froh, weil sie einen solchen Zufluchtsort gefunden hatten, bemerkte Miß Wilson etwas beunruhigt einen Spaten, der neu war wie die Haken am Tor und aufrecht in einem Stück frisch umgegrabener Erde steckte. Sie wollte grade etwas über dieses Anzeichen, daß hier Leute wohnten, sagen, als die Türe der Hütte aufgestoßen wurde und Jane einen lauten Schrei ausstieß. Ein Mann trat heraus und ging auf den Spaten los, den er offenbar nicht im Regen stehen lassen wollte. Dann bemerkte er die Gesellschaft unter der Veranda und stand vor Erstaunen still. Er war ein junger Arbeiter mit rötlichbraunem Bart, der kaum eine Woche gewachsen war. Er trug Manchesterhosen und eine Manchesterweste mit Leinenärmel, alles neu wie der Spaten und die Haken. Ein grobes, blaues Hemd mit einem gewöhnlichen, rot und orangefarbenen Halstuch, die ebenfalls neu waren, vervollständigten seine Kleidung. Und um sich vor dem Regen zu schützen, hatte er einen seidenen Schirm mit silberbeschlagenem Ebenholzgriff aufgespannt, zu dem er kaum auf ehrliche Weise gekommen sein konnte. Miß Wilson war es wie einem Knaben zumute, den man im Obstgarten erwischt hat, aber sie nahm trotzdem eine kühne Miene an und sagte: »Gestatten Sie uns, daß wir hier untertreten, bis der Regen vorbei ist?« »Selbstverständlich, Eure Gnaden,« antwortete er, indem er respektvoll mit dem Handgriff seines Spatens sein Haar zurückstrich, das bis zu den Augenbrauen heruntergekämmt war. »Eure Gnaden machen mich stolz, daß Sie vor der Unbarmherzigkeit der Stürme in meiner armseligen Hütte Zuflucht nehmen.« Seine Worte waren seltsam, seine Aussprache war barbarisch, und wie ein schlechter Schauspieler schien er grade daran Gefallen zu finden. Während er sprach, trat er ebenfalls unter die Veranda und lehnte den Spaten gegen die Wand, indem er den Lehm von seinen schweren, genagelten Schuhen trat, die ebenfalls neu waren. »Ich kam heraus, geehrte Dame,« fuhr er sehr mit sich selbst zufrieden fort, »um meinen Spaten zu holen, durch den ich mir ja meinen Unterhalt gewinne. Was die Feder für den Dichter, das ist der Spaten für den Arbeiter.« Er nahm das Halstuch von seinem Nacken, wischte sich die Schläfen, als ob der Schweiß ehrlicher Arbeit daran klebte, und legte es sich ruhig wieder um. »Entschuldigen Sie eine Bemerkung von einem gewöhnlichen Mann,« sagte er, »Eure Gnaden haben da eine nette Familie von Töchtern.« »Es sind nicht meine Töchter,« sagte Miß Wilson sehr kurz. »Vielleicht Schwestern?« »Nein.« »Ich dachte -- vielleicht -- weil ich selbst ne Schwester hab. Nicht als ob ich auch in Gedanken sie damit vergleiche -- sie ist nur ein gewöhnliches Weib -- so gewöhnlich, wie Sie nie keine gesehen haben. Aber die Weiber erheben sich selten über das Gewöhnliche. Letzten Sonntag, da unten in der Dorfkirche, hörte ich den Pfarrer sagen, daß er einen Mann unter Tausend gefunden hat. >Doch ein Weib unter all diesen<, sagte er, >habe ich nicht gefunden,< und ich denke so bei mir: >Recht hast du!< Aber der Henker holt mich, wenn er je Eure Gnaden gesehen hat.« Ein Lachen, das ganz fein wie ein Husten herauskam, entschlüpfte Miß Carpenter. »Die junge Lady hat sich erkältet,« sagte er mit respektvoller Besorgtheit. »Glauben Sie, daß der Regen noch lange andauert?« fragte Agatha in höflichem Tone. Der Mann betrachtete einige Augenblicke mit wetterkundigem Blick den Himmel. Dann wandte er sich zu Agatha und antwortete demütig: »Nur der Herr weiß es, Miß. Einem gewöhnlichen Mann, wie mir, ist es nicht gegeben, das zu sagen.« Ein Schweigen folgte jetzt, und Agatha, die verstohlen den Bewohner der Hütte beobachtete, bemerkte, daß sein Gesicht und sein Hals sauberer und weniger sonnenverbrannt waren, als man es sonst bei den gewöhnlichen Arbeitern von Lyvern fand. Seine Hände steckten in weiten Gartenhandschuhen, die mit Kohlenflecken beschmutzt waren. Gewöhnlich machten sich Lyverner Arbeiter wenig daraus, ihre Hände zu beschmutzen; sie trugen nie Handschuhe. Doch sie dachte, warum sollte nicht ein überspannter Arbeiter, der unerträglich geschwätzig war und eine Anspielung auf die Feder des Dichters machen konnte, sich mit billigen Handschuhen vergnügen. Aber dann der seidene, silberbeschlagene Schirm -- »Die junge Lady hier,« sagte er plötzlich und streckte den Schirm vor, »sieht das Ding hier an. Ich weiß wohl, daß es nicht für den Geringsten unter den Geringen paßt, den Schirm eines Gentleman zu tragen, und ich bitte Eure Gnaden um Verzeihung. Ich hab ihn durch Zufall gekriegt, und wäre froh, wenn ein Gentleman, der einen solchen Artikel braucht, mir einen annehmbaren Preis machte.« Während er das sagte, rannten zwei Gentlemen, die, nach ihren triefenden Kleidern zu urteilen, sogar dringend einen solchen Artikel brauchten, durch das Tor und kamen auf das Landhaus zu. Fairholme langte zuerst an und rief: »Furchtbarer Schauer!« Dann wandte er sich schnell von den Damen ab, stellte sich an den Rand der Veranda und schüttelte den Regen von seinem Hute ab. Josephs, der hinter ihm herkam, wandt sich schaudernd vor der feuchten Berührung mit seinen eigenen Kleidern. Er machte Miß Wilson eine Verbeugung und sagte, sie sei hoffentlich nicht naß geworden. »Das schon nicht,« entgegnete sie. »Aber die Frage ist, wie wir von hier wieder nach Hause kommen?« »Oh, es ist nur ein Regenschauer,« sagte Josephs und schaute hoffnungsfroh nach dem wolkenschweren Himmel. »Es wird sich gleich aufklären.« »Es paßt sich nicht für einen gewöhnlichen Mann, eine andere Meinung zu haben als ein Gentleman, dessen Geschäft es ist, den Himmel zu kennen, wie man wohl sagen kann,« bemerkte hier der Mann, »sonst möchte ich meinen Schirm gegen Ihren Schlapphut verwetten, daß es vor sieben Uhr nicht aufhört zu regnen.« »Dieser Mann wohnt hier,« flüsterte Miß Wilson, »und ich glaube, er will uns los werden.« »Hm!« sagte Fairholme. Dann wandte er sich an den seltsamen Arbeiter mit der Miene eines Mannes, der keinen Spaß versteht, und sagte mit erhobener Stimme: »Sie wohnen hier, lieber Mann?« »Ja, Herr, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, wenn ich so kühn sein darf.« »Wie heißen Sie?« »Jeff Smilasch, Herr, empfehle mich.« »Wo kommen Sie her?« »Von Brixtonbury, Herr.« »Von Brixtonbury! Wo liegt das?« »Ja, Herr, das weiß ich selbst nicht genau. Wenn ein Gentleman wie Sie, der Jographie und so was kennt, das nicht sagen kann, wie soll ich?« »Sie sollten doch wissen, wo Sie geboren sind, Mann. Haben Sie keinen gesunden Menschenverstand?« »Wie soll so einer wie ich Menschenverstand haben, Herr? Übrigens, ich war nur ein Findling. Vielleicht bin ich überhaupt nicht geboren.« »Habe ich Sie letzten Sonntag in der Kirche gesehen?« »Nein, Herr. Ich kam erst Mittwoch.« »Schön, dann kommen Sie nächsten Sonntag hin,« sagte Fairholme kurz, indem er sich von ihm abwandte. Miß Wilson blickte auf die Wolken, dann auf Josephs, der sich mit Jane unterhielt, und schließlich auf Smilasch, der sich mit den Knöcheln gegen die Stirne schlug, ohne zu erwarten, daß man ihn anrede. »Haben Sie einen Jungen, den Sie nach Lyvern schicken können, um uns eine Fahrgelegenheit -- einen Wagen zu verschaffen? Ich will ihm einen Schilling für seine Mühe geben.« »Einen Schilling!« sagte Smilasch fröhlich. »Eure Gnaden sind eine noble Dame. Zwei vierrädrige Wagen. Acht sollen Sie haben.« »Es gibt nur einen Wagen in Lyvern,« sagte Miß Wilson. »Bringen Sie diese Karte zu Mr. Marsch, dem Wagenverleiher, und erzählen Sie ihm, in welcher Verlegenheit wir hier sind. Er wird das Gespann hersenden.« Smilasch nahm die Karte und las sie mit einem flüchtigen Blick. Dann ging er in das Haus, um gleich darauf in einem Ölrock und einen Südwester auf dem Kopf wieder zu erscheinen. Er rannte durch den Regen davon und schwang sich mit etwas komischer Eleganz über das Tor. Kaum war er verschwunden, so wurde er, wie das öfter bei merkwürdigen Menschen ist, der Gegenstand der Unterhaltung. »Ein bescheidener Arbeiter,« sagte Josephs. »Und von guten Manieren in Anbetracht seines Standes.« »Und ein geborener Narr,« sagte Fairholme. »Oder ein Spitzbube,« bemerkte Agatha, indem sie die Augen aufriß und die Zähne zeigte, während ihre Mitschülerinnen ganz entsetzt über ihre Kühnheit in starrer Bestürzung dastanden. »Er sagte Miß Wilson, er habe eine Schwester, und er sei letzten Sonntag in der Kirche gewesen. Ihnen aber hat er grade erzählt, er sei ein Findling und sei erst am Mittwoch angekommen. Seine Aussprache ist nur angenommen, er kann lesen, und ich glaube überhaupt nicht, daß er ein Arbeiter ist. Vielleicht ist er ein Räuber und will das Silbergeschirr in der Anstalt stehlen.« »Agatha,« sagte Miß Wilson ernst, »Sie sollten sich in acht nehmen, so etwas zu sagen.« »Aber es ist so verdächtig. Seine Erklärung über den Schirm gab er nur, um mein Mißtrauen zu entkräftigen. An der Art, wie er ihn benutzte und sich auf ihn stützte, sah man, daß er viel vertrauter damit war als mit dem Spaten, um den er so besorgt tat. Und all seine Kleider sind neu.« »Das ist wahr,« sagte Fairholme, »aber das hat nicht viel zu besagen. Arbeiter sind heutzutage die reinen Gentlemen. Doch ich will ihn im Auge behalten.« »Oh, ich danke Ihnen sehr,« sagte Agatha. Fairholme, der Verdacht schöpfte, daß sie sich über ihn lustig mache, runzelte die Stirne, und Miß Wilson warf der Spötterin einen strengen Blick zu. Es wurde jetzt wenig mehr gesprochen -- nur ein paar Bemerkungen über die Dauer des Regens fielen, bis das Dach einer Droschke, eine alte Trauerkutsche, und drei triefende Hüte über der Hecke sichtbar wurden. Smilasch saß auf dem Bock neben dem Kutscher. Als der Wagen hielt, sprang er herab, ging ohne ein Wort zu sprechen wieder in das Haus und erschien mit dem Regenschirm. Er spannte ihn über Miß Wilsons Haupt auf und sagte: »Nun, Eure Gnaden, wenn Sie mitkommen wollen, ich werde Sie trocken in den Wagen bringen, und Ihre geehrten Nichten werde ich eine nach der andern abliefern.« »Ich komme zuletzt,« sagte Miß Wilson, verwirrt durch seine Annahme, die Gesellschaft sei eine Familie. »Gertrude, du gehst am besten vor.« »Gestatten Sie mir,« sagte Fairholme, indem er vortrat und den Schirm zu nehmen versuchte. »Danke sehr, ich will Sie nicht bemühen,« sagte sie sehr kühl und trippelte mit Smilasch, der mit großer Besorgtheit den Schirm über ihr hielt, durch das schlammige Feld. Auf dieselbe Art geleitete er auch die andern zu dem Fahrzeug, in das sie sich mit einiger Schwierigkeit zurechtsetzten. Agatha, die als vorletzte kam, gab ihm drei Pence. »Sie haben ein nobles Herz und einen mutigen Blick, Miß,« sagte er und schien sehr bewegt. »Gott segne Sie!« Er holte dann Jane, die auf dem schlüpfrigen Gras ausglitt und hinfiel. Er brauchte seine ganze Kraft, um ihr wieder aufzuhelfen. »Ich hoffe, Sie sind nicht so naß geworden von dem Regen, Miß,« sagte er. »Sie sind ein feines Mädel für Ihr Alter. Hundertzwanzig bis hundertfünfzig Pfund schwer, glaube ich.« Sie errötete und eilte nach der Droschke, in der Agatha saß. Aber sie war voll, und Jane mußte sehr gegen ihren Willen in die Kutsche, wo sie beträchtlich den Platz verminderte, der für Miß Wilson freigelassen war. Smilasch kehrte inzwischen zu dieser zurück. »Nun, teure Lady,« sagte er, »nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht fallen. Kommen Sie mit.« Miß Wilson, die die Einladung nicht beachtete, nahm einen Schilling aus ihrer Börse. »Nein, Lady,« sagte Smilasch mit tugendhafter Miene. »Ich bin ein ehrlicher Mann und habe noch nie mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht, außer viermal, wovon aber nur zweimal für Stehlen waren. Ihre jüngste Tochter -- die mit dem mutigen Blick -- hat mich mehr als anständig bezahlt.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß diese jungen Damen nicht meine Töchter sind,« sagte Miß Wilson scharf. »Warum hören Sie nicht auf das, was ich Ihnen sage?« »Seien Sie nicht so streng gegen einen gewöhnlichen Mann, Lady,« sagte Smilasch unterwürfig. »Die junge Dame hat mir grade drei halbe Kronen gegeben.« »Drei halbe Kronen!« rief Miß Wilson aus, sehr zornig über solch eine Verschwendung. »Gott segne ihre Unschuld, sie weiß nicht, was man so einem Menschen wie mir geben muß? Aber ich will die junge Lady nicht bestehlen. Eine halbe Krone ist anständig genug bezahlt für den Gang, und eine halbe Krone will ich behalten, wenn es eure vornehme Gnaden gestatten. Aber die andern fünf Schillinge will ich Ihnen für sie anvertrauen. Haben Sie auch schon einmal ihr mutiges Wesen bemerkt?« »Unsinn, mein Herr. Behalten Sie lieber das Geld, das Sie bekommen haben.« »Was! Für fünf Schilling soll ich die hohe Meinung, die Eure Gnaden von mir haben, aufs Spiel setzen! Nein, teure Lady, das können Sie nicht von mir erwarten. Die letzten Worte meines seligen Vaters waren --« »Sie erzählten doch vorhin, Sie wären ein Findling,« sagte Fairholme. »Was soll man nun glauben, he!« »Das war ich auch, Herr, aber nur von Mutters Seite. Eure Gnaden wollen bitte das Geld zurücknehmen, denn ich behalte es nicht. Ich gehöre mal zur niederen Klasse und bin daher kein Mann von Wort. Aber wenn ich schon einmal daran festhalte, halte ich auch wie Pech daran fest.« »Nehmen Sie es,« sagte Fairholme zu Miß Wilson. »Nehmen Sie es ruhig. Es war lächerlich, ihm für das, was er getan hatte, sieben und einen halben Schilling zu geben. Es würde ihn nur zum Trinken verleiten.« »Seine Ehrwürden sagen die Wahrheit, Lady. Die eine halbe Krone hält mich vollständig betrunken bis Sonntag morgen, und mehr will ich gar nicht.« »Zähmen Sie ein bißchen Ihre Zunge, mein Mann,« sagte Fairholme, indem er ihm die beiden Silberstücke abnahm und sie Miß Wilson gab. Diese bot den Geistlichen guten Abend und ging unter dem Schirm zur Kutsche. »Wenn Eure Gnaden einen gewandten Mann brauchen, um eine außergewöhnliche Arbeit zu besorgen, dann werden Sie hoffentlich an mich denken,« sagte Smilasch, als sie den Hügel hinabgingen. »Oh, Sie wissen, wer ich bin?« fragte Miß Wilson trocken. »Die ganze Gegend weiß es, Miß, und verehrt Sie. Als Schmied kommt mir keiner gleich, und wenn Sie eine geschlagene Medaille brauchen, um sie für gutes Betragen oder dergleichen zu vergeben, ich glaube, ich würde Sie schon zufriedenstellen. Und wenn Eure Gnaden geschmuggelte Spitzen brauchen --« »Nehmen Sie sich lieber etwas in acht, damit Sie nicht in Ungelegenheiten kommen,« sagte Miß Wilson streng. »Sagen Sie dem Kutscher, er sollte abfahren.« Die Wagen setzten sich in Bewegung, und Smilasch nahm sich die Freiheit, seinen Hut hinter ihnen her zu schwenken. Dann kehrte er zu dem Landhaus zurück, brachte den Schirm hinein und schloß die Türe, als er wieder herausgekommen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und schritt durch den Regen über den Hügel davon, ohne von den erstaunten Geistlichen auch die mindeste Notiz zu nehmen. Inzwischen konnte sich Miß Wilson nicht enthalten, ihrem Unwillen über Agathas Verschwendung Luft zu machen, und sie erzählte es den Mädchen in der Kutsche. Aber Jane erklärte, daß Agatha überhaupt nur drei Pence besäße, und daß sie daher unmöglich dem Mann dreißigmal soviel hätte geben können. Als sie zu Hause waren und Agatha von Miß Wilson befragt wurde, öffnete sie erstaunt die Augen und erklärte lachend: »Ich hab ihm nur drei Pence gegeben. Er hat mir vier Schilling und neun Pence als Geschenk geschickt!« Viertes Kapitel. Der Samstag, der schon an und für sich ein halber Feiertag ist, war in der Anstalt zu Alton ein vollständiger. Des Morgens gab es nur Unterricht im Turnen, Tanzen, Zeichnen und im Vortrag, und der Nachmittag wurde mit Tennisspielen verbracht. Hierzu waren dann Damen aus der Nachbarschaft eingeladen, die ihre Ehegatten, Brüder oder Väter mitbringen durften, denn Miß Wilson wollte ihre Zöglinge nicht mit der komischen Unbeholfenheit von Schulmädchen, die an keine Gesellschaft gewöhnt sind, in die Welt schicken. Ende Oktober kam aber ein Samstag, der sich für Miß Wilson durchaus nicht als ein Feiertag erwies. Um halb zwei, als der Lunch vorbei war, ging sie hinaus auf den Rasenplatz, der zwischen der Südseite des Gebäudes und einer Anpflanzung von Buschwerk lag. Hier fand sie eine Gruppe Mädchen, die Agatha und Jane zusahen, wie sie eine Rasenwalze hinter sich herschleiften. Eine von ihnen schleuderte mit einem Racket einen Ball empor und warf ihn zufällig in das Gebüsch hinein, aus dem dann zum Erstaunen der Gesellschaft Smilasch auftauchte. Er hatte den Ball in der Hand, kniff ein Auge zu und sagte, obgleich er nur ein gewöhnlicher Mann sei, hätte er doch Gefühle wie jeder andere, und sein Auge sei schließlich weder aus Stein noch aus Holz. Er war wie früher gekleidet, aber sein Anzug, der mit Lehm und Kalk beschmutzt war, sah jetzt nicht mehr neu aus. »Bitte, was wollen Sie hier?« fragte Miß Wilson. »Ich glaubte wahrhaftig, Sie hätten nach mir geschickt, Lady« antwortete er. »Der Bäckerjunge sagte es mir, als er heute morgen meine niedrige Hütte betrat. Hätte nie gedacht, daß er mich belügen könnte.« »Es ist ganz richtig, ich habe nach Ihnen geschickt! Warum sind Sie aber nicht an die andere Seite gegangen, zum Eingang für Dienstboten?« »Ich suche ihn ja, Lady. Eben sah ich mich danach um, als mich hier der Ball traf« -- er berührte sein Auge. »Von solch einem Hieb vergeht einem Hören und Sehen, und ein anständiger Kerl sieht aus wie ein Räuber.« »Agatha,« sagte Miß Wilson, »kommen Sie einmal her.« »Ihr Diener, Miß,« sagte Smilasch und zog an seiner Stirnlocke. »Das ist der Mann, der mir die fünf Schilling gab. Er sagte, er hätte sie von Ihnen bekommen. Ist das so?« »Gewiß nicht. Ich hab ihm nur drei Pence gegeben.« »Aber ich zeigte doch Eure Gnaden das Geld,« sagte Smilasch, indem er unruhig an seinem Hut drehte. »Ich gab es Ihnen. Wie soll ich an fünf Schilling kommen, wenn nicht durch die Güte der Reichen und Vornehmen? Wenn die junge Lady glaubt, ich hätte die andere halbe Krone auch nicht behalten dürfen, so hab ich nichts dagegen, daß sie mir vom Lohn abgehalten wird, wenn ich hier Arbeit finde. Aber --« »Aber das ist ja Unsinn,« sagte Agatha. »Ich hab Ihnen nie drei Kronen gegeben.« »Vielleicht haben Sie sich geirrt. Pence sind bald so groß wie halbe Kronen, und das Wetter war sehr dunkel.« »Das war unmöglich,« sagte Agatha. »Jane hatte die ganze Woche über mein Portemonnaie, Miß Wilson, und sie kann Ihnen bestätigen, daß nur drei Pence darin waren. Sie wissen, daß ich immer am Ersten mein Geld bekomme, und es reicht nie länger als eine Woche. Der Gedanke, ich könnte am Sechzehnten noch sieben und einen halben Schilling besitzen, ist lächerlich.« »Aber erlauben Sie, Miß, ist es nicht noch mal so lächerlich, daß ich armer Arbeiter Geld weggeben sollte, das ich nie bekam?« Eine unbestimmte Unruhe ergriff Agatha, als ob sie ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen dürfte. »Alles, was ich weiß,« sagte sie protestierend, »ist, daß ich es Ihnen nicht gegeben habe. Dann müssen sich also meine Pennystücke in Ihrer Tasche in halbe Kronen verwandelt haben.« »Meinswegen,« sagte Smilasch ernsthaft. »Ich habe gehört und weiß es für gewiß, daß sich den reichen Leuten das Geld in der Tasche von selbst vermehrt. Warum nicht auch in den Taschen der Armen? Warum soll man erstaunen über etwas, das alle Tage vorkommt?« »Hatten sie damals eigenes Geld bei sich?« »Woher soll so einer wie ich eigenes Geld bekommen haben? -- entschuldigen Eure Gnaden, daß ich so dreist bin, so zu fragen.« »Ich weiß nicht, woher Sie es bekommen haben,« sagte Miß Wilson verdrießlich. »Ich frage Sie nur, hatten Sie Geld?« »Ja, Lady, ich weiß es nicht mehr. Ich will Sie nicht täuschen, aber ich kann mich nicht erinnern.« »Dann haben Sie sich geirrt,« sagte Miß Wilson, indem sie ihm sein Geld zurückgab. »Hier, wenn es nicht Ihr Geld ist, unseres ist es auch nicht. Darum ist es besser, Sie behalten es.« »Es behalten! Oh, Lady, aber das ist der Gipfel der Großmut! Und was soll ich tun, Lady, um Ihre Wohltätigkeit zu verdienen?« »Es ist nicht meine Wohltätigkeit. Ich gebe es Ihnen, weil es mir nicht gehört, und weil ich glaube, daß es Ihnen gehört. Sie scheinen ein sehr einfältiger Mann zu sein.« »Ich danke Eure Gnaden, hoffentlich bin ich das. Und jetzt, um von der Tagesarbeit zu sprechen, haben Sie keine Beschäftigung für einen armen Mann?« »Nein, danke sehr. Ich habe keine Verwendung für Ihre Dienste. Ich schulde Ihnen noch den Schilling, den ich Ihnen für das Herbeischaffen der Wagen versprach. Hier ist er.« »Noch einen Schilling!« schrie Smilasch überwältigt. »Ja,« sagte Miß Wilson, die anfing sich zu ärgern. »Ich will, bitte, nichts mehr darüber hören. Verstehen Sie denn nicht, daß Sie ihn verdient haben?« »Ich bin ein gewöhnlicher Mann und verstehe sozusagen gar nichts,« entgegnete er ehrerbietig. »Aber wenn Sie mir einen Tag Arbeit geben, damit ich mir etwas helfen kann, dann heb ich all dies Geld in einer kleinen hölzernen Sparbüchse auf, die ich zu Haus habe und bewahre es dann für später, wenn einmal Krankheit und Alter, wie man so sagt, ihre Hände auf mich legen. Ich könnte wunderschön den Rasen glätten. Die jungen Damen machen sich kaputt mit der schweren Walze. Wenn Tennis gespielt wird, ich stelle die Netze so stramm auf, daß sich Paradiesvögel darin fangen. Wenn der Flur geweißt werden soll, ich kann eine so grade Linie ziehen, daß Sie sich kaum enthalten werden, ein gleichseitiges Dreieck darauf zu zeichnen. Ich bin ein ehrlicher Mann, wenn man gut auf mich acht gibt, ich kann eine Tafel aufwarten so gut wie der Kellermeister des Lordmayors von London.« »Ich kann Sie nicht ohne Zeugnisse beschäftigen,« sagte Miß Wilson, die sich über den Brocken aus Euklid amüsierte und sich wunderte, wo er ihn wohl aufgeschnappt haben mochte. »Ich habe die besten Zeugnisse, Lady. Der hochwürdige Pfarrer kennt mich von meiner Knabenzeit her.« »Ich habe gestern mit ihm über Sie gesprochen,« sagte Miß Wilson und sah ihn streng an. »Er sagte, Sie seien ihm vollständig unbekannt.« »Die Gentlemen sind so vergeßlich,« sagte Smilasch betrübt. »Aber ich spielte auf meinen einheimischen Pfarrer an -- den Pfarrer in meinem Heimatdorf Auburn. >Süßes Auburn, lieblichstes Dörfchen im Tale<, wie der Gentleman es nannte.« »Das ist nicht der Name, den Sie Mr. Fairholme gegenüber erwähnten. Ich weiß nicht mehr, was Sie ihm sagten, aber es war nicht Auburn, und ich habe auch nie von einem solchen Ort gehört.« »Nie was über das süße Auburn gelesen?« »Weder in einem Geographiebuch noch in einem Lexikon. Erinnern Sie sich, daß Sie mir erzählten, Sie hätten im Gefängnis gesessen?« »Nur sechsmal,« verteidigte sich Smilasch, während seine Gesichtszüge krampfhaft zuckten. »Urteilen Sie nicht zu streng über einen gewöhnlichen Mann. Nur sechsmal, und jedesmal wegen Trunkenheit. Aber ich habe es abgeschworen und es seit achtzehn Monaten treu gehalten.« Miß Wilson war sich jetzt darüber klar, daß sie es mit einem nicht recht gescheiten, aber witzigen Landburschen zu tun hatte, einem jener eingebildeten Originale, die sich, ohne es zu wollen, beliebt machen, weil sie dem gesunden Verstand derjenigen schmeicheln, die ihnen überlegen sind. »Sie haben ein schlechtes Gedächtnis, Mr. Smilasch,« sagte sie gutgelaunt. »Sie erzählen jedesmal etwas anders über sich.« »Ich weiß, ich kann mich nicht mit Exaktiertheit ausdrücken. Ladies und Gentlemen haben die Gewalt der Worte. Sie können immer sagen, was sie meinen, aber ein gewöhnlicher Mann kann das nicht. Die Worte kommen ihm nicht von selbst. Er hat mehr Gedanken als Worte, und seine Worte passen nicht zu seinen Gedanken. Soll ich mal den Rasen umwälzen und mich bis heute abend für neun Pence nützlich machen?« Miß Wilson, die heute nicht nur ihre gewohnten Samstagsbesucher erwartete, überlegte sich den Vorschlag und stimmte zu. »Aber merken Sie sich das,« sagte sie. »Sie sind hier fremd in der Gegend, und Ihr Ruf in Lyvern hängt davon ab, wie Sie sich bei dieser Gelegenheit aufführen.« »Ich bin Eure Gnaden sehr dankbar. Meine Tasche, in der ich meine Zeugnisse aufbewahre, hat ein Loch, und darum verliere ich sie immer. Möge die Güte Eurer Gnaden das Loch zunähen. Es ist ein schlechter Platz, dort seine Zeugnisse aufzuheben, aber es ist einmal so der Brauch. Und darum ein Hurra dem glorreichen neunzehnten Jahrhundert!« Er zog seinen Rock aus, ergriff die Walze und begann sie mit einer Energie hinter sich herzuziehen, die der abgemessenen eines Berufsarbeiters fremd ist. Miß Wilson sah ihn mißtrauisch an, aber sie war in Eile und ging ins Haus hinein, ohne eine weitere Bemerkung zu machen. Agatha beschloß, sich ihn noch einmal genauer anzusehen. Mit einem Racket in der Hand, ging sie langsam über das Gras und kam bis dicht an ihn heran, als er, ohne sie zu bemerken, einen Seufzer der Erschöpfung ausstieß und sich zum Ausruhen hinsetzte. »Schon müde, Mr. Smilasch?« fragte sie spöttisch. Er schaute kaltblütig auf, zog eine seiner Waschlederhandschuhe ab und wedelte sich damit Kühlung zu, indem er eine feine und weiße Hand zeigte. Schließlich antwortete er in dem Tone und in der Aussprache eines Gentleman: »Außerordentlich.« Agatha fuhr zurück. Er fächelte sich ohne die geringste Unruhe. »Sie -- Sie sind kein Arbeiter,« sagte sie endlich. »Offenbar nicht.« »Ich dachte es mir.« Er nickte ihr zu. »Angenommen, ich erzählte das weiter,« sagte sie und bekam mehr Mut, da sie sich erinnerte, daß sie nicht mit ihm allein war. »Wenn Sie das tun, werde ich mich schon herausreden, wie ich mich aus den drei halben Kronen herausgeredet habe, und Miß Wilson wird zu der Ansicht kommen, Sie seien nicht ganz bei Sinnen.« »Dann habe ich Ihnen also wirklich keine sieben und einen halben Schilling gegeben?« fragte sie erleichtert. »Was glauben Sie?« entgegnete er, indem er drei Pence aus seiner Tasche nahm und sie in der Faust klingen ließ. »Wie heißen Sie?« »Das brauchen Sie nicht zu wissen,« antwortete Agatha voll Würde. Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben Sie recht,« sagte er. »Ich würde Ihnen auch nicht meinen Namen nennen, wenn Sie mich danach fragten.« »Ich habe nicht die mindeste Absicht, Sie danach zu fragen.« »Nicht? Dann werden Sie also mit Smilasch auskommen und ich mit Agatha.« »Es wäre besser für Sie, wenn Sie sich etwas in acht nähmen.« »Wovor?« »Vor dem, was Sie sagen, und -- haben Sie keine Furcht, daß man Sie ausfindig macht?« »Ich bin doch schon entdeckt -- von Ihnen. Und ich befinde mich dabei ganz wohl.« »Angenommen, die Polizei macht Sie ausfindig?« »Die nicht! Übrigens brauche ich mich auch vor der Polizei nicht zu fürchten. Ich habe das Recht, Manchester zu tragen, wenn ich ihn feinem Stoff vorziehe. Und nun denken Sie an die Vorteile, die ich jetzt genieße! Ich bin dadurch hier in die Anstalt hineingekommen und genieße das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft. Entschuldigen Sie, wenn ich die Walze weiterziehe, nur um den Schein zu wahren. Ich kann beim Walzen sprechen.« »Das können Sie, wenn Sie Selbstgespräche lieben,« sagte sie und wandte sich fort, als er sich erhob. »Im Ernst, Agatha, Sie dürfen den andern nichts über mich erzählen.« »Nennen Sie mich nicht Agatha,« sagte sie heftig. »Wie soll ich Sie denn nennen?« »Sie brauchen mich überhaupt nicht anzureden.« »Ich brauche es und will es. Seien Sie nicht boshaft.« »Aber ich kenne Sie ja gar nicht. Ich wundere mich über Ihre --« sie zauderte, das Wort, das ihr grade einfiel, auszusprechen, aber sie fand kein besseres -- »über Ihre Dreistigkeit.« Er lachte, und sie beobachtete ihn, während er ein paarmal die Walze auf- und abzog. Dann erholte er sich, indem er einen Blick auf sie warf, und da er sie dabei ertappte, wie sie ihn ansah, lächelte er. Sein Lächeln war etwas Alltägliches im Vergleich mit dem Lächeln, das sie ihm zurückgab, in das ihre Augen, ihre Zähne und der goldene Schimmer ihrer Gesichtsfarbe mit einzustimmen schienen. Er hielt sofort mit dem Walzen ein und stand da, das Kinn auf den Walzenstiel gestützt. »Wenn Sie Ihre Arbeit vernachlässigen,« sagte sie boshaft, »werden Sie nicht mit dem Gras fertig sein, bis die Leute kommen.« »Was für Leute?« fragte er verwirrt. »Oh, eine Masse Leute. Wahrscheinlich auch welche, die Sie kennen. Es kommen Besucher von London: Mein Vormund mit Frau und Tochter, meine Mutter und hundert andere.« »Im ganzen vier. Weshalb kommen sie? Wollen sie Sie besuchen?« »Sie wollen mich abholen,« antwortete sie und beobachtete ihn, ob ihn die Nachricht mißvergnügt machte. Er war offenbar betroffen. »Weshalb, zum Henker, will man Sie fortnehmen?« fragte er. »Ist Ihre Erziehung beendigt?« »Nein. Ich habe mich schlecht aufgeführt und werde weggejagt.« Er lachte wieder. »So ist es recht!« sagte er, »Sie fangen an, Smilaschs Manier zu begreifen. Was haben Sie denn getan?« »Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen das erzählen soll. Was haben _Sie_ getan?« »Oh, ich habe nichts getan. Ich bin ein unromantischer Gentleman, der sich vor einer romantischen Lady verbirgt, die sich in ihn verliebt hat.« »Die Ärmste!« sagte Agatha spöttisch. »Natürlich hat sie Ihnen einen Antrag gemacht, und Sie haben ihn zurückgewiesen.« »Im Gegenteil, ich machte den Antrag, und sie nahm ihn an. Deshalb muß ich mich jetzt vor ihr verstecken.« »Sie erzählen hübsche Geschichten,« sagte Agatha. »Leben Sie wohl. Da kommt Miß Carpenter und will hören, worüber wir uns unterhalten.« »Leben Sie wohl. Es tut mir sehr leid, daß Sie weggejagt werden -- Kann sich ein gewöhnlicher Mann vielleicht die Frage erlauben, wo die Schälmaschine ist?« Diese Worte waren an Jane gerichtet, die mit einigen von den andern herbeikam. Agatha erwartete, daß Smilasch jetzt sofort entlarvt würde, denn seine Verstellung war nun doch zu durchsichtig. Sie wunderte sich, wie die andern sich dadurch irreführen ließen. Es schlug jetzt zwei Uhr, und das erinnerte sie an das bevorstehende Zusammentreffen mit ihrem Vormund. Eine Angst überkam sie und ein Verlangen, sich an einem einsamen Platz zu verbergen, bis man sie rief. Aber sie hatte es sich zur Ehrensache gemacht, stets die vollkommenste Gleichgültigkeit gegen alle Sorgen zu zeigen, und so blieb sie bei den Mädchen, lachte und plauderte mit ihnen, während sie Smilasch beobachteten, der sorgfältig die Felder markierte und die Netze ausspannte. Agatha brachte alle zum Lachen, und grade ihre geheime Aufregung, die durch unerträgliche Anfälle von Angst verschärft wurde, trieb sie dabei an, während das Romantische an Smilaschs Verkleidung ihr die Vorstellung des Träumens einflößte. Ihre Phantasie beschäftigte sich bereits mit einem Drama, in dem sie die Heldin und Smilasch der Held war, obgleich sie dem lebendigen Mann da vor sich nicht so viel düstere Charaktergröße andichten konnte wie einer gänzlich erträumten Person. Das Spiel ihrer Phantasie war ein sehr einfaches, an dem sie sich im geheimen immer wieder ergötzte. Die Heldin liebte den Helden und starb an gebrochenem Herzen, weil er ihre Leidenschaft nicht erwiderte. Denn Agatha, die stets bereit war, bei ihren Gefährtinnen jede Gefühlsschwelgerei zu verspotten, die mit einem ansteckenden Sinn für Possen begabt war, schwelgte doch heimlich in ihrem Innern in Vorstellungen von Verzweiflung und Sterben. Sie durchlebte oft die ganze Marter eines erfolgreichen Clowns, der beim Publikum wahre Stürme von Gelächter auslöst und sich doch im Grunde für einen geborenen Tragöden hält. Sie wußte, daß es manches in ihrem Wesen gab, das nicht grade durch ihre so beliebte Darstellung des Soldaten im Kamin verkörpert wurde. Um drei Uhr kamen die Gäste aus der Umgegend an, und es wurde auf vier Feldern, die Smilasch glatt gewalzt und hergerichtet hatte, Tennis gespielt. Die beiden Geistlichen waren da mit einigen Gentlemen aus dem Laienstande. Mrs. Miller, der Pfarrer und ein paar Mütter und sonstige Anstandsdamen sahen zu. Sie genossen leichte Erfrischungen, die Smilasch, der eine erborgte weiße Kellnerschürze umgebunden hatte und eine übertriebene Dienstfertigkeit entwickelte, auf Teebrettern servierte. Eine Viertelstunde später kam eine Botschaft von Miß Wilson, die Miß Wylie wegrief. Die Besucher begriffen nicht, warum jetzt mit einem Male die jungen Damen ein so zerstreutes Benehmen zeigten. Jane brach fast in Tränen aus und gab Josephs eine unhöfliche Antwort, als er sie ganz unschuldig fragte, was denn geschehen sei. Agatha ging anscheinend ganz gleichgültig fort, obgleich ihre Hand zitterte, als sie ihr Racket weglegte. In einem geräumigen Empfangszimmer an der Nordseite des Gebäudes fand sie ihre Mutter, eine schmächtige Dame in Witwentracht, mit verblichenem braunen Haar und verweinten Augen. Auch Mrs. Jansenius und ihre Tochter waren dort. Die beiden älteren Damen bewahrten ein ernstes Schweigen, während Agatha sie küßte, und Mrs. Wylie nach ihrem Taschentuch griff. Henrietta umarmte Agatha überschwenglich. »Wo ist Onkel John?« fragte Agatha. »Ist er nicht mitgekommen?« »Er ist im andern Zimmer bei Miß Wilson,« sagte Mrs. Jansenius. »Sie erwarten dich dort.« »Ich dachte, es wäre jemand gestorben,« sagte Agatha, »Ihr seht alle aus wie bei einem Begräbnis. Nun steck dein Taschentuch fort, Mama. Wenn du weinst, werde ich Miß Wilson meine Meinung sagen, weil sie dich gequält hat.« »Nein, nein,« sagte Mrs. Wylie erschreckt. »Sie war so nett!« »So gut!« sagte Henrietta. »Sie ist sehr vernünftig und gütig gewesen,« sagte Mrs. Jansenius. »Das ist sie immer,« sagte Agatha nachgiebig. »Oder habt ihr gedacht, sie würde in Krämpfe ausbrechen?« »Agatha,« flehte Mrs. Wylie, »sei nicht eigensinnig und töricht.« »O nein, das ist sie nicht. Ich weiß das,« sagte Henrietta schmeichelnd. »Nicht wahr, liebe Agatha?« »Meinetwegen kannst du tun, was du willst,« sagte Mrs. Jansenius. »Aber ich hoffe, du bist zu vernünftig, um ohne Grund die Beendigung deiner Erziehung zu verscherzen.« »Deine Tante hat ganz recht,« sagte Mrs. Wylie. »Und dein Onkel ist sehr böse auf dich. Er wird nie wieder mit dir sprechen, wenn du dich mit Miß Wilson zankst.« »Er ist nicht böse,« sagte Henrietta, »aber er ist so um dein Wohl besorgt.« »Er wird natürlich verstimmt sein, wenn du so in deinem Unverstand fortfährst,« sagte Mrs. Jansenius. »Alles, was Miß Wilson wünscht, ist eine Entschuldigung wegen der schrecklichen Sachen, die du in ihr Buch geschrieben hast,« sagte Mrs. Wylie. »Liebe Agatha, du wirst sie doch um Entschuldigung bitten?« »Natürlich wird sie das tun,« sagte Henrietta. »Es wäre auch noch schöner,« meinte Mrs. Jansenius. »Vielleicht tu ich es,« sagte Agatha. »Du bist mein einziges, liebes Kind,« sagte Mrs. Wylie und ergriff ihre Hand. »Und vielleicht tu ich es auch nicht.« »Du tust es, Liebste,« drängte Mrs. Wylie und versuchte die widerstrebende Agatha näher an sich heranzuziehen. »Um meinetwillen. Du tust deiner Mutter einen Gefallen, Agatha. Du wirst es mir doch nicht abschlagen, mein Herz?« Agatha lachte milde über ihre Mutter, die schon seit langer Zeit solche Art zu bitten aufgegeben hatte. Dann wandte sie sich zu Henrietta und sagte: »Wie geht es deinem =caro sposo=? Es war häßlich, daß ich nicht Brautjungfer wurde.« Das Rot auf Henriettas Wangen leuchtete. Mrs. Jansenius fuhr schnell dazwischen, indem sie daran erinnerte, daß Miß Wilson warte. »Oh, sie macht sich nichts aus dem Warten,« sagte Agatha. »Sie glaubt, ihr seid alle dabei, mir den Kopf zurecht zu setzen. Das hat sie mit euch verabredet, bevor sie das Zimmer verließ. Mama weiß, daß mir ein kleines Vögelchen alles das erzählt. Ich muß nun sagen, ihr habt mich bis jetzt durchaus nicht nachgiebig gestimmt. Da sich aber der arme Onkel John schrecklich ängstlich und unbehaglich fühlen muß, werde ich doch so gut sein, ihn aus seiner Not zu erlösen. Adieu!« Und sie schritt gemächlich hinaus. Gleich darauf steckte sie den Kopf noch einmal in das Zimmer und sagte mit gedämpfter Stimme: »Macht euch auf etwas Entsetzliches gefaßt. Ich bin grade in der Laune, die schrecklichsten Dinge zu sagen.« Sie verschwand wieder, und dann hörten sie ein Klopfen an der Tür nebenan. Mr. Jansenius erwartete sie mit Besorgnis. Er hatte schon frühzeitig in seiner Laufbahn die Entdeckung gemacht, daß sein würdiges Aussehen und seine feine Stimme ihm bei den Leuten Ansehen verschafften und ihn bei öffentlichen Versammlungen an den Vorstandstisch brachten. Er war so sehr an diesen Respekt gewöhnt, daß ihn jede familiäre Annäherung oder Vertraulichkeit aufs höchste in Verwirrung setzten. Agatha andererseits, der man schon als Kind Onkel John als den Inbegriff von Weisheit und Ehrwürdigkeit gepriesen hatte, verspottete ihn stets als einen aufgeblasenen und geldstolzen Handelsmann, dessen filziges Gehirn unfähig war, ihre ausschweifenden Ideen zu begreifen. Sie hatte oft schon ihre Mutter in Schrecken gesetzt, indem sie sich mit jener absoluten Verachtung über ihn lächerlich machte, deren nur die Kindheit und die äußerste Unwissenheit fähig sind. Sie fühlte sich stets erniedrigt, weil er so gütig gegen sie war -- denn er gab reichliche Geschenke -- und mit dem Instinkt eines Anarchisten sah sie es für ein Zeichen an, daß sie auf dem richtigen Wege war, wenn sie seine Ratschläge verspottete und seine Autorität verachtete. Die Folge davon war, daß er sie etwas fürchtete, obgleich er nicht wußte, warum -- und daß sie ihn durchaus nicht fürchtete und sich dessen sehr wohl bewußt war. Als sie hereintrat, mit dem strahlendsten Lächeln, das sie ausspielen konnte, saßen Miß Wilson und Mr. Jansenius am Tisch und sahen aus wie zwei arme Sünder, die angeklagt waren. Miß Wilson wartete, daß er sprechen sollte, da sie sich auf seine imponierende Anwesenheit verließ. Da er aber dazu nicht imstande war, bat sie Agatha, Platz zu nehmen. »Danke sehr,« sagte Agatha süß. »Nun, Onkel John: kennst du mich nicht mehr?« »Ich habe mit Bedauern von Miß Wilson gehört, daß du dich hier sehr ungehörig aufgeführt hast,« sagte er, indem er ihre Bemerkung nicht beachtete, obgleich sie ihn im stillen ganz aus der Fassung gebracht hatte. »Ja,« sagte Agatha zerknirscht, »es tut mir sehr leid.« Mr. Jansenius, der nach dem Bericht der Miß Wilson die äußerste Halsstarrigkeit erwartet hatte, sah sie erstaunt an. »Sie scheinen zu glauben,« sagte Miß Wilson, die Mr. Jansenius' Erstaunen bemerkte und darüber beunruhigt war, »daß Sie immer und immer wieder unsere Vorschriften übertreten und dann sich mit uns wieder ins Einvernehmen setzen können« -- Miß Wilson bezeichnete Übertretungen nie als Sünden gegen ihre eigene Autorität, sondern als solche gegen die Autorität der Schule -- »indem Sie sagen, es täte Ihnen leid. Bei unserer letzten Unterredung sprachen Sie in einem ganz andern Ton.« »Ich war damals ärgerlich, Miß Wilson. Und ich dachte, ich hätte einen Grund zur Klage -- alle glauben dasselbe von sich. Außerdem zankten wir uns -- wenigstens tat ich es, und ich habe mich noch stets schlecht aufgeführt, wenn ich mich zankte. Es tut mir _sehr_ leid.« »Mit dem Buch, das war eine ernsthafte Sache,« sagte Miß Wilson streng. »Sie scheinen das nicht zu glauben.« »Wenn ich Agatha recht verstand, so sieht sie die Torheit ihres Benehmens in der Sache mit dem Buch ein, und es tut ihr sehr leid,« sagte Mr. Jansenius, indem er unwillkürlich für Agatha Partei nahm, da sie die Stärkere war und ihm am wenigsten mit Geldangelegenheiten zur Last fiel. »Hast du das Buch gesehen?« fragte Agatha eifrig. »Nein. Miß Wilson hat mir erzählt, was geschehen ist.« »Oh, lassen Sie es mich holen,« rief sie aufspringend. »Onkel John schreit vor Lachen. Darf ich, Miß Wilson?« »Da haben Sie's!« sagte Miß Wilson unwillig. »Das ist dasselbe unverbesserliche vorlaute Benehmen, über das ich mich beklagen muß. Miß Wylie bringt nur Abwechslung hinein, indem sie auch vollständig ungehorsam wird.« Mr. Jansenius war ebenfalls entrüstet. Eine feine Röte stieg in seinem Gesicht auf bei der Idee, er würde schreien. »Still, still!« sagte er. »Du mußt ernsthaft sein und Miß Wilson mehr Respekt entgegenbringen. Du bist doch jetzt alt genug, um das zu wissen, Agatha -- vollständig alt genug.« Agathas Heiterkeit verschwand. »Was hab ich denn gesagt oder getan?« fragte sie, und dunkelrote Flecken erschienen auf ihren Wangen. »Du hast dich über -- über das Buch lustig gemacht, auf das Miß Wilson großen Wert legt, und zwar mit Recht.« »Wenn ich es mit Recht tat, wie kannst du es mir dann vorwerfen?« »Nun ist es genug,« schrie Mr. Jansenius, indem er absichtlich seine Zurückhaltung aufgab, da er einsah, daß er sie so doch nicht im Zaume halten konnte. »Sei nicht unverschämt, Miß.« Agathas Augen erweiterten sich, eine flüchtige Röte bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals, und sie stampfte mit den Absätzen. »Onkel John,« rief sie, »wenn du es _wagst_, mir noch einmal so etwas zu sagen, werde ich dich nie mehr ansehen oder ansprechen und nie mehr dein Haus betreten. Was verstehst du von gutem Benehmen, wenn du mich unverschämt nennst. Einer absichtlichen Roheit unterwerfe ich mich nun einmal nicht, gradeso hat auch mein Streit mit Miß Wilson angefangen. Sie sagte mir, ich sei unverschämt, und ich ging weg und sagte ihr, sie habe unrecht, indem ich es in das Fehlerbuch hineinschrieb. Sie hat überhaupt in der ganzen Sache unrecht gehabt, aber ich wollte mich mit ihr versöhnen und vergangene Dinge vergangen sein lassen, deshalb schwieg ich. Aber wenn sie sich weiter streiten will, dann kann ich es nicht ändern.« »Mr. Jansenius, ich habe Ihnen schon auseinandergesetzt,« sagte Miß Wilson, indem sie ihren Unwillen durch einen Versuch, ihn zu unterdrücken, nur noch verstärkte, »daß Miß Wylie jede Gelegenheit, sich mit mir wieder ins Einvernehmen zu setzen, zurückgewiesen hat. Mrs. Miller und ich haben absichtlich über alles Persönliche in der Sache hinweggesehen, und ich verlange nur, daß sie ihre Übertretung der Anstaltsvorschriften einsieht.« »Aus Mrs. Miller mach ich mir nicht _so_ viel,« sagte Agatha, indem sie mit den Fingern schnipste. »Und Sie sind auch nicht halb so gut, wie ich dachte.« »Agatha,« sagte Mr. Jansenius, »ich wünsche, daß du deine Zunge hältst.« Agatha atmete tief und sagte, indem sie sich resigniert hinsetzte: »So! Nun ist es doch so gekommen. Ich habe die Fassung verloren, und jetzt haben wir sie alle verloren.« »Du hast kein Recht, die Fassung zu verlieren,« sagte Mr. Jansenius, indem er sich einbildete, er hätte jetzt einen Vorteil über sie. »Ich bin die jüngste und verdiene den geringsten Tadel,« entgegnete sie. »Es hat keinen Zweck, noch etwas darüber zu reden, Mr. Jansenius,« sagte Miß Wilson entschlossen. »Es tut mir leid, daß Miß Wylie es vorzieht, mit uns zu brechen.« »Aber ich ziehe es gar nicht vor, mit Ihnen zu brechen, und ich halte es für sehr hart, daß Sie mich wegjagen. Niemand hat hier den geringsten Streit mit mir gehabt, außer Mrs. Miller. Mrs. Miller zürnt mir, weil sie mich in falschem Verdacht hat wegen ihrer Katze, aber das ist doch nicht meine Schuld! Und wirklich, Miß Wilson, ich weiß nicht, warum Sie mir so böse sind. Wenn ich weggejagt werde, glauben alle Mädchen, ich hätte etwas Abscheuliches getan. Wenigstens müßte ich bis Ende des Schuljahres bleiben, und was das Sünden- -- das Fehlerbuch angeht, so haben Sie mir doch, als ich ankam, ganz ausdrücklich gesagt, ich könnte hineinschreiben oder nicht, ganz wie ich wollte. Sie würden nie etwas diktieren oder über eine Eintragung etwas sagen. Und doch, das erstemal, daß ich etwas schreibe, was Ihnen nicht gefällt, jagen Sie mich weg. Niemand wird mehr glauben, daß die Eintragungen freiwillige sind.« Miß Wilsons Gewissen war schon durch die Roheit und das Fehlen der moralischen Überredung in Mr. Jansenius Wort: >Sei nicht unverschämt!< getroffen worden, denn es klang wie das Echo ihrer eigenen Worte, und jetzt fühlte sie sich aufs neue beunruhigt. »Das Fehlerbuch,« sagte sie, »ist nur zu Selbstanklagen da, es darf nicht dazu dienen, andere zu beschuldigen.« »Ich weiß ganz gewiß, daß weder Jane noch Gertrude noch ich uns im geringsten anklagten, weil wir die Treppen herunterglitten, aber Sie hatten keinen Tadel, als wir das hineinschrieben. Übrigens sollte das Buch der moralischen Überredung dienen -- wenigstens sagten Sie das immer, und als Sie die moralische Überredung aufgaben, glaubte ich, ich müßte darüber eine Eintragung machen. Natürlich war ich damals im Zorn, aber als ich zur Ruhe kam, hielt ich es für ganz recht, was ich getan hatte. Und ich glaube das auch noch heute, obgleich es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich zu allem geschwiegen hätte.« »Wieso behaupten Sie, ich hätte die moralische Überredung aufgegeben?« »Den Leuten die Türe weisen, ist keine moralische Überredung. Sie unverschämt nennen, ist auch keine.« »Sie glauben also, ich müßte Ihnen geduldig zuhören, was Sie mir auch zu sagen belieben, und wie ungehörig es auch in Anbetracht Ihrer Stellung mir gegenüber sein mag?« »Aber ich habe nichts Ungehöriges gesagt,« sagte Agatha. Dann brach sie ungeduldig ab, lächelte wieder und sagte: »Oh, wir wollen nicht mehr streiten. Es tut mir wirklich sehr leid, und ich habe Sie und die Anstalt so gern. Und ich will auch nach den Ferien nur wiederkommen, wenn Sie es wünschen.« »Agatha,« sagte Miß Wilson schwankend, »diese Worte des Bedauerns kosten Ihnen so wenig, und wenn sie ihren Zweck erreicht haben, vergessen _Sie_ sie so bald, daß mich das nicht länger befriedigt. Ich bestehe durchaus nicht gerne darauf, daß Sie die Anstalt jetzt verlassen. Aber wie Ihr Onkel Ihnen gesagt hat, Sie sind alt und verständig genug, um den Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung zu kennen. Bisher haben Sie auf der Seite der Unordnung gestanden, die wir, wie Ihnen Mrs. Trefusis erzählen kann, früher, als Sie noch nicht da waren, kaum gekannt haben. Trotzdem will ich durch alles Vergangene einen Strich machen, wenn Sie mir versprechen, in Zukunft mehr auf sich achtzugeben, und am Ende des Schuljahres werde ich dann sehen, ob Sie weiter bleiben können.« Agatha erhob sich strahlend vor Freude. »Liebe Miß Wilson,« »Sie sind _so_ gut! Natürlich verspreche ich es. Ich werde hingehen und es Mama erzählen.« Bevor sie noch ein Wort dazu sagen konnte, hatte sie sich in einem Wirbel zur Türe bewegt und floh davon, um sich einen Augenblick später im Empfangszimmer den drei Damen vorzustellen, die sie mit launigem Lächeln schweigend anblickte. »Nun?« fragte Mrs. Jansenius fest. »Nun, liebes Kind?« fragte Mrs. Trefusis zärtlich. Mrs. Wylie unterdrückte einen Seufzer und sah ihre Tochter flehend an. »Es hat mir unendliche Mühe gekostet, sie zur Vernunft zu bringen,« sagte Agatha nach einer herausfordernden Pause. »Sie benahmen sich wie Kinder, und ich war wie ein Engel. Natürlich bleibe ich.« »Gott segne dich, mein Liebling,« stammelte Mrs. Wylie und versuchte Agatha, die ihr gewandt auswich, zu küssen. »Ich habe versprochen, in Zukunft sehr gut und fleißig und ruhig und brav zu sein. Erinnerst du dich noch an meinen Kastagnettentanz, Hetty? Tra! lalala, la! la! la! Tra! lalala, la! la! la! Tra! lalalalalalalalalalala!« Und sie wirbelte in dem Zimmer herum, indem sie mit den Fingern wie mit Kastagnetten knipste. »Sei nicht so rücksichtslos und leichtfertig, meine Liebe,« sagte Mrs. Wylie. »Du wirst deiner armen Mutter noch das Herz brechen.« Miß Wilson und Mr. Jansenius traten jetzt grade herein, und Agatha blieb bewegungslos stehen, indem sie zerstreut auf eine Vase mit Blumen starrte. Miß Wilson lud ihre Besucher ein, an dem Tennisspielen teilzunehmen. Mr. Jansenius blickte streng und mißbilligend auf Agatha, die als Antwort ihr linkes Auge aufriß, während sie das andere gleichzeitig zusammenkniff. Doch er schüttelte seinen Kopf, um anzudeuten, daß Fertigkeiten im Gesichterschneiden, wie schwierig und naturwidrig sie auch sein mochten, seine Achtung nicht gewinnen konnten, und er ging mit Miß Wilson, mit Mrs. Jansenius und Mrs. Wylie hinaus. »Wo ist dein Hubby?« fragte Agatha darauf plötzlich Henrietta. Mrs. Trefusis Augen füllten sich so schnell mit Tränen, daß sie auf Agathas Hand fielen, als sie ihren Kopf neigte, um sie zu verbergen. »Es ist solch ein lieber, alter Platz hier,« begann sie. »Die Erinnerungen aus meinen Kinderjahren --« »Was ist zwischen dir und Hubby geschehen?« fragte Agatha, sie unterbrechend. »Wenn du es mir nicht sagst, werde ich ihn fragen, wenn ich ihn treffe.« »Ich wollte es dir grade erzählen, aber du läßt mir ja keine Zeit.« »Das ist ja Quatsch,« sagte Agatha. »Aber meinetwegen, erzähle.« Henrietta zauderte. Ihre Würde als verheiratete Frau und der Ernst ihres Schmerzes lehnten sich gegen die seichte Auffassung des Schulmädchens auf. Aber sie war jetzt ebensowenig wie früher als Kind imstande, Agathas Tyrannei zu widerstehen, und sie sehnte sich nach ihrem Mitgefühl. Außerdem hatte sie es schon gelernt, ihre Geschichte lieber selbst zu erzählen, als das andern zu überlassen, weil dann die Sache durchaus nicht immer im richtigen Lichte dargestellt wurde. So erzählte sie Agatha von ihrer Ehe, ihrer milden Liebe zu ihrem Gatten, seinem geheimnisvollen Verschwinden, ohne ein Wort oder eine Adresse zu hinterlassen. Den Brief erwähnte sie nicht. »Hast du nach ihm gesucht?« fragte Agatha, indem sie eine Neigung zum Lachen unterdrückte. »Aber wo? Hätte ich auch nur die entfernteste Spur, ich würde ihm barfuß bis ans Ende der Welt folgen.« »Ich glaube, du solltest alle Flüsse durchsuchen -- das müßtest du ja barfuß tun. Er muß irgendwo hineingefallen oder irgendwo abgestürzt sein.« »Nein, nein. Meinst du, ich wäre hier, wenn ich dachte, daß sein Leben in Gefahr sei? Ich habe Gründe -- ich weiß, daß er nur davongegangen ist.« »Oh, wirklich! Er nahm seinen Koffer mit sich, nicht wahr? Vielleicht ist er nach Paris gereist, um dir etwas Hübsches zu kaufen und dir eine angenehme Überraschung zu bereiten.« »Nein,« sagte Henrietta traurig. »Er wußte, daß ich nichts brauchte.« »Dann glaube ich, daß er deiner müde geworden und davongelaufen ist.« Henriettas eigenartige dunkle Röte verschwand plötzlich von ihren Wangen, sie riß Agathas Arm zurück und rief: »Wie kannst du das sagen! Du hast kein Herz. Er betete mich an.« »Unsinn!« sagte Agatha. »Die Menschen werden immer einander müde. Ich werde meiner selbst müde, wenn ich nur zehn Minuten mit mir allein bin, und liebe mich sicherlich selbst mehr, als sich sonst zwei Menschen lieben können.« »Das weiß ich,« sagte Henrietta gequält und boshaft. »Du warst immer ganz besonders von dir selber eingenommen.« »Sehr wahrscheinlich gleicht er mir in dieser Beziehung. In dem Falle wird er seiner selbst bald müde werden und zurückkehren, und ihr werdet bald wieder girren wie die Turteltauben, bis er von neuem davonläuft. Hu! Es geschieht dir ganz recht, warum hast du dich verheiratet? Ich wundere mich, wie die Leute so verrückt sein können, da sie doch alle verheirateten Bekannten als warnende Beispiele vor Augen haben.« »Du weißt nicht, was es heißt, jemand zu lieben,« sagte Henrietta jammernd und doch belehrend. »Übrigens waren wir nicht so wie die andern Paare.« »Es scheint so. Aber mach dir nichts daraus, du kannst dich drauf verlassen, sobald er seiner eigenen Gesellschaft überdrüssig wird, kehrt er schon zurück. Quäle dich nicht damit, darüber nachzudenken, komm, wir wollen eine Partie Lawn-Tennis spielen.« Während dieser Unterredung hatten sie das Gesellschaftszimmer verlassen und machten jetzt einen Umweg durch die Anlagen. Sie näherten sich den Tennisspielplätzen auf einem Pfad, der zwischen zwei Lorbeerhecken durch ein Buschwerk führte. Inzwischen wartete Smilasch in seiner weißen Schürze und in Handschuhen den Gästen auf. Er hatte sich ausdrücklich geweigert, diese abzulegen, indem er anführte, er sei ein gewöhnlicher Mann, und Ladies und Gentlemen könnten aus seinen gewöhnlichen Händen nicht Speise und Trank entgegennehmen. Er benahm sich auch untadelig, bis Miß Wilson mit ihren Gästen ankam. Er kehrte grade mit einem vollen Teebrett zum Tische zurück und ging so schnell, daß er fast mit Mrs. Jansenius zusammenstieß. Anstatt sich zu entschuldigen, verlor er seine Fassung und begann rückwärts zu gehen, indem er hastig das Teebrett wie einen Schild vor sein Gesicht hielt. Gleich darauf stolperte er gegen Miß Lindsay, die schnell gerannt kam, um einen Ball zurückzuwerfen. Ohne auf ihren ärgerlichen Blick und ihren barschen Tadel zu achten, wandte er sich halb um und wich seitwärts in das Gebüsch hinein, wo das Teebrett gleich darauf in die Höhe und quer über die Lorbeerhecke flog, um mit dem Gepolter eines Theaterdonners auf dem gekrümmten Rücken des Mr. Josephs zu landen. Miß Wilson gab der Wirtschafterin einen scharfen Tadel, weil sie dem Mann die Bedienung überlassen hatte, und erklärte dann ihren Gästen, daß er ein Idiot aus der Umgegend sei. Mr. Jansenius lachte und sagte, er hätte zwar das Gesicht des Mannes nicht gesehen, aber seine Gestalt erinnere ihn stark an irgend jemand, er wüßte nur nicht genau, an wen. Smilasch, der durch das Gebüsch davoneilte, fand das Ende des Weges durch Agatha und eine junge Dame versperrt, deren Erscheinen ihn mehr beunruhigte, als es vorher Mrs. Jansenius getan hatte. Er versuchte mit Gewalt durch die Hecke zu brechen, aber vergebens. Der Lorbeer war undurchdringlich, und das Geräusch erregte die Aufmerksamkeit des herankommenden Paares. Er machte jetzt keinen Versuch mehr, zu entweichen, sondern zog seine erborgte Schürze über den Kopf und stand kerzengrade da mit dem Rücken nach dem Wege. »Was macht der Mann da?« fragte Henrietta, indem sie mißtrauisch stehenblieb. Agatha lachte und sagte laut, damit er es hören sollte: »Es ist nur ein harmloser Verrückter, den Miß Wilson beschäftigt. Er vermummt sich gerne in irgendeiner verrückten Art und versucht uns zu erschrecken. Hab keine Angst, komm nur mit.« Henrietta blieb unentschlossen zurück, aber ihr Arm hing in dem Agathas, und sie wurde wider Willen weitergezogen. Smilasch machte keine Bewegung. Agatha schlenderte ruhig weiter, und als sie an ihm vorüberkam, erfaßte sie die Schürze gewandt mit ihren Fingern und riß sie ihm vom Gesicht. Sofort stieß Henrietta einen durchdringenden Schrei aus, und Smilasch fing sie in seinen Armen auf. »Schnell,« sagte er zu Agatha, »sie wird ohnmächtig. Laufen sie nach etwas Wasser. Laufen Sie!« Und er neigte sich über Henrietta, die sich wie wahnsinnig an ihn anklammerte. Agatha war ganz verwirrt über diese Folge ihres scherzhaften Tuns. Sie überlegte einen Augenblick und rannte dann nach dem Rasenplatz. »Was ist geschehen?« fragte Fairholme. »Nichts. Ich möchte etwas Wasser, schnell -- bitte! Henrietta ist im Gebüsch in Ohnmacht gefallen, das ist alles.« »Bitte, bemühen Sie sich nicht,« sagte Miß Wilson gebieterisch, »Sie werden sich nur auf dem Wege zusammendrängen und wertvolle Hilfe verhindern. Miß Ward, holen Sie bitte etwas Wasser, und bringen Sie es uns. Agatha, kommen Sie mit, und zeigen Sie mir, wo Mrs. Trefusis ist. Sie können auch mitkommen, Miß Carpenter, Sie sind so stark. Die übrigen wollen hierbleiben.« Gefolgt von den beiden Mädchen eilte sie in das Gebüsch, wo Mr. Jansenius schon ängstlich nach seiner Tochter suchte. Er war der einzige Mensch, den sie dort fanden. Smilasch und Henrietta waren verschwunden. Anfangs stellten die Sucher nur Fragen an Agatha über die Stelle, wo Henrietta in Ohnmacht gefallen war. Dann aber gab Mr. Jansenius zu verstehen, daß eine Dame in den Händen eines halbverrückten Arbeiters in einer gefährlichen Lage sei. Seine Aufregung steckte die andern an, und als Agatha sie durch die Erklärung, Smilasch sei ein verkleideter Gentleman, zu beruhigen suchte, gebot ihr Miß Wilson, die das für eine Wiederholung ihrer früheren müßigen Ideen hielt, in scharfer Weise zu schweigen, da es jetzt keine Zeit sei, Unsinn zu schwätzen. Die Neuigkeit verbreitete sich unter der ganzen Gesellschaft, und die Aufregung stieg aufs äußerste. Fairholme rief nach Freiwilligen, die zusammen auf die Suche gehen sollten. Alle anwesenden Männer meldeten sich, und sie waren schon im Begriff, in einem starken Trupp durch die Anstaltstore zu eilen, als es einem Besonneneren von ihnen einfiel, es sei besser, wenn sie sich in mehrere Abteilungen teilten, damit man an verschiedenen Punkten gleichzeitig suchen konnte. Nun folgte für zehn Minuten eine Verwirrung. Mr. Jansenius setzte sich mehrere Male in Bewegung, um nach Henrietta zu suchen, aber wenn er einige Schritte gegangen war, kehrte er wieder um und bat die andern, doch keine Zeit mehr zu verlieren. Josephs, der einen einfältigen Glauben hatte, zog sich zum Gebet zurück, und es war das beste, was er tun konnte, denn so gab es in dem Lärm von Plänen, Einwendungen und Ratschlägen, den die übrigen machten, und bei dem jeder den andern zu überschreien suchte, eine Stimme weniger. Schließlich beendete Miß Wilson die allgemeine Verwirrung. Sie sandte Dienstboten zu den Nachbarn und ließ aus dem Dorf die Polizei kommen. Unter dem Kommando von Fairholme und anderer energischer Geister wurden Abteilungen nach den verschiedensten Richtungen ausgesandt. Auch die Mädchen bildeten unter sich Abteilungen, die durch Herren, welche die andern verließen, verstärkt wurden. Miß Wilson ging in das Haus hinein und untersuchte das ganze Innere der Anstalt. Nur zwei Personen blieben auf dem Tennisplatz, Agatha und Mrs. Jansenius, die die ganze Zeit über erstaunlich ruhig geblieben war. »Sie brauchen sich nicht zu ängstigen,« sagte Agatha, die sich seit ihrer Zurückweisung durch Miß Wilson abseits gehalten hatte. »Ich bin sicher, daß keine Gefahr dabei ist. Es ist zwar äußerst merkwürdig, daß sie fortgegangen sind, aber der Mann ist nicht verrückter als ich, und ich weiß, daß er ein Gentleman ist. Er hat es mir selbst gesagt.« »Wir wollen das Beste hoffen,« sagte Mrs. Jansenius ruhig. »Ich möchte mich hinsetzen -- ich bin so müde. Danke sehr.« -- Agatha hatte ihr einen Stuhl hingestellt. »Was sagten Sie, daß Ihnen dieser Mann erzählt hat?« Agatha berichtete die Umstände ihrer Bekanntschaft mit Smilasch, indem sie aufs Mrs. Jansenius' Bitten eine genaue Beschreibung seines Aussehens gab. Mrs. Jansenius bemerkte, es sei sehr seltsam, und sie wäre überzeugt, daß Henrietta keine Gefahr drohe. Sie trank dann ein Glas Wein und aß ein paar Butterbrote. Agatha freute sich, weil sie jemand fand, der ihr ruhig zuhörte, aber sie staunte doch über die Kaltblütigkeit ihrer Tante und deutete schließlich an, wenn Smilasch auch kein Arbeiter sei, so folge noch nicht daraus, daß er ein ehrenhafter Mann sei. Aber Mrs. Jansenius antwortete: »Oh, sie ist sicher -- ganz sicher! Schließlich muß ich es wenigstens hoffen. Wir werden schon bald Nachrichten bekommen.« Die Sucher kehrten nach und nach fassungslos zurück. Sie hatten ein paar Hirten, die einzigen Personen, die es in der Nachbarschaft gab, gefragt, ob sie nicht eine junge Dame und einen Arbeiter gesehen hätten. Einige hatten eine junge Frau mit einem Kleiderbündel gesehen, vielleicht war sie das gewesen. Andere glaubten, wenn einer sie entdeckte, dann würde es Phil Martin, der Kärrner, tun. Keiner aber hatte eine sichere Aussage zu machen. Der Nachmittag ging weiter, und eine Abteilung nach der andern kehrte zurück. Alle waren ermüdet von dem erfolglosen Suchen, und an die Stelle der Erregung trat Niedergeschlagenheit. Die Unterhaltung war nicht mehr lärmend, sie wurde im Flüstertone geführt, und einige Besucher aus der Umgegend schlichen sich davon in der immer stärker werdenden Überzeugung, daß etwas Häßliches geschehen sei, und daß sie am besten nichts damit zu schaffen hätten. Mr. Jansenius war, obgleich ihn einige Worte seiner Frau überrascht und etwas beruhigt hatten, doch noch immer in bejammernswerter Unruhe und Ängstlichkeit. Endlich kam die Polizei, und beim Anblick ihrer Uniformen erhob sich die Aufregung von neuem. Es herrschte die allgemeine Überzeugung, daß jetzt etwas Entscheidendes geschehen würde. Aber die Beamten waren auch nur sterbliche Menschen, und nach ein paar Minuten flüsterte man sich zu, sie seien Narren. Sie bezweifelten alles, was man ihnen erzählte, und drückten ihre Verachtung gegen das Suchen der Laien aus, indem sie eine neue Untersuchung begannen und mit der größten Sorgfalt die unwahrscheinlichsten Ecken durchstöberten. Zwei gingen fort nach Smilaschs Hütte, um dort nach ihm zu suchen. Dann brachte Fairholme, sonnenverbrannt, schwitzend und staubig, aber noch voll Energie, den erschöpften Überrest seiner Abteilung zurück. Sie hatten einen mürrischen Jungen bei sich, der den Polizeibeamten finstere Blicke zuwarf und offenbar glaubte, er sollte an sie ausgeliefert werden. Fairholme war überall gewesen, und da er nichts von dem verlorenen Paar gesehen hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie überhaupt nirgends steckten. Er fragte jeden um Auskunft und sagte, er würde es herausbekommen, wenn es nur möglich wäre. Aber es war nicht möglich. Das einzige Resultat seiner Bemühungen war die Erzählung des Burschen, dem er nicht glaubte. »Hm!« sagte der Inspektor, der nicht sehr erfreut über Fairholmes Eifer war, obgleich er ihm imponierte. »Du bist doch Wickens Junge, nicht wahr?« »Ja, ich bin Wickens Junge,« antwortete der Zeuge halb verächtlich, halb weinerlich. »Und ich hab ihn doch gesehen, und wenn jemand sagt, ich hätte ihn nicht gesehen, dann ist er ein Lügner.« »Still,« sagte der Inspektor scharf. »Wir wollen deine Unverschämtheiten nicht hören. Aber erzähle uns, was du gesehen hast, sonst bekommst du es nachher mit mir zu tun.« »Es ist mir gleich, mit wem ich es zu tun habe,« sagte der Junge trotzig. »Sie können mir nichts tun, weil ich ihn sah, denn das geht keinem Gesetz was an. Ich war in der Kiesgrube in der Wiese am Kanal --« »Was hattest du da verloren?« fragte der Inspektor, ihn unterbrechend. »Ich durfte da sein,« sagte der Junge in frechem Ton, aber er wurde doch rot. »Wer hat dir die Erlaubnis gegeben?« fragte der Inspektor weiter und faßte ihn beim Kragen. »Ah,« fügte er hinzu, als der Gefangene in Tränen ausbrach, »ich hab dir ja gesagt, du bekommst es mit mir zu tun. Nun hör mit dem Geplärre auf und denk daran, wo du bist und mit wem du sprichst. Vielleicht werde ich dich für diesmal nicht einsperren. Also was hast du gesehen, als du verbotenerweise auf die Wiese kamst?« »Ich sah ein junges Weib und einen Mann. Und ich sah, wie sie ihn küßte. Und der Herr will mir nicht glauben.« »Du meinst natürlich, du sahst, wie er sie küßte?« »Nein, nein. Ich kenn das, wenn einem ein Mädchen küßt und man will es nicht haben. Und ich schrie, um sie zu erschrecken. Und er rief mich und gab mir zwei Pence und sagte: >Geh zum Teufel!< sagte er, >und sage niemand, daß du mich hier gesehen hast, sonst,< sagte er, >werde ich mich versucht fühlen, dich zu ertränken,< sagte er, >und was für ein Schrecken würde das für deine Eltern sein!< >O ja, jedenfalls,< sagte ich oder so ähnlich. Dann ging ich weg, weil er Mr. Wickens kennt, und weil ich Angst hatte, er würde es ihm erzählen.« Da der Trotz des Knaben jetzt gebrochen war, regnete es von allen Seiten Fragen auf ihn. Aber seine Beobachtungsgabe und seine Beschreibung wurden dadurch nicht besser. Da er Leute, in deren Gewalt er war, freundlich stimmen wollte, gab er, so oft er konnte, zustimmende Antworten. Mr. Jansenius fragte ihn, ob die junge Frau, die er gesehen hatte, eine Lady gewesen sei, und er sagte ja. War der Mann ein Arbeiter? Ja -- nach kurzem Überlegen. Wie war sie gekleidet? Das hatte er nicht beobachtet. Hatte sie rote Blumen auf ihrem Hut? Ja. War ihr Kleid grün? Ja. Waren die Blumen auf ihrem Hut gelb? (Agathas Frage.) Ja. War ihr Kleid hellrot? Ja. Es war doch bestimmt nicht schwarz? Keine Antwort. »Ich sagte Ihnen ja, er ist ein Lügner,« bemerkte Fairholme verächtlich. »Nun, ich glaube schon, daß er etwas gesehen hat,« sagte der Inspektor. »Aber was es war oder wer es war, ist mehr, als ich aus ihm herauskriegen kann.« Es entstand eine Pause, und sie sahen Wickens Jungen mißtrauisch an. Seine Erzählung über das Küssen machte es den Jansenius fast zu einer Beleidigung, daß Henrietta die Frau sein könnte, die er gesehen hatte. Jane riet, den Kanal abzusuchen, aber ein unwilliges >st, st< gebot ihr Schweigen, während man den verlassenen Eltern besorgte und mitfühlende Blicke zuwarf. Jane verschwand dann wieder aus dem Brennpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, als die beiden Polizisten, die man nach der Hütte gesandt hatte, zurückkamen. Smilasch ging zwischen ihnen, offenbar als Gefangener. Von weitem sah es aus, als ob er eine schreckliche Verletzung am Kopf habe, als man ihn aber in die Gesellschaft brachte, zeigte es sich, daß es nur ein rotes Taschentuch über sein Gesicht gebunden hatte, wie um Zahnschmerzen zu mildern. Er hatte ein ausgesprochenes Galgengesicht, als er vor dem Inspektor stand. Er ließ seinen Kopf herabhängen und hielt seine Gesichtszüge von Mr. Jansenius abgewendet, der, als er ihn forschend beobachten wollte, nur einen Fetzen von dem roten Taschentuch sah. Einer der Polizisten berichtete, wie sie Smilasch in dem Augenblick gefunden hätten, als er grade seine Wohnung betreten wollte. Er habe sich geweigert, irgendeine Erklärung zu geben oder auch nach der Anstalt zu kommen, und als sie ihn gegen seinen Willen mitnehmen wollten, habe er ihnen Trotz geboten. Als sie dann schließlich nach dem Inspektor und Mr. Jansenius schicken wollten, hatte er sie Esel genannt und eingewilligt, sie zu begleiten. Der Beamte schloß mit der Erklärung, der Mann sei entweder betrunken oder sehr hinterlistig, da er nicht vernünftig sprechen konnte oder wollte. »Sehen Sie, Herr Wachtmeister,« begann Smilasch zum Inspektor, »Ich bin ein gewöhnlicher Mann -- Sie können keinen gewöhnlicheren finden in --« »Das ist er,« schrie Wickens Junge, den plötzlich das Gefühl überkam, daß er ein wichtiger Zeuge sei. »Das ist er, den die Lady küßte, der mir zwei Pence gab und mir drohte, mich zu ertränken.« »Und mit demütigem und zerknirschtem Herzen bedaure ich, daß ich dich nicht ertränkt habe, du grüner Halunke,« sagte Smilasch. »Ist das eine Art, einen Mann, wenn auch einen gewöhnlichen, zu unterbrechen, der an Alter und Weisheit dein Vater sein könnte.« »Halt deinen Mund,« sagte der Inspektor zu dem Jungen. »Nun, Smilasch, wollen Sie einen Bericht geben? Aber erwägen Sie wohl, was Sie sagen, es kann nachher gegen Sie vorgebracht werden.« »Wenn Sie mich sofort von hier zum Schafott bringen lassen, Herr Oberwachtmeister, ich kann nicht mehr als die Wahrheit sagen. Wenn ein Mann sagen kann, daß Jeff Smilasch lügt, dann soll er sich melden.« »Das interessiert mich nicht,« sagte der Inspektor. »Da Sie hier in der Gegend fremd sind, weiß niemand etwas Schlechtes von Ihnen. Aber ebensowenig weiß jemand etwas Gutes von Ihnen.« »Herr Wachtmeister,« sagte Smilasch tief bewegt, »Sie haben einen durchdringenden Geist, und durchschauen einen schlechten Charakter auf den ersten Blick. Nicht um Sie zu täuschen, bin ich so der Lüge und Faulheit und Genüssen aller Art ergeben. Die einzige Entschuldigung, die ich für mich finden kann, ist, daß es wohl so in der Natur der menschlichen Rasse liegt. Denn die meisten Leute sind grade so schlimm wie ich, und viele sind schlimmer. Ich spreche nicht persönlich von Ihnen, Herr Wachtmeister, noch von den geehrten Gentlemen, die hier versammelt sind. Denn Sie, Herr Wachtmeister, sind ein Inspektor von der Polizei, was ich für einen höheren Rang als den der gewöhnlichen Menschen halte. Und was die Gentlemen angeht, ein Gentleman ist kein Mann -- wenigstens kein gewöhnlicher Mann -- denn der gewöhnliche Mann ist nur der Sklave, der die Gentlemen, die über dem Gewöhnlichen stehen, ernährt und bekleidet.« »Halt,« sagte der Inspektor, der diesen Bemerkungen nicht folgen konnte, »Sie sind ein gerissener Patron, aber mir sind Sie nicht gerissen genug. Haben Sie eine Erklärung bezüglich der Dame abzugeben, die man zuletzt in Ihrer Gesellschaft gesehen hat?« »Eine Erklärung abgeben über eine Lady!« sagte Smilasch unwillig. »Fern sei der Gedanke meiner Seele!« »Was haben Sie mit ihr angefangen?« fragte Agatha heftig. »Sein Sie nicht so mürrisch.« »Sie wissen, daß Sie das nicht zu beantworten brauchen,« sagte der Inspektor, der ein wenig aus der Fassung gebracht war, weil Agatha in ihrer unverantwortlichen Stellung so direkt auf den Kernpunkt der Sache gekommen war. »Sie können es tun, wenn Sie wollen. Wenn Sie aber etwas Böses getan haben, schweigen Sie lieber. Im andern Fall können Sie ruhig aussagen.« »Ich will die junge Lady wegen ihrer verehrten Schwester beruhigen,« sagte Smilasch. »Als die junge Lady mich erblickte, fiel sie in Ohnmacht. Da ich erst ein junger Mensch bin und nicht mit Ladies umzugehen weiß, will ich nicht leugnen, daß ich etwas erschrocken war, und daß mein Kopf keine vernünftigen Überlegungen fassen konnte. Als sie ihre Augensterne entschleierte, um mich so auszudrücken, umfaßte sie meinen Hals, obgleich sie mich von Adam, unserm gemeinsamen Stammvater her nicht kannte, und sagte: >Bringen Sie mir etwas Wasser, und machen Sie, daß die Mädchen mich nicht sehen.< Da ich nicht so viel Verstand hatte, um für mich selbst zu sprechen, tat ich grade, was sie mir sagte. Ich hob sie in meinen Armen empor -- sie war ja nur ein leichtes und zartes Wesen -- und schob, so schnell ich konnte, nach dem Kanal. Als ich dort ankam, legte ich sie auf die Bank und holte Wasser. Aber bei den Fabriken, Verunreinigungen und vornehmen Einrichtungen aller Art kann man mit dem Wasser eines englischen Kanals keine Dame bespritzen, viel weniger es ihr zu trinken geben. Da kam nun grade, wie es der Zufall wollte, eine Barke daher und nahm sie an Bord, und --« »Nein, so war es nicht,« sagte Wickens Junge hartnäckig und war stolz, weil er die Unverschämtheit eines Angehörigen seiner eigenen Klasse aufdecken konnte. »Ich sah Sie beide zusammenstehen, und sie küßte Sie. Da war gar keine Barke.« »Soll die jungfräuliche Sittsamkeit einer geborenen Lady angezweifelt werden wegen der Worte eines gewöhnlichen Jungen, der nur durch die Geduld der Landbesitzer und Geldbesitzer, die er mit ernähren hilft, sein Dasein fristet?« rief Smilasch unwillig. »Pfui, du junger Heide, eine Lady ist nicht aus demselben Leder geschnitten wie du. Sie weiß nicht einmal, was ein Kuß ist, und wenn sie es wüßte, ist es zu glauben, daß sie mich nahm, da ein so feiner Mann wie der Inspektor hier nur zu glücklich wäre, ihr den Gefallen zu tun. Pfui, schäme dich! Die Barke war rot und gelb mit einem Drachen als Bugfigur und einem weißen Pferd, das sie zog. Vielleicht bist du farbenblind und kannst rot und gelb nicht unterscheiden. Der Schifferknecht wurde von Mitleid ergriffen, als er die arme, ohnmächtige Lady erblickte und als ihm eine halbe Krone angeboten wurde, und er hatte eine Mutter, die wie eine Mutter handelte. Es war eine Kabine auf dieser Barke, so groß wie der Schrank, in dem Eure Gnaden Ihre eingemachten Sachen aufheben, und in diesem Schrank von einer Kabine lebt der Schifferknecht ganz häuslich mit seiner Frau und Mutter und fünf Kindern. Diese Kanalboote sind sozusagen die hölzernen Mauern von England.« »Los, fahren Sie in Ihrer Erzählung fort,« sagte der Inspektor. »Wir wissen ebensogut wie Sie, was Barken sind.« »Ich wollte, ich verstände mehr davon,« entgegnete Smilasch. »Vielleicht könnte ich Ihnen bei Ihrer Aufgabe etwas mehr helfen. Aber, wie ich schon sagte, wir fuhren den Kanal hinab nach Lyvern, wo wir ausstiegen, und die Lady nahm ein Eisenbahnbillet und fuhr damit fort. Mit der vornehmen Offenhändigkeit ihrer Klasse gab sie mir sechs Pence. Hier sind sie, ein Beweis, daß ich die Wahrheit sage. Und ich wünsche ihr, daß sie sicher zu Hause ankommt, und wenn man mich auf die Folter spannt, ich kann nicht mehr erzählen, ausgenommen, daß ich nach Hause ging und daß diese Polizisten gegen die englische Verfassung Hand an mich gelegt haben. Wenn das gnädige Fräulein freundlichst dahin gehen wollten, wo die Verfassung aufgeschrieben ist, und herausfänden, was darin über meine Rechte und Freiheiten steht -- denn man hat mir gesagt, daß der Arbeiter seine Freiheiten hat, und ich habe mich immer dafür interessiert -- dann werden Sie einen armen Burschen mehr zum Dank verpflichten, als er nach seiner geringen Erziehung ausdrücken kann.« »Mein Herr,« schrie Mr. Jansenius plötzlich, »wollen Sie nicht einmal ihren Kopf erheben und mir ins Gesicht sehen?« Smilasch tat es und fuhr dann mit theatralischer Bewegung zurück, indem er ausrief: »Wen sehe ich?« »Sie werden es kaum glauben,« fuhr er fort, indem er sich an die Gesellschaft im allgemeinen wandte, »aber ich bin diesem vornehmen Gentleman wohlbekannt. Auf Ihren Lippen, alter Herr, sah ich die Frage nach meiner Frau, und ich danke Ihnen für die herablassende Teilnahme. Es geht ihr gut, Herr, und daß ich hier meinen Aufenthalt habe, darüber haben wir uns vollständig geeinigt. Was für eine kleine Wolke auch über unserm häuslichen Himmel geschwebt haben mag, sie ist vergangen. Und, alter Herr,« hier sank Smilaschs Stimme zu ernsterer Betonung -- »wer sich jetzt zwischen Mann und Weib schiebt, lädt eine schwere Verantwortung auf sich. Hier lebe ich, so wie Sie mich hier sehen, und hier will ich bleiben, genau in der gleichen Gestalt. Das heißt, wenn das Schicksal es erlaubt. Das Schicksal ist eine wunderliche Sache, alter Herr. Als ich hierher kam, dachte ich, es sei der letzte Platz auf der Welt, wo Sie mir vor die Augen kämen, und der Henker hol mich, wenn Sie nicht ungefähr der erste sind, auf den ich hier stoße.« »Ich beabsichtige nicht, mich an dieser Maskerade zu beteiligen.« »Wenn Sie erlauben, alter Herr, daß ich Ihnen das Wort aus dem Munde nehme, Sie brauchen sich an nichts zu beteiligen. Was nun mein früheres Benehmen angeht, Sie können sich darüber äußern oder auch schweigen. Wenn Sie aber etwas davon sagen, werde ich das übrige sagen. Alles oder gar nichts. Sie haben das Recht, hier dem Inspektor zu sagen, ich sei ein schlechter Kerl. Sein durchdringender Geist hat es schon von selbst herausgefunden. Aber wenn Sie auf Namen und Einzelheiten eingehen, dann handeln Sie nicht nur gegen die Wünsche meiner Frau, Sie zwingen mich auch dazu, die ganze Geschichte hier offen vor aller Welt zu erzählen und dann irgendwohin zu gehen, wo niemand mich finden kann.« »Ich glaube, je weniger gesagt wird, desto besser ist es,« sagte Mrs. Jansenius, die mit Unbehagen die Neugierde und das Erstaunen bemerkte, das die Unterredung verursachte. »Aber verstehen Sie das wohl, Mr. --« »Smilasch, teure Lady. Jeff Smilasch.« »Mr. Smilasch, was Sie auch mit Ihrer Frau abgemacht haben werden, es geht mich nichts an. Sie haben schändlich gehandelt, und ich wünschte, ich hätte in Zukunft so wenig wie möglich mit Ihnen zu tun.« »Ich wünsche, daß ich mit Ihnen _gar nichts_ mehr zu tun habe -- _gar nichts_!« sagte Mr. Jansenius. »Ich sehe Ihr Benehmen als eine persönliche Beschimpfung für mich an. Sie können leben, wie Sie wollen und wo Sie wollen. Ganz England steht Ihnen offen, nur ein Platz nicht -- mein Haus. Komm, Ruth.« Er bot seiner Frau den Arm, und sie wandten sich zum Gehen, indem sie sich nach Agatha umsahen, die, von der gaffenden Neugierde der andern angewidert, sich entschlossen aus der Hörweite der Unterhaltung zurückgezogen hatte. Smilasch hatte mit freundlichem Interesse den Zornesausbruch des Mr. Jansenius beobachtet, als ob es ihn nur als neugierigen Beobachter anginge. Aber Miß Wilson ließ ihre Blicke von Smilasch zu ihren beiden aufbrechenden Besuchern gleiten. »Bitte, sehen Sie die Erklärung dieses Mannes als eine befriedigende an?« sagte sie zu ihnen. »_Ich_ tu es nicht.« »Ich bin ein viel zu gewöhnlicher Mann,« sagte Smilasch, »als daß ich imstande wäre, eine Erklärung abzugeben, die ein so kultiviertes Gehirn wie das Ihrige befriedigen könnte. Aber ich möchte ganz bescheiden andeuten, daß da drüben ein Junge mit einem Telegramm steht und sich gerne durch die hochgeborene Menge drängen würde.« »Miß Wilson!« schrie der Junge mit schriller Stimme. Sie nahm das Telegramm, las es und runzelte die Stirne. »Wir haben alle unsere Mühe für nichts gehabt, meine Damen und Herren,« sagte sie mit unterdrücktem Ärger. »Mrs. Trefusis teilt hier mit, daß sie nach London zurückgekehrt ist. Irgendeine Erklärung anzugeben, hat sie nicht für nötig gehalten.« Ein allgemeines Murmeln der Enttäuschung folgte. »Lassen Sie den Mut nicht sinken, Ladies,« sagte Smilasch. »Vielleicht ist sie trotzdem ertränkt oder ermordet worden. Es kann jemand das Telegramm unter einem falschen Namen geschickt haben. Vielleicht ist es ein Kniff. Hoffen wir um Ihretwillen wenigstens auf einen kleinen Unfall -- vielleicht passiert etwas auf der Eisenbahnreise.« Miß Wilson wandte sich nach ihm um und war froh, daß sie jemand hatte, an dem sie so recht ihren Ärger auslassen konnte. »_Sie_ sollten sich lieber an Ihre Arbeit machen,« sagte sie. »Und lassen Sie sich nie wieder hier sehen.« »Das ist hart,« sagte Smilasch klagend. »Ich habe es nur gut gemeint. Aber ich weiß, warum Sie so sind. Weil das junge Ungeziefer sagte, die Lady hätte mich geküßt.« »Herr Inspektor,« sagte Miß Wilson, »Sie werden mich verbinden, wenn Sie dafür sorgen, daß er die Anstalt so bald wie möglich verläßt!« »Wo ist mein Lohn?« entgegnete Smilasch vorwurfsvoll. »Wo ist mein gesetzlicher Lohn? Ich bin erstaunt, daß eine Dame wie Sie, die zum Überlaufen voll ist von Moralphilosophie und Nationalökonomie, einen armen Mann um das Seinige bringen will. Wo ist Ihre Zahlkasse? Wo ist Ihr Lohnkapital?« »Geben Sie ihm nichts, Madame,« sagte der Inspektor. »Mit dem Geld, das er von der Lady hat, ist er reichlich bezahlt. Gehen Sie los, oder wir werden Ihnen überraschend schnell Beine machen.« »Nun gut,« murrte Smilasch: »Wir haben neun Pence abgemacht, und was die Arbeit mit der Rasenwalze anging, das Öffnen der Seltersflaschen und das Hinaustragen der schweren Tabletts, mir schwebte da so etwas vor, was wie zwei Schilling klang. Aber ich verlange nicht mehr als neun Pence, die Lady kann den Schilling und die drei Pence als Ersparnis behalten. Das ist eine Ausbeutung der Arbeit im Maßstabe von hundertfünfundzwanzig Prozent. Also geben Sie mir die neun Pence, und ich marschiere sofort ab.« »Hier ist ein Schilling,« sagte Miß Wilson. »Und nun gehen Sie.« »Drei Pence zurück!« schrie Smilasch. »Ehrlichkeit ist immer mein --« »Sie können den Rest behalten.« »Sie haben ein nobles Herz, Lady. Aber Sie schlagen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage ins Gesicht. Wenn Sie auf diese Art bezahlen, werden die Arbeiter die Anstalt stürmen und der Wettbewerb wird Sie bald von einem Schilling auf sechs Pence herunterbringen, um von neun Pence ganz zu schweigen. So gehen die Löhne herunter und die Todesrate hinauf, denn es ist unser Unglück, daß wir uns wie Schweine auf dem Markte verkaufen müssen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, aber der Beamte nahm ihn beim Arm, drehte ihn herum und zeigte nachdrucksvoll nach dem Tor. Smilasch sah ihn einen Augenblick gedankenlos an. Dann blinzelte er Fairholme zu und ging ruhig davon, während die andern ihm schweigend nachstarrten. Fünftes Kapitel. Was zwischen Smilasch und Henrietta vorgefallen war, erfuhr sonst niemand. Agatha hatte gesehen, daß Henrietta seinen Hals mit ihren Armen umschlang, aber sie war schon fort, als sie >Sidney, Sidney< rief, und sah nicht mehr, wie er ihr Gesicht gegen seine Brust drückte, um ihre Stimme zu dämpfen, und wie er sagte: »Mein einziges Lieb, ich flehe dich an, schreie nicht. Verflucht, wir haben die ganze Bande im Augenblick hier. Still!« »Verlaß mich nicht mehr, Sidney,« flehte sie und klammerte sich fester an ihn an, denn sie las in seinem bestürzten Blick, der nach dem Eingang der Gebüschanpflanzung gerichtet war, daß er sie im Stich lassen wollte. Ein Geräusch von Stimmen, das aus dieser Richtung kam, beendete seine Unentschlossenst. »Wir müssen fortlaufen, Hetty,« sagte er. »Halte dich fest an meinem Hals und erwürge mich nicht. Also los!« Er hob sie empor und rannte eiligst davon. Als sie an eine Mauer kamen, setzte er sie hinauf, kletterte selbst hinüber und fing sie in seinen Armen auf. Dann trug er sie mühsam schwankend quer durch die Felder und taumelte über jeden kleinen Erdhügel, während sie in unzusammenhängenden Worten ihm Vorstellungen machte. »Du wirst mit jeder Sekunde ein paar Pfund schwerer, mein Schatz,« sagte er keuchend. »Wenn du dich nicht grade hältst, brichst du mir den Rücken. Oh, Himmel, hier ist ein Graben!« »Laß mich herunter,« schrie Henrietta in einer Ekstase von Entzücken und Angst. »Du wirst dir Schaden zufügen, und -- oh, bitte, nimm mich --« Er arbeitete sich, während sie sprach, durch einen trockenen Graben und kam auf einen Wiesenplatz, der an den Leinpfad des Kanals anstieß. Hier am Abhang einer Aushöhlung, wo das Moos trocken und weich war, setzte er sie nieder, warf sich selbst, auf seine Ellbogen gestützt, vor ihr hin und sagte keuchend: »Nessus, der Dejanira davontrug, war nichts gegen mich! Huh -- ja! Nun, mein Liebling, bist du froh, daß du mich wiedersiehst?« »Aber --« »Bitte, komm mir nicht mit aber, wenn du nicht wünschst, daß ich noch einmal und für immer verschwinde. Ich armer Kerl habe mich, seitdem ich von dir fortgelaufen bin, mehr als einmal unaussprechlich nach dir gesehnt. Du hast dir natürlich nichts draus gemacht?« »O wohl. Natürlich tat ich das. Warum hast du mich verlassen, Sidney?« »Damit nicht noch etwas Schlimmeres kam. Aber wir wollen nicht die wenigen Augenblicke, die wir haben, mit Auseinandersetzungen verschwenden. Gib mir einen Kuß.« »Dann willst du mich also wieder verlassen. O Sidney --« »Denk nicht an morgen, Hetty. Sei wie die Sonne und die Wiese, die sich nicht im geringsten um den kommenden Winter kümmern. Warum blickst du auf den abscheulichen Kanal, der träge seine Schlammladung von einem Ort zum andern wälzt, bis er sie in die See ausspeit -- grade wie eine übervölkerte Straße ihre Ladung langsam auf den Kirchhof bringt? Sieh mich an und gib mir einen Kuß!« Sie gab ihm mehrere und sagte schmeichelnd, noch immer ihren Arm auf seiner Schulter: »Du sagst das alles nur, um mich zu erschrecken, Sidney, ich weiß das wohl.« »Du bist die helle Sonne für meine Augen,« sagte er und umarmte sie. »Ich fühle, wie mein Herz und mein Kopf unter deinem Lächeln versengt werden, und ich werfe sie dir mit Entzücken als Beute zu. Wie glücklich bin ich, daß ich eine Frau habe, die mich deswegen nicht verachtet -- die mich eher noch mehr liebt!« »Sei nicht närrisch!« sagte sie mit unbestimmtem Lächeln. Dann begriff sie halb, was er meinte. Sie stieß ihn voll Schmerz zurück und sagte ärgerlich: »_Du_ verachtest _mich_ ja.« »Nicht mehr, als ich mich selbst verachte. Oder vielmehr nicht einmal so viel, denn manche Gefühle, die tatsächlich niedrige sind, scheinen äußerlich liebenswert zu sein.« »Du willst mich wieder verlassen. Ich fühle es. Ich weiß es.« »Du glaubst, du weißt es, weil du es fühlst. Auch kein schlechter Grund.« »Dann verläßt du mich also wirklich?« »Du weißt und fühlst es doch? Ja, meine angebetete Hetty, das tue ich sicherlich.« Sie brach in verzweifelte Schmerzensrufe aus, und er zog ihren Kopf an sich heran und küßte sie in einer zarten Weise, der sie nicht widerstehen konnte, und mit einem verzerrten Gesicht, das sie nicht sah. »Meine arme Hetty, du verstehst mich nicht.« »Ich verstehe nur, daß du mich hassest und daß du von mir fortgehen willst.« »Das würde leicht zu verstehen sein. Aber das Seltsame liegt darin, daß ich dich _liebe_ und daß ich von dir fortgehen will. Nicht für immer. Nur für eine Zeit.« »Aber ich will nicht, daß du fortgehst. Ich lasse dich nicht gehen,« sagte sie, und ein Zug von Heftigkeit mischte sich in ihr Flehen. »Warum willst du mich verlassen, wenn du mich liebst?« »Wie soll ich das wissen? Ich kann dir ebensowenig das Wie und Warum meines Handelns erklären, wie ich mich selbst an einem Gürtel hochheben und in eine andere Provinz bringen kann, was man ja gegen die eingewendet hat, die das Perpetuum mobile erfinden wollen. Ich bin zu sehr Pessimist, um auf meine eigenen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Weißt du, was ein Pessimist ist?« »Ein Mann, der glaubt, die andern seien ebenso abscheulich wie er selbst, und der sie dafür haßt.« »Ungefähr so. Die moderne englische feine Gesellschaft, von der ich ausgegangen bin, scheint mir so verdorben zu sein, wie sie nur bei ihrer Einbildung auf ihre Kultur und bei ihrem Mangel an Ehrenhaftigkeit sein kann. Ein scheinheiliger Mob, der die Lüge liebt, die Wirklichkeit haßt, der Unsinn schreibt und schwatzt, der nach Reichtum, Vergnügen und Berühmtheit jagt, der die Furcht vor der Hölle verloren hat, aber sie noch nicht durch die Liebe zur Gerechtigkeit ersetzt hat, ein solcher Pöbel strebt nur danach, sich den Löwenanteil vom Wohlstand zu sichern, und er erpreßt ihn aus den Händen der Gesellschaftsklassen, die ihn schaffen, indem er sie mit Verhungern bedroht. Wenn du mich mit törichten Redensarten unterbrichst, Hetty, werfe ich dich in den Kanal und sterbe nachher vor Kummer über meine verlorene Liebe. Du weißt, was ich nach der herkömmlichen Beschreibung bin: ein steinreicher Gentleman. Weißt du, welchen verruchten Ursprung dieses Geld und diese Vornehmheit haben?« »Oh, Sidney, hast du irgend etwas getan?« »Nein, meine innigst Geliebte, ich bin ein Gentleman und habe nichts getan. Daß ein Mann nichts zu tun braucht und doch nicht verhungert, das ist seltsamerweise kein Widerspruch. Jeder Pfennig, den ich besitze, ist gestohlenes Geld. Aber es war gesetzlich erlaubter Diebstahl, und was für dich von einigem praktischen Wert ist, ich könnte es den rechtmäßigen Eigentümern durchaus nicht zurückgeben, selbst wenn ich wollte. Weißt du, was mein Vater war?« »Was geht uns das jetzt an? Sei nicht so abscheulich und voll von diesen lächerlichen Ideen, lieber Sidney. Ich habe nicht deinen Vater geheiratet.« »Nein, aber du hast -- natürlich nur zufällig -- meines Vaters Vermögen geheiratet. Der Halsschmuck, den du da trägst, ist mit seinem Gelde gekauft, und ich kann fast die Blutflecken sehen --« »Halt, Sidney. Ich kann diese Art von Übertreibung nicht leiden. Es ist alles Unsinn. Bitte, sei lieb zu mir.« »Ich weiß, daß Schweißflecken daran sind.« »Du abscheulicher Mensch!« »Natürlich nicht von dir, mein Herzchen, aber von den unglücklichen Menschen, die Sklavenarbeit tun, damit wir müßig leben können. Ich will dir erklären, warum wir so reich sind. Mein Vater war ein schlauer, energischer und ehrgeiziger Baumwollhändler, der unter einem Austausch jeder Art nur ein Geschäft verstand, bei dem der eine verliert und der andere gewinnt. Er machte es sich zur Aufgabe, so oft wie möglich diesen Austausch vorzunehmen und dabei stets der gewinnende Teil zu sein. Ich weiß nicht genau, woher er stammte, denn er schämte sich sowohl seiner Vorfahren wie auch seiner Verwandten, woraus ich nur schließen kann, daß sie ehrliche und darum erfolglose Leute waren. Jedenfalls erwarb er etwas Kenntnis vom Baumwollhandel, legte etwas Geld zurück, erborgte noch mehr, was man ihm gerne anvertraute, weil er im Ruf stand, die Leute im Geschäft über's Ohr zu hauen, und fing dann, wie er mir später wörtlich erzählte, _für sich selbst_ an. Er kaufte eine Fabrik und etwas Rohbaumwolle. Nun mußt du wissen, wenn ein Mann eine Zeitlang an einem Stück Rohbaumwolle arbeitet, kann er sie in ein Stück gewebte Baumwolle verwandeln, fertig für Bettücher, Hemden und dergleichen. Die gewebte Baumwolle ist wertvoller als die Rohbaumwolle, sie kostet Abnutzung der Maschinen, Abnutzung der Fabrik, Zinsen für das Grundstück, auf der die Fabrik gebaut ist, und menschliche Arbeit oder Abnutzung von Menschenleben, die durch Nahrung, Obdach und Rast bezahlt wird. Verstehst du das?« »Das lernten wir alles auf der Schule. Ich sehe aber nicht ein, was das mit uns zu tun hat, du arbeitest doch nicht im Baumwollhandel.« »Du lerntest sicherlich genau so viel, als man es für gut fand, dir zu lehren, aber ich glaube nicht, daß du alles lerntest. Als mein Vater für sich anfing, gab es viele Männer in Manchester, die auch gerne auf diese Art gearbeitet hätten. Aber sie besaßen keine Fabrik, um darin zu arbeiten, keine Maschinen, um damit zu arbeiten, keine Rohbaumwolle, um daran zu arbeiten, einfach, weil alle diese unentbehrlichen Produktionsmittel sich schon in festem Besitz befanden. So standen sie da mit leerem Magen, zitternden Gliedern und hungrigen Frauen und Kindern in einem Land, das sie ihr eigenes Vaterland nannten, in dem aber jeder Fetzen Boden, jede mögliche Nahrungsquelle fest verschlossen im Besitz anderer war und von bewaffneten Soldaten und Polizisten bewacht wurde. In dieser hilflosen Lage waren die armen Teufel dann gezwungen, um Zulaß zu der Fabrik und zu der Rohbaumwolle zu bitten und mit allem zufrieden zu sein, wenn sie nur ihr Leben fristen konnten. Mein Vater bot ihnen die Benutzung seiner Fabrik, seiner Maschinen und seiner Rohbaumwolle unter folgenden Bedingungen an: Sie mußten lange und schwer arbeiten, von früh bis spät, und seiner Rohbaumwolle neuen Wert hinzufügen, indem sie sie verwebten. Aus diesem so von ihnen geschaffenen Mehrwert mußten sie ihn entschädigen für das, was er ihnen lieferte: nämlich Miete, Obdach, Gas, Wasser, Maschinen, Rohbaumwolle und alles andere, und sie mußten ihm für seine eigenen Dienste als Direktor, Leiter und Kaufmann bezahlen. Soweit verlangte er nichts, als was ihm grade gebührte. Aber nachdem dies alles bezahlt war, blieb noch ein Betrag, den sie nur ihrer eigenen Arbeit verdankten. >Von allem diesen<, sagte mein Vater, >sollt ihr grade genug bekommen, damit ihr nicht verhungert, und den Rest gebt ihr mir als Geschenk, weil ich es so gut verstehe, Geld anzusammeln. Das ist das Geschäft, wie ich es vorschlage. Es ist nach meiner Meinung angemessen und darauf berechnet, sparsame Gewohnheiten bei euch herbeizuführen. Wenn ihr es nicht in dem Licht seht, könnt ihr euch selbst eine Fabrik und Rohbaumwolle anschaffen. Meine braucht ihr nicht zu benutzen.< In andern Worten, sie konnten zum Teufel gehen und verhungern -- Hobsons Wahl! -- denn alle andern Fabriken waren im Besitz von Männern, die keine besseren Bedingungen anboten. Die Leute in Manchester ertrugen aber das Verhungern nicht, und sie konnten auch nicht sehen, wie ihre Kinder verhungerten, so nahmen sie also seine Bedingungen an und gingen in die Fabrik. Die Bedingungen, weißt du, waren von der Art, daß sie nicht, wie er, sich Geld zurücklegen konnten. So schufen sie einen großen Reichtum und lebten sehr ärmlich, so daß der Überschuß, den sie für nichts meinem Vater gaben, sehr groß war. Er kaufte damit noch mehr Baumwolle, noch mehr Maschinen und noch mehr Fabriken. Er beschäftigte immer mehr Menschen, die für ihn Reichtum schafften, und sah sein Vermögen anwachsen wie einen herabrollenden Schneeball. Er wurde enorm reich, aber die Arbeiter waren nicht besser daran als im Anfang, und sie durften nicht aufsässig werden und mehr von dem Geld verlangen, das sie schufen, denn draußen gab es immer genug hungrige Lumpen, die gerne zu den alten Bedingungen ihre Plätze einnahmen. Oft hatte er es mit einer Krisis zu tun, so zum Beispiel, wenn er in seinem Eifer, sein Lager zu vergrößern, durch seine Leute mehr Baumwolle verarbeiten ließ, als das Publikum brauchte. Oder wenn er nicht genug Rohbaumwolle bekommen konnte, wie es während des amerikanischen Bürgerkrieges vorkam. Dann paßte er sich den Umständen an, indem er so viele Arbeiter entließ, wie es nach dem Absatz oder dem Baumwollvorrat nötig war. Sie verhungerten natürlich oder fielen der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last. Während des Bürgerkrieges ging eine gewaltige Liste rund für diese armen Unglücklichen, und mein Vater zeichnete hundert Pfund trotz seiner eigenen großen Verluste, wie er sagte. Dann kaufte er neue Maschinen, und da an diesen die Frauen und Kinder ebensogut arbeiten konnten wie die Männer, und da sie billiger und lenksamer waren, setzte er ungefähr siebzig von jedem Hundert seiner Hände (so nannte er die Männer) auf das Pflaster und ersetzte sie durch ihre Frauen und Kinder, die schneller als je für ihn Geld machten. Zu dieser Zeit hatte er es längst aufgegeben, seine Fabriken selbst zu leiten, und er bezahlte tüchtigen Menschen, die selbst kein eigenes Vermögen hatten, ein paar hundert Pfund im Jahr, weil sie das für ihn besorgten. Er erwarb auch Aktien von anderen Unternehmungen, die nach denselben Grundsätzen geleitet wurden. Er steckte Dividenden ein, die in Gegenden erworben waren, die er nie besucht hatte, und von Männern, die er nie gesehen hatte. Er kaufte sich von einer armen und bestechlichen Wählerschaft einen Sitz im Parlament und half die Gesetze bewahren, durch die er groß geworden war. Später, als der Ruf seines Reichtums sich immer mehr verbreitete, brauchte er niemand mehr zu bestechen, denn die modernen Menschen verehren die Reichen als Götter und wählen einen Mann zu ihrem Leiter aus keinem andern Grunde, als weil er ein Millionär ist. Er äffte den Adligen nach, wohnte in einem Palast in Kensington und kaufte einen Teil von Schottland, um daraus einen Jagdgrund zu machen. Es ist leicht genug, Jagdgründe anzulegen, denn Bäume sind da nicht notwendig. Man jagt einfach die Bauern davon, zerstört ihre Häuser und macht eine Wüste aus dem Land. Zwar schoß mein Vater selbst nicht viel, er überließ gewöhnlich während der Saison die Jagd andern, die das taten. Er verschaffte sich auch eine Frau von adligem Geblüt -- das unbefriedigte Resultat steht vor dir. So gelang es Jesse Trefusis, dem armen Handelsmann, ein Plutokrat und Landedelmann zu werden. Und so bin ich, der ich nie in meinem Leben die geringste Arbeit getan habe, überladen mit Reichtum, während die Kinder der Männer, die diesen ganzen Reichtum geschaffen haben, Sklavenarbeit tun wie ihre Väter, oder verhungern, oder im Arbeitshaus, auf den Straßen oder Gott weiß wo sie sich herumtreiben. Was denkst du darüber, mein Lieb?« »Welchen Zweck hat es, sich deshalb zu quälen, Sidney? Du kannst das jetzt nicht mehr ändern. Übrigens, wenn dein Vater sich Geld sparte und die andern waren gleichgültig, dann verdiente er es, daß er ein Vermögen machte.« »Zugegeben! aber er machte gar kein Vermögen. Er nahm das Vermögen, das die andern machten. In Cambridge lehrte man mir, seine Reichtümer seien der Lohn seiner Sparsamkeit -- jener Sparsamkeit, die es ihm ermöglichte, so viel zurückzulegen. Das beruhigte mein Gewissen, bis ich anfing, mich zu wundern, wie ein Mann einen andern veranlassen konnte, ihn für eine Tugend zu bezahlen. Dann kam die Frage: woran sparte mein Vater? Die Arbeiter sparten an Essen, Trinken, frischer Luft, guten Kleidern, anständigem Wohnen, an Feiertagen, Geld, an der Gesellschaft ihrer Familie und fast an allem, was das Leben lebenswert macht. Das war vielleicht der Grund, weshalb sie ungefähr zwanzig Jahre früher starben, als Leute in unseren Kreisen. Aber niemand belohnte sie für ihre Sparsamkeit. Die Belohnung bekam mein Vater, der an gar nichts von allen diesen Dingen sparte, sondern sie nach Herzenslust genoß. Übrigens, wenn Geld der Lohn für Sparsamkeit war, dann mußte er logischerweise zehnmal so viel sparen, wenn er fünfzigtausend Pfund im Jahr einnahm, als wenn er nur fünftausend hatte. Hier lag ein Problem für meinen jungen Kopf. Man suche etwas, an dem mein Vater sparte und in dem die Arbeiter schwelgten, etwas, an dem er mehr und mehr sparte, je reicher er wurde. Das einzige Ding, welches paßte, war schwere Arbeit, und da ich niemals einen vernünftigen Mann gesehen habe, der einem andern etwas für sein Faulenzen bezahlt, so begann ich zu begreifen, daß die wunderbaren Einnahmen meines Vaters durch Gewalt erzwungen waren. Um gerecht gegen ihn zu sein, er selbst rühmte sich nie seiner Sparsamkeit. Er betrachtete sich als schwer arbeitenden Mann und beanspruchte sein Vermögen als Lohn für sein Risiko, seine Berechnungen, seine Sorgen und seine Reisen, die er in jeder Jahreszeit und zu jeder Stunde unternehmen mußte. Dies beruhigte mich etwas, bis mir der Gedanke kam, wenn er ein Jahrhundert früher gelebt und sein Geld in einem Pferd und in einem Paar Pistolen angelegt hätte und Straßenräuber geworden wäre, daß dann seine Absicht -- den andern die Frucht ihrer Arbeit zu entreißen, ohne ihnen etwas Gleichwertiges zurückzugeben -- genau dieselbe und sein Risiko viel größer gewesen wäre, denn er riskierte dabei an den Galgen zu kommen. Fortwährendes Arbeiten, während ihm die Beamten auf den Hacken saßen, und Berechnungen, ob er die Post nach Dover berauben sollte, würden ihm übergenug Tätigkeit und Sorgen gegeben haben. Überhaupt, wenn das Parlamentsmitglied Jesse Trefusis, der als Millionär in seinem Palast in Kensington starb, ein Straßenräuber gewesen wäre, ich könnte keinen tieferen Ekel vor den sozialen Einrichtungen empfinden, die eine solche Laufbahn wie die seine nicht nur möglich, sondern auch in den Augen seiner Zeitgenossen zu einer ehrenvollen machten. Die meisten Menschen betrachten es als ihre Aufgabe, ihm nachzustreben, und hoffen in derselben Art zu einem reichen und müßigen Leben zu kommen. Darum wende ich ihnen den Rücken. Ich kann nicht bei ihren Festgelagen sitzen, da ich weiß, wieviel diese an menschlichem Elend kosten, und da ich sehe, wie wenig menschliches Glück sie hervorbringen. Was ist deine Meinung, mein Schatz?« Henrietta schien etwas gequält zu sein. Sie lächelte matt und sagte in liebkosendem Ton: »Es war nicht deine Schuld, Sidney. _Ich_ tadle dich nicht.« »Ihr ewigen Mächte!« rief er aus und saß kerzengrade da, indem er den Himmel anflehte, »hier dieses Weib glaubt, das einzige, was mich an der Sache interessiert, sei, ob sie über mich persönlich deswegen etwas Schlechtes denkt!« »Nein, nein, Sidney. Nicht nur ich allein, niemand denkt deshalb etwas Schlechtes von dir.« »Ganz recht,« entgegnete er in höflicher Wut. »Niemand sieht etwas Schlimmes darin. Das ist ja grade das Schlimme an der Sache.« »Übrigens,« bemerkte sie nachdrücklich, »stammt deine Mutter aus einer der ältesten Familien Englands.« »Und was kann ein Mann mehr verlangen als Reichtum und adlige Abstammung! Kann ein Mann glücklicher sein, als ich es sein müßte, der von einem Monopolbesitzer aller Wohlstandsquellen und Produktionsmittel, von Land und Maschinen, abstammt? Dieser selbe Grund und Boden, auf dem wir hier stehen, war das Eigentum des Vaters meiner Mutter. Wenigstens erlaubte ihm das Gesetz, ihn als solches zu benutzen. Als er ein Knabe war, da hauste hier ein leidlich glückliches Geschlecht von Bauern, die den Boden pflügten und für die Erlaubnis, daß sie das tun durften, ihm eine Rente zahlten. Sie erzielten genug, um seine großen Ansprüche und ihre kleinen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne daß sie sich dabei zu Tode arbeiteten. Aber mein Großvater war ein schlauer Mann. Er begriff, daß Kühe und Schafe durch ihr Fleisch und ihre Wolle mehr Geld einbrachten als die Bauern durch ihre Landwirtschaft. So machte er klare Bahn. Das heißt, er vertrieb die Bauern aus ihren Hütten, grade wie es später mein Vater auf seinem Jagdgebiet machte. Oder, wie es auf seinem Grabstein hieß, er entdeckte seinem Vaterlande neue Wohlstandsquellen. Ich weiß nicht, was aus seinen Bauern geworden ist. _Er_ wußte es jedenfalls nicht, und ich glaube auch nicht, daß es ihn irgendwie kümmerte. Wahrscheinlich gingen die Alten ins Arbeitshaus, und die Jungen drängten sich in die Städte und arbeiteten in Fabriken, wie sie mein Vater besaß. Auf ihren früheren Wohnstätten hauste jetzt das Vieh, und es machte sich für das Futter, das man ihm reichte, so gut bezahlt, daß mein Großvater unter den Bedingungen der Manchestermänner Arbeiter mietete, die diesen Kanal hier gruben. Mein Vater beteiligte sich mit Aktien an dem Unternehmen. Als der Kanal fertig war, legten sie Schiffahrtsabgaben darauf, die ihre Erben noch heute beziehen. Und die Söhne der Arbeiter, die ihn gruben, und des Ingenieurs, der ihn zeichnete, bezahlen die Abgaben, wenn sie zufällig darauf fahren oder Güter darauf befördern. Ich erinnere mich meines Großvaters noch sehr gut. Er war ein vornehmer Mann, ein vollkommener Gentleman in seinem Benehmen. Aber im ganzen, glaube ich, war er schlechter als mein Vater, der nun einmal im Räderwerk eines fehlerhaften Systems steckte und entweder andere berauben mußte oder von ihnen beraubt wurde. Aber mein Großvater -- der alte Schuft! -- war nicht in einer solcher Verlegenheit. Er war Herr und Meister über seinen Anteil an dem alten, lustigen England, kein Mensch konnte ihn zum Sklaven machen, und er hätte wenigstens leben und leben lassen sollen. Mein Vater folgte ja seinem Beispiel, als er sich die Jagdgründe anlegte, aber das war auch der Höhepunkt seiner Schlechtigkeit, während es bei meinem Großvater nur der Anfang war. Doch wie es auch sei und wem auch die Palme gebührt, die beiden sind unsere Vorbilder, denen wir alle nachstreben.« »Nicht alle, Sidney. Wir zwei doch nicht. Ich hasse Unternehmer und Großgrundbesitzer. Wir gehören zu den Kultur- und Künstlerklassen, und wir können uns von Handelsleuten fernhalten.« »Ja, und wir verzehren inzwischen verschiedene tausend Pfund von Renten und Zinsen. Nein, mein Schatz, so machen es die Leute, die selbst im Himmel leben und nicht an die Hölle erinnert werden wollen, die aber nichts dagegen haben, daß eine außerhalb ihres Bewußtseins existiert. Ich habe vor meinem Vater mehr Achtung -- ich meine, ich verabscheue ihn weniger -- weil er das Ausbeuten und Stehlen selbst besorgte, als die gefühlvollen Faulenzer und Feiglinge, die ihm Geld gaben, damit er damit andere ausbeutete und bestahl, und die nach gar nichts fragten, wenn er nur die Zinsen pünktlich bezahlte. Und was deine Freunde, die Künstler, angeht, das sind die Allerschlimmsten.« »Oh, Sidney, du hast dir in den Kopf gesetzt, alles häßlich zu finden. Künstler halten keine Fabriken.« »Nein, aber die Fabriken sind auch nur ein Teil in dem Räderwerk des Systems. Seine Grundlage ist die Tyrannei der Gehirnkraft, die unter zivilisierten Menschen tun kann, was Muskelkraft unter Schuljungen und Wilden tut. Der Schuljunge sagt: >Ich bin stärker als du, folglich mußt du für mich Dienste tun.< Der Erwachsene befiehlt: >Ich bin schlauer als du, darum mußt du für mich Dienste tun.< Diese Zustände, denen wir uns unterwerfen, sind an und für sich schlimm genug, sie werden aber unerträglich, wenn die mittelmäßigen oder schwachsinnigen Abkömmlinge dieser schlauen Burschen den Anspruch erheben, ihre Vorrechte zu erben. Nun hängen aber keine Menschen so sehr an der unbeschränkten Herrschaft von Genie und Talent wie deine Künstler. Der große Maler ist nicht damit zufrieden, daß er gesucht und bewundert wird, weil seine Hände, was auch tatsächlich der Fall ist, mehr können als gewöhnliche Hände -- nein, er will auch so ernährt werden, als ob sein Magen, was nicht der Fall ist, mehr Nahrung brauchte als gewöhnliche Mägen. Ein Tagewerk ist ein Tagewerk, nicht mehr und nicht weniger, und wer einen Tag arbeitet, braucht dafür Unterhalt und Schlaf und Mußezeit, ob er nun Maler oder Bauer ist. Aber der Halunke von einem Maler, Dichter, Romanschreiber, oder was er sonst für eine Luxusbeschäftigung hat, ist nicht damit zufrieden, daß er in der allgemeinen Achtung höher steht als der Bauer, er will auch mehr Geld haben, als ob der Tag im Atelier oder im Studierzimmer mehr Stunden hätte als auf dem freien Feld. Als ob er mehr Nahrung brauchte, um seine Arbeit leisten zu können, als der Bauer. Er spricht von der höheren Art seiner Arbeit, als ob diese höhere Wertschätzung sein eigenes Verdienst sei -- als ob er das Recht hätte, weniger für seinen Nachbarn zu tun, als sein Nachbar für ihn tut, als ob der Bauer nicht leichter ohne ihn auskäme, als er ohne den Bauer -- als ob der Wert der berühmtesten Gemälde nicht zweifelhafter wäre als der einer graden Ackerfurche -- als ob nicht ebensoviele Jahre des Lernens dazu gehörten, die Hand und das Auge eines Maurers und eines Schmiedes auszubilden als die eines Künstlers -- als ob, um es kurz zu sagen, der Kerl ein Gott wäre, wie ihm die phantasierenden Kunstverehrer seit Jahren versichert haben. Die Künstler sind die Hohenpriester des modernen Molochs. Neun Zehntel von ihnen sind kranke Geschöpfe, die grade noch vernünftig genug sind, aus ihrer Nervosität ein Geschäft zu machen. Die einzige Eigenschaft von ihnen, die mir etwas Achtung abnötigt, ist eine gewisse erhabene Selbstsucht, die sie veranlaßt, lieber zu verhungern und ihre Familie verhungern zu lassen, als etwas zu tun, was sie nicht lieben.« »Wahrhaftig, du bist ganz im Unrecht, Sidney. In der Sladeschule war ein Mädchen, das seine Mutter und zwei Schwestern durch Zeichnen ernährte. Übrigens, was kannst du tun? Die Leute sind nun einmal so.« »Ja, ich bin durch die Torheit der Leute Grundbesitzer und Kapitalist, aber sie können mir das ja wieder abnehmen. Ich selbst habe keine Möglichkeit, aus meiner Lage herauszukommen, außer wenn ich meine Sklaven an Menschen abgebe, die sie nicht besser behandeln als ich selbst, und selbst ein Sklave werde, was mir nicht so bald einfallen wird. Nein, meine Geliebte, ich muß um deinetwillen und um meinetwillen meinen Fuß auf ihren Nacken halten. Aber du gibst nicht viel um solches langweiliges Zeug. Mein Gewissen quält mich, weil ich dir, mein Engel, Verdruß damit machte. Du willst wissen, warum ich hier wie ein Einsiedler in einer zweizimmerigen Hütte wohne, statt mit meinem schönen und angebeteten Weib die Freuden des Londoner Gesellschaftslebens zu genießen?« »Aber du willst doch nicht etwa hierbleiben, Sidney?« »Allerdings, und ich will dir auch sagen, warum. Ich will helfen, diese Manchesterarbeiter, die die Sklaven meines Vaters waren, zu befreien. Um das fertig zu bringen, müssen alle ihre Mitsklaven in der ganzen Welt zu einer großen internationalen Vereinigung zusammentreten. Sie müssen geloben, die Arbeit der ganzen Welt gerecht zu verteilen, die Produkte der Arbeit gerecht zu verteilen, keinem erwachsenen, rüstigen Faulenzer oder Simulanten einen Pfennig zu geben und jeden in der Gemeinschaft als Ungeziefer zu betrachten, der mehr als seinen Anteil vom allgemeinen Wohlstand haben will und weniger als seinen Anteil an der Arbeit geben will. Es ist sehr schwer, das durchzuführen, denn die Arbeiter, wie alle Leute, denen man helfen will, sehen ihre eigenen Vorteile nicht ein und helfen oft ihren Unterdrückern, ihre eigenen Retter unter den Klängen der =Rule Britannia= oder eines ähnlichen verlogenen Unsinns zu vertreiben. Wir müssen ihre Köpfe erst davon befreien und inzwischen fleißig die internationale Arbeitervereinigung ausbauen. Ich mache jetzt Propaganda für ihre Grundsätze. Der angeblich zum Regieren, in Wirklichkeit aber zum Unterdrücken der Nation organisierte Kapitalismus würde bald genug unserer Vereinigung Einhalt gebieten, wenn er unsere Absicht verstände. Aber er glaubt, wir seien mit Pulverkomplotten und Verschwörungen zur Ermordung gekrönter Häupter beschäftigt, und so geht, während die Polizei in tölpelhafter Weise nach Beweisen hierfür sucht, unser wirkliches Werk ungestört weiter. Ob ich selbst wirklich die Sache fördere, das ist mehr, als ich sagen kann. Ich verbrauche eine Menge Freimarken, bezahle vielen gleichgültigen Lesern die Lektüre, bestreite die Papierkosten für Pamphlete und Zettel, auf denen die Arbeiter als das Salz der Erde gepriesen werden, bin Redakteur und Herausgeber einer kleinen sozialistischen Zeitung und tue im allgemeinen, was in meinen Kräften steht. Es ist besser, wenn ich meinen übel erworbenen Reichtum auf diese Weise verwende, als in einem teuren Haushalt und mit einem Gefolge von Dienern. Ich ziehe meinen gewöhnlichen Anzug und meine zweizimmerige Hütte deinem hübschen, lieben Hause vor, und deinen hübschen, lieben Spielereien, und der hübschen, lieben Vernachlässigung aller Arbeit, die mir am Herzen liegt. Vielleicht mache ich auch einmal wieder Feiertage, und dann werden wir neue Flitterwochen verleben.« Für einen Augenblick schien es, als wollte Henrietta zu weinen anfangen. Dann rief sie plötzlich mit Begeisterung: »Ich will bei dir bleiben, Sidney. Ich will an deiner Arbeit teilnehmen, ganz gleich, was es ist. Ich will mich als Bauernmädchen kleiden und einen kleinen Milcheimer tragen. Die Welt ist nichts für mich, wenn du nicht bei mir bist, und ich würde gerne hier leben und nach der Natur zeichnen.« Er wich zurück und errötete, ohne daß er seine Bestürzung verbergen konnte. Sie war entschlossen, sich nicht vertreiben zu lassen, sie klammerte sich an ihn an und hielt ihn fest. Dieses war die Bewegung, die Wickens Jungen, der im benachbarten Graben saß, zum Lachen brachte. Trefusis war froh über die Unterbrechung, und als er dem Jungen zwei Pence gab und ihn fortwies, hoffte er halbwegs, daß er bleiben würde. Aber obgleich der Junge meistens sehr eigensinnig war, zeigte er sich diesmal ganz artig. Er verschwand auf die Landstraße, wo er einen seiner Pence einem Phantasiespieler gab und mit ihm Kopf oder Schrift spielte, bis das Erscheinen von Fairholmes Gruppe ihn aus seinem Doppelzustand herausriß. Inzwischen war Henrietta mit dringendem Bitten auf ihren Vorschlag zurückgekommen. »Wir würden so glücklich sein,« sagte sie. »Ich würde dir den Haushalt führen, und du könntest soviel arbeiten, wie du wolltest. Unser Leben wäre ein langes Idyll.« »Mein Lieb,« sagte er und schüttelte seinen Kopf, als sie ihn flehend ansah. »Ich habe zuviel Manchester Baumwolle in meinem Wesen für lange Idylle. Und in Wahrheit, die erste Bedingung, wenn du mit mir arbeiten willst, ist, daß du fortgehst. Solange du bei mir bleibst, kann ich nur mit dir kosen. Du bezauberst mich. Wenn ich mich einen Augenblick von dir freimache, dann seufze ich schon voll Reue über die Stunden, die ich durch deine Verführung verloren habe und über die nutzlos vergeudete Energie.« »Wenn du mit mir nicht leben willst, dann hattest du auch kein Recht, mich zu heiraten.« »Ganz richtig. Aber das ist weder deine noch meine Schuld. Wir haben gefunden, daß wir uns zu sehr lieben -- daß unser Verkehr uns an unserer Betätigung hindert, und darum müssen wir voneinander scheiden. Nicht für immer, mein Lieb, nur bis du eigene Sorgen und eigene Arbeit gefunden hast, die dein Leben ausfüllen und dich daran hindern, meines zu vergeuden.« »Ich glaube, du bist von Sinnen,« sagte sie verdrießlich. »Die Welt ist heutzutage von Sinnen und galoppiert zum Teufel, so schnell die Habgier sie antreiben kann. Ich halte mich einfach von diesem Rennen fern, weil ich das Ziel nicht liebe. Hier kommt eine Barke, deren Führer mir ergeben ist, weil er glaubt, ich wollte einen Aufruhr zur Abschaffung von Schleusengebühren und Zöllen veranstalten. Wir wollen an Bord gehen und nach Lyvern fahren. Von dort kannst du nach London zurückkehren. Du telegraphierst am besten von der Umsteigestation nach der Anstalt. Sie müssen jetzt die reine Treibjagd auf uns machen. Ich werde dir meine Adresse geben, und wir können uns schreiben oder auch treffen, so oft wir wollen. Oder du kannst dich auch von mir scheiden lassen, weil ich dich verlassen habe.« »Ich weiß, daß dir das das liebste wäre,« sagte Henrietta schluchzend. »Ich würde vor Verzweiflung sterben, mein Schatz,« sagte er freundlich. »Schiff ahoi! Um Gotteswillen, höre auf zu weinen, Hetty. Du zerreißt mir wahrhaftig die Seele.« »Ahoi--i--i, Master!« brüllte der Schiffer. »Guten Abend, Herr,« sagte ein Mann, der sich mit einer kurzen Peitsche in der Hand neben dem Pferde herschleppte, das die Barke zog. »Komm an!« fügte er übelgelaunt, nach dem Pferd gewandt, hinzu. »Ich möchte aufsteigen und mit nach Lyvern fahren,« sagte Trefusis. »Es scheint ein wohlgenährtes Tier zu sein.« »Besser genährt als ich,« sagte der Mann. »Man kann aus einem unternährten Pferd nicht dieselbe Arbeit herausziehen wie aus einem unternährten Mann oder Weib. Ich bin in Gegenden in England gewesen, wo Frauen die Barken zogen. Sie sind billiger als Pferde, denn es kostet nichts, neue zu bekommen, wenn die alten verschlissen sind.« »Warum schafft ihr sie denn nicht an?« fragte Trefusis mit ironischem Ernst. »Der Grundsatz, Arbeitskräfte auf dem billigsten Markt zu kaufen und ihre Produkte auf dem teuersten Markt zu verkaufen, hat viel dazu beigetragen, daß England das geworden ist, was es ist.« »Die Eisenbahngesellschaften halten Hospitäler für _seines_gleichen,« sagte der Mann mit verschmitztem Lachen und zeigte auf das Pferd, indem er ihm mit dem Ende seiner Peitsche klatschend gegen den Bauch schlug. »Wenn Sie jemals im Ernst versuchen, ein Arbeiter zu sein, dann versuchen Sie es auf vier Beinen. Sie werden finden, daß es bei weitem der Arbeit auf zwei Beinen vorzuziehen ist.« »Dieser Mann ist einer von denen, die ich bekehrt habe,« sagte Trefusis abseits zu Henrietta. »Er sagte mir neulich, seit ich ihn zum Denken gebracht habe, sieht er nie einen Gentleman, ohne daß er die Neigung empfindet, einen Stein gegen ihn zu erheben. Ich finde, Sozialismus wird oft von seinen minder intelligenten Anhängern und Gegnern dahin mißverstanden, als ob er nur der natürlichen Neigung, angesehene Personen mit Steinen zu bewerfen, Vorschub leiste. Jetzt werde ich dich über diese Planke tragen. Wenn du dich ruhig hältst, werden wir wohl die Barke erreichen. Andernfalls erreichen wir den Boden des Kanals.« Er trug sie hinüber und wechselte mit dem Schiffer einige freundliche Worte. Dann nahm er Henrietta mit nach vorne und starrte in das Wasser, während sie geräuschlos an dem hügeligen Weidenland vorbeiglitten. »Das würde eine herrliche Fahrt sein,« sagte er, »wenn man die Frau da unten vergessen könnte, die ihrem Mann in einer stickigen Höhle, so groß wie dein Kleiderschrank, das Essen kocht, und --« »Oh, rede kein Wort mehr von solchen Sachen,« sagte sie ärgerlich: »Ich kann ihnen nicht helfen. Ich habe meinen eigenen Kummer. _Ihr_ Mann lebt bei ihr.« »Sie wird ihren Platz mit dir wechseln, mein Schatz, wenn du ihr das Anerbieten machst.« Es fiel ihr keine Antwort ein. Nach einer Pause begann er poetisch über die Landschaft zu sprechen und ihr verliebte Redensarten und Schmeicheleien zu sagen. Aber sie fühlte, daß er entschlossen war, sie los zu werden, und er wußte, daß es keinen Zweck mehr hatte, seine Absicht vor ihr zu verbergen. Sie wandte sich weg und setzte sich auf einen Stoß Ziegelsteine, indem sie nur ärgerlich ihr Gesicht verzerrte, wenn er sie zum Sprechen drängte. Als sie sich dem Ende der Reise näherten, glaubte sie, daß sie ihren heftigen Schmerz über seine Flucht nur halb zum Ausdruck gebracht hätte, und das Gefühl des erlittenen Unrechts wurde ihr fast unerträglich. Sie landeten an einer Werft und gingen über einen schmutzigen, von tiefen Fahrgeleisen durchzogenen Weg auf die Hauptstraße von Lyvern. Hier wurde er wieder Smilasch und ging ehrerbietig etwas vor ihr her, als wenn er gemietet wäre, den Weg zu zeigen. Sie sah jetzt ein, daß ihre letzte Gelegenheit, ihn anzuflehen, vorbei war, und sie brach bei dem Gedanken fast in Tränen aus. Es kam ihr der Einfall, sie könnte ihn vielleicht bewegen, wenn sie hier eine öffentliche Szene machte. Aber die Straße war sehr belebt, und sie fürchtete sich auch etwas vor ihm. Keines von diesen beiden Bedenken würde sie abgehalten haben, wenn sie in einem ihrer wilden Zornesanfälle gewesen wäre, aber jetzt war sie in ganz unterwürfiger Stimmung. Ihre wilden Launen schienen nur zu kommen, wenn sie ihr schaden mußten. Sie ließ sich ruhig in den Eisenbahnomnibus führen, der grade von dem Gasthofvorplatz abfahren wollte, als sie dort ankamen. Aber obgleich er seinen Hut berührte und fragte, ob er eine Botschaft ausrichten sollte, obgleich er ihr in zartem Flüstern eine glückliche Reise wünschte, wollte sie ihn nicht ansehen, oder ein Wort zu ihm sprechen. So schieden sie voneinander, und er kehrte allein zu der Hütte zurück, wo er von den zwei Polizisten empfangen wurde, die ihn nach der Anstalt brachten. Sechstes Kapitel. Das Jahr ging weiter, und es begannen die langen Winterabende. Die lernbegierigen jungen Damen in der Alton-Anstalt saßen an ihren Pulten, auf die Ellenbogen gestützt und den Kopf in den Händen vergraben, und fröstelten in ihren Pelzkragen. Sie überluden ihr Gedächtnis mit Darlegungen der Moralphilosophen oder schwammen, wie Menschen auf Korkgürteln, auf den Grundproblemen der Mathematik herum. Hierbei geschah es denn oft, je vernünftiger eine Schülerin in der Mathematik war, desto unvernünftiger war sie im wirklichen Leben, weil es da keine feststehenden Grundsätze gab, nach denen man sich richten konnte. Agatha, die nicht lernbegierig war und auch keine Lust hatte, im Winter zu frieren, begann mit wachsendem Eifer die Vorschrift Nr. 17 zu brechen. Die Vorschrift Nr. 17 verbot den Schülerinnen, die Küche zu betreten, oder irgendwie die Dienstmädchen in ihrer häuslichen Tätigkeit zu stören. Agatha brach sie, weil sie gerne braunen Kandiszucker machte und ihn aß, weil sie ein warmes Feuer liebte und alles, was verboten war, und weil ihr die Bewunderung gefiel, mit der die Dienstmädchen ihren musikalischen und Bauchredekünsten lauschten. Gertrude begleitete sie, weil sie ebenfalls Zuckerzeug liebte, und weil sie sich etwas auf ihre Herablassung zu tiefer Stehenden einbildete. Jane ging hin, weil ihre beiden Freundinnen hingingen, und Abenteuerlust, böses Beispiel und Liebe zu Süßigkeiten brachten oft mehr Freiwillige zu diesen Expeditionen, als Agatha für sicher hielt, mitzunehmen. Eines Abends ging Miß Wilson allein in ihren Privatweinkeller hinunter und wurde in der Nähe der Küche durch einen Lärm ausgelassener Lustigkeit aufgehalten. Sie blieb lauschend stehen und hörte zuerst den Kastagnettentanz, der sie an den Nachdruck erinnerte, mit dem Agatha über Mrs. Miller mit dem Finger geschnipst hatte. Dann kam die Biene an der Fensterscheibe, Robin Adair (in dessen Refrain die Dienstmädchen einstimmten) und eine Verspottung ihrer eigenen Person, wie sie Jane Carpenters bessere Natur anflehte, sich auf die Aufnahmeprüfung für Cambridge vorzubereiten. Sie wartete, bis die Kälte und die Furcht, hier beim Spionieren entdeckt zu werden, sie zwangen, wieder hinaufzusteigen. Sie schämte sich, daß sie an einer törichten Unterhaltung ihre Freude gehabt hatte, aber sie sah doch lieber über eine Verletzung der Vorschriften hinweg, als daß sie einen neuen Streit mit Agatha gewagt hätte. Es war besonders eine Sache, in der Agatha sich nicht mehr so an die Schuldisziplin hielt wie früher. Obgleich sie eine unverhältnismäßig große Zahl von Eintragungen in das Sündenbuch geliefert hatte, war jenes Bekenntnis, das beinahe zu ihrer Austreibung geführt hatte, ihr letztes geblieben. Nicht, daß ihre Aufführung eine bessere geworden wäre, sie hatte sich im Gegenteil verschlechtert. Miß Wilson erwähnte nicht mehr die Angelegenheit, und so blieb das Sündenbuch eine geheiligte Sache, auf die nie angespielt wurde. Aber sie bemerkte, daß Agatha, obgleich sie nicht ihre eigenen Sünden bekennen wollte, doch den andern bei der Entlastung ihres Gewissens half. Die Witzigkeit, mit der Jane unerwarteterweise die Seiten des Sündenbuchs anfüllte, war dafür bezeichnend genug. Smilasch hatte jetzt auch ein Gewerbe angefangen. An den letzten Herbsttagen hatte er sein Häuschen weiß getüncht, Türen, Fenster und Veranda angestrichen, das Dach und das Innere ausgebessert und den Platz so sehr verschönert, daß ihm der Grundbesitzer mitteilte, er müßte nach Ablauf der zwölfmonatlichen Pachtung die Rente erhöhen. Ein Mieter könne vernünftigerweise ein hübsches, regendichtes Wohnhaus nicht für dasselbe Geld haben wie eine kaum bewohnbare Ruine. Smilasch hatte ihm sofort versprochen, es am Ende des Jahres so zu verderben, daß es wieder wie früher aussähe. Am Tor hatte er eine Anschlagtafel angebracht mit einer Inschrift, die er von gedruckten Karten abgeschrieben hatte. Er zeigte diese Karte den Leuten, die sich zufällig mit ihm unterhielten. =~Jefferson Smilasch~= =~Maler, Dekorateur, Glaser, Klempner und Gärtner. Klaviere werden gestimmt. Hausreparaturen aller Art. Servieren bei Tisch und Bedienung.~= =~Villa Chamounix,~= =~Lyvern.~= =~Auskunft gratis. Kein vernünftiges Angebot wird abgeschlagen.~= Das auf diese Weise angekündigte Geschäft, so umfassend es war, blühte doch nicht. Wenn er von Neugierigen nach einem Zeugnis für seine Tüchtigkeit und Achtbarkeit gefragt wurde, verwies er sie sorglos an Fairholme, an Josephs und besonders an Miß Wilson, die, wie er sagte, ihn von seiner frühesten Kindheit her gekannt hatte. Fairholme war froh, wenn er beweisen konnte, daß er kein glattzüngiger Pfaffe war, und erklärte auf jede Anfrage, Smilasch sei der größte Halunke in der ganzen Gegend. Josephs sagte teils aus Wohlwollen, teils aus Furcht, Smilasch möchte einmal etwas gegen ihn wegen Verleumdung unternehmen, er sei jedenfalls ein wirklich billiger Arbeiter, und es würde eine gute Tat sein, wenn man ihm zur Aufmunterung eine kleine Beschäftigung gäbe. Miß Wilson bestätigte Fairholmes Bericht, und der Organist der Kirche, der seit fast einem Vierteljahrhundert alle Klaviere in der ganzen Umgegend einmal im Jahre gestimmt hatte, schwärzte ihn als einen Menschen an, der alles anfange und nichts könne. Hierauf begannen die Radikalen in Lyvern, eine kleine und verrufene Partei, zu versichern, an dem Mann sei nichts Böses, und die Geistlichen und Miß Wilson, die in einem feinen Hause wohnte und nur ganz reiche Mädchen als Pensionärinnen aufnahm, könnten ihre freie Zeit besser ausfüllen, als damit, einem armen Arbeiter das Brot aus dem Mund zu nehmen. Aber da keiner aus dieser Gesellschaft häusliche Reparaturen hatte, machte ihn ihre Unterstützung durchaus nicht reicher, und der einzige Kunde, den er fand, war ein Hausmädchen, das seine Stellung in einem Landhaus in der Umgegend aufgab. Sie wollte ihren Koffer ausgebessert haben, dessen Deckel abgefallen war. Smilasch verlangte eine halbe Krone für den Auftrag, aber auf ihr Zögern bat er sie gleich um Verzeihung und ging auf einen Schilling herunter. Hierfür strich er den Koffer neu an, malte die Anfangsbuchstaben ihres Namens darauf, brachte neue Scharniere, ein Bramahschloß und Messinggriffe an. Er hatte selbst für zehn Schillinge Ausgaben und mehrere Stunden Arbeit. Dem Hausmädchen gefiel die Farbe des Anstrichs nicht, sie ließ ihn die Griffe abnehmen, die sie, wie sie sagte, an einen Sarg erinnerten, und beklagte sich, daß ein Schloß mit solch einem schmalen Schlüssel für einen so schweren Koffer nicht stark genug sein könnte. Schließlich gab sie zu, es sei ihre eigene Schuld, weil sie sich keinen Mann genommen hatte, der etwas von der Sache verstand. Es sprach sich bald rund, er habe daran ein gutes Geschäft gemacht, und da er, wenn man es ihm vorwarf, das noch ausdrücklich bestätigte, so erhielt er weiter keinen Auftrag. Sein Schild diente von jetzt ab nur zur Erheiterung von Spaziergängern und Hirtenjungen, die gerne mit Steinen danach warfen. Ein starker Sturm blies eines Nachts über Lyvern, und die jungen Damen im Alton-Institut, die sich meistens vor Blitzen fürchteten, sprachen mit einigem Ernst ihre Gebete. Um halb eins machten Regen, Wind und Donner einen solchen Lärm, daß Agatha und Gertrude sich Halstücher umschlugen und sich nach dem Flurfenster vor Miß Wilsons Arbeitszimmer hinabstahlen, wo sie die Blitze beobachteten, die mit zuckendem Schimmer die Landschaft erhellten. Dabei unterhielten sie sich im Flüstertone darüber, ob es gefährlich sei, nahe am Fenster zu stehen, und ob die messingenen Läuferstangen auf der Treppe die Blitze anziehen könnten. Agatha, die bei einer einzelnen Gefährtin ebenso ernsthaft und freundlich sein konnte, wie sie in einer größeren Gesellschaft mutwillig und spöttisch wurde, genoß ruhig das Schauspiel. Das Blitzen schreckte sie nicht, da sie wenig von dem Ernst des Lebens wußte und sich etwas darauf einbildete, gleichgültig dagegen zu sein. Sie zuckte zusammen, wenn stärkere Blitzschläge aufzuckten, aber das brachte ihr nur ihren eigenen Mut zum Bewußtsein und ihren Gegensatz zu der ängstlichen Gertrude, die endlich vor einer gespaltenen Zickzacklinie von blauem Licht zurückfuhr und sagte: »Wir wollen wieder zu Bett gehen, Agatha. Wir sind hier durchaus nicht sicher.« »Grade so sicher wie im Bett, und da können wir nichts sehen. Wie das Haus zittert! Ich glaube, der Regen wird gegen die Fenster schlagen, ehe --« »Still,« flüsterte Gertrude und ergriff voll Schrecken ihren Arm. »Was war das?« »Was?« »Ich habe bestimmt die Klingel gehört -- die Gartenklingel. Oh, wir wollen wieder zu Bett gehen.« »Unsinn! Wer wird in einer solchen Nacht ausgehen? Vielleicht hat sie der Wind in Bewegung gesetzt.« Sie warteten einige Augenblicke. Gertrude zitterte, und Agatha hatte in der Dunkelheit ein Gefühl, wie es Leute haben, die sich vor Gespenstern fürchten. Dann vermischte sich ein undeutlicher Klang in das Brausen des Windes. Ein paar scharfe und durchdringende Töne kamen unverkennbar von der Gartenklingel auf dem Vorplatz. Es war eine laute Klingel, die bestimmt war, die Dienstmädchen im Hause anzurufen, wenn das Tor geöffnet werden sollte. Denn das Pförtnerhäuschen war unbewohnt. »Was in aller Welt kann das sein?« fragte Agatha. »Können sie nicht das Törchen finden, die Idioten?« »Hoffentlich nicht! Bitte, komm herauf, Agatha.« »Nein, ich will nicht. Geh nur, wenn du willst.« Aber Gertrude fürchtete sich, allein zu gehen. »Es ist am besten, wenn wir Miß Wilson wecken und es ihr sagen.« fuhr Agatha fort. »Es ist schrecklich, in solch einer Nacht jemand nicht hereinzulassen.« »Aber wir wissen ja nicht, wer es ist.« »Nun, ich weiß jedenfalls, daß du keine Angst vor ihnen hast,« sagte Agatha, obgleich sie das Gegenteil wußte. Aber sie benutzte die Gelegenheit, Gertrude zu beschämen und zum Schweigen zu bringen. Sie lauschten wieder. Der Sturm wütete jetzt besonders laut, und sie konnten die Glocke nicht hören. Plötzlich klopfte jemand heftig an die Haustüre. Gertrude schrie, und ihr Schrei erhielt aus den oberen Räumen ein Echo. Verschiedene Mädchen hatten auch das Klopfen gehört und waren dadurch so erschreckt worden, als hätten sie Alpdrücken. Eine Kerze flackerte auf der Treppe, und man hörte Miß Wilsons Stimme, die beruhigend fest klang. »Wer ist da?« »Das bin ich, Miß Wilson, und Gertrude. Wir haben uns das Wetter angesehen, und da klopft jemand an die --« Ein wütendes Hämmern mit dem Türklopfer unterbrach sie. Dann folgte ein Laut, der durch den Sturmwind übertönt wurde, als ob ein Mann etwas riefe. »Sie sollten lieber nicht die Tür öffnen,« sagte Miß Wilson etwas beunruhigt. »Und Sie, Agatha, sind sehr unvernünftig, daß Sie hier stehen. Sie werden sich zu Tod -- O Gott! Was kann da sein?« Sie eilte, gefolgt von Agatha, Gertrude und einigen mutigeren Schülerinnen, auf den Flur hinunter. Ein paar zitternde Dienstmädchen standen neben der Haushälterin, die jammernd durch das Schlüsselloch fragte, wer denn da wäre. Man hörte sie offenbar draußen nicht, denn das Klopfen begann, während sie sprach, von neuem, und sie fuhr zurück, als ob sie einen Schlag gegen den Mund bekommen hätte. Miß Wilson rasselte jetzt mit der Kette und fragte von neuem, wer da wäre. »Lassen Sie uns ein!« schrie jemand dumpf durch das Schlüsselloch. »Hier ist eine sterbende Frau und drei Kinder. Macht die Tür auf!« Miß Wilson verlor ihre Geistesgegenwart. Um Zeit zu gewinnen, antwortete sie: »Ich -- ich kann nicht verstehen. Was sagten Sie?« »Verdammt!« rief die Stimme und richtete sich diesmal an jemand, der sich draußen befand. »Sie können uns nicht verstehen.« Und das Klopfen begann von neuem und mit verstärkter Heftigkeit. Agatha faßte erregt Miß Wilson an ihrem Morgenkleid und wiederholte ihr, was die Stimme gesagt hatte. Miß Wilson hatte es deutlich genug gehört, und sie fühlte auch irgendwie, daß sie die Türe öffnen müsse, aber sie war fast überwältigt von einer unbestimmten Furcht vor dem Kommenden. Sie begann die Kettet abzuhängen, und Agatha half ihr bei dem Aufriegeln. Zwei Dienstmädchen erklärten, sie würden sicher alle in ihren Betten ermordet werden, und liefen davon. Einige von den Schülerinnen schienen geneigt, ihrem Beispiel zu folgen. Bis endlich die freigewordene Tür weit aufflog und Miß Wilson und Agatha zurückwarf. Ein Wirbelwind fuhr in den Hausflur, riß an den Kleidern der Mädchen und blies die Kerzen aus. Agatha sah beim Aufzucken eines Blitzstrahls zwei Männer, die sich an der Türe abmühten, wie Matrosen an einer Ankerwinde. Dann hörte der Wind auf, und sie wußte, daß die Türe geschlossen war. Streichhölzer wurden angezündet, die Kerzen in Brand gesetzt, und man konnte jetzt die Ankömmlinge deutlich erkennen. Smilasch stand in bloßem Kopf und ohne Rock da, seine Manchesterweste und Hose waren schwer vom Regen. Neben ihm stand ein struppig aussehender Mann im mittleren Alter, der die ärmliche Kleidung eines Viehhirten trug und gleichfalls ganz durchnäßt war. Er hatte das armselige, geduldige und verzweifelte Gesicht eines Menschen, der vom Unglück hart verfolgt und am Ende seiner Kräfte ist. Zwei kleine Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die fast nackt waren, verbargen sich unter einem alten Sack, den sie als Schirm gebraucht hatten. Auf der Polsterbank aber lag ein Bündel abgetragener Kleidungsstücke, Sackleinen und zerrissener Decken, das mit Smilaschs Rock und Südwester bedeckt war. Unter diesem Haufen Lumpen verbarg sich ein erschöpftes Weib mit einem armseligen Säugling an der Brust. Smilaschs Gesicht bekam einen grimmigen Ausdruck, als er nach ihr hinsah. »Verzeihen Sie, daß wir Sie stören, Lady,« sagte der Mann nach einem ängstlichen Blick auf Smilasch, da er erwartete, daß dieser sprechen würde. »Aber mein Dach und eine Wand von dem Haus sind bei dem Sturm eingestürzt, und meine Frau hat noch ein anderes kleines Kind gehabt, und es tut mir so leid, daß wir Sie belästigen, Miß. Aber -- aber --« »Belästigen!« schrie Smilasch. »Es ist das höchste Vorrecht einer Dame, Ihnen zu helfen -- das höchste Vorrecht.« Der kleine Junge begann hier vor lauter Elend zu weinen, und die Frau erhob sich, indem sie sagte: »Schäme dich, Tom! Hier vor der Lady.« Dann aber sank sie zusammen, zu schwach, um sich noch um etwas zu bekümmern, was jetzt geschehen konnte. Smilasch sah ungeduldig Miß Wilson an, die zauderte und ihn endlich fragte: »Was erwarten Sie denn, daß ich tun soll?« »Helfen sollen Sie uns,« antwortete er. Dann fügte er mit einem Ausbruch nervöser Energie hinzu: »Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen gebietet. Geben Sie dem Weibe Ihr Bett und Ihre Kleider und lassen Sie die Mädchen auf ein paar Tage ihre Bücher zum Teufel werfen, damit sie für die armen, kleinen Geschöpfe etwas Kleidung anfertigen. Die Armen haben schwer genug gearbeitet, um _sie_ zu bekleiden. Lassen Sie jetzt die Mädchen auch einmal die Armen bekleiden.« »Nein, nein. Alles was recht ist, Master,« sagte der Mann, augenscheinlich sehr bedrückt durch ein Gefühl, unwillkommen zu sein, und er trat einen Schritt vor, um Miß Wilson günstig zu stimmen. »Die Ladys haben keine Schuld. Wenn ich so kühn sein darf, Sie um was zu bitten, dann geben Sie nur meiner Frau bis morgen Obdach. Irgend ein Platz genügt, sie ist dran gewöhnt, sich durchzuschlagen. Wenn sie nur ein Dach über dem Kopf hat, bis ich im Dorf ein Zimmer finde, wo wir einziehen können.« Hier brachten ihn seine eigenen Worte dazu, an die Zukunft zu denken, und er blickte verzweifelt an dem Säulengebälk des Flures vorbei, als ob da ein Gefach sei, in dem vielleicht jemand eine passende Unterkunft für ihn gelassen hätte. Miß Wilson wandte entschlossen und verächtlich Smilasch den Rücken zu. Sie hatte ihre Fassung wiedergefunden. »Ich will Ihr Weib hier behalten,« sagte sie zu dem Mann. »Es wird für sie in jeder Weise gesorgt werden. Die Kinder können auch hier bleiben.« »Dreimal hoch die moralische Beeinflussung!« schrie Smilasch begeistert und fiel wieder in seine rohe Sprache zurück, die er in seinem Zorn ganz vergessen hatte. »Was sagte ich, Nachbar, als ich sagte, Sie sollten Ihre Frau zu der Anstalt bringen, und Sie sagten ironisch, >Ach ja, die werden verflucht froh sein, wenn sie uns da sehen.< Sagte ich nicht, die Lady hat ein nobles Herz, und sie zeigt es auch, wenn solch ein Malör an sie herantritt?« »Wie können Sie meine übereilten Worte hier gegen mich vorbringen, Master, da die Lady so freundlich ist?« entgegnete der Mann erregt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miß, und Beß auch. Wir fühlen, wie lästig wir --« Miß Wilson, die sich mit der Haushälterin beraten hatte, schnitt seine Rede kurz ab, indem sie ihm sagte, er solle jetzt sein Weib zu Bett bringen. Er tat das auch mit Hilfe Smilaschs, der jetzt jubelte. Während sie fort waren, weigerte sich ein Dienstmädchen, eine Bettdecke in das Zimmer der Frau zu bringen, und sagte, solche Menschen wollte sie nicht bedienen. Miß Wilson gab ihr im heftigsten Tone Bescheid, sie könnte am nächsten Tag die Anstalt verlassen. Das war aber auch der einzige Fall von Übelwollen gegen die Ankömmlinge. Die jungen Damen wurden dann gebeten, wieder zu Bett zu gehen. Unterdessen hatte der Mann seine Frau untergebracht. Es war das reine Palastzimmer im Vergleich mit dem, das durch den Sturm über ihr zusammengebrochen war. Er gratulierte ihr zu ihrem Glück und bedrohte die Kinder mit der strengsten Züchtigung, wenn sie sich nicht ganz brav aufführten, solange sie in diesem Hause blieben. Bevor er sie verließ, küßte er seine Frau. Sie hatte sich etwas erholt und bat ihn, noch einmal den Säugling zu betrachten. Er tat es und gab ihm dabei ein böses Schimpfwort, denn er dachte an die Zeit, da der Appetit des Kleinen nicht mehr an der Brust der Mutter gestillt werden könnte, da man für ihn im Laden einkaufen müßte. Sie lachte und machte ihm Vorwürfe, und so schieden sie fröhlich voneinander. Als er mit Smilasch zur Halle zurückkehrte, standen da zwei Krüge Bier für sie. Die Mädchen hatten sich entfernt, nur Miß Wilson und die Haushälterin waren zurückgeblieben. »Zur Gesundheit, Madame,« sagte der Mann, bevor er trank. »Mögen Sie auch so jemand finden, wenn Sie einmal in Sorgen kommen, was der Herr verhüte.« »Ist Ihr Haus ganz zerstört?« fragte Miß Wilson. »Wo wollen Sie denn die Nacht verbringen?« »Denken Sie nicht an mich, Madame. Hier Master Smilasch nimmt mich bis morgen auf.« »Seine Gesundheit!« sagte Smilasch, indem er den Krug mit seinen Lippen berührte. »Das Dach und die südliche Wand sind ganz fortgeweht,« fuhr der Mann fort, nachdem er einen Moment geschwiegen und über Smilaschs Worte gegrübelt hatte. »Ich zweifle, ob noch ein Stein auf dem andern steht.« »Aber Sir John wird es für Sie wieder aufbauen. Sie sind doch einer von seinen Hirten, nicht wahr?« »Jawohl, Miß. Aber er baut nicht. Er wird nur zu froh sein, daß es glücklich zusammengebrochen ist. Er hat es nicht gern, wenn Leute auf dem Felde wohnen. Ich hab es ihm immer und immer wieder gesagt, daß das Häuschen einfallen würde. Aber er meinte, ich könnte doch nicht verlangen, daß er für ein Haus Geld ausgäbe, das ihm keine Miete einbrächte. Sie wissen, Miß, ich bezahlte keine Miete. Ich bekam einen niedrigen Lohn, und das bißchen Hütte wurde mir dafür angerechnet, weil ich weniger erhielt als die andern Leute. Ich konnte es nicht instand setzen lassen, obgleich ich nach Kräften daran ausbesserte. Und jetzt werde ich sicher Vorwürfe bekommen, weil ich es einstürzen ließ. Ich werde in der Stadt ein halbes Zimmer bewohnen müssen und zwei oder drei Schillinge Miete die Woche bezahlen, abgesehen davon, daß ich jeden Tag drei Meilen hin und zurück zu meiner Arbeit gehen muß. Ein Gentleman wie Sir John weiß schwerlich, welchen Wert ein Penny für das arbeitende Volk hat und wie schwer diese Gutsvorschriften und dergleichen auf uns lasten.« »Sir Johns Gesundheit!« sagte Smilasch und berührte den Krug wie vorher. Der Mann trank unterwürfig einen Schluck, und Smilasch fuhr fort: »Das ist der glorreiche Landadel von Altengland. Gott erhalte ihn!« »Master Smilasch spaßt nur,« sagte der Mann entschuldigend. »Er ist einmal so.« »Sie sollten keine Kinder auf die Welt setzen, wenn Sie so arm sind,« sagte Miß Wilson streng. »Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie sich dadurch nur ärmer machen, um die Sache von einem höheren Gesichtspunkt zu betrachten.« »Hochwürden Mr. Malthus' Gesundheit!« bemerkte Smilasch und wiederholte seine Bewegung mit dem Kruge. »Einige sagen, es kommt durch die Kinder, andere sagen, es kommt durch das Trinken, Miß,« sagte der Mann demütig. »Aber so weit ich sehe, Familie oder nicht Familie, betrunken oder nicht betrunken, mit jedem Tag werden die Armen ärmer und die Reichen reicher.« »Ist es nicht widerwärtig, wenn ein Mann eine so krasse Unwissenheit über die gehobene Lebenslage seiner Klasse verrät?« fragte Smilasch, indem er sich an Miß Wilson wandte. »Wenn Sie beabsichtigen, den Mann mit nach Hause zu nehmen,« sagte sie und sah ihn scharf an, »dann tun Sie es am besten jetzt gleich.« »Ich finde es gütig von Ihnen, daß Sie mich bitten, etwas zu tun. Früher waren Sie doch so erzürnt und sagten Mr. Wickens, ich sei die letzte Person in Lyvern, der Sie eine Arbeit anvertrauen würden.« »Das sind Sie auch -- die allerletzte Person. Warum trinken Sie Ihr Bier nicht?« »Nicht weil ich Ihr Gebräu verachte, Lady. Aber ich bin nur ein gewöhnlicher Mann, und Wasser ist gut genug für mich.« »Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Miß,« sagte der Mann. »Und ich danke auch vielmals wegen Beß und der Kinder.« »Gute Nacht,« sagte sie und ging an die Seite, um jede Begrüßung durch Smilasch zu vermeiden. Aber er trat zu ihr hin und sagte mit leiser Stimme, indem er wieder das Benehmen und den Ausdruck des Trefusis annahm: »Gute Nacht, Miß Wilson. Sollten Sie jemals die Dienste eines Hundes, eines Mannes oder eines Hausingenieurs gebrauchen, dann erinnern Sie Smilasch an Beß und die Kinder, und er wird sofort zur Stelle sein.« Sie öffneten vorsichtig die Türe und fanden, daß der Sturm, durch den Regen überwältigt, nachgelassen hatte. Miß Wilsons Kerze flackerte zwar in dem Zugwinde, aber sie wurde diesmal nicht ausgelöscht. Die beiden Frauen waren jetzt allein. Sie schlossen und verriegelten die Türe und lauschten auf die Fußtritte, die auf dem Kiesboden knirschten und langsam in dem gleichmäßigen Gießen des Regens erstarben. Siebtes Kapitel. Agatha ging um diese Zeit in ihr siebzehntes Jahr. Sie hatte eine scharfe Auffassung für die Schwächen der andern und keinen Respekt vor den älteren Schülerinnen, die sie für stumpfsinnig, ängstlich und lächerlich alltäglich hielt. Aber sie war einer Einbildung unterworfen, die die Jugend so oft dem Alter gegenüber benachteiligt: sie hielt sich für eine Ausnahmenatur. Während sie Mr. Jansenius und dem gewöhnlichen Menschenpack nur eine oberflächliche Kenntnis der gröbsten Tatsachen des Lebens zutraute, fühlte sie in ihrer Seele ein zartes Verständnis und eine hingebende Liebe zur Natur, die nur ihre Lieblingsdichter, ihre Roman- und Geschichtshelden teilten. Deshalb konnte sie wie die meisten jungen Menschen viel besser die Angelegenheiten fremder Leute beurteilen als ihre eigenen. Über ihre Mitschülerinnen, die irgendeinen Hans oder Heinrich anbeteten, nicht aus dem kindischen Gefühl, das die Welt Liebe nennt, sondern weil grade dieser Hans oder Heinrich ein Phönix war, auf den die Gesetze, die sonst die Beziehungen junger Leute regeln, nicht paßten, lachte sich Agatha ins Fäustchen. Je mehr sie solche Schwächen bei ihren Freundinnen sah, desto sicherer fühlte sie sich selbst davor. Sie war ja gewarnt. Sie glich einem Doktor, der glaubt, er sei vor den Pocken sicher, weil er schon viele Fälle davon gesehen hat. Oder einem Seemann, der weiß, wie viele Schiffe im Kanal untergehen, und der nun ohne Steuermann fährt, weil er die Gefahren viel zu gut kennt, um etwas von ihnen zu befürchten. Und wie der Doktor an einer solchen Meinung festhält, weil er glaubt, er sei anders veranlagt als die gewöhnlichen Menschen, wie der Schiffer so lossegelt, weil er sein Schiff -- für einen Stern hält: so fand auch Agatha eine falsche Sicherheit in dem Unterschied zwischen ihren Mitschülerinnen, die sie von außen beurteilte, und sich selbst, die sie innerlich kannte. Als sie sich zum Beispiel in Mr. Jefferson Smilasch verliebte -- sie entschloß sich dazu am Tage nach dem Sturm -- gab ihre Phantasie diesem wonnigen Gefühl eine höhere Weihe, die es weit über die nichtigen Schwärmereien setzte, die ihr die andern Mädchen anvertrauten und deren Gegenstand Hans oder Heinrich waren. »Ich kann ihn ganz kühl und gleichgültig ansehen,« sagte sie sich selbst. »Obgleich sein Gesicht einen seltsamen Einfluß ausübt, der sicherlich mit einer unerklärlichen Macht in mir in Verbindung steht, ist es doch kein vollkommenes Gesicht. Ich habe viele Männer gesehen, die streng genommen viel hübscher sind. Wenn auch ein überirdisches Licht aus seinen Augen leuchtet, es sind doch keine hübschen Augen -- sie sind nicht halb so klar wie meine. Obgleich er seine gewöhnliche Kleidung mit einer unaussprechlichen Grazie trägt, die seine feine Erziehung mit jedem Schritt verrät, er ist doch nicht schlank, dunkelhaarig und melancholisch, wie mein idealer Held sein würde, wenn ich eine solche Närrin wäre wie die andern Mädchen in meinem Alter. Wenn ich auch verliebt bin, ich habe doch genug Verstand, um mir durch meine Liebe nicht mein klares Urteil trüben zu lassen.« Sie erzählte niemand von dem neuen Reiz, den ihr Leben gewonnen hatte. Sie war die stärkste in dem Mädchenkreise und benutzte ihre Macht in gutmütiger Weise, um die beliebte Anführerin der andern zu werden. Aber sie schreckte auch gelegentlich nicht davor zurück, sich die Vorrechte eines Schultyrannen zu verschaffen. Aber Beliebtheit und Vorrechte genügten ihr nur, wenn sie die Laune dafür hatte. Die Mädchen wollen wie die Männer gehätschelt, getröstet und mit Aufmerksamkeit behandelt werden, wenn sie mutlos und niedergeschlagen sind oder unerwiderte Liebe fühlen. Solche Dienste kann aber der Schwache nicht dem Starken erweisen, und der Starke will es nicht tun, außer wenn beide verschiedenen Geschlechts sind. Agatha wußte durch Erfahrung, daß ein schwaches Mädchen nicht versteht, warum die stärkere Schwester sich an sie anlehnt, daß sie sich einfach an der Tatsache erbaut und statt aller Tröstung nur Geschwätz gibt. Agatha suchte Verständnis und kein Geschwätz. Da sie das nicht finden konnte, beschloß sie, auf Mitgefühl zu verzichten und zu schweigen. Sie hatte das schon oft tun müssen, und jetzt half ihr die Empfindung, wie lächerlich ihr Gefühl einem gewöhnlichen Auge erscheinen mußte. Ihr Geheimnis war leicht zu verbergen, da man sie auf der Schule jeder zarteren Empfindung für unfähig hielt. Die Liebe beeinflußte sie äußerlich gar nicht. Sie versetzte sie nur in den Glauben, daß jetzt ihre Mädchenzeit hinter ihr läge, daß sie jetzt eine Frau mit neu entstandenen Trieben und Fähigkeiten sei, über die sie noch vor kurzem in kindischer Weise gespottet hätte. Sie schämte sich jetzt über die Biene an der Fensterscheibe, obgleich sie das Stück trotzdem ebenso häufig summte als vorher. Ihr Tagesplan war früher eine einförmige Folge von Unterrichtszeit, Eßzeit, Spielzeit und Schlafzeit gewesen, jetzt wurde er in unregelmäßiger Weise durch Spaziergänge nach dem Landhaus und gelegentliche flüchtige Blicke auf seinen Bewohner eingeteilt. Anfang Dezember stellte sich ein scharfer Frost ein, und die Schiffahrt auf dem Kanal wurde aufgehoben. Wickens Junge kam mit der Nachricht in die Anstalt, Wickens Weiher trüge schon, und die jungen Damen wären zu jeder Zeit willkommen. Der Weiher war nur vier Fuß tief, und da Miß Wilson viel von der körperlichen Erziehung ihrer Schülerinnen hielt, gab sie ihnen Erlaubnis zum Schlittschuhlaufen. Agatha, die sehr gewandt im Eislaufen war, schlug sofort vor, am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück sollte eine ausgewählte Abteilung hinausgehen. Handlungen, die an sich nicht verdienstlich sind, erscheinen uns oft als solche, wenn man früh aufstehen muß, um sie auszuüben, und so gaben einige Kandidatinnen der Cambridge-Prüfung, die nie einen Nachmittag einem Vergnügen geopfert hätten, sofort ihre Zustimmung. Ohne sie wäre übrigens der Plan gar nicht ausgeführt worden. Denn als sie am nächsten Morgen um halb sieben Agatha aufforderten, ihr warmes Bett zu verlassen und in die schneidende Kälte hinauszukommen, würde sie sich ohne Bedenken geweigert haben, hätte sie sich nicht vor den emsigen Mädchen geschämt, die halberfroren und hungrig dastanden und doch bereit waren, aufs Eis zu gehen. Als Agatha sich zitternd und zähneklappernd angezogen hatte, beschwichtigten sie ihr innerliches Unbehagen durch ein paar Biskuits, die sie aßen, nahmen ihre Schlittschuhe und gingen quer über die bereiften Felder an geduldigen Kühen vorbei, die ganze Wolken von Dampf ausatmeten, nach Wickens Teich. Hier fanden sie zu ihrem Erstaunen Smilasch, der sich auf elektrisch versilberten, ganz teuren Schlittschuhen mit allem Eifer in den schwierigsten Figuren übte. Es zeigte sich bald, daß sein Ehrgeiz größer war als seine Übung, denn er taumelte eine Weile wild umher, hielt sich ein paarmal mit genauer Not aufrecht und stürzte dann mit Ellbogen, Waden und Hinterkopf gleichzeitig auf das Eis. Als er sich kläglich zu einer sitzenden Stellung erhoben hatte, bemerkte er, daß acht junge Damen sein Tun mit Interesse beobachteten. »Das kommt davon, wenn ein gewöhnlicher Mann sich über seinen Stand erhebt und die Schlittschuhe eines Gentlemans anzieht,« sagte er. »Hätte ich mich mit einfachem Schlittern begnügt, wie es mein Vater tat, dann würde ich jetzt ein glücklicher Mann sein.« Er erhob sich seufzend, indem er Miß Ward durch Berühren seiner Mütze grüßte. Dann zog er seine Schlittschuhe aus und fügte hinzu: »Guten Morgen, Miß. Miß Wilson schickte mir die Nachricht, ich sollte hier punkt sechs Uhr sein und den jungen Ladys die Schlittschuhe anziehen. Da erlaubte ich mir, ein paarmal über das Eis zu laufen, um mich warm zu machen.« »Miß Wilson hat mir nichts davon gesagt, daß sie Sie hierher bestellt hat,« bemerkte Miß Ward. »Wie nobel von ihr! Sie denkt an alles und läßt sich doch nichts merken. Sie ist eine gütige Lady und eine studierte -- grad wie Sie selbst, Miß. Setzen Sie sich auf den Feldstuhl und geben Sie mir Ihren Absatz, wenn ich so kühn sein darf, eine Schraube hineinzubohren.« Er brachte willkommene Hilfe, und Miß Ward erlaubte ihm, ihr die Schlittschuhe anzuziehen. Sie war eine Kanadierin und lief sehr gut. Jane, die ihr zunächst folgte, hatte große Angst, ob das Eis auch fest genug sei. Als sie sich aber erst darüber beruhigt hatte, hielt sie sich vorzüglich, denn sie liebte alle Übungen und hatte die Genugtuung, daß sie außerhalb der Schule über alle diejenigen lachen konnte, die sie in der Schulstube verlachten. Agatha ließ ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit ihre Mitschülerinnen vor, und ihre Schuhe waren die letzten, mit denen sich Smilasch beschäftigte. »Wie geht es Ihnen, Miß Wylie?« fragte er und ließ die Smilasch-Betonung fallen, weil die andern nicht mehr in Hörweite waren. »Danke, sehr gut,« antwortete Agatha scheu und gezwungen. Da ihm diese Art bei ihr neu war, ließ er ihre Absätze in seiner Hand ruhen und sah neugierig zu ihr empor. Sie faßte sich wieder, blickte ihn ruhig an und sagte: »Wie konnte Miß Wilson Ihnen die Nachricht schicken, Sie möchten herkommen? Sie erfuhr ja von unserm Ausflug erst um halb zehn gestern abend.« »Miß Wilson hat mir gar keine Nachricht geschickt.« »Aber Sie haben es doch grade Miß Ward erzählt.« »Ja. Ich muß jetzt als einfacher Arbeiter fast so viele Lügen erzählen wie früher als Gentleman. Oder vielleicht noch mehr.« »Ich weiß in Zukunft, wieviel ich von dem glauben soll, was Sie sagen.« »Die Wahrheit ist die. Ich bin vielleicht der schlechteste Schlittschuhläufer auf der Welt, und darum ist mir nach einem natürlichen Gesetz die geringste Auszeichnung auf dem Eis mehr wert als ein unsterblicher Ruhm auf einem Gebiete, für das mich die Natur besonders befähigt hat. Ich beneide Ihre große Freundin -- Jane heißt sie, glaube ich -- mehr, als ich Plato beneide. Ich kam heute morgen hierher, um mich im stillen zu üben, und glaubte, die ganze Schlittschuhwelt sei zu Bett.« »Das freut mich, daß wir Sie dabei erwischt haben,« sagte Agatha boshaft, denn er enttäuschte sie. Er sollte etwas Heroisches in seinen Reden haben, aber das tat er nicht. »Ich glaube es,« entgegnete er. »Ich habe gefunden, daß es das größte Entzücken für eine Frau ist, den Eigendünkel eines Mannes zu verletzen, und das größte Entzücken eines Mannes, den Eigendünkel einer Frau zu befriedigen. So gibt es wenigstens ein Geschöpf, das noch niedriger steht als ein Mann. Aber jetzt los mit Ihnen. Soll ich Sie halten, bis Sie sich fest in den Knöcheln fühlen?« »Danke,« sagte sie ärgerlich. »Ich kann sehr gut Schlittschuh laufen und glaube nicht, daß Sie mir viel helfen können.« Und sie glitt vorsichtig davon, denn sie fühlte, daß ein Hinfallen nach solchen Worten für sie beschämend sein müßte. Er stand am Ufer, lauschte auf den knirschenden, jagenden Ton der Schlittschuhe und beobachtete die immer kühneren Schleifen, die sie in das Eis einschnitten. Allmählich wurden die Mädchen warm und gewöhnten sich an das Laufen. Sie lachten, scherzten und schrien sorglos, wenn sie gegeneinander stießen, und segelten die ganze Länge des Teichs hinunter vor dem Wind in einer gefährlichen Schnelligkeit. Je ausgelassener sie wurden, desto finsterer blickte Smilasch. »Kein Unterschied zwischen ihnen und einer Auswahl Zweipennypuppen,« sagte er. »Nur daß einige von ihnen sich bewußt sind, daß ein Mann sie beobachtet, obgleich es nur ein lumpiger Arbeiter ist. Sie erinnern mich in jeder Beziehung an Henrietta. Ob ich jetzt wohl lachen würde, wenn die ganze Eisdecke in tausend Stücken unter ihnen zusammenbräche?« Grade jetzt krachte das Eis mit einem bedenklichen Knall, und die Schlittschuhläuferinnen, mit Ausnahme von Jane, flogen nach allen Richtungen auseinander. »Jane, du brichst das ganze Eis in Stücke!« rief Agatha aus sicherer Entfernung. »Wie kann es dein Gewicht tragen?« »Ihr Narrenpack!« entgegnete Jane unwillig. »Das Knacken zeigt nur, wie stark es ist.« Der Schreck, den Smilasch bei dem Krachen empfunden hatte, beantwortete ihm seine eigene Frage. »Man sollte sich das merken: Wünsche, die auf die Vernichtung des Menschengeschlechts ausgehen, können noch so vernünftig und ernst gemeint sein, sie sind gegen die Natur,« sagte er, als er seine Fassung wiedergefunden hatte. »Übrigens, was wäre ich wohl für ein prachtvoller Narr, wenn ich in einer internationalen Vereinigung von Menschen mitarbeitete, die nur zerstören wollen! He, Lady! Ein Wort, Miß!« Dies galt Miß Ward, die in der Nachbarschaft vorbeiglitt. »Es ist so 'n kalter Morgen und ich habe nur armseliges und gewöhnliches Blut, sehn Sie es als eine Freiheit an, wenn ich hier etwas mitlaufe oder wenn ich in einer Ecke ganz für mich übe?« »Sie können da oben laufen, wenn Sie wollen,« sagte sie, nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, und wies nach einem verlassenen Fleck am hinteren Ende des Teichs, wo das Eis zu uneben war, als daß man da bequem laufen konnte. »Ein nobler Vorschlag!« rief er grinsend und eilte nach dem angewiesenen Platz. Das Schlittschuhlaufen war hier nicht möglich, und so glitt er ein paarmal auf und ab und machte sich so lange Bewegung, bis sein Gesicht glühte und seine Finger in der frostigen Luft juckten. Die Zeit verging schnell. Als Miß Ward zu ihm hinschickte, er solle ihre Schlittschuhe abnehmen, entstand ein allgemeines Klagen und Erklären, es könnte unmöglich schon halb neun sein. Smilasch kniete vor dem Feldstuhl hin und war sofort eifrig beim Aufschnallen und Abschrauben. Als Jane an die Reihe kam, krachte der Stuhl unter ihrem Gewicht. Agatha machte ihr wieder Vorstellungen, schalt sich aber sofort selbst wegen ihrer Redseligkeit in Smilaschs Gegenwart, denn sie wollte auf ihn den Eindruck eines tiefen, ernsthaften Charakters machen. »Der feinste Fuß in der Gesellschaft,« sagte er kritisch, indem er ihren Fuß zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, als ob er irgendeine Kostbarkeit sei, die er beurteilen müßte. »Und er gehört der am feinsten gebauten Dame.« Jane riß errötend ihren Fuß weg und sagte: »Wirklich! Ich bin gespannt, was jetzt kommt.« »Der andere Fuß,« antwortete er und machte sich an den zweiten Schlittschuh. Als er ihn losgeschraubt hatte, blickte er zu ihr auf, und sie warf ihm beim Aufstehen einen Blick zu, der zeigte, daß sie sein Kompliment (ihre Füße waren wirklich klein und hübsch) gewürdigt hatte. »Gestatten Sie, Miß,« sagte er zu Gertrude, die an Agatha gelehnt auf einem Beine stand und sich selbst die Schlittschuhe auszog. »Nein, danke sehr,« sagte sie kühl. »Ich brauche Ihre Hilfe nicht.« »Ich weiß wohl, daß mein Anerbieten vermessen war,« entgegnete er mit einer Selbstzufriedenheit, die seinem Bekenntnis der Unterwürfigkeit etwas Aufreizendes gab. »Wenn alle Schlittschuhe abgeschnallt sind, werde ich sie nach Anordnung Miß Wilsons mit dem Feldstuhl nach der Anstalt zurückbringen.« Miß Ward gab ihm ihre Schlittschuhe und wandte sich fort. Gertrude legte ihre auf den Stuhl und ging mit Miß Ward. Die andern folgten, und er konnte auf einen Haufen Schlittschuhe starren und überlegen, wie er sie am besten trüge. Er fand keinen besseren Plan, als die Riemen zu verbinden und die Schlittschuhe in einer Kette über die Schultern zu hängen. Als er das endlich fertig gebracht hatte, waren die jungen Damen längst verschwunden, und sein Plan, auf der Rückkehr zur Anstalt ihre Gesellschaft zu genießen, war vereitelt. Sie waren schon im Schulgebäude verschwunden, bevor er es auch nur zu sehen bekam. Er ärgerte sich über seine eigene Torheit und ging zum Dienstboteneingang, um dort zu klingeln. Als die Türe geöffnet wurde, sah er Miß Ward hinter dem Dienstmädchen stehen, das ihn eingelassen hatte. »Oh,« sagte sie und blickte auf die Kette von Schlittschuhen, als ob sie schwerlich erwartet hätte, sie noch einmal wiederzusehen, »Sie haben ja unsere Sachen zurückgebracht.« »Ganz nach meinem Auftrag,« sagte er, denn ihr Benehmen machte ihn bestürzt. »Sie hatten ja gar keinen Auftrag. Wie können Sie unter einem falschen Vorwande unsere Schlittschuhe in Verwahrung nehmen? Ich wollte grade zur Polizei schicken, daß sie sie Ihnen wieder abnehmen sollte. Wie konnten Sie mir sagen, Sie hätten den Auftrag, mir zu helfen, wenn Sie selbst ganz gut wußten, daß es nicht wahr war?« »Ich kann nicht dafür, Miß,« entgegnete er unterwürfig. »Ich bin ein natürlicher, geborener Lügner -- ich war es immer. Ich weiß, das muß Ihnen schrecklich erscheinen, da Sie nie in Ihrem Leben gelogen haben und kaum wissen, was eine Lüge ist, denn Sie gehören zu einer Gesellschaftsklasse, in der man nie lügt. Aber die gewöhnlichen Leute lügen so leicht, wie eine Ente schwimmt. Ich bitte Sie ganz demütig um Verzeihung, Miß, und ich hoffe, die jungen Ladys können ein Paar Schlittschuhe von dem andern unterscheiden, denn ich kann es verdammt nicht.« »Legen Sie sie hin. Miß Wilson wünscht Sie zu sprechen, bevor Sie gehen. Susanna, zeigen Sie ihm den Weg.« »Hoffentlich haben Sie mich armen Kerl nicht in Verlegenheit gesetzt, Miß?« »Miß Wilson weiß, wie Sie sich betragen haben.« Er lächelte sie wohlwollend an und folgte Susanna zur Treppe hinauf. Unterwegs trafen sie Jane, die ihn verstohlen anblickte und grade vorbeieilen wollte, als er sagte: »Wollen Sie nicht ein paar Worte bei Miß Wilson für einen armen, gewöhnlichen Burschen einlegen, geehrte junge Lady? Ich bin in schreckliche Verlegenheit gekommen, weil ich so frei war, Ihnen heute morgen zu helfen.« »Geben Sie sich keine Mühe, so zu sprechen,« erwiderte Jane scharf. »Wir wissen alle, daß Sie sich nur verstellen.« »Nun, Sie können ja meine Gründe erraten,« flüsterte er und sah sie zärtlich an. »Solch ein Quatsch und Unsinn! So was hab ich in meinem Leben noch nicht gehört,« sagte Jane und rannte davon. Sie war jetzt fest davon überzeugt, daß er diese niedrige Stellung angenommen hatte, um Einlaß in die Anstalt zu finden und das Glück zu genießen, sie zu sehen. »Ich bin ein verdammter Narr!« sagte er zu sich selbst. »Ich kann doch keine fünf aufeinanderfolgende Minuten wie ein vernünftiger Mensch handeln.« Das Dienstmädchen führte ihn zu dem Arbeitszimmer und meldete: »Hier ist der Mann, Madame.« »Jeff Smilasch,« fügte er erklärend hinzu. »Herein!« sagte Miß Wilson streng. Er trat hinein und verjagte den entschlossenen, ernsten Blick, den sie ihm von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch zuwarf, indem er höflich sagte: »Guten Morgen, Miß Wilson.« Sie verneigte sich unwillkürlich, als ob sie einen Gentleman empfing. Dann faßte sie sich und machte ein unerbittliches Gesicht. »Ich muß Sie um Verzeihung bitten,« sagte er, »weil ich unerlaubterweise heute früh Ihren Namen gebraucht habe -- indem ich tatsächlich log. Es geschah beim Schlittschuhlaufen, als die jungen Damen herunterkamen. Sie brauchten eine Hilfe und hätten sie schwerlich von einem gewöhnlichen Mann angenommen -- verzeihen Sie, daß ich den langweiligen Ausdruck unseres Bekannten Smilasch übernehme. So beruhigte ich sie, indem ich ihnen erzählte, Sie hätten mich beauftragt. Andererseits haben Sie mir ein schlechtes Zeugnis ausgestellt -- natürlich kein schlechteres, als ich verdiene -- und so würden sie sich offenbar geweigert haben, mich damit zu beauftragen. Schließlich hätte ich auch eine Bezahlung annehmen müssen, die ich natürlich nicht brauchte.« Miß Wilson stellte sich erstaunt. »Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie. »Nicht ganz und gar,« sagte er lächelnd. »Aber Sie verstehen, daß ich ein sogenannter Gentleman bin.« »Nein. Die Gentlemen, mit denen ich verkehre, kleiden sich nicht so wie Sie, sprechen nicht so wie Sie und handeln auch nicht so wie Sie.« Er blickte sie an, und ihr Gesichtsausdruck bestätigte die Feindseligkeit, die in ihrem Ton lag. Er nahm sofort in verstärktem Maße das Wesen Smilaschs an. »Ich will nicht mehr versuchen, mich als Gentleman aufzuspielen,« sagte er. »Ich bin ein gewöhnlicher Mann, und Eurer Gnaden Blick erkennt mich als solchen und ist nicht zu täuschen. Aber kommen Sie mir nicht damit, zu sagen, ich sei nicht ehrlich, wenn ich so ehrlich bin, wie Sie es mir nur erlauben. Es ist doch kein Verbrechen, wenn ich den jungen Ladys die Schlittschuhe anziehe und ihnen den Feldstuhl trage.« »Wenn Sie ein Gentleman sind,« sagte Miß Wilson errötend, »dann ist Ihre Art, wie Sie in meiner Gegenwart bei diesen Possen beharren, beleidigend für mich. Höchst beleidigend.« »Miß Wilson,« entgegnete er unbewegt, »wenn Sie auf Smilasch bestehen, sollen Sie Smilasch haben. Es macht mir ein närrisches Vergnügen, ihn darzustellen. Wenn Sie Sidney wollen -- mein wirklicher Vorname -- er steht Ihnen zur Verfügung. Aber erlauben Sie, daß ich das sage, Sie müssen entweder den einen oder den andern wählen. Wenn Sie offen zu mir sprechen, dann werde ich verstehen, daß Sie sich an Sidney wenden. Wenn Sie zurückhaltend und streng sind, an Smilasch.« »Es ist mir gleich, welches Ihr Name ist,« sagte Miß Wilson sehr verdrießlich. »Ich verbiete Ihnen, hierher zu kommen und mit den Mädchen, die in meiner Obhut sind, in irgendeine Verbindung zu treten.« »Warum?« »Weil ich das so will.« »Das ist ein sehr gewichtiger Grund, Miß Wilson. Aber das sind nicht die Grundsätze der moralischen Beeinflussung, von der Sie in Ihrem Anstaltsprospekt reden. Ich habe ihn mit großem Interesse gelesen.« Miß Wilson war seit ihrem Streit mit Agatha empfindlich in bezug auf die moralische Beeinflussung. »Niemand ist hier zugelassen,« sagte sie, »ohne eine vertrauenswürdige Einführung oder Empfehlung. Eine Verkleidung ist kein genügender Ersatz für eines von diesen.« »Verkleidungen werden im allgemeinen gewählt, um Verbrechen zu verbergen,« bemerkte er kurz. »Das werden sie auch,« sagte sie mit Ausdruck. »Darum habe ich, um auch das noch zu sagen, einen zweifelhaften Charakter. Nun hat sich zwischen mir und einigen Schülerinnen eine flüchtige Bekanntschaft gebildet, die Sie, wie es scheint, mißbilligen. Sie haben mir keinen genügenden Grund angegeben, warum ich die Bekanntschaft aufgeben soll, und Sie können mich nur durch Ihre Wünsche beeinflussen, die aber gewöhnlich auf zweifelhafte Charaktere keinen starken Eindruck machen. Angenommen, ich mißachte Ihren Wunsch, und eine oder zwei Schülerinnen kommen zu Ihnen und sagen: >Miß Wilson, nach unserer Meinung ist Smilasch ein prächtiger Mensch. Man gewinnt durchaus bei seiner Unterhaltung. Da es Ihr Grundsatz ist, daß wir nach unserm eigenen Urteil handeln können, so wollen wir die Bekanntschaft mit Smilasch weiter fortsetzen.< Wie werden Sie in dem Falle handeln?« »Ich werde sie sofort zu ihren Eltern zurückschicken.« »Ich sehe, Sie haben dieselben Grundsätze wie die englische Kirche. Sie gestatten Ihren Schülerinnen das Recht der eigenen Meinung unter der Bedingung, daß sie zu denselben Schlüssen kommen wie Sie selbst. Entschuldigen Sie meine Bemerkung, daß die an sich ausgezeichneten Grundsätze der englischen Kirche nicht dieselben sind, wie ich sie bei Ihnen nach Ihrem Prospekt erwartet habe. Ihr Plan ist einfach ein starrer Zwang.« »Das kann ich nicht zugeben,« sagte Miß Wilson, denn sie war stets bereit, ihr System zu verteidigen, selbst gegen Smilasch. »Die Mädchen haben die vollständige Freiheit, nach ihrem eigenen Gutdünken zu handeln, aber ich behalte mir die gleiche Freiheit vor, sie von der Anstalt zu entfernen, wenn ich ihr Benehmen nicht billigen kann.« »Ganz recht. Auf den meisten Schulen haben die Kinder die vollständige Freiheit, ihre Aufgaben zu lernen oder nicht zu lernen, ganz wie sie wollen. Aber der Lehrer beansprucht die gleiche Freiheit, sie zu prügeln, wenn sie diese Aufgaben nicht wiederholen können.« »Ich schlage meine Schülerinnen nicht,« sagte Miß Wilson unwillig. »Der Vergleich ist beschimpfend.« »Aber Sie jagen sie fort. Und da sie an Ihnen und an der Anstalt hängen, ist diese Entlassung eine gefürchtete Strafe. Sie haben das alte System, Gesetze aufzustellen und deren Beobachtung durch Strafen zu erzwingen. Wenn die Altonschule den andern überlegen ist, so liegt das nicht an einem Unterschied im System, sondern an den verhältnismäßig vernünftigen Vorschriften und an der Milde und Rücksicht, mit der diese Vorschriften erzwungen werden.« »Mein System ist von Grund aus verschieden von dem alten. Doch ich will mich mit Ihnen nicht darüber streiten. Ein Kopf, der mit den Vorurteilen der alten Zwangserziehung ausgefüllt ist, sieht natürlich in meinem System nur eine Wiederholung des alten, anstatt einer vollkommenen Umkehrung und Neubildung.« Er schüttelte traurig seinen Kopf und sagte: »Sie wollen andern Ihre Ansichten aufdrängen, indem Sie die Widerspenstigen in Bann tun. Glauben Sie mir, die Menschen haben nie etwas anderes getan, seit sie begannen, sich mit Ideen zu befassen. Man hat gesagt, ein wohlwollender Despotismus sei die beste Regierungsform, die möglich ist. Ich glaube nicht an diesen Satz, weil ich an einen andern glaube, daß die Hölle mit Wohlwollen gepflastert ist, was die meisten Menschen, denen dieser Satz zu tief ist, dahin mißverstehen, die Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert. Als ob ein wohlwollender Despot durch einen Irrtum nicht sein ganzes Königreich zerstören und dann wie Romeo, der seinen Freund getötet hat, ausrufen könnte: >Ich dacht' es gut zu machen!< Entschuldigen Sie meine Abschweifung. Ich wollte sagen, obgleich Sie wohlwollend und gerecht sind, sind Sie doch ein Despot.« Miß Wilson, der keine treffende Antwort einfiel, bedauerte, daß sie ihn nicht kurzerhand entlassen hatte, bevor er so weit die Oberhand gewinnen konnte. Nun aber war sie in einen Wortstreit verwickelt und fand keinen Weg, ihn mit Würde zu beendigen. Er half ihr, indem er unerwartet hinzufügte: »Ihr System war die Ursache meiner törichten Heirat. Meine Frau erhielt hier durch ihre Erziehung einen Grad von Kultur und Vernünftigkeit, daß man glaubte, sie stände über den schnatternden Plaudertaschen, die die Blüte der weiblichen Gesellschaft bilden. Ich bewunderte ihre dunklen Augen und schloß nur zu gern aus ihrer Erziehung, daß wir nicht nur eine leibliche, sondern auch eine geistige Verbindung eingehen würden.« Miß Wilson war erstaunt und beschloß, ihm kühl zu sagen, sie habe keine Zeit mehr. Aber während sie das aussprechen wollte, überkam sie die Neugierde, und sie sagte nur: »Wer war es?« »Henrietta Jansenius. Jetzt Henrietta Trefusis, und ich bin Sidney Trefusis, wenn ich mich Ihnen anvertrauen darf. Ich sehe, ich habe endlich Ihr Mitgefühl geweckt.« »Unsinn!« sagte Miß Wilson schnell, denn in ihr Erstaunen mischte sich wirklich ein Gefühl, daß er sich an Henrietta fortgeworfen habe. »Ich lief von ihr fort und wählte diese Einsamkeit und diese Verkleidung, um ihr nicht mehr zu begegnen. Es ging mir, wie es immer geht, wenn man zu vorsichtig ist. Ich rannte gradenwegs in ihre Arme -- oder vielmehr sie rannte in meine. Sie erinnern sich der Szene, die Ihnen sehr seltsam vorkam.« »Sie scheinen Ihre Eheschließung für keine wichtige Sache zu halten, Mr. Trefusis. Darf ich Sie fragen, wer eigentlich an der Trennung Schuld hatte? Natürlich Henrietta.« »Ich habe ihr nichts vorzuwerfen. Ich erwartete, sie würde ein heftiges Wesen haben, aber das war nicht der Fall -- ihr Benehmen war tadellos. Ich betrug mich ebenso. Unser Glück war vollkommen, aber leider bin ich nicht für häusliches Glück geschaffen -- jedenfalls ertrug ich es nicht lange -- so floh ich, und als sie mich wiedergefunden hatte, konnte ich ihr keine Entschuldigung für meine Flucht geben. Immerhin machte ich ihr klar, daß ich unsere eheliche Verbindung jetzt noch nicht wieder aufnehmen wollte. Wir schieden nicht im besten Einvernehmen. Ich hatte die beste Absicht, ihr einen süßen Brief zu schreiben, damit sie mir trotz allem vergeben sollte, aber nun sind die Wochen dahingegangen, und ich bin noch immer bei der Absicht. Sie hat nicht mehr geschrieben und ich auch nicht. Nicht wahr, Miß Wilson, das ist ein hübscher Zustand nach allen ihren Vorzügen, die sie unter der moralischen Beeinflussung und höhern Frauenerziehung erworben hat?« »Nach dem, was Sie selbst zugegeben haben, scheint die Schuld an Ihrer eigenen moralischen Erziehung zu liegen, nicht an der Henriettas.« »Die Schuld liegt an den Umständen unserer Verbindung. Warum sie mich im Anfang so mächtig angezogen und nachher so entsetzlich abgestoßen hat, das ist eins von jenen Teufelsrätseln, die wir nicht entwirren können, bis wir hinter die feinsten Winkelzüge unserer geheimen Schlechtigkeit gekommen sind. Doch ich fürchte, ich nehme Ihnen Ihre Zeit. Sie wollten Smilasch sprechen, und dessen Persönlichkeit habe ich doch jetzt vernichtet. Vor der Öffentlichkeit aber muß ich diese Possen weiter treiben. Noch eins. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich für den Viehhirten interessieren, dessen Weib Sie in der Sturmnacht aufnahmen?« »Er versicherte mir, ehe er seine Frau abholte, daß er eine gut eingerichtete Wohnung in Lyvern gefunden habe.« »Ja. Eine wirklich sehr gut eingerichtete. Für eine halbe Krone die Woche durfte er mit zwei anderen Familien ein geräumiges Zimmer teilen in einem Hause, das schwerlich in besserem Zustande war als seine durch den Sturm zerstörte Hütte. Dieses Haus, das zehn Zimmer hat, bringt seinem Eigentümer über zweihundert Pfund im Jahr, also mehr als die Miete für ein bequemes herrschaftliches Wohnhaus in South Kensington. Es ist etwas beschwerlich, die Miete einzusammeln, aber dafür hat man auch keine Ausgaben für Reparaturen und sanitäre Einrichtungen, die man in Mietskasernen für überflüssig hält. Unser Freund muß drei Meilen bis zu seiner Arbeitsstätte gehen und drei Meilen zurück. Bewegung ist eine prächtige Sache für Studenten und Bureaumenschen, aber für einen Viehtreiber, der den ganzen Tag auf den Feldern zugebracht hat, ist ein langer Marsch nach beendeter Arbeit etwas zu viel des Guten. Er bat um eine Lohnerhöhung zum Ausgleich für den Verlust der Hütte, aber Sir John deutete ihm an, wenn er nicht mit seiner Stellung zufrieden sei, die könnte er leicht durch einen weniger anspruchsvollen Viehtreiber ausfüllen. Sir John ließ sich sogar so weit herab, zu erklären, daß er als Unternehmer durch die Gesetze der Sozialökonomie gezwungen sei, die Arbeit auf dem billigsten Markte einzukaufen, und unser armer Freund, der in ökonomischer Beziehung ebenso unwissend wie Sir John ist, wußte natürlich nicht, daß das falsch sei. Da aber die Arbeit augenblicklich überall so billig im Preis steht -- Downing-Street und einige andere bevorzugte Plätze vielleicht ausgenommen -- so riet ich unserm Freund, er sollte irgendwohin gehen, wo sein Marktpreis höher ist als in dem lustigen England. Er war gern bereit dazu, doch es fehlten ihm die Mittel. Darum borgte ich ihm eine Kleinigkeit, und er ist jetzt auf dem Wege nach Australien. Arbeiter sind die Gänse, die die goldenen Eier legen, aber sie fliegen manchmal davon. Ich höre einen Gong anschlagen. Das erinnert mich, wie schnell die Zeit vergeht und welchen Wert sie für Sie hat. Guten Morgen.« Miß Wilson hatte plötzlich das Gefühl, sie dürfte ihn nicht gehen lassen, ohne an seine bessere Natur appelliert zu haben. »Mr. Trefusis,« sagte sie, »entschuldigen Sie, aber vergessen Sie nicht in Ihrer Großmut gegen andere etwas -- Ihre Pflicht gegen sich selbst? Und --« »Es ist die erste und härteste aller Pflichten!« erklärte er. »Ich bitte Sie um Verzeihung, weil ich Sie unterbrochen habe. Ich wollte mich nur schuldig bekennen.« »Ich kann nicht zugeben, daß es die erste aller Pflichten ist, aber es ist manchmal vielleicht die härteste, wie Sie es nennen. Sie könnten aber viel billiger gegen sich handeln, ohne sich all diese Mühe zu geben. Wenn Sie ein niedriges Leben führen wollen, dann brauchen Sie sich doch nicht für einen ungebildeten Mann auszugeben und nicht solchen lächerlichen Namen anzunehmen. Warum in aller Welt nennen Sie sich Smilasch?« »Ich gebe zu, daß der Name ein Fehlgriff war. Ich habe mir viele Mühe bei seiner Konstruktion gegeben, denn ich wollte einen angenehmen Eindruck machen. Smilasch sollte heiter und freundlich klingen. Statt dessen reizt es nur. Das ist sehr seltsam, aber es kommt wohl daher, weil mein Aussehen und mein Wesen so gar nicht dazu passen.« Miß Wilson sah ihn mißtrauisch an, aber er blieb vollkommen ernst. Es entstand eine Pause. Dann sagte sie kurz: »Guten Morgen!« als ob sie sich entschlossen hätte, beleidigt zu sein. »Guten Morgen, Miß Wilson. Ein Millionärssohn ist wie ein Königssohn selten frei von geistigen Krankheiten. Ich bin grade verrückt genug, um die andern noch betrügen zu können. Wäre ich ein bißchen verrückter, ich würde mich vielleicht wirklich für Smilasch halten, anstatt ihn einfach darzustellen. Ob Sie mich nun bitten, meiner einen Augenblick zu vergessen oder mich einen Augenblick an mich selbst zu erinnern, ich bin der Sohn meines Vaters und kann es nicht ändern. Mit meiner Selbstsucht, meiner Quacksalberei, meiner Geschwätzigkeit und meiner Art, stets eigene Wege zu gehen, tauge ich zu keinem andern Geschäft, als den Erlöser der Menschen zu spielen -- so wie sie es haben wollen.« Nach einer eindrucksvollen Pause wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer. »Wenn ich jetzt absichtlich meinen Weg verliere,« sagte er, als er über den Flur ging, »dann kann ich vielleicht den Anblick dieses Mädchens erhaschen, das wie ein goldenes Idol ist.« Unten traf er auch auf seinem Wege zur Tür auf Agatha, die ihm entgegenkam und mit einem Buch Fangball spielte. Der melancholische Ausdruck ihres Gesichts, den sie immer hatte, wenn sie allein war, zeigte, daß sie sich nicht amüsierte, sondern nur ihrer Rastlosigkeit nachgab. Als ihr Blick dem emporfliegenden Buch folgte, sah sie plötzlich Smilasch. Das Buch flog zur Erde. Er nahm es auf und übergab es ihr, indem er sagte: »Da treffe ich ja noch zur rechten Zeit das goldene Idol!« »Was?« fragte Agatha verwirrt. »Ich nenne Sie das goldene Idol,« sagte er. »Wenn wir nicht beieinander sind, stelle ich mir immer Ihr Gesicht als ein Gesicht von Gold vor mit Augen und Zähnen von Chalcedon oder Achat oder von unbekannten, wundervollen Steinen in passenden Farben.« Agatha stand fassungslos und stumm da und konnte nur abweisend zur Erde blicken. »Sie glauben, Sie müßten ärgerlich über mich sein, und Sie wissen nicht genau, wie Sie mich das fühlen lassen sollen. Ist es nicht so?« »Nein, ganz im Gegenteil. Wenigstens glaube ich, daß Sie sich irren. Ich bin der allergewöhnlichste Mensch, den Sie sich vorstellen können -- Sie müßten mich nur kennen. Ich glaube, es ist gleich, wie ich aussehe.« »Woher wissen Sie, daß Sie gewöhnlich sind?« »Natürlich weiß ich das,« sagte Agatha, und ihre Augen wanderten unruhig umher. »Natürlich wissen Sie es nicht. Sie können sich nicht so sehen, wie andere Sie sehen. Zum Beispiel, Sie haben sich niemals für ein goldenes Idol gehalten.« »Aber das ist lächerlich. Sie täuschen sich vollständig über mich.« »Vielleicht -- ich weiß aber, daß Ihr Gesicht nicht aus wirklichem Gold gemacht ist und daß es für Sie nicht denselben Reiz hat wie für andere -- für mich.« »Ich muß gehen,« sagte Agatha, plötzlich in Eile. »Wann werden wir uns wieder treffen?« »Ich weiß nicht,« antwortete sie in wachsender Unruhe. »Ich muß wirklich gehen.« »Glauben Sie mir, Ihre Eile ist nur eingebildet. Sie stellen sich gewiß vor, Sie benähmen sich Ihrer unwürdig und ein Netz schlinge sich rund um Sie.« »Nein, das denke ich gar nicht.« »Warum sind Sie denn so ängstlich, fortzukommen?« »Ich weiß nicht,« sagte Agatha und versuchte zu lachen, als er sie mit gesenkten Augenlidern ungläubig ansah. »Vielleicht habe ich ein wenig dieses Gefühl, aber nicht so sehr, wie Sie sagen.« »Ich will Ihnen diese Erregung erklären,« sagte er mit unterdrückter Glut, die Agatha seltsam berührte. »Aber sagen Sie mir zuerst, ob es für Sie etwas Neues ist oder nicht.« »Es ist überhaupt keine Erregung. Davon habe ich nichts gesagt.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorge. Es kommt nur dadurch, weil Sie mit einem Mann zusammen sind, den Sie bezaubert haben. Sie wären die Herrin der Lage, wenn Sie nur einen Liebhaber zu leiten verständen. Es ist das viel leichter, als ein Pferd zu leiten, Schlittschuh zu laufen oder Klavier zu spielen oder sonst ein halbes Dutzend Kunststücke fertig zu bringen, die Sie für nichts achten.« Agatha errötete und hob ihren Kopf. »Vergeben Sie mir,« sagte er und unterbrach ihre Bewegung. »Ich versuche, Sie zu beleidigen, um mich selbst vor meiner Liebe zu Ihnen zu retten, aber ich habe nicht das Herz, es durchzuführen. Bei Ihrem Leben, hören Sie nicht auf mich und glauben Sie mir nicht. Ich habe kein Recht, Ihnen so etwas zu sagen. Irgendein Unhold ergreift von mir Besitz, wenn ich vor Ihnen stehe. Sie sollten einen Schleier tragen, Agatha.« Sie errötete. Ihre Wangen brannten, ihre Ohren summten, und alle Selbstbeherrschung war verschwunden. Ein Gefühl der Erlösung überkam sie, als sie hörte -- denn zu sehen wagte sie nicht -- daß er fortging. Ihr Bewußtsein war in seliger Verwirrung, und nur ein klarer Gedanke blieb darin, daß sie endlich ihren Geliebten erobert hatte. Trefusis Stimme, die einen aufrichtigen und ernsthaften Ton hatte, seine schnelle Auffassung, die leidenschaftliche Warnung, nicht auf ihn zu achten, überzeugten sie, daß sie eine Verbindung eingegangen war, die ihr ganzes Leben beeinflussen würde. »Und doch,« sagte sie und machte sich selber Vorwürfe, »ich kann ihn nicht lieben, wie er mich liebt. Ich bin selbstsüchtig, kalt, berechnend, leichtfertig. Ich habe bis heute überhaupt gezweifelt, ob es so etwas wie Liebe gäbe. Wenn ich ihn doch nur unbekümmert und ausschließlich lieben könnte, wie er mich liebt!« Smilasch sprach ebenfalls mit sich selbst, als er seines Weges ging. »Jetzt habe ich das arme Kind -- das so besorgt war, ich möchte sie doch nicht fälschlich für ein übernatürlich begabtes und liebliches Weib halten -- so glücklich wie einen Engel gemacht. Und dem feinen Mädchen, das sie Jane Carpenter nennen, geht es ebenso. Hoffentlich werden sie über diese Sache sich keine Geständnisse machen.« Achtes Kapitel. Mrs. Trefusis fand ihre Eltern so gefühllos in der Angelegenheit ihrer Ehe, daß sie kurz nach ihrem Besuch in Lyvern ihr Haus verließ und bei einer gastlichen Freundin eine Wohnung nahm. Da sie aber über das, was immerzu ihre Gedanken erfüllte, nicht schweigen konnte, so besprach sie die Flucht ihres Mannes mit dieser Freundin. Diese sagte einfach, Trefusis' Benehmen sei schändlich und gemein. Henrietta konnte das nicht ertragen und suchte Obdach bei einer Verwandten. Hier kam es zu derselben Unterredung, und die Verwandte sagte: »Nun, Hetty, wenn ich offen sprechen soll, ich habe Sidney Trefusis schon sehr lange gekannt, und es gibt keinen Menschen, mit dem man leichter auskommen kann. Aber du bist, wie du weißt, manchmal sehr schwer zu behandeln.« »Also jetzt,« schrie Henrietta und brach in Tränen aus, »nachdem er mich so schändlich behandelt hat, muß ich mir sagen lassen, ich sei selbst an allem schuld.« Sie verließ am nächsten Tage das Haus und folgte der Einladung einer geschiedenen Frau, die den Gegenstand überhaupt nicht besprechen wollte. Das erwies sich als unerträglich, und Henrietta zog zu ihrem Onkel Daniel Jansenius, einem lustigen und nachgiebigen Mann. Er war der Ansicht, es würde schon alles wieder in Ordnung kommen, sobald beide Teile vernünftiger geworden wären. Und was die Schuldfrage anging, so lautete sein Urteil: zu sechs Teilen trüge die eine Partei die Schuld, zu einem halben Dutzend die andere. Wenn er seine Nichte grübelnd oder weinend fand, dann lachte er und nannte sie eine Strohwitwe. Henrietta fand, daß sie alles auf der Welt eher ertragen könnte als das. Sie erklärte, die Welt sei abscheulich gegen sie, und mietete eine möblierte Villa in St. Johns Wood, in die sie im Dezember einzog. Da sie aber da sehr an der Einsamkeit litt, schrieb sie bald einen überschwenglichen Brief an Agatha und lud sie ein, die kommenden Weihnachtsferien bei ihr zu verbringen. Sie versprach jeden Luxus und jedes Vergnügen, das unbegrenzte Zuneigung vorschlagen und unbegrenzte Mittel gewähren konnten. Agathas Antwort enthielt einige unerwartete Mitteilungen. Alton-Lyvern, den 14. Dezember. _Teuerste Hetty_, ich glaube nicht, daß ich Deinen Vorschlag ganz annehmen kann, da ich Weihnachten mit Mama in Chiswick verbringen muß. Aber ich brauche erst Weihnachtsabend dorthin zu gehen, und wir brechen hier schon nächste Woche, am 20., auf. Dann fahre ich gleich zu Dir hin und bringe Dich mit zu Mama, wo wir die Feiertage viel besser verbringen werden, als wenn wir uns in einem fremden Hause langweilen. Es ist noch nicht ganz sicher, ob ich dann schon die Schule verlasse. Du mußt mir versprechen, das niemand zu erzählen, ich habe nämlich einen Freund hier -- einen Liebhaber. Nicht daß ich in ihn verliebt bin, obgleich ich ihn sehr hoch schätze -- du weißt, ich bin keine romantische Närrin. Aber er ist sehr in mich verliebt, und ich wollte, ich könnte das erwidern, wie er es verdient. Die Franzosen sagen, die eine Person hält die Wange hin, und die andere küßt sie. Ganz so weit ist es noch nicht zwischen uns gekommen. In Wahrheit, seit er mir seine Gefühle gestanden hat, hat er kaum ein paar flüchtige Worte mit mir sprechen können, wenn ich Schlittschuh laufen oder spazieren ging. Aber es ist wenigstens jedesmal ein vielsagendes Wort oder ein Blick gewechselt worden. Und jetzt, wer glaubst Du, daß es ist? Er sagt, er kennt Dich. Kannst Du es erraten? Er sagt, Du wüßtest alle seine Geheimnisse. Er sagt, er kennt auch sehr gut Deinen Mann. Der hätte Dich sehr schlecht behandelt, und Du verdientest große Teilnahme. Errätst Du es jetzt? Er sagt, er hätte Dich geküßt -- schäme Dich, Hetty! Hast Du es nun erraten? Er wollte mir grade noch mehr erzählen, als wir unterbrochen wurden, und ich habe ihn seitdem nur aus der Entfernung gesehen. Er ist der Mann, mit dem Du an jenem Tag davongelaufen bist, was uns alle solche Angst einflößte -- Mr. Sidney. Ich war die erste, die seine Verstellung entdeckte, und an jenem selben Morgen hatte ich es ihm vorgeworfen, und er gestand es mir ein. Er sagte damals, er verberge sich vor einer Frau, die in ihn verliebt sei, und ich würde mich gar nicht wundern, wenn sich das als wahr herausstellte, denn er ist ein prachtvoller Mensch -- wirklich, ich kann ihn grade deswegen so gut leiden, weil er bei weitem der tüchtigste Mensch ist, den ich je getroffen habe. Und doch hält er gar nichts von sich selbst. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was er an mir Kostbares bemerkt, obgleich er offenbar durch meine Reize gefesselt ist. Hoffentlich entdeckt er nicht, wie närrisch ich bin. Er nennt mich sein goldenes Idol -- Henrietta riß mit einem Schrei der Wut den Brief mitten durch und trat darauf. Als der Anfall nachließ, hob sie die Stücke auf, hielt sie so genau zusammen, wie es ihre zitternden Hände erlaubten, und las weiter. -- aber er ist nicht lauter Honig und kann Dir die ernstesten Dinge sagen, wenn er glaubt, er müßte es tun. Er hat mich wegen meiner Unwissenheit so beschämt, daß ich entschlossen bin, hier noch ein Semester zu bleiben und so eifrig zu lernen, wie ich kann. Ich habe bisher noch nicht damit angefangen, weil es sich am Ende des Semesters doch nicht lohnt, aber wenn ich im Januar zurückkomme, gehe ich ernsthaft an die Arbeit. Daran kannst Du sehen, welchen guten Einfluß er auf mich ausübt. Wenn wir uns treffen, werde ich Dir alles über ihn erzählen, denn ich habe jetzt keine Zeit dazu, weil die Mädchen mich drängen, mit zum Schlittschuhlaufen zu kommen. Er gibt sich für einen Arbeiter aus und zieht uns die Schlittschuhe an, und Jane Carpenter glaubt, er sei in sie verliebt. Jane ist außerordentlich gutherzig, aber sie hat ein unbändiges Talent, sich selbst lächerlich zu machen. Das Eis ist fein und das Wetter freundlich; aus der Kälte machen wir uns gar nichts. Sie drohen mir, ohne mich zu gehen -- adieu! Deine Dich treu liebende _Agatha_. Henrietta sah sich nach einem scharfen Gegenstand um. Sie griff wütend nach einer Schere und stach damit in die Luft. Dann wurde sie sich ihres mörderischen Anfalls bewußt und erschauerte darüber, aber schon einen Augenblick später ergriff sie von neuem ihre Eifersucht. Wie erstickend schrie sie: »Es ist mir gleich, ich möchte sie töten!« Doch sie nahm die Schere nicht wieder auf. Schließlich klingelte sie heftig und verlangte einen Eisenbahnfahrplan. Als sie hörte, daß keiner im Hause war, zankte sie das Mädchen so unvernünftig aus, daß es einfach sagte, wenn es in einer solchen Weise angeredet würde, dann möchte es lieber am Ende des Monats gehen. Diese Zurechtweisung brachte Henrietta zur Besinnung. Sie ging die Treppe hinauf und nahm den ersten Mantel, den sie fand. Es war glücklicherweise ein schwerer Pelzmantel. Dann nahm sie ihre Geldtasche, setzte den Hut auf und verließ das Haus. Die erste Droschke, die vorbeifuhr, rief sie an und ließ sich nach St. Pancrasstation fahren. Als die Nacht hereinbrach, war die Luft in Lyvern in der schneidenden Kälte wie scharfes Eisen. Die Bäume und der Wind schienen so fest gefroren, wie es das Wasser war, und Schweigen, Stille und Sternenlicht lagen eisig über der Landschaft. Smilasch saß in seiner Schweizerhütte und hielt unbekümmert um den Preis der Kohlen ein prasselndes Feuer im Gang, das durch die vorhanglosen Fenster glühte und die Vorübergehenden quälte, die nicht wie die Viehhirten in der Nachbarschaft wußten, daß sie ruhig hereinkommen und sich wärmen konnten, ohne daß sie von dem Bewohner eine abschlägige Antwort erhielten. Smilasch war in guter Stimmung. Er hatte sich zu einem tüchtigen Schlittschuhläufer entwickelt, und Frostwetter galt ihm jetzt als Luxus. Es gab ihm Spannkraft und verjagte seine trüben Stimmungen. Es steigerte aber auch sein Mitgefühl für die Armen zu einem grimmen Humor, wenn er dachte, daß sie kein Feuer und kein Schlittschuhlaufen hatten und sich in dem ungesunden Dunst erwärmten, den eng zusammengedrängte Menschen zu jeder Jahreszeit entwickeln. Smilasch pflegte sich jeden Abend um halb zehn einen heißen Trank aus Hafermehl und Wasser zu machen und dann um zehn zu Bett zu gehen. Er öffnete die Türe, um etwas Wasser auszugießen, das noch vom letzten Abwaschen im Kochtopf geblieben war. Es gefror, sowie es auf den Boden fiel. Er blickte in die Nacht und schüttelte sich, um das bedrückende Gefühl loszuwerden, in dieser eisigen Umklammerung der Luft verloren zu sein. Denn das Thermometer war unter den gewohnten Stand frischer und zerspringender Kälte gesunken und zeigte eine Temperatur, in der die erstarrte Luft zu einer schwarzen Masse zu gefrieren schien. Nichts rührte sich. »Beim Henker!« sagte er, »das ist eine Nacht, an die man als reicher Mann gar nicht denken darf!« Er schloß die Türe und eilte zu seinem Feuer zurück. Dort machte er sich an seinen warmen Trank, den er mit einer Sorgfalt beobachtete und umrührte, die einen Berufskoch zum Lächeln gebracht hätte. Als die Brühe fertig war, goß er sie in einen großen Krug, in dem sie verlockend dampfte. Mit einem Löffel schöpfte er etwas heraus und blies es, um es abzukühlen. Plötzlich klopfte es ein paarmal an die Türe. »Eine hübsche Nacht für einen Spaziergang,« sagte er und legte den Löffel hin. Dann rief er: »Herein!« Die Klinke erhob sich unsicher, und Henrietta, mit gefrorenen Tränen auf den Wangen und einem unbestimmten Ausdruck von Elend und Zorn, trat herein. Einen Augenblick sah er sie erstaunt an. Dann sprang er nach ihr hin, nahm sie in seine Arme, und sie sank gegen ihren Willen mit stummem Widerstreben an sein Herz. »Du bist zu Tod erfroren,« rief er und trug sie aus Feuer. »Diese Pelzjacke ist wie eine Umhüllung von Eis. Und dein Gesicht erst!« sagte er und küßte es. »Was ist denn geschehen? Warum sträubst du dich so?« »Laß mich gehen,« keuchte sie heftig. »Ich -- ich hasse dich.« »Mein armes Lieb, du bist zu kalt, um jemand zu hassen -- selbst deinen Mann. Ich muß dir diese schrecklichen französischen Schuhe ausziehen. Deine Füße müssen ja vollkommen tot sein.« Ihre Stimme und ihre Tränen tauten jetzt in der Wärme der Hütte und in der Glut seiner Zärtlichkeiten auf. »Du sollst sie nicht ausziehen.« sagte sie und weinte vor Frost und Kummer. »Laß mich in Ruhe. Rühr mich nicht an. Ich geh fort -- ich gehe wieder zurück. Ich will nicht mit dir sprechen oder meine Sachen ablegen, ich rühre hier im Hause nichts an.« »Nein, mein Lieb,« sagte er und setzte sie in einen geräumigen, hölzernen Armstuhl. Dann knöpfte er ihr schnell die Schuhe auf. »Du sollst auch nichts tun, was du nicht willst. Deine Füße sind wie Stein. Ja, mein Schatz, ich bin ein Lump und nicht wert, daß ich lebe. Ich weiß es.« »Laß mich in Ruhe,« sagte sie kläglich. »Ich will deine Aufmerksamkeiten nicht. Ich bin mit dir für immer fertig.« »Komm, du mußt etwas von diesem abscheulichen Zeug trinken. Du mußt dich stärken, damit du deinem Mann all die unangenehmen Sachen sagen kannst, mit denen du geladen bist. Nimm wenigstens einen Schluck.« Sie wandte ihr Gesicht ab und wollte nicht antworten. Er brachte noch einen Stuhl her und setzte sich neben sie. »Mein armes, verlorenes, verratenes Lieb --« »Das bin ich,« schluchzte sie. »Du meinst es gar nicht so, aber ich bin es doch.« »Du bist auch meine Liebste und die beste von allen Frauen. Wenn du mich je geliebt hast, Hetty, tu es ein einziges Mal um meinetwillen und trinke, ehe es kalt wird.« Sie schmollte, seufzte und ergab sich schließlich seinem zärtlichen Drängen, wie ein Kind sich halb überreden, halb zwingen läßt, eine Medizin einzunehmen. »Fühlst du dich jetzt besser und gemütlicher?« fragte er. »Nein,« sagte sie und ärgerte sich, weil sie sich doch so fühlte. »Dann werde ich noch etwas Kohlen auf das Feuer legen,« sagte er munter, als ob sie ihm in herzlichster Weise zugestimmt hätte. »Und wir werden es so behaglich wie möglich haben. Mich ergreift eine milde Seligkeit, wenn du so neben mir am Feuer sitzt und ich weiß, daß du meine eigene Frau bist.« »Ich wundere mich, wie du mir ins Gesicht sehen und so etwas sagen kannst,« schrie sie. »Ich würde mich über mich selbst wundern, wenn ich dir ins Gesicht sähe und etwas anderes sagte. Hafergrütze ist das beste Erfrischungsmittel. Die ganze Energie kommt wieder. So, jetzt sollst du einmal sehen, wie das Feuer brennt.« »Ich glaubte nie, daß du falsch seist, Sidney, was du sonst auch für Fehler haben magst.« »Da hast du recht, mein Lieb. Ich verstehe deine Gefühle. Mord, Diebstahl, Unmäßigkeit oder geringere Laster würdest du ertragen haben. Aber Falschheit kannst du nicht ausstehen.« »Ich will fortgehen,« sagte sie verzweifelt und brach von neuem in Tränen aus. »Ich will nicht verspottet und betrogen werden. Ich will barfuß gehen.« Sie erhob sich und versuchte die Türe zu erreichen. Aber er hielt sie auf und sagte: »Mein Lieb, da liegt etwas Ernsthaftes vor. Was ist es? Sei nicht böse über mich.« Er brachte sie zu ihrem Stuhl zurück. Sie nahm Agathas Brief aus der Tasche ihres Pelzmantels und überreichte ihn ihm, indem sie einen schwachen Versuch machte, tragisch zu sein. »Lies ihn,« sagte sie. »Und sprich nie mehr ein Wort zu mir. Zwischen uns ist alles aus.« Er nahm ihn neugierig und wandte ihn um, um die Unterschrift zu sehen. »Aha,« sagte er, »mein goldenes Idol hat das Unheil angerichtet.« »Da haben wir's!« rief Henrietta. »Du hast es mir ins Gesicht gesagt! Du hast dich selbst durch deine eigenen Worte überführt!« »Warte einen Augenblick, mein Lieb. Ich habe den Brief noch nicht gelesen.« Er erhob sich und ging, während er las, im Zimmer auf und ab. Sie beobachtete ihn in dem zornigen Bewußtsein, daß er jetzt gleich seine Fassung verlieren würde. Plötzlich ließ er den Kopf sinken, als ob sein Rücken ihn nicht mehr trüge, und in seiner gekrümmten Haltung las er den Rest des Briefes. Als er damit fertig war, warf er ihn auf den Tisch, steckte seine Hände tief in die Taschen und brach in ein schallendes Gelächter aus. Dabei zog er seinen Körper noch mehr zusammen, als ob er sein Vergnügen verstärken wollte, indem er es auf einen möglichst kleinen Raum zusammendrängte. Henrietta war vor Entrüstung sprachlos und konnte ihren Gefühlen nur durch Blicke Ausdruck geben. Schließlich kam er heran und setzte sich neben sie. »Und da bist du nun,« sagte er, »als du den Brief bekamst, in die Kälte hinausgelaufen und hast die Reise nach Lyvern gemacht. Es scheint mir doch, du mußt mich entweder sehr lieben --« »O nein. Ich hasse dich.« »-- oder dich selbst sehr lieben.« »Oh!« klagte sie und begann von neuem zu weinen. »Du bist ein selbstsüchtiges Tier, und du tust, was du willst, ohne dich um jemand anderes zu kümmern. Kein Mensch gibt etwas um mich. Und jetzt willst du dir nicht einmal die Mühe machen, den schändlichen Inhalt dieses Briefes zu leugnen.« »Warum sollte ich ihn leugnen? Es ist die Wahrheit. Siehst du denn nicht die Ironie in dem Ganzen? Ich mache mir den Spaß, einem Schulmädchen ein paar Komplimente zu sagen, obgleich ich mir nicht mehr daraus mache als aus irgendeinem andern ansprechenden und leidlich hübschen Weibe, das ich treffe. Trotzdem fühle ich manchmal leichte Gewissensbisse, weil ich denke, sie könnte mich ernsthaft lieben, obgleich ich nur mit ihr spiele. Das arme Herz, das ich leichtfertig umstrickt habe, tut mir leid. Und während der ganzen Zeit bemitleidet sie mich aus demselben Grunde! Ihr Gewissen quält sie, weil sie nur das Vergnügen genießt, >von dem tüchtigsten Mann, den sie je getroffen hat<, angebetet zu werden, und sie ist grade so frei von Liebe wie ich selbst! Ha, ha! Auf so etwas baut sich die Religion der Liebe auf, deren Hohepriester die Dichter sind. Jeder Verehrer weiß, daß seine Liebe nur eine flüchtige Leidenschaft oder eine Lüge ist, die er nach seinem Lieblingsdichter nachempfunden hat, aber er glaubt getreulich, daß die anderen ihn selbst in echter Weise lieben. Ho, ho! Ist das keine verrückte Welt, mein Schatz?« »Du hattest kein Recht, Agatha den Hof zu machen. Du hast überhaupt kein Recht, jemand den Hof zu machen außer mir, und ich ließe es mir auch nicht gefallen.« »Du bist böse, weil Agatha dein Monopol angetastet hat. Stets ein Monopol! Glaubst du törichtes Mädchen wirklich, ich gehörte dir mit Leib und Seele? -- ich dürfte nur durch deine Liebe erregt werden oder nur an deine Schönheit denken?« »Du kannst mich soviel beschimpfen wie du willst, aber du hast kein Recht, Agatha den Hof zu machen.« »Meine Liebste, ich erinnere mich nicht, dich beschimpft zu haben. Ich glaube aber, du sagtest etwas von einem selbstsüchtigen Tier.« »Das ist nicht wahr. Aber du nanntest mich ein törichtes Mädchen.« »Aber, mein Lieb, das bist du doch.« »Und bei dir hatte ich recht. Du bist durch und durch selbstsüchtig.« »Das leugne ich nicht. Doch wir wollen zu unserem früheren Gespräch zurückkehren. Warum haben wir doch den Zank angefangen?« »Ich zanke mich nicht, Sidney. Du tust das.« »Nun gut, warum habe ich den Zank begonnen?« »Wegen Agatha Wylie.« »Oh, verzeih mir, Hetty, ihretwegen fing ich sicher nicht an, mich zu streiten. Ich habe sie sehr gern -- viel mehr, als sie, wie es scheint, mich leiden kann. Einen Augenblick, Hetty, ehe du von neuem mit deinen Vorwürfen beginnst. Warum kannst du es nicht leiden, wenn ich Agatha Schmeicheleien sage?« Henrietta überlegte und sagte: »Weil du kein Recht dazu hast. Du zeigst dadurch, wie wenig du dir aus mir machst.« »Es hat mit dir gar nichts zu tun. Es zeigt nur, wieviel ich mir aus ihr mache.« »Ich bleibe nicht hier, um mich beschimpfen zu lassen,« sagte Hetty, und ihr Schmerz überkam sie von neuem. »Ich will nach Hause gehen.« »Nicht heute abend. Es fährt kein Zug mehr.« »Dann geh ich zu Fuß.« »Das ist zu weit.« »Daraus mach' ich mir nichts. Ich will nicht hierbleiben, und wenn ich vor Kälte am Straßenrand sterbe.« »Meine Geliebte, ich habe dich absichtlich gequält, weil du mir durch deinen Ärger zeigst, daß du mich noch gern hast. Ich habe wie gewöhnlich unrecht und bin an allem schuld. Agatha weiß nicht, daß wir verheiratet sind.« »Ich tadle nicht so sehr dich,« sagte Henrietta und ließ ihn seinen Kopf auf ihre Schulter legen. »Aber mit Agatha werde ich nie wieder ein Wort sprechen. Sie hat sich schändlich gegen mich benommen, und ich will es ihr sagen.« »Sie wird zweifellos glauben, Liebste, du seiest an allem schuld und ich hatte mich bewundernswert benommen. Zwischen euch werde ich dann ohne Tadel dastehen. Aber jetzt, da es zu kalt zum Gehen ist, da es schon spät ist und weit bis Lyvern und noch weiter bis London, so muß ich dir hier etwas Bequemlichkeit herrichten.« »Aber --« »Aber da ist nichts zu ändern. Du mußt hierbleiben.« Neuntes Kapitel. Am nächsten Tage erhielt Smilasch von seiner Frau ein Versprechen, daß sie sich Agatha gegenüber so benehmen würde, als hatte der Brief keine Beleidigung enthalten. Henrietta flehte so beweglich wie sie konnte, er möchte doch sofort mit ihr wieder zum häuslichen Leben zurückkehren, aber er speiste sie mit zärtlichen Worten ab, versprach nichts als ewige Zuneigung und schickte sie mit dem Zwölfuhrschnellzug nach London zurück. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er ging nach Lyvern zurück und von da nach seiner Hütte wie ein Mann, der von Ekel und Reue geplagt wird. Kurz darauf an einem Nachmittag nahm er seine Schlittschuhe, um sich aufzuheitern, und ging nach Wickens Teich. Da es Samstag war, war er von Altonschülerinnen und ihren Halbfeiertagsbesuchern bevölkert. Fairholme, der mit seiner gewohnten energischen Miene seine Kreise beschrieb, hielt inne und starrte mit unwilligem Staunen auf Smilasch, der hinter ihm herschwankte. »Geschieht das mit Ihrer Erlaubnis, daß der Mann hier ist?« fragte er den Pächter Wickens, der umherging, als beaufsichtige er eine Ernte. »Ich denke, er ist hier, weil er Lust dazu hat,« sagte Wickens eigensinnig. »Er ist mein Nachbar und mein Freund. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, daß ich einen Freund auf meinem eigenen Teich habe, wenn sich ungefähr zwei oder drei Tonnen von anderer Leute Freunde da herumtreiben, ohne daß sie eine besondere Zulaßkarte haben?« »O nein,« sagte Fairholme etwas unsicher. »Wenn Sie zufrieden sind, kann niemand etwas dagegen einwenden.« »Das freut mich sehr. Ich dachte schon.« »Ich darf Ihnen wohl sagen,« bemerkte Fairholme gereizt, »daß Ihr Grundherr kaum erfreut wäre, wenn er ihn hier sähe. Smilasch hat einen von Sir Johns besten Hirten aus dem Lande geschickt, nachdem er ihm den Kopf mit Ideen angefüllt hatte, die über seinen Stand hinausgingen. Ich hörte letzten Sonntag Sir John sich sehr erregt über ihn aussprechen.« »Möglich, Mr. Fairholme. Ich hab einen Pachtvertrag auf dieses Land und es ist ein sandiger, armer Boden -- und ich bin durchaus nicht an Sir Johns Gefallen und Nichtgefallen gebunden. Es ist eine sehr gute Sache für Sir John, daß ich die Pacht habe, denn es gäbe keinen Mann in der Gegend, der jetzt das Gut übernehmen würde, wenn es morgen frei würde. Übrigens ist es noch gar nichts, daß der junge Mensch dumme Sachen über die Rechte der Landarbeiter und dergleichen Unsinn redet, Sir John müßte ihn einmal hören, wenn er seine Ansicht über Grundrente und Bodenverbesserung klarlegt und wie wir Pächter darum betrogen werden, vielleicht würde er nächsten Sonntag erregter als je über ihn sprechen.« Und in Wickens Lächeln, als er ihm zunickte und weiterging, lag die ganze Befriedigung darüber, daß er es dem Geistlichen einmal gehörig eingetränkt hatte. Grade jetzt hörte Agatha, die mit Jane Carpenter Hand in Hand lief, die Worte an ihr Ohr klingen: »Ich muß Ihnen etwas sehr Drolliges sagen. Sehen Sie sich nicht um.« Sie erkannte Smilaschs Stimme und gehorchte. »Ich weiß nicht ganz sicher, ob es Ihnen auch soviel Spaß macht, wie es eigentlich sollte,« fügte er hinzu und flog wieder davon, nachdem er Miß Carpenter einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte. Agatha machte sich von ihrer Gefährtin los, lief einen Kreisbogen und glitt nahe an Smilasch vorbei, indem sie fragte: »Was ist es?« Smilasch schoß wie eine Schwalbe davon und umkreiste ein paarmal Fairholme. Dann kehrte er zu Agatha zurück und lief neben ihr her. »Ich habe den Brief gelesen, den Sie Hetty geschrieben haben,« sagte er. Agathas Gesicht begann zu glühen. Sie vergaß, sich im Gleichgewicht zu halten, und wäre fast gefallen. »Geben Sie acht. Dann lieben Sie mich also nicht -- in der Art der Liebesgeschichten?« Keine Antwort. Agatha war bestürzt und wagte nicht, die Augenlider zu erheben. »Das ist ein Glück,« fuhr er fort, »denn -- guten Abend, Miß Ward. Ich habe während der letzten Stunde nichts anderes getan, als Ihr Laufen bewundert -- weil Männer immer Betrüger sind. Und ich bilde keine Ausnahme, wie Sie sogleich zugeben werden.« Agatha murmelte etwas, aber es war unverständlich in dem Lärm des Schlittschuhlaufens. »Sie glauben es nicht? Nun, vielleicht haben Sie recht. Ich habe Ihnen nichts gesagt, was nicht in einem gewissen Sinne wahr ist. Sie haben immer einen besonderen Reiz auf mich ausgeübt. Aber ich wollte nicht, daß Sie das Hetty erzählten. Können Sie raten, warum?« Agatha schüttelte den Kopf. »Weil sie meine Frau ist.« Agathas Knöchel erlahmten. Mit Mühe hielt sie sich aufrecht, bis sie Jane erreichte und sich als Stütze an sie anklammerte. »Tu das nicht,« schrie Jane. »Du wirfst mich um.« »Ich muß mich setzen,« sagte Agatha. »Ich bin müde. Ich will mich nur festhalten, bis wir zu den Stühlen kommen.« »Unsinn! Ich kann eine Stunde laufen, ohne mich zu setzen,« sagte Jane. Sie half aber doch Agatha, bis sie einen Stuhl gefunden hatte, und verließ sie. Dann kam Smilasch, als ob er sich auch ausruhen wollte, und setzte sich an den Rand des Weihers. »Nun,« fragte er und machte sich keine Sorge, ob ihre Unterhaltung auffiel oder nicht, »was halten Sie jetzt von mir?« »Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt, Mr. Trefusis?« »Das ist der Hauptspaß,« antwortete er mit einem spöttischen Blick auf seine Schlittschuhe. Er hatte seine Beine vorgestreckt und balancierte seine Hacken auf dem Eise. »Ich glaubte, Sie seien in mich verliebt, und dachte, die Wahrheit würde ein zu schwerer Schlag für Sie sein. Ha, ha! Und aus demselben Grunde vermieden Sie es großmütig, mir zu sagen, daß Sie nicht mehr in mich verliebt waren als in den Mann im Mond. Jeder spielte eine Posse und täuschte dem andern vor, es sei eine Tragödie.« »Es gibt so unwürdige, lieblose und grausame Worte,« sagte Agatha, »daß ich nicht verstehe, wie ein Gentleman sie zu einem Mädchen sagen kann. Bitte, sprechen Sie nicht wieder mit mir. Miß Ward! Kommen Sie doch einen Augenblick her. Mir ist nicht wohl.« Miß Ward eilte herbei. Smilasch, der Agatha einen Augenblick erstaunt und voll Teilnahme angesehen hatte, verschwand unter der Menge. Als er das entgegengesetzte Ufer erreicht hatte, zog er seine Schlittschuhe aus und bat Jane, die sich absichtlich in diese Ecke verirrt hatte, sie möchte Miß Wylie sagen, er sei fortgegangen und würde nicht wieder hier Schlittschuh laufen. Ohne ein Wort der Erklärung hinzuzufügen, verließ er sie und wandte sich nach seiner Wohnung. Als er in den Hohlweg kam, da, wo die Landstraße durch die Anpflanzung ging, an der Seite nach der Anstalt zu, entdeckte er einen Jungen in einer Postuniform, der über den gefrorenen Graben schlitterte. Ein Vorgefühl böser Nachrichten kam über ihn, wie ein plötzliches Dunkel über den Himmel jagt. Er beschleunigte seinen Schritt. »Etwas für mich?« fragte er. Der Junge, der ihn kannte, kramte in einer Brieftasche herum und zog einen Lederumschlag heraus. Er enthielt ein Telegramm. Von Jansenius, London. An J. Smilasch, Chamounix-Villa, Lyvern. Henrietta nach der Reise gefährlich erkrankt. Verlangt Sie zu sehen. Arzt sagt, sofort kommen. Er schwieg eine Weile. Dann faltete er sorgfältig das Papier und steckte es in seine Tasche, als ob es vollständig für ihn erledigt sei. »Und so,« sagte er, »folgt vielleicht die Tragödie doch noch auf die Posse.« Er sah den Jungen an, der vor ihm zurückwich, weil er seinen Gesichtsausdruck fürchtete. »Du hast den ganzen Weg von Lyvern bis hierher geschlittert?« »Nur um schneller vorwärts zu kommen,« sagte der Botenjunge zitternd. »Ich kam so schnell wie ich konnte.« »Die Nachrichten, die du trugst, waren schwer genug, um das dickste Eis zu brechen, das je gefroren ist. Ich hätte Lust, dich über den Gipfel von dem Baum da zu werfen, anstatt daß ich dir diese halbe Krone gebe.« »Sie tun mir nichts,« wimmerte der Junge und trat noch einen Schritt zurück. »Geh nach Lyvern zurück, so schnell du laufen oder schlittern kannst, und sage Mr. Marsch, er sollte mir den schnellsten Wagen schicken, den er hat, damit ich nach der Eisenbahnstation fahren kann. Hier ist deine halbe Krone. Und jetzt vorwärts. Wenn ich nicht zur rechten Zeit meinen Wagen habe, dann wirst du was erleben.« Der Junge näherte sich mißtrauisch dem dargereichten Gelde und rannte davon, so schnell er konnte. Smilasch ging in seine Hütte und kam nie wieder zum Vorschein. Statt seiner kam Trefusis heraus, ein Gentleman in einem Ulster, der eine Reisedecke trug. Er verschloß die Türe und eilte die Landstraße nach Lyvern hinunter, bis ihn ein Wagen aufnahm, der ihn in schnellster Fahrt zur Eisenbahnstation brachte, grade noch zur rechten Zeit, um den Zug nach London zu erreichen. »Abendblätter gefällig?« rief eine Stimme durch das Fenster, als er sich in einer Ecke eines Wagens erster Klasse zurechtsetzte. »Nein, danke sehr.« »Fußwärmer gefällig?« fragte ein Dienstmann, der an der Stelle des Zeitungsverkäufers erschien. »Ah, das ist eine gute Idee. Ja, bringen Sie mir einen Fußwärmer.« Der Fußwärmer wurde hereingebracht, und Trefusis machte es sich für seine Reise bequem. Sie verging ihm sehr schnell, und er konnte es kaum begreifen, als der Zug in London ankam, daß die Fahrt fast drei Stunden gedauert hatte. Die Reisenden und die Leute, die sie am Bahnhof abholten, waren von einer Weihnachtsstimmung erfüllt. Der Dienstmann, der an die Wagentür kam, erinnerte Trefusis durch sein Benehmen und den Ton seiner Stimme, daß jetzt die Zeit war, in der ein Gentleman fröhlich und freigebig sein muß. »Was für Gepäck? Hansom oder Droschke gefällig?« Einen Augenblick überfiel Trefusis die Vagabundenlust, in der Sprache Smilaschs zu reden und dem Mann aufzubinden, er hätte Körbe voll Truthähnen und Plumpudding im Gepäckwagen. Aber er unterdrückte es und stieg in einen Hansom, der ihn nach der Belsize Avenue zum Hause seines Schwiegervaters brachte. Unterwegs beobachtete er in scharfer, bitterer Stimmung das in ihm aufsteigende Angstgefühl, das sich am Ende der Fahrt bis zum Herzklopfen steigerte. Zwei Wagen standen vor der Türe, als er ausstieg. Die schweigsamen Gesichter der Kutscher flößten ihm einen Schrecken ein. Die Türe öffnete sich, bevor er klingelte. »Bitte, mein Herr,« sagte das Mädchen mit leiser Stimme, »wollen Sie in die Bibliothek eintreten? Der Doktor wird sofort mit Ihnen sprechen.« Im ersten Stock an der Treppe standen zwei Herren und sprachen mit Mr. Jansenius. Dieser zog sich schnell zurück. Aber ein flüchtiger Blick auf sein trauriges, verdrießliches Gesicht hatte Trefusis doch schon ein seltsam prickelndes Gefühl gegeben, und es war ihm, als ob er seit zwanzig Jahren ein Witwer gewesen sei. Er lächelte gleichgültig, während er dem Mädchen in die Bibliothek folgte, und fragte sie, wie es ihr ginge. Sie murmelte irgendeine Antwort und eilte davon. Dabei dachte sie, der arme junge Mann würde wohl bald seinen Ton ändern. Gleich darauf trat ein Herr mit grauem Backenbart herein, der sorgfältig gekleidet war und sich sehr behutsam benahm. Trefusis stellte sich vor, und der Arzt sah ihn mit Interesse an. Dann sagte er: »Sie sind zu spät gekommen, Mr. Trefusis. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das mitteilen muß, aber es ist alles vorbei.« »War die lange Eisenbahnfahrt, die sie in dem kalten Wetter unternahm, die Ursache ihres Todes?« Einige bittere Worte, die der Arzt oben gehört hatte, sagten ihm, daß dies eine heikele Frage war. Aber er antwortete ruhig: »Zweifellos die unmittelbare Ursache.« »Sie erhielt vor Ihrer Abreise eine unangenehme und ganz unerwartete Nachricht. Glauben Sie, daß das etwas mit ihrem Tode zu tun hatte?« »Es hat vielleicht einen ungünstigen Einfluß ausgeübt,« sagte der Arzt steif und zog seine Handschuhe an. »Die Gewohnheit, solche Ereignisse mit dergleichen Ursachen in Verbindung zu bringen, geht in der Regel zu weit.« »Ohne Zweifel. Ich bin nur neugierig, weil dieses Ereignis etwas Neues in meinen Erfahrungen ist. In den Ihrigen wird es wohl etwas Gleichgültiges sein.« »Verzeihen Sie. Der Tod einer Dame von solcher Jugend und solcher günstigen Lebenslage ist weder nach meiner Erfahrung noch nach meiner Ansicht etwas Gleichgültiges.« Der Arzt erhob während dieser Worte seinen Kopf, um sich gegen jede Annahme zu verwahren, als ob sein Mitgefühl durch seinen Beruf abgestumpft worden sei. »Hat sie gelitten?« »Ja, einige Stunden. Wir konnten etwas ihre Schmerzen lindern -- das arme Ding!« Er vergaß ganz Trefusis Anwesenheit, als er das Nachwort hinzufügte. »Stunden voll Schmerz! Können Sie mir irgend etwas nennen, wozu diese Stunden gut waren?« Der Arzt schüttelte seinen Kopf, ohne daß man erkennen konnte, ob er diese Frage verneinen wollte oder nur solche Erwägungen bedauerte. Er machte dann eine Bewegung, als ob er aufbrechen wollte. Es war ihm bei der Unterhaltung mit Trefusis nicht wohl zumute, denn er fühlte, daß dieser sicherlich jetzt Fragen stellen oder Bemerkungen machen würde, bei deren Besprechung er sich irgendwie bloßstellen mußte. Sein Gewissen war nicht ganz ruhig. Er wußte, daß Henriettas Schmerzen zu nichts gut gewesen waren, aber er wollte das nicht zugestehen, damit er nicht in den Ruf der Religionslosigkeit kam und seine Praxis verlor. Er war überzeugt, daß der Hausarzt, der ihn herbeigerufen hatte, als der Fall sich verschlimmerte, Henrietta verkehrt behandelt hatte, aber seine Standesehre band ihn so streng, daß er lieber seinem Kollegen erlaubt hätte, ganz London zu dezimieren, ehe er seine Unfähigkeit aufdeckte. »Noch ein Wort,« sagte Trefusis. »Wußte sie, daß sie sterben mußte?« »Nein. Ich hielt es für das beste, daß man ihr das nicht mitteilte. So entschlief sie ohne Angst.« »Dann kann man beruhigt daran denken. Das arme Kind fürchtete den Tod. Ich wundere mich, daß die Torheit hier im Hause sich nicht über Ihre Vernünftigkeit hinweggesetzt hat.« Der Arzt verneigte sich und ging hinaus. Er schätzte sich fast glücklich, daß man ihm keine Vorwürfe gemacht hatte, weil er in seiner Menschlichkeit Henrietta hatte sterben lassen, ohne daß sie es wußte. Einen Augenblick später trat der Hausarzt herein. Trefusis überraschte ihn, als er den andern zur Türe begleitete, wie er draußen sein Gesicht grade in lange Falten zog. Er unterdrückte ein Verlangen, ihn bei der Gurgel zu fassen, setzte sich auf den Rand des Tisches und sagte freundlich: »Nun, Doktor, wie ist es Ihnen ergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben?« Der Doktor fuhr zurück, aber die ernsten Falten auf seinem Gesicht blieben unverändert, als er salbungsvoll fragte: »Hat Sir Francis Ihnen die trüben Nachrichten mitgeteilt, Mr. Trefusis?« »Ja. Es ist schrecklich, nicht wahr? Es ist Gottes Wille. Heute leben wir, morgen sind wir dahin.« »Ja, ja, so ist es!« »Sir Francis hat eine hohe Meinung von Ihnen.« Der Doktor blickte etwas verwirrt drein. »Alles, was wir tun konnten, Mr. Trefusis, das haben wir getan. Aber Mrs. Jansenius war sehr besorgt, daß nichts unversucht bleibe. Sie war so freundlich, mir zu sagen, sie wollte nur deshalb Sir Francis rufen, damit Sie keinen Grund hätten, über irgend etwas Klage zu führen.« »Wirklich!« »Eine ausgezeichnete Mutter! Und solch ein trauriges Ereignis für sie! Ach ja! Mein Gott! Ein sehr trauriges Ereignis!« »Sehr unangenehm. Und dabei das kalte Wetter. Es ist vielleicht angenehmer, im Himmel zu sein, als hier unten in solchem Wetter.« »Ach ja!« sagte der Doktor, als ob ein rechter Trost in diesen Worten gelegen hätte. »Ich hoffe es, ich hoffe es. Ohne Zweifel ist es so. Sir Francis erlaubte uns nicht, es ihr mitzuteilen, und ich fügte mich ihm natürlich. Vielleicht war es so am besten.« »Dann hätten Sie es ihr wohl gesagt, wenn Sir Francis keinen Einspruch erhoben hätte?« »Ja, sehen Sie, es gibt da Erwägungen, über die wir in unserm Beruf nicht hinweggehen dürfen. Das Sterben ist eine ernsthafte Sache, woran ich Sie wohl nicht besonders zu erinnern brauche, Mr. Trefusis. Wir haben oftmals höhere Pflichten, als die natürlichen Gefühle unserer Patienten zu schonen.« »Ganz gewiß. Die Möglichkeit ewiger Freuden und die Wahrscheinlichkeit ewiger Höllenqualen sind Tröstungen, die man natürlich einem sterbenden Mädchen nicht so leicht vorenthalten soll. Aber was vorbei ist, kann nicht wieder gutgemacht werden. Alles in allem muß ich sehr dankbar sein. Ich bin ein junger Mann und werde als Witwer keine schlechte Figur machen. Und jetzt sagen Sie mir, Doktor, man ist doch oben nicht sehr ungehalten über mich?« »Mr. Trefusis! Mein Herr! Ich kann mich nicht in Familienangelegenheiten einmischen. Ich kenne meine Pflichten und überschreite sie nie.« Der Doktor war schließlich doch verletzt und sprach so stolz wie er konnte. »Dann will ich hingehen und mit Mr. Jansenius sprechen,« sagte Trefusis und stand vom Tische auf. »Warten Sie, mein Herr. Einen Augenblick. Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen. Mrs. Jansenius bat mich, Sie zu fragen -- ich wollte Ihnen grade sagen, daß ich jetzt nicht als ärztlicher Berater der Familie spreche, sondern als ein alter Freund -- und -- ach ja! Mrs. Jansenius bat mich, Sie zu fragen -- ob Sie nicht Mr. Jansenius entschuldigen würden. Er ist ganz niedergeschlagen durch den Kummer und, wie ich Ihnen -- als Arzt -- versichern kann, nicht imstande, irgend jemand zu sehen. Sie wird mit Ihnen sprechen, sobald sie sich dazu fähig fühlt -- vielleicht später, im Laufe des Abends. Inzwischen, wenn Sie natürlich irgendwelche Wünsche haben -- Sie müssen durch Ihre Reise ermüdet sein, und ich empfehle immer den Leuten, nicht so lange zu fasten, es führt eine Art akuter Verdauungsschwäche herbei -- also, wenn Sie irgendwelche Wünsche haben, sie werden natürlich sofort ausgeführt werden.« »Ich danke,« sagte Trefusis nach kurzem Überlegen, »ich werde mir einen Hansom kommen lassen.« »Es liegt natürlich kein Übelwollen vor,« sagte der Doktor, der als langsamer Mann durch schnelle Entscheidungen stets beunruhigt wurde, wenn sie ihm auch, wie dieses Mal, ganz vernünftig erschienen. »Hoffentlich schließen Sie nicht aus dem, was ich gesagt habe --« »Durchaus nicht. Sie sind sehr taktvoll gewesen. Aber ich halte es für das Beste, wenn ich gehe. Jansenius kann Tod und Elend mit vollkommener Seelenstärke ertragen, wenn sie in großem Maßstabe auftreten und sich in schmutzigen Hintergassen verbergen. Aber wenn sie in sein eigenes Haus einbrechen und sein Eigentum angreifen -- seine Tochter war bis vor kurzem sein Eigentum -- dann ist er grade der Mann dafür, seinen Kopf zu verlieren und mit mir zu streiten, weil ich meinen bewahre.« Der Doktor war nicht imstande, auf diese Rede, die ihm versteckte schreckliche Ansichten zu enthalten schien, etwas zu erwidern. Da er aber sah, daß Trefusis gehen wollte, fragte er mit gedämpfter Stimme: »Wollen Sie nicht hinaufgehen?« »Hinaufgehen! Warum?« »Ich -- ich dachte -- Sie möchten vielleicht einen Blick --« Er beendete den Satz nicht, aber Trefusis zuckte zusammen. Das Zaudern hatte ihm gesagt, was der andere meinte. »Ich soll etwas sehen, was einst Henrietta war, und was wir jetzt unter abergläubischer Mummerei hinausstoßen und verbergen müssen, um den Anschein der Frömmigkeit zu bewahren. Warum haben Sie mich daran erinnert?« »Aber, mein Herr, was auch Ihre Ansichten sind, wollen Sie denn nicht, nur der Form halber und in Rücksicht auf die Gefühle der Familie --« »Warum sparen sie nicht ihre Gefühle für die Lebenden? Ich habe mich deswegen oft genug vergebens an sie gewandt,« schrie Trefusis und verlor seine Geduld. »Ich pfeife auf ihre Gefühle!« Hiermit wandte er sich zur Türe und fand sie geöffnet. Mrs. Jansenius stand lauschend davor. Trefusis war verwirrt. Er wußte, welchen Eindruck seine Worte machen mußten, und fühlte, es sei töricht, eine Entschuldigung oder Erklärung zu versuchen. Er steckte seine Hände in die Taschen, lehnte sich gegen den Tisch und sah sie schweigend an, wobei er gespannt war, was sie jetzt wohl tun werde. Der Doktor brach das Schweigen und sagte zitternd: »Ich habe die betrübende Nachricht Mr. Trefusis mitgeteilt.« »Hoffentlich haben Sie ihm auch gesagt,« bemerkte sie streng, »daß, wie sehr es uns auch an Gefühl mangeln mag, wir doch für unser Kind alles taten, was in unsern Kräften lag.« »Ich bin vollkommen befriedigt,« sagte Trefusis. »Ohne Zweifel sind Sie das -- nämlich mit dem Resultat,« sagte Mrs. Jansenius hart. »Ich wünsche zu wissen, ob Sie sich über etwas zu beklagen haben.« »Über nichts.« »Bitte, denken Sie nicht, daß etwas durch unsere Nachlässigkeit gekommen ist.« »Worüber sollte ich mich beklagen. Sie hatte ein warmes Zimmer und ein kostbares Bett, um darin zu sterben, und die beste ärztliche Hilfe von der Welt. Eine Menge Menschen verhungert und erfriert heute, damit wir die Mittel haben, in vornehmer Weise zu sterben. Fragen Sie _die_, ob sie einen Grund zur Klage haben. Glauben Sie, ich will mich an Henriettas Leiche über den Betrag des Geldes zanken, den Sie für ihre Krankheit ausgegeben haben? Kann man danach abmessen, welchen Grund sie zur Klage hatte? Ich habe ihr niemals Geld vorenthalten -- wie konnte ich das, da ich weiß, daß ich umsonst mehr bekommen habe, als ich je verschwenden kann? Oder wie konnten Sie das tun? Trotzdem hat sie vielen Grund, sich über mich zu beklagen. Das werden Sie wohl zugeben.« »Das ist auch vollkommen richtig.« »Gut, wenn ich einmal dazu gelaunt bin, werde ich mir selbst Vorwürfe machen und nicht Ihnen.« Er hielt inne und wandte sich dann heftig nach ihr hin, indem er fortfuhr: »Warum wählen Sie grade diese Stunde, um mir solche bitteren Worte zu sagen?« »Ich erinnere mich nicht, daß ich etwas gesagt habe, was Sie zu einer solchen Bemerkung berechtigt. Haben _Sie_« -- sie wandte sich an den Doktor -- »mich so etwas sagen gehört?« »Mr. Trefusis will das auch sicherlich nicht von Ihnen behaupten. O nein. Mr. Trefusis' Gefühl ist natürlich -- ist erregt. Das ist alles.« »Meine Gefühle!« rief Trefusis ungeduldig. »Glauben Sie, meine Gefühle sind eine Raritätensammlung gesellschaftlicher Vorurteile, und sie ließen sich nach Vorschrift erregen und bei Leichenbegängnissen zur Schau stellen? Sie ist dahin, wie wir alle drei auch bald dahin gehen werden. Wenn wir unsterblich wären, hätten wir einen vernünftigen Grund, die Tote zu bemitleiden. Da wir es aber nicht sind, sollten wir lieber unsere Kräfte anspannen, um das Unrecht zu verringern, das wir sicher noch tun, ehe wir ihr folgen.« Der Doktor war durch diese Worte tief beleidigt, denn die Feststellung, daß er eines Tages sterben müßte, schien ihm eine Bezweiflung seiner berufsmäßigen Bemeisterung des Todes zu sein. Mrs. Jansenius freute sich, daß Trefusis ihre schlechte Ansicht von ihm und ihre Schilderung über ihn durch seine eigene Aufführung und Sprache in des Doktors Gegenwart bestätigte. Es entstand eine kurze Pause, und dann verließ Trefusis das Zimmer, da seine Gefühle zu weit von den ihrigen entfernt waren, als daß er die Unterredung in eine freundlichere Stimmung hinüberführen konnte. Er wollte grade im Flur seinen Überzieher anziehen, als er es sich überlegte und ihn unentschlossen wieder hinhing. Plötzlich rannte er die Treppe hinauf. Bei dem Geräusch seiner Fußtritte kam eine Frau aus einem der Zimmer und sah ihn fragend an. »Ist es hier?« sagte er. »Ja, mein Herr,« flüsterte sie. Ein peinliches Krampfgefühl legte sich auf seine Brust, er wurde bleich und blieb mit der Hand an dem Türgriff stehen. »Haben Sie keine Furcht, Herr,« sagte die Frau mit ermutigendem Lächeln. »Sie sieht ganz schön aus.« Er sah sie mit einem seltsamen Grinsen an, als ob sie einen grausigen, aber unwiderstehlichen Witz gemacht hätte. Er ging hinein, und als er das Bett erreichte, wünschte er, er wäre draußen geblieben. Er gehörte nicht zu denen, die wenig auf den Gesichtern der Lebenden sehen und wenig auf denen der Toten vermissen. Die Art, wie man ihr Haar auf das Kissen gelegt hatte, der angenehme Faltenwurf und die Blumen, die die Wärterin angebracht hatte, um den künstlerischen Eindruck zu vervollständigen, auf den sie so vertrauensvoll hingewiesen hatte, alles das war für ihn verloren. Er sah nur die leblose Maske, die das Gesicht seines Weibes gewesen war, und bei diesem Anblick versagten ihm die Knie, und er mußte sich an der Querstange, die am Fußende des Bettes war, festhalten. Als er wieder aufblickte, schien das Gesicht sich verändert zu haben. Es war keine wachsartige Maske mehr, sondern Henrietta selbst, mädchenhaft und in ausdrucksvoller Ruhe. Der Tod schien ihre Verheiratung und alles Frauenhafte ausgelöscht zu haben, nie war sie ihm so jung erschienen. Eine Minute verging, und dann fiel eine Träne auf die Bettdecke. Er fuhr auf, ließ noch eine Träne auf seine Hand fallen und starrte sie ungläubig an. »Das ist ein Schwindel, den ich mir nie geträumt hätte,« sagte er. »Tränen und doch kein Kummer. Hier steh ich und weine! Ich werde immer sentimentaler! Und dabei bin ich froh, daß sie gegangen ist und mich freigemacht hat. Irgendwo steckt in mir das Triebwerk der Trauer. Bei ihrem Anblick beginnt es sich zu drehen, obgleich ich keinen Schmerz empfinde, grade so, wie sie das Getriebe der Leidenschaft in Bewegung setzte, wenn ich keine Liebe hatte. Aber das machte für sie keinen Unterschied. Wenn die Räder herumgingen, war sie zufrieden. Ich hoffe, das Getriebe des Kummers wird ebenso schnell nachlassen und stillstehen, wie es das andere Getriebe tat. Ich glaube, es steht schon still. Welch ein Unsinn! Solange es sich drehte, glaubte ich, ich sei betrübt. Und doch, würde ich sie wohl wieder zum Leben erwecken, wenn ich es könnte? Vielleicht, und darum bin ich dankbar, daß ich es nicht kann.« Er lehnte sich mit verschränkten Armen auf das Fußende des Bettes und redete ernst auf die tote Figur ein. Sie beeinflußte ihn noch immer so stark, daß er all seinen Willen zusammennehmen mußte, um ihr mit Gemütsruhe ins Gesicht zu sehen. »Wenn du mich wirklich liebtest, ist es gut für dich, daß du tot bist -- wie konnte ich Idiot auch glauben, die Leidenschaft, die du armes Kind mir einflößtest, würde von Dauer sein. Jetzt sind wir beide glücklich. Ich habe mich von dir freigemacht, und du hast dich von dir selbst befreit.« Er atmete jetzt freier und sah sich das Zimmer an, um sich durch eine gleichgültige Handlung und den alltäglichen Anblick der Schlafzimmereinrichtung in eine nüchterne Stimmung zu bringen. Er trat an das Kissen und neigte sich darüber, um das Gesicht genau zu betrachten. »Armes Kind!« sagte er noch einmal in zärtlichem Tone. Dann redete er sich mit plötzlichem Stimmungswechsel statt seines Weibes selber an. »Armer Esel! Armer Idiot! Armer Affe! Hier liegt der Körper eines Weibes, das fast so alt war wie ich selbst und vielleicht vernünftiger, und ich stelle moralische Betrachtungen darüber an, als sei ich Gott der Allmächtige und sie ein kleines Kind! Je mehr man einen Mann daran erinnert, was er ist, desto eingebildeter wird er. Scheußlich! Ich werde mich sogleich für unsterblich halten.« Mit einem schwachen Versuch, roh zu sein, berührte er ihre Wange und fühlte, wie kalt sie war. Dann berührte er seine eigene und sagte: »Auch ich fliege auf dieses Ziel hin mit der reißenden Geschwindigkeit von sechzig Minuten in der Stunde.« Er stand da, die Augen auf ihr Gesicht gerichtet, und genoß lange Zeit die Bitterkeit seiner düsteren Betrachtung. Endlich ermannte er sich und sagte etwas heiterer: »Schließlich ist sie ja gar nicht tot. Jedes Wort, das sie gesagt hat -- jeder Gedanke, den sie gefunden und geäußert hat, war ein unauslöschlicher und unzerstörbarer Eindruck.« Er hielt inne, überlegte wieder eine Zeitlang und fiel in seine trübe Stimmung zurück. »Und das Dutzend anderer Namen, die morgen mit ihr in der >Times< stehen? Auch ihre Worte liegen noch in der Luft, um die ganze Ewigkeit zu überdauern. Hm! Was die Luft mit Unsinn vollgepfropft sein muß? Zwei Töne heben sich manchmal gegenseitig auf, warum sollten sie nicht auf dieselbe Art auch Ideen gegeneinander aufheben. Nein, mein Lieb, du bist tot und dahin, und alles ist vorbei. Und auch ich werde bald genug tot und dahin sein, und alles ist vorbei, ehe ich noch Muße habe, mich mit Hoffnungen auf Unsterblichkeit zu narren. Arme Hetty! Nun leb wohl, mein Liebling. Wir wollen einen Augenblick denken, du könntest mich hören; ich weiß, daß dir das gefällt.« Alles dieses sagte er in einem halbvernehmbaren Flüstern. Dann schwieg er, neigte sich über den Körper und sah ihn aufmerksam an. Selbst als er ihn genug betrachtet hatte und sich zum Gehen wandte, änderte er noch einmal seine Absicht, um sie noch eine Weile anzusehen. Dann richtete er sich auf und ging beruhigt und erfrischt mit festem Schritt aus dem Zimmer. Die Frau wartete draußen. Als sie sah, daß er nicht mehr so betrübt war wie beim Hereintreten, sagte sie: »Hoffentlich sind Sie zufrieden, mein Herr!« »Entzückt! Bezaubert! Die Arrangements sind außerordentlich hübsch und geschmackvoll. Sehr tröstlich.« Und er gab ihr einen halben Sovereign. »Danke sehr,« sagte sie und machte eine Verbeugung. »Die arme, junge Lady! Sie hat so nach Ihnen verlangt, mein Herr. Sie sagte immerzu, Sie wären der einzige, der sich etwas aus ihr machte! Und wie wütend sie auf ihre Mutter war. >Sagt ihm, daß ich gefährlich krank bin,< rief sie, >und er wird kommen.< Das arme Ding wußte nicht, wie wahr ihre Worte waren. Und sie starb, ohne es zu erfahren!« »Sie machte sich und mir Hoffnung. Glückliches Mädchen!« »Lieber Himmel, ich weiß, was sie empfand. Ich habe viele Erfahrungen.« Hierbei trat sie ihm vertraulich näher und flüsterte: »Die Familie war gegen Sie, mein Herr, und sie wußte das. Aber sie wollte nicht auf sie hören. Wenn sie wohl genug war, um denken zu können, dann dachte sie an nichts als an Ihr Kommen. Und -- still! Da ist der alte Herr.« Trefusis blickte sich um und sah Mr. Jansenius, dessen hübsches Gesicht blaß und entstellt von Kummer und Unruhe war. Er wich vor der hingestreckten Hand seines Schwiegersohnes zurück wie ein zu sehr gequältes Kind vor einem unzeitigen Versuch, es zu liebkosen. Trefusis hatte Mitleid mit ihm. Die Wärterin hustete und zog sich zurück. »Haben Sie mit Mrs. Jansenius gesprochen?« fragte Trefusis. »Ja,« antwortete Jansenius in beleidigendem Tone. »Ich unglücklicherweise auch. Bitte, entschuldigen Sie mich bei ihr. Ich war ungezogen. Die Umstände hatten mich aus der Fassung gebracht.« »Sie waren nicht aus der Fassung gebracht, mein Herr,« sagte Jansenius laut. »Sie scheren sich den Teufel darum.« Trefusis wich zurück. »Sie pfeifen auf meine Gefühle, und ich will auf die Ihrigen pfeifen,« fuhr Jansenius in demselben Tone fort. Trefusis blickte unwillkürlich nach der Türe, durch die er soeben hereingekommen war. Dann faßte er sich und sagte ruhig: »Es macht nichts. Sie kann uns nicht hören.« Bevor Jansenius antworten konnte, kam seine Frau die Treppe heraufgelaufen, faßte ihn beim Arm und sagte: »Sprich nicht mit ihm, John. Und Sie,« fügte sie, zu Trefusis gewandt, hinzu, »_wollen_ Sie machen, daß Sie fortkommen?« »Was?« rief er und sah sie spöttisch an. »Ohne meine Leiche! Ohne mein Eigentum! Nun gut, es soll so sein.« »Was wissen Sie von den Gefühlen eines achtbaren Mannes?« fuhr Jansenius fort und brach trotz der Anwesenheit seiner Frau von neuem in Wut aus. »Ihnen ist nichts heilig. Da sieht man, was Sozialisten für Kerle sind!« »Und was Väter sind und was Mütter sind,« entgegnete Trefusis und verlor seine Selbstbeherrschung. »Ich glaubte, Sie liebten Hetty, aber jetzt sehe ich, daß Sie nur Ihre Gefühle und Ihre Achtbarkeit lieben. Der Teufel hole beides! Sie hatte ganz recht. Meine Liebe zu ihr, so unvollständig sie war, war doch noch größer als die Ihrige.« Und er verließ wütend das Haus. Aber er blieb eine Weile auf der Straße stehen, um über sich selbst und über seinen Schwiegervater zu lachen. Dann nahm er einen Hansom und ließ sich zu seinem Rechtsbeistand fahren, denn er wollte mit ihm die Regelung der Angelegenheiten seiner Frau besprechen. Zehntes Kapitel. Am Tage vor dem Heiligen Abend wurden die Überreste Henrietta Trefusis' auf dem Highgate-Friedhof beerdigt. Drei Edelleute sandten ihre Wagen zu dem Begräbnis, und die Freunde und Kunden von Mr. Jansenius kamen in großer Zahl persönlich. Die Totenbahre war mit einer Überfülle kostbarer Blumen bedeckt. Der Leichenbestatter wußte, daß keine Kosten gespart werden sollten. Er hatte langschwänzige schwarze Pferde besorgt, mit schwarzen Decken auf den Rücken und schwarzen Federn auf den Köpfen. Die Kutscher waren mit Schleifen und langen Stiefeln geschmückt, sie trugen schwarze Kutschdecken, Mäntel und Handschuhe. Viele gemietete Leidtragende gingen mit. Sie wären aber sofort entlassen worden, hätten sie es gewagt, irgendeine Gemütsbewegung zu zeigen oder irgendwie ihre Aufgabe zu überschreiten, die darin bestand, daß sie Stäbe mit Messingspitzen in den Händen trugen und neben dem Leichenwagen hergingen. Unter den echten Leidtragenden war Mr. Jansenius, der in Tränen ausbrach, als er etwas Erde in das Grab schüttete. Ferner der Knabe Arthur, den es verwirrte, daß er zum erstenmal in einem langen Rock an der Spitze eines öffentlichen Aufzuges marschierte, und der bei dem Anblick seines weinenden Papas das Gefühl hatte, er sei nicht so traurig, wie er es sein müßte. Dann ein Vetter, der einst Henrietta einen Heiratsantrag gemacht hatte und der jetzt, voll von tragischen Betrachtungen, in dem intensiven Genuß seiner Verzweiflung schwelgte. Die übrigen erzählten sich flüsternd, wenn sie es in schicklicher Weise tun konnten, von einem befremdlichen Mangel in der Anordnung. Der Gatte der Verstorbenen fehlte. Familienmitglieder und näher stehende Freunde erfuhren durch Daniel Jansenius, der Witwer habe wie ein Lump gehandelt, und die Jansenius' gäben keine zwei Pfennige darum, ob er käme oder zu Hause bliebe. Trotz der Unschicklichkeit der Sache sei es ihnen sogar noch lieber, daß er sich fernhielte. Andere, die keinen Anspruch auf eine private Auskunft hatten, fragten den Vertreter des Leichenbestatters. Dieser meinte, der Gentleman wolle kein großes Leichenbegängnis haben, und auf die Frage -- warum denn? -- sagte er, wahrscheinlich, weil er die Ausgabe scheue. Da man aber hiergegen einwand, Mr. Trefusis sei sehr reich, so fügte der Leichenbestatter hinzu, er habe das auch gehört. Aber er glaube, das Geld stamme nicht von der Frau her, und die Leute verwendeten selten viel Geld auf ein Leichenbegängnis, außer wenn sie etwas durch den Tod erbten. Außerdem knauserten viele Menschen desto mehr, je mehr sie hätten. Bevor sich das Leichengefolge zerstreute, hatte sich der Bericht, den Mr. Jansenius' Bruder gegeben hatte, mit den Ansichten des Leichenbestatters vermischt, und aus dem Ganzen war eine Geschichte entstanden, Trefusis hätte seiner Freude über den Tod seiner Frau mit schrecklichen Flüchen Ausdruck gegeben, und zwar im Hause ihres Vaters, während ihre Leiche noch da lag, und er hätte sich geweigert, auch nur einen Pfennig für das Leichenbegängnis zu bezahlen. Ein paar Tage später, als das Gerede über den Gegenstand schon nachließ, wurde es durch einen frischen Skandal neubelebt. Ein schriftstellernder Freund half Mr. Jansenius eine Grabschrift entwerfen und fügte ein paar hübsche und ergreifende Strophen hinzu. Von Henriettas Wesen wurde darin gerühmt, es sei von seltener Anmut und Tugendhaftigkeit gewesen, und ihre Freunde würden nie aufhören, über ihren Verlust zu trauern. Ein Geschäftsmann, der sich als Grabbildhauer bezeichnete, brachte ein Buch mit Abbildungen von Grabdenkmälern, und Mr. Jansenius wählte ein außerordentlich prächtiges heraus und erbot sich, die Hälfte der Kosten für seine Aufstellung zu bezahlen. Trefusis wandte hiergegen ein, die Grabschrift sei unwahr, und sagte, er sähe nicht ein, warum man grade auf Leichensteinen falsche Berichte veröffentlichen dürfte. Es wurde sogar berichtet, er habe seine frühere schlechte Aufführung noch übertrumpft, indem er seinen Schwiegervater einen Lügner nannte und einen ganz gewöhnlichen Grabstein in einem billigen Laden in Eastend bestellte. Er hatte tatsächlich den Monumentenhändler verächtlich einen >Ausbeuter< der Arbeit genannt und einen jungen Steinmetzgehilfen, ein Mitglied der Internationalen Vereinigung, gebeten, zur Befriedigung Jansenius' ein Grabdenkmal zu zeichnen. Der Steinmetz brachte auch mit vieler Angst und Mühe einen Originalentwurf zustande. Trefusis billigte ihn und beschloß, ihn durch die Hand des Zeichners ausführen zu lassen. Er mietete ein Bildhaueratelier, besorgte nach den Angaben des Steinmetzen Marmorblöcke und lud ihn ein, sich sofort ans Werk zu machen. Trefusis stieß jetzt auf eine Schwierigkeit. Er wollte dem Gehilfen grade den Wert seiner Arbeit bezahlen, nicht mehr und nicht weniger. Aber das ließ sich nicht berechnen. Der einzige Maßstab, den er hatte, war der Marktpreis, und den lehnte er ab, weil er nur durch den Wettbewerb von Kapitalisten entstanden war. Diese konnten ja ihren Profit nur erlangen, indem sie von den Arbeitern mehr Arbeitsprodukte erhielten, als sie ihnen bezahlten -- und ihre Kunden verführten sie zum Kaufen, indem sie ihnen einen Teil der unbezahlten Arbeit als Preisermäßigung überließen. Die Unternehmer gaben den Arbeitern die unentbehrlichen Mittel zum Arbeiten und Leben nur unter der Bedingung, daß sie der müßigen Unternehmerklasse den Lebensunterhalt gewährten und sich selbst mit einer viel niedrigeren Lebenshaltung begnügten. Darum war eine gerechte Bestimmung des Austauschwertes und ein ehrenhaftes Übereinkommen mit ihnen unmöglich. Trefusis mußte schließlich den Steinmetz fragen, wieviel er als anständige Bezahlung für die Ausführung des Entwurfs verlangen müßte, obgleich er wußte, daß der Mann das Problem ebensowenig lösen konnte wie er selbst. Denn wenn er auch soviel verlangte, als er zu bekommen hoffte, so wurde doch seine Forderung durch seine Armut und durch den Wettbewerb mit dem Grabsteinunternehmer begrenzt. Trefusis erledigte die Sache dadurch, daß er doppelt soviel gab, wie der andere gefragt hatte, und nur die Bedingung stellte, daß der Steinmetz die Arbeit selbst ausführen mußte und keinen Nebenverdienst hatte, indem er zum Marktpreis andere Arbeiter dafür mietete. Der Entwurf aber sollte zum Erstaunen seines Zeichners noch besonders bezahlt werden. Der Steinmetz schwankte lange Zeit zwischen einer Forderung von zwei Pfund und zehn Schillingen und einer solchen von fünf Pfund, bis ihm ein Arbeitskollege, der ihn mit Whiskygrog traktiert hatte, Mut machte, die höhere Summe zu verlangen. Trefusis bezahlte das Geld sofort und gab sich dann daran, herauszufinden, was wohl ein ähnlicher Entwurf von der Hand eines hervorragenden Akademikers gekostet hätte. Da er zufällig einen Gentleman in dieser Stellung kannte, fragte er ihn und erhielt den Bescheid, daß er wahrscheinlich fünfhundert bis tausend Pfund gekostet hätte. Trefusis verhehlte nicht seine Ansicht, daß ihm die Forderung des Steinmetzgehilfen vernünftiger zu sein schiene, worauf ihn sein künstlerischer Freund etwas unwillig daran erinnerte, wie viele Jahre ein Akademiebildhauer darauf verwende, bis er seine Kunstfertigkeit so weit ausgebildet hätte. Trefusis entgegnete, die Lehrzeit eines Steinmetzen sei gradeso lang, doppelt so mühsam und nicht halb so angenehm. Der Künstler hatte sich bisher eingeredet, er sympathisiere mit Trefusis' sozialistischen Ansichten, aber jetzt begann er sie sowohl häßlich als auch gefährlich zu finden. Er fragte, ob denn nichts für das Talent bezahlt würde, und Trefusis entgegnete heftig, das Talent koste seinem Besitzer nichts, es sei die Erbschaft eines ganzen Geschlechts, die zufällig einem einzelnen Menschen zugefallen sei. Wenn nun dieser Mensch sein Monopol dazu benutze, um andern das Geld abzunehmen, so verdiene er nichts Besseres, als aufgehängt zu werden. Der Künstler verlor schließlich die Geduld und meinte, wenn Trefusis auch kein Gefühl dafür habe, daß die Vorrechte der Kunst göttlichen Ursprungs seien, vielleicht könne er aber doch begreifen, daß ein Maler kein solcher Narr sei, ein Grabdenkmal für fünf Pfund zu entwerfen, wenn er für ein gemaltes Porträt tausend Pfund erhalte. Trefusis erwiderte, schon diese Tatsache, daß jemand tausend Pfund für ein Porträt bezahle, bewiese, daß er das Geld nicht erarbeitet habe, und daß er daher ein Dieb oder ein Bettler sein müßte. Ein gewöhnlicher Arbeiter, der sechs Pence von seinem Wochenlohn opfere, um seinem Schatz eine billige Photographie zu schenken, oder einen Schilling für ein Paar Öldruckbilder oder Delfter Figuren, die er auf den Kamin stellen wollte, ein solcher Arbeiter lege sich, um in den Besitz eines Kunstgegenstandes zu kommen, eine größere Entbehrung auf als der Großgrundbesitzer oder Aktionär, der viel zu reich sei, um den Verlust der tausend Pfund zu spüren, die er für ein Bild wie Hogarths Jack Sheppard ausgebe, also für ein Bild, das nur Studenten der Kriminalphysiognomie interessiere. Jetzt entstand ein lebhafter Streit. Trefusis wies auf die Torheit der Künstler hin, daß sie sich einbildeten, sie seien eine priesterliche Kaste, während sie doch nur die Parasiten und begünstigten Sklaven der besitzenden Klasse seien. Sein Freund, der im Augenblick sein Feind war, spottete dagegen bitter über die Gleichmacher, die alles auf einen niedrigeren Stand bringen wollten, anstatt auf einen höheren. Schließlich waren sie des Zankens müde. Sie schämten sich ihrer scharfen Worte und speisten freundschaftlich miteinander zu Abend. Das Grabmal wurde durch einen kleinen Trupp Arbeiter, die Trefusis als Arbeitslose entdeckt hatte, auf dem Highgate-Friedhof errichtet. Es trug folgende Inschrift: =~Hier liegt~= =~Henrietta Jansenius~= =~Geboren am 26. Juli 1856~= =~Vermählt mit Sidney Trefusis am 23. August 1875~= =~Gestorben am 21. Dezember desselben Jahres.~= Mr. Jansenius sah das für eine Beschimpfung des Andenkens seiner Tochter an, und da andere Familien, die durchaus nicht so hoch standen als die Janseniussche, noch viel größere Grabmäler hatten, so führte er es als Beweis für die Filzigkeit seines Schwiegersohnes an. Andere Leute bewunderten dagegen das Denkmal, und Trefusis hoffte, es würde seinem Schöpfer zum Wohlstand verhelfen. Doch das Gegenteil trat ein. Als der Steinmetz wieder an seine gewöhnliche Arbeit gehen wollte, teilte man ihm mit, er hätte die Handwerksgebräuche übertreten, und seine früheren Arbeitgeber wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Als er sich um Rat und Hilfe an die Gewerkschaft wandte, deren Mitglied er war, erhielt er dieselbe Antwort, und man warf ihm sogar Verrat an seinen Arbeitsgenossen vor. Er ging wieder zu Trefusis und sagte ihm, der Auftrag mit dem Grabstein hätte ihn ruiniert. Trefusis wurde wütend und schrieb einen polemischen Brief an die >Times<, der aber nicht gedruckt wurde, einen spöttischen an die Gewerkschaft, der nichts erreichte, und einen groben an die Unternehmer, worauf diese mit einer Beleidigungsklage drohten. Es blieb ihm nichts übrig, als den Mann an Kaminsimsen und andern Steinarbeiten in dem Trefusisschen Landgut zu beschäftigen. Nach einem oder zwei Jahren hatte sich der Steinmetz dank seiner freigebigen Bezahlungen soviel zurückgelegt, um sich als Unternehmer selbständig zu machen. Hierbei begann er sehr schnell reich zu werden, denn er wußte durch Erfahrung ganz genau, wie viel man von den Arbeitern erzwingen konnte, und wie wenig man ihnen zu geben brauchte. Dann begann er sich für die Tugenden der Sparsamkeit, der Enthaltsamkeit und des ausdauernden Fleißes zu interessieren, und er verließ die internationale Vereinigung, deren begeisterter Anhänger er als einfacher, arbeitender Steinmetzgehilfe gewesen war. Inzwischen ging Agathas Schulleben zu Ende. Ihren Entschluß, noch ein Semester eifrig in der Anstalt zu studieren, hatte sie nicht gefaßt, weil sie gebildet werden wollte, sondern um Smilasch mehr würdig zu sein. Und als sie die Wahrheit über ihn von seinen eigenen Lippen hörte, wurde ihr die Idee, noch einmal an den Schauplatz dieser Demütigung zurückzukehren, unerträglich. Sie verließ Alton unter dem Eindruck, ihr Herz sei gebrochen, denn ihre brennende Eitelkeit wollte natürlich nicht begreifen, daß sie selbst die Ursache dieser Kränkung war. So sagte sie denn Miß Wilson adieu, und die Biene an der Fensterscheibe wurde nicht mehr in der Altonschule gehört. Die Nachricht von Henriettas Tod erschütterte sie um so mehr, weil sie gegen ihren Willen glücklich war, daß die einzige Person, die außer Smilasch von ihrer närrischen Liebe zu ihm wußte, nun für immer schwieg. Dies schien ihr eine schreckliche Entdeckung ihrer eigenen Verdorbenheit zu sein. Sie wurde darüber fast religiös und machte ihrer Mutter wegen ihrer Gesundheit Sorge. Die Mutter konnte ihre ungewohnte Ernsthaftigkeit nicht begreifen und besonders auch nicht ihren Entschluß, über das häßliche Benehmen Trefusis' nicht zu reden, das jetzt den vorwiegenden Gesprächsstoff in der Familie bildete. Agatha lauschte schweigend den geschwätzigen Auseinandersetzungen über seine Flucht von seiner Frau, seine herzlose Gleichgültigkeit bei ihrem Verscheiden, seine Heftigkeit und gemeine Sprache an ihrem Totenbette, seine Geizigkeit, seinen gehässigen Widerstand gegen die Wünsche der Jansenius', seinen billigen Grabstein mit der beleidigenden Aufschrift, seine Verbindung mit gewöhnlichen Arbeitern und niedrigen Demagogen, seine vermutliche Teilnahme an einer geheimen Gesellschaft zur Ermordung der Königlichen Familie und zu Dynamitattentaten auf die Armee, seine atheistische Glaubenslosigkeit, die er in einer Schmähschrift an die Geistlichkeit gezeigt hatte, als er sich gegen eine Darlegung des Erzbischofs von Canterbury, nur durch geistige Hilfe könnte die Lage der Armen in Eastend gebessert werden, wandte, und schließlich die Hauptschande, sein Versuch, den Gerichtshof in Old Bailey in aufrührerischer Weise zu beschimpfen, was ihm eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten eintrug. Leider befreite ihn die Genialität seines Anwalts von dieser Strafe, denn dieser entdeckte einen Schreibfehler in der Klageschrift, und es gelang ihm unter großen Kosten für Trefusis, daß das Urteil für ungültig erklärt wurde. Agatha wurde zuletzt müde, immer nur von seinen Missetaten zu hören. Sie hielt ihn zwar für herzlos, selbstsüchtig und verführt, aber sie wußte, daß er kein lärmender, roher, eingebildeter und unwissender Zänker war, wie es die meisten Klatschschwestern ihrer Mutter glaubten. Sie fühlte sogar, wenn auch widerstrebend, eine Art Dankbarkeit gegen die wenigen, die es wagten, ihn zu verteidigen. Die Vorbereitungen zu ihrer ersten Ballsaison halfen ihr, ihr Mißgeschick zu vergessen. Sie wurde zur gehörigen Zeit in die Gesellschaft eingeführt und fand alles sehr langweilig. Manchmal wurde bei ihr dieses Gefühl so stark, daß sie sich fragte, ob sie wohl je wieder glücklich sein würde. Auf der Schule hatte es Kameradschaftlichkeit gegeben, Spaß, Regeln und Vorschriften, die den Willen stärkten, wenn man sie beobachtete, und eine entzückende Aufregung brachten, wenn man sie übertrat. Da war man frei von Förmlichkeit gewesen, konnte Zuckerzeug machen, das Geländer hinabfliegen und einer ganzen Schar Mädchen den Soldat im Kamin vorführen. In der Gesellschaft gab es lächerliche Gespräche, die eine halbe Minute dauerten, oberflächliche Bekanntschaften, die sich auf solchen halben Minuten gründeten, ein allgemeines wechselseitiges Mißtrauen, dicht gedrängte Menschenmengen, ungenügende Ventilation, schlechte Musik, die dazu schlecht gespielt wurde, langes Aufbleiben, ungesundes Essen, vergiftende Liköre, ein eifersüchtiger Wettbewerb in nutzlosen Ausgaben, Jagd nach einem Mann, Flirten, Tanzen, Theater und Konzerte. Die letzten drei Dinge liebte Agatha, und sie machten ihr den Unterschied zwischen Alton und London erträglich, aber sie hatten ihre Schattenseiten, denn gute Partner beim Tanzen und gute Aufführungen der geistlosen Opern und Musikstücke waren bedauerlich selten. Flirten konnte sie nicht ertragen. Sie trieb die Männer weg, sobald sie zärtlich wurden, denn sie sah in ihnen die Falschheit Smilaschs ohne seinen Geist. Die jüngeren Herren ihres Bekanntenkreises hielten sie für ungeschliffen. Sie unterhielten sich über Agathas schlechte Manieren und beschlossen sie dadurch zu bestrafen, daß sie sie nicht mehr zum Tanze holten. So wurde sie, ohne zu wissen auf welche Weise, die Aufmerksamkeiten los, aus denen sie sich auch nicht das geringste machte, denn sie behielt die grausame Verachtung der Schulmädchen für >Jungens< bei. Sie genoß jetzt, so gut sie es konnte, die Gesellschaft älterer oder vernünftigerer Männer, die nicht so unduldsam gegen Mädchen waren. Jedenfalls hatte sie sich noch nie so wenig glücklich gefühlt wie in diesem Jahr. Sie brachte wiederholt ihre Mutter in Aufregung, indem sie Pläne faßte, Krankenpflegerin, Sängerin oder Schauspielerin zu werden. Jeder dieser Pläne führte zu flüchtigen, planlosen Studien. Um die Befähigung zu einer Krankenpflegerin zu bekommen, las sie ein Handbuch der Physiologie, und Mrs. Wylie hielt das für einen so unpassenden Gegenstand für eine junge Dame, daß sie weinend zu Mrs. Jansenius ging und sie bat, ihr ungezogenes Kind doch zurechtzuweisen. Mrs. Jansenius, besser unterrichtet, war der Ansicht, je mehr eine Frau wüßte, desto vernünftiger würde sie jedenfalls handeln, und Agatha würde die Physiologie schon bald aus eigenem Antrieb fallen lassen. Das erwies sich als richtig. Agatha hatte ihr Buch, in dem sie viel überschlug, schnell beendigt und ging nun zum Studium der Pathologie über nach einem Band klinischer Vorlesungen. Sie fand darin genau ihre eigenen Empfindungen beschrieben, und zwar als Symptome der schrecklichsten Krankheiten. Sie legte es voller Schrecken weg und nahm einen Roman zur Hand. Dieser war frei von den Fehlern ihrer früheren Lektüre, denn keines von den Gefühlen, die in dem Roman vorkamen, glich auch nur im mindesten denen, die sie schon gehabt hatte. Nach einer kurzen Frist ließ sie sich von einem beliebten Gesanglehrer untersuchen, ob ihre Stimme stark genug sei für die Bühne. Er empfahl ihr, bei ihm sechs Jahre lang zu lernen, und versicherte ihr, daß sie am Ende dieser Zeit -- wenn sie seinen Anweisungen folgte -- die größte Sängerin der Welt sein würde. Hiergegen hatte sie in Gedanken die entscheidende Einwendung, daß sie in sechs Jahren eine alte Frau sei. So beschloß sie, es selbst zu versuchen, vielleicht würde sie allein schnellere Fortschritte machen. Für den Fall, daß aus ihrer Sängerinnenlaufbahn nichts würde, beschloß sie, zum Schauspiel zu gehen, und nahm Unterricht in der Aussprache und in Leibesübungen. Diese Übungen hatten einen so günstigen Einfluß auf ihre körperliche und geistige Gesundheit, daß ihr bisheriges Streben ihr noch gar nicht weit genug ging. Sie versuchte nacheinander alle Künste, wurde aber jedesmal durch ihre Willensschwäche entmutigt, wenn sie versuchte, ausdauernd zu sein. Sie wußte als allgemeine Regel, daß schwächliche und lächerliche Versuche der Anfang von allem Tüchtigen sind, aber sie fand nie eine Regel für ihren eigenen Fall und glaubte noch immer, sie sei eine Ausnahme, grade wie sie es in ihrer Liebe zu Smilasch geglaubt hatte. Sie lag noch ganz in den Selbsttäuschungen der Jugend. Inzwischen beängstigten ihre Fortschritte gar sehr ihre Mutter. Diese kannte solche Anfälle von heiterer Stimmung, auf die dann das quälende Gefühl des Mißerfolgs und der Nutzlosigkeit folgten, nur als >Wildheit< und >schlechte Laune< und bekämpfte sie mit Handarbeit als beruhigendem Mittel und Fleischtee als anregendem Mittel. Mrs. Wylie hatte es auswendig gelernt, daß die ganzen Pflichten einer Dame darin beständen, anmutig, gütig, hilfreich, bescheiden und selbstlos zu sein und ruhig abzuwarten, was ihr diese Tugenden bescherten. Aber dann hatte sie durch Erfahrung gelernt, daß das Geschäft einer Dame in der Gesellschaft nur das sei, sich zu verheiraten, und daß alle diese Tugenden und Vollkommenheiten nur den Wert hätten, passende junge Männer anzuziehen. Da diese Wahrheit unanständig ist, überläßt man es gewöhnlich den jungen Damen ein oder zwei Jahre lang, es selbst herauszufinden. Es wird ihnen selten bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft ausdrücklich mitgeteilt. Daher weisen sie oft in ihrer ersten Saison großartige Partien zurück und müssen sich nachher zu sehr reduzierten Preisen anbieten, je nachdem wie ihre Reize anfangen schal zu werden. Dieses Schicksal fürchtete auch Mrs. Wylie, die durch Mrs. Jansenius gewarnt war, für Agatha. Von Zeit zu Zeit wurde ihr ein junger, wohlhabender Gentleman vorgestellt, aber sie vertrieb ihn jedesmal in barscher Weise, sobald er eine Anspielung auf ihre Gefühle machte. Die angstvolle Mutter tröstete sich damit, wenn ihre Tochter auch die wünschenswerten und die nichtwünschenswerten Partien in gleich grausamer Weise zurückstieß, so knüpfte sie doch wenigstens keine unschicklichen Verbindungen an und war außerdem noch sehr jung. Auch würde sie wohl weniger spröde sein, wenn sie etwas älter und, wie Mrs. Jansenius es nannte, vernünftiger wurde. Aber eine Saison folgte auf die andere, und es blieb fraglich, wen man mehr beglückwünschen sollte, Agatha, weil sie nach der Schulzeit das Leben begonnen, oder Henrietta, weil sie es beendet hatte. Elftes Kapitel. Brandon Beeches im Themsetal war der Wohnsitz von Sir Charles Brandon, dem siebten Baronet dieses Namens. Er hatte seinen Vater verloren, bevor er mündig geworden war, und heiratete kurz nachher, so daß er mit fünfundzwanzig Jahren Vater von drei Kindern war. Er sah trotz seiner Jugend etwas verlebt aus, aber er war schlank und ansprechend und hatte eine gewinnende Art, die Unglücksfälle der andern von einer freundlichen und beruhigenden Seite zu nehmen. Er war ein guter Erzähler, liebte Musik und konnte etwas spielen und singen. Er liebte das Zeichnen und skizzierte in Wasserfarben, er las jede Zeitschrift von London bis Paris, die Kunstkritiken brachte, er hatte ein paar Reisen gemacht, er fischte etwas, schoß etwas und botanisierte etwas, er lief rastlos hinter den Frauen her und verschwendete seine Energie auf all den tausend Wegen, die ihm sein Reichtum und seine Fähigkeiten offen machten. Auf keinem Gebiete besaß er genauere Kenntnisse, aber er hatte sich doch vieles so weit angesehen, daß er an die Stelle vollständiger Unkenntnis gemäßigte Unwissenheit setzen konnte. Er hatte nie den Genuß gekannt, etwas Großes zu vollbringen, und quälte sich mit einer unbefriedigten Sehnsucht, die ihn melancholisch machte und ihn überzeugte, er sei ein geborener Künstler. Seine Frau fand ihn selbstsüchtig verdrießlich und wankelmütig und sagte, er hielte sich jedesmal für gefährlich krank, wenn er sich nur etwas erkältet habe. Lady Brandon, die übrigens glaubte, er verstände alle die Dinge, über die er redete, weil sie sie selbst auch nicht verstand, war eine seiner Enttäuschungen. Ihrem Äußern nach glich sie keinem der Schönheitsideale, die die Maler ihrer Zeit darstellten, aber sie hatte Reize, für die wenige Männer unempfindlich sind. Sie war groß, weich und stark, mit vollen, wohlgeformten Armen, Schultern und Hüften. Mit ihrem kleinen Kopf, den zarten Ohren, den hübschen Lippen, den schelmischen Augen stellte sie, da sie eine sehr große Person war, eine Fülle von halb weiblicher, halb kindlicher Lieblichkeit dar, die selbst ernsten Männern das Verlangen einflößte, sie in ihre Arme zu nehmen und zu küssen. Dieses Verlangen hatte den oberflächlichen geistigen Geschmack Sir Charles' auf den ersten Anblick besiegt. Seine Einbildung versah sie mit jenem Verständnis für die höheren Künste, das er von einer Frau verlangte, und er heiratete sie in ihrer ersten Ballsaison, um dann zu entdecken, daß das Liebesbedürfnis in ihrem Wesen so gering und so matt war, daß sie alle seine Versuche, zärtlich gegen sie zu sein, ins Lächerliche zog und ihn um alle Liebesgenüsse brachte, nach denen er sich mit dem ganzen vorher empfundenen Entzücken gesehnt hatte. Auf geistigem Gebiete enttäuschte sie seine Hoffnungen aber noch viel mehr. Nach ihrer Meinung war seine Lieblingskunst, das Malen, für Amateure nur ein Zeitvertreib und für Berufskünstler ein Nebenzweig beim Einrichten eines Hauses. Wenn er diesen Gegenstand mit seinen Freunden erörterte, dann pflegte sie ihre Ansicht mit einem Eigendünkel zu äußern, der um so unangenehmer war, weil sie oft die gröbsten Schnitzer machte, während er selbst seine Schlüsse mit der höchsten Feinheit und Ernsthaftigkeit durchführte. Bei solchen Gelegenheiten machte sie sich aus seinem Widerwillen durchaus nichts, sie frohlockte sogar darüber. Sie war zu der Überzeugung gekommen, die Ehe sei noch eine größere Torheit und die Männer seien noch größere Narren, als sie geglaubt hatte. Aber diese Überzeugung verstärkte eher ihr Pflichtgefühl, als daß es sie enttäuscht hätte, und da sie genügend Geld, genügend Dienerschaft, genügend Gäste und genügend Reitübungen hatte, die sie übermäßig liebte, so verfloß ihre Zeit aufs angenehmste. Behaglichkeit erschien ihr als der natürliche Zustand des Lebens, jede Störung setzte sie in Erstaunen. Die Freunde ihres Mannes, die mit Mißtrauen in die Zukunft sahen und mit Bitterkeit an manche vergangene Stunde zurückdachten, waren ihr nur Beispiele dafür, daß vieles Lesen und ein Leben ohne Bewegung die Menschen mißmutig und stumpf mache. An einem schönen Maimorgen, als sie auf einem mächtigen, braunen Pferd die Einfahrt nach Brandon Breeches hinuntergaloppierte, öffnete sich an dem Ende das Tor, und ein junger Mann kam auf einem Zweirad herausgefahren. Er war von schmächtiger Gestalt mit schönen, dunkeln Augen und feinen Nasenflügeln. Als er Lady Brandon erkannte, schwenkte er seine Mütze, und als er sie erreicht hatte, sprang er von seinem leblosen Stahlroß ab, so daß das braune Pferd scheute. »Ruhig, du dummes Tier!« rief sie und schlug es mit dem Ende ihrer Peitsche. »Zwar, es ist kein Wunder, wenn es erschrickt. Wie geht es Ihnen? Wie hübsch ist es, daß man jetzt auf einem Pferd reiten kann, das auf Rädern läuft.« »Aber ich bin nicht reich genug, um ein wirkliches Pferd zu halten,« sagte er und trat näher, um den Braunen zu streicheln, nachdem er sein Rad gegen einen Baum gelehnt hatte. »Übrigens fürchte ich mich vor Pferden, ich bin nicht an sie gewöhnt. Ich verstehe auch nicht, sie zu füttern. Mein Rad braucht kein Futter. Es beißt und tritt nicht. Es geht nie lahm, es wird nicht krank, stirbt nicht, braucht keinen Diener und --« »Das ist alles Unsinn,« sagte Lady Brandon heftig. »Es stolpert und gibt Ihnen die schrecklichsten Stöße, es geht lahm, weil seine Pedale oder sonst etwas sich lösen, und trägt sich ab, und es macht zweimal so viele Mühe, wenn man es sauber halten und den Schmutz entfernen will, als ein Pferd. Und so ist es bei allem. Ich glaube, der lächerlichste Anblick auf der Welt ist ein Mann auf einem Zweirad. Er strampelt nach Leibeskräften mit den Füßen und glaubt, sein Roß trüge ihn, während er doch, wie es jeder sehen kann, sein Roß trägt. Sie brauchen mir nicht vorzureden, es sei ebenso leicht, eine große, leblose eiserne Maschine mitzuschleppen, wie auf gewöhnliche Art zu gehen. Das ist heller Unsinn.« »Trotzdem kann ich es in einem Tag hundert Meilen weiter bringen, als mich selbst allein. Das sind die Wunder der Mechanik. Doch ich weiß, neben Ihnen und diesem prächtigen Tier schneiden wir zwei nur eine armselige Figur -- kein Mensch wirft einen Blick auf mich, während Sie mit vollem Recht allgemeine Aufmerksamkeit erregen.« Sie warf ihm einen Blick zu, daß ihn ein Schwindelgefühl überkam und sein Herz schneller pochte. Das war so eine alte Gewohnheit von ihr. Sie bewahrte sie aus Liebe zum Spaß und hatte keine Ahnung, welchen Eindruck sie auf entzündlichere Herzen als ihr eigenes machte. Er setzte hastig hinzu: »Ist Sir Charles zu Hause?« »Ach ja, das ist die lächerlichste Sache, von der ich je in meinem Leben gehört habe,« rief sie aus. »Ein Mann, der unten auf dem Riverside Road ganz allein in einem Häuschen wohnt, das so klein ist wie eine Spielzeugsparbüchse -- Sie kennen ja die Dinger, die ich meine -- er nennt es Sallusts Haus, behauptet, es bestände ein Wegerecht über unsern neuen Rasenplatz. Als ob irgend jemand da noch ein Recht haben könnte, nachdem wir all das Geld ausgegeben haben, um es von drei Seiten zu umzäunen, nachdem wir die Mauer an der Straße entlang errichtet, nachdem wir planiert, gepflanzt, entwässert und Gott weiß was sonst getan haben. Und jetzt sagt der Mann, all das gewöhnliche Volk und die Strolche aus der Umgegend hatten ein Recht, quer darüber zu gehen, weil sie zu faul sind, den kleinen Umweg über die Straße zu nehmen. Nun ist Sir Charles hingegangen, um mit dem Mann über die Sache zu sprechen. Natürlich tat er nicht, was ich wollte.« »Und was war das?« »Dem Mann schreiben, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten bekümmern, und ihm mitteilen, die erste Person, die man bei dem Versuch ertappte, in unser Eigentum einzubrechen, würde der Polizei übergeben.« »Dann werde ich also niemand daheim finden. Verzeihen Sie, daß ich das so nenne, aber es ist der einzige Platz, der so etwas wie ein Heim für mich ist.« »Ja, es ist so gemütlich, seit wir das Billardzimmer gebaut und all die häßlichen Vorhänge beseitigt haben. Ich habe so lange wie möglich versucht --« Sie wurde durch einen alten Arbeiter unterbrochen, der so schnell, wie ihm seine Gicht erlaubte, herangehumpelt kam und ohne weitere Umstände, nur daß er seine Kappe abnahm, zu sprechen begann. »Sie sind auf den neuen Rasen gekommen, Mylady, eine Masse Menschen! Und ein Geistlicher ist dabei und eine Fahne! Sir Charles weiß nicht, was er sagen soll. So was ist noch nicht da gewesen.« Lady Brandon wurde blaß und zog an ihrem Zügel, als ob sie ihr Pferd aus einer Gefahr zurückziehen wollte. Ihr Besucher fragte ganz verwirrt den alten Mann, was er damit sagen wollte. »Es kommt ein Aufzug über den neuen Rasen,« antwortete dieser, »und der Herr kann sie nicht aufhalten. Sie haben die Mauer niedergerissen, drei Meter breit liegt sie an dem Riverside Road. Und ein Geistlicher ist dabei und eine Fahne. Und der Mann aus Sallusts Haus ist dabei und feuert sie an.« »Die Mauer niedergerissen!« rief Lady Brandon aus und wurde vor Entrüstung abwechselnd rot und wieder blaß. »Welch eine schändliche Geschichte! Wo ist die Polizei? Chester, wollen Sie mitkommen und sehen, was sie machen? Sir Charles ist zu nichts zu gebrauchen. Glauben Sie, daß eine Gefahr dabei ist?« »Es sind zwei Polizisten da,« sagte der alte Mann. »Und den Mann aus Sallusts Haus wagen sie nicht anzuhalten. Sie sehen ruhig zu. Und ein Geistlicher ist dabei. Ich sah, wie er mit eigener Hand ein Stück von der Mauer wegriß.« »Den Spaß will ich mir doch ansehen,« sagte Chester. Lady Brandon überlegte. Aber ihr Ärger und ihre Neugierde überwanden ihre Furcht. Sie überholte das Zweirad, und sie kamen beide durch das Tor und über die Landstraße zu dem Schauplatz, den der alte Mann beschrieben hatte. Ein Haufen von Steinen und Mörtel lag auf der Straße rechts und links von einer Bresche in einer neuerbauten Mauer, und Lady Brandon konnte von ihrem hohen Sitz auf dem Pferderücken einen Trupp von ungefähr dreißig Mann sehen, der quer über den Rasenplatz auf sie zukam. Sie marschierten schweigend und in guter Ordnung zu dreien nebeneinander. Mit Ausnahme von ein paar lustigen Kerlen machten sie alle Gesichter, als ob sie Andächtige wären, die eine religiöse Handlung vornähmen. Der ernste Eindruck der Prozession wurde durch die Anwesenheit eines Geistlichen in ihren Reihen verstärkt. Sonst waren es Leute der mittleren Klassen und ein paar Arbeiter. Sie trugen ein Banner mit der Inschrift: »Der Boden Englands dem ganzen Volke.« Es waren auch vier Frauen dabei, auf die Lady Brandon mit äußerstem Unwillen und Verachtung blickte. Kein Mann aus der Nachbarschaft hatte es gewagt, sich anzuschließen. Sie standen flüsternd auf der Landstraße und versuchten dann und wann über die Witze zweier Landstreicher zu lachen, die stehengeblieben waren, um sich den Spaß anzusehen, und die sich gar nichts aus Sir Charles machten. Sir Charles stand etwas vom Wege ab auf dem Rasen und stritt sich ärgerlich mit einem Mann seiner eigenen Klasse, der die Hände in den Taschen seines gelbbraunen Anzugs mit dem Rücken nach der Bresche zu stand und mit stolzer Zufriedenheit die Prozession betrachtete. Lady Brandon vermutete sofort, daß dies der Mann aus Sallusts Hause sei. Die Ergebenheit der Menge -- die meisten machten ihr Platz und faßten an ihre Mützen -- gab ihr Mut. Sie schlug mit ihrer Peitsche heftig auf ihr Pferd ein und ritt, daß die Hufe trappelten und die Rasenstücke umherflogen, mitten auf ihren gelbbraunen Feind los, der schnell zur Seite springen mußte, um sich zu retten. Ein stürmisches Gelächter erscholl auf der Landstraße, und der Mann wandte sich scharf nach ihr um. Aber plötzlich lächelte er freundlich, steckte seine Hände wieder in die Taschen, nachdem er mit dem Hut gegrüßt hatte, und sagte: »Wie geht es Ihnen, Miß Carpenter? Ich dachte, Sie wären eine Kavallerieattacke.« »Ich bin nicht Miß Carpenter, ich bin Lady Brandon, und Sie sollten sich etwas schämen, Mr. Smilasch, daß Sie diese abscheulichen Menschen hergebracht haben.« In seinen Augen lag ein beredtes Bedauern, daß sie nicht mehr Miß Carpenter sei. »Ich bin nicht Smilasch,« entgegnete er, »ich bin Sidney Trefusis. Ich hatte grade das Vergnügen, zum ersten Male mit Sir Charles zusammenzutreffen, und wir werden die besten Freunde sein, wenn ich ihn nur erst überzeugt habe, daß es schwerlich recht ist, sich eines Weges zu bemächtigen, der den Leuten gehört, und sie zu zwingen, einen Umweg von anderthalb Meilen um sein Besitztum zu machen, statt hier durchzugehen.« »Ich habe Ihnen schon gesagt, mein Herr,« bemerkte Sir Charles, »daß ich beabsichtige, noch einen kürzeren Weg anzulegen, und ich werde allen Arbeitern von guter Aufführung erlauben, zweimal täglich diesen Weg zu überschreiten. So können sie zu ihrer Arbeit gehen und abends zurückkehren, und ich will den Weg auf meine Kosten im Stande erhalten.« »Danke sehr,« sagte Trefusis trocken. »Aber weshalb sollen wir Ihnen die Mühe machen, wenn wir selbst einen Weg haben, den wir fünfzigmal am Tag betreten können, falls wir dazu Lust verspüren, und auf dem uns kein Mann den Zugang verlegt, bis ihm einmal zufällig unsere Aufführung gefällt? Übrigens würde Ihr nächster Erbe sicherlich sofort den Weg schließen, wenn er das Besitztum anträte.« »Wenn man ihnen einen Weg anbietet, werden sie erst recht unverschämt,« sagte Lady Brandon zu ihrem Gatten. »Warum hast du ihnen überhaupt etwas versprochen? Sie würden es nicht für eine Beschwerde halten, wenn sie anderthalb oder auch zwanzig Meilen gehen müßten, um ein Wirtshaus zu erreichen, aber um zu ihrer Arbeit zu kommen, da halten sie einen Weg von einem Meter schon für etwas Schreckliches. Vielleicht hätten Sie es auch gern, wenn wir ihnen unseren Wagen liehen, um darin zu fahren.« »Ich zweifle nicht, daß sie es gerne hätten,« sagte Trefusis und sah sie freundlich an. »Bitte, laß mich das in Ordnung bringen, Jane. Das ist kein Platz für dich. Begleite Erskine nach Hause, er muß sich hier --« »Warum sorgt die Polizei nicht dafür, daß sie fortgehen?« fragte Lady Brandon, die zu erregt war, um auf ihren Mann zu hören. »Bitte, Jane, sei still. Was können drei Mann gegen dreißig oder vierzig ausrichten?« »Sie sollten jemand als Exempel für die andern herausgreifen.« »Sie haben sich in der artigsten Weise erboten, mich festzunehmen, wenn Sir Charles den Haftantrag stellt,« sagte Trefusis. »Nun also!« sagte Lady Jane und wandte sich zu ihrem Gatten. »Warum läßt du ihn -- oder sonst irgend jemand -- denn nicht verhaften?« »Du verstehst davon nichts,« sagte Sir Charles mit dem quälenden Gefühl, sie mache ihn öffentlich lächerlich. »Wenn du es nicht tun willst, will ich es tun,« fuhr sie fort. »Diese Frechheit, auf unsern Grund und Boden einzubrechen und unsere neue Mauer einzureißen! Das wäre ja noch schöner, wenn die Leute mit fremdem Eigentum tun könnten, was sie wollten. Ich will die ganze Gesellschaft verhaften lassen.« »Würden Sie mich ins Gefängnis werfen lassen?« fragte Trefusis in melancholischem Tone. »Ich habe nicht grade Sie gemeint,« sagte sie, sanfter werdend. »Aber ich werde den Geistlichen verhaften lassen, der müßte doch mehr Einsicht haben. Er ist der Anstifter der ganzen Geschichte.« »Er wird entzückt sein, Lady Brandon. Er schmachtet nach dem Märtyrertum. Aber wollen Sie ihn wirklich in Haft geben?« »Natürlich,« sagte sie heftig und bekräftigte ihre Versicherung, indem sie im Sattel auffuhr, so daß das Pferd unruhig wurde. »Auf wessen Rechnung?« fragte er und tätschelte das Pferd, indem er zu ihr aufblickte. »Das ist mir gleich, auf wessen Rechnung,« erwiderte sie und fühlte, daß er sie mit Bewunderung und nicht mit Mißvergnügen ansah. »Sie sollen ihn einfach mitnehmen, weiter nichts.« Menschen zu Pferde sind so sehr Zentauren, daß jede Freiheit, die man sich mit den Pferden erlaubt, als gegen die Menschen gerichtet gelten können. Sir Charles sah, daß Trefusis den Braunen tätschelte, und er fühlte sich so sehr beschimpft, als ob Lady Brandon selbst getätschelt worden wäre. Dazu ärgerte er sich über sie, weil sie ihm solche Vertraulichkeit gestattete. Er atmete auf, als jetzt die Prozession näher kam. Sie hielt inne, und die Führer gingen zu Trefusis, der mit ernster Stimme sagte: »Gentlemen, ich gratuliere Ihnen zu der Festigkeit, mit der Sie heute die Rechte des Volkes vertraten, da es sich darum handelte, die Benutzung eines der wenigen Stückchen Land zu verteidigen, die man uns noch nicht geraubt hat.« »Gentlemen,« rief ein erregtes Mitglied der Prozession, »ein dreimaliges Hurra auf die Zurücknahme des englischen Landes durch das englische Volk! Hip, hip, hurra!« Die Hurras wurden mit großer Begeisterung gegeben, und Sir Charles' Wangen färbten sich bei jeder Wiederholung dunkler. Er blickte ärgerlich auf den Geistlichen, aber der war jetzt ganz durch die Reize der Lady Brandon gefesselt, die ihre Verachtung über den Anblick der Menge durch ein Schmollen zum Ausdruck brachte, das ihren schönen Lippen entzückend stand. Dann trat ein Arbeiter im mittleren Alter von der Landstraße auf den Rasen. Er hatte seinen Hut in der Hand, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und sagte: »Sehen Sie her, Sir Charles. Achten Sie nicht auf die Kerle. Kein Mann aus der Nachbarschaft ist dabei, keiner, der bei Ihnen oder auf Ihrem Land beschäftigt ist. Wir empfehlen uns Ihnen und der gnädigen Frau, und wir vertrauen Ihnen, daß Sie schon das tun, was für uns recht ist. Wir wollen keine Eindringlinge von Lunnon, die uns mit Ew. Gnaden in Unfrieden bringen, und --« »Du erbärmlicher Hund,« schrie Trefusis wütend, »welches Recht hast du, seinen ungeborenen Kindern die Freiheit deiner ungeborenen Kinder fortzugeben?« »Wir haben keine ungeborenen Kinder,« sagte Lady Brandon unwillig, »das zeigt wieder, wie wenig Sie davon wissen.« »Auch bei mir sind keine,« sagte der Mann und war stolz, weil die gnädige Frau ihm half. »Und wer sind Sie, daß Sie mich einen Hund nennen?« »Wer ich bin? Ich bin ein reicher Mann -- einer von euren Herren, und ich habe das Vorrecht, euch zu nennen, was ich will. Sie sind ein kriechender, halbverhungerter Sklave. Nun gehen Sie und suchen Sie beim Gesetz gegen mich Recht. Ich kann mir die Gesetze kaufen, um Sie zu ruinieren, und es würde mich weniger Geld kosten, als in Schottland Wild zu schießen oder hier Raubzeug. Wie gefällt Ihnen dieser Zustand? He?« Der Mann war niedergedrückt. »Sir Charles wird mir beistehen,« sagte er nach einer Pause mit gezwungenem Vertrauen und einem ängstlichen Blick auf den Baronet. »Wenn er das tut, nachdem er die Antwort gehört hat, die Sie mir gaben, weil ich für Ihre Sache eintrat, dann ist er ein größerer Narr, als ich es glaube.« »Ruhig, ruhig,« sagte der Geistliche. »Man kann manche Entschuldigung für den armen Kerl finden.« »Ich bin so ruhig, wie Sie wollen, gegen jeden, der im Herzen ein freier Mann ist,« sagte Trefusis. »Aber Sklaven muß man hetzen, und dieser Kerl ist ein Sklave bis ins Mark.« »Trotzdem muß man nachsichtig sein. Er versteht nicht --« »Er versteht eine ganze Menge mehr als Sie,« sagte Lady Brandon, ihn unterbrechend. »Und das ist um so beschämender für Sie, weil Sie es am besten wissen sollten. Ich nehme an, daß Sie irgendwie Erziehung genossen haben. Sie werden kaum mit sich zufrieden sein, wenn Ihr Bischof hiervon hört. Ja,« fügte sie hinzu und wandte sich an Trefusis mit einer kindlichen Miene, als ob sie eigentlich weinen wollte, aber gegen ihren Willen zum Lachen gezwungen wurde, »Sie können lachen, soviel es Ihnen gefällt -- machen Sie sich nicht die Mühe und stellen sich, als ob Sie nur gehustet hätten -- aber wir werden an seinen Bischof schreiben, und er soll seine Strafe haben.« »Um Gottes willen, Jane, schweige doch,« sagte Sir Charles, indem er das Pferd beim Zaum nahm und es von Trefusis entfernte. »Ich will aber nicht. Wenn es dir so gefällt, hier ruhig zuzusehen, wie sie die Mauer in den Taschen davontragen, ich tu es nicht und will es nicht. Warum kannst du die Polizei nicht veranlassen, etwas zu tun?« »Sie können nichts tun,« sagte Sir Charles und war fast außer sich vor Scham. »Ich kann auch nichts tun, bis ich mit meinem Anwalt gesprochen habe. Wie kannst du das ertragen, hier zu stehen und dich mit diesen Burschen herumzuzanken. Es ist so würdelos!« »Du hast gut von Würde reden, aber ich verstehe nicht die Würde, es zu dulden, daß andere Leute ohne Erlaubnis auf unserem Grund herumtrampeln. Mr. Smilasch, wollen Sie die Leute veranlassen, fortzugehen, und ihnen sagen, sie würden alle angezeigt und ins Gefängnis gebracht?« »Sie gehen zu der Straßenkreuzung, um eine öffentliche Versammlung zu veranstalten und natürlich Reden zu halten. Ich sollte Ihnen sagen, daß sie es aufs tiefste bedauern, wenn sie mit ihrer Kundgebung Sie persönlich belästigt haben, Lady Brandon.« »Das sollten sie auch,« antwortete sie. »Sie sehen nicht sehr betrübt aus. Sie bekommen natürlich langsam Angst über das, was Sie angerichtet haben, und sie wären offenbar froh, wenn Sie durch eine Entschuldigung den Folgen Ihrer Handlungsweise entgingen. Aber das sollen Sie nicht. Ich bin nicht so dumm, wie Sie glauben.« »Sie glauben das nicht, Sie haben das Gegenteil bewiesen.« »Jane,« fragte Sir Charles verdrießlich, »kennst du diesen Herrn?« »Natürlich kenne ich ihn,« sagte Lady Brandon mit Nachdruck. Trefusis verneigte sich, als ob er soeben in aller Form dem Baron vorgestellt worden sei, worauf dieser die Begrüßung steif erwiderte, da er nicht imstande war, einen älteren, bestimmteren und hier auch gewandteren Mann zu ignorieren. »Es scheint das eine unnachbarliche Handlung zu sein, Sir Charles,« sagte Trefusis ganz behaglich. »Aber es handelt sich um eine öffentliche Angelegenheit, die nicht auf unsere privaten Beziehungen überzugreifen braucht. Wenigstens hoffe ich das.« Sir Charles verbeugte sich von neuem und noch kühler als zuvor. »Ich bin wie Sie ein Kapitalist und Grundbesitzer --« »Wozu Sie, wenn Sie ernsthaft reden, kein Recht haben,« fiel hier Chester ein, der bisher schweigend an Sir Charles' Seite gestanden hatte. »Gewiß habe ich kein Recht, das zu sein,« sagte Trefusis und sah ihn mit Interesse an. »Aber ich kann es nun einmal nicht ändern. Habe ich das Vergnügen, mit Mr. Chichester Erskine zu sprechen, dem Schöpfer der Tragödie >Die patriotischen Märtyrer<, die mit begeisterter Hingabe dem Genius der Freiheit und einigen berühmten Kämpfern für seine Grundsätze gewidmet ist, und die mit kraftvollen Worten den letzten russischen Zaren und Napoleon den Dritten der Tyrannei anklagt?« »Ja, mein Herr,« sagte Erskine errötend, denn er fühlte, daß diese Beschreibung seines Dramas ihn in den Augen der Anwesenden, die es nicht gelesen hatten, lächerlich machen mußte. »Dann,« sagte Trefusis und streckte die Hand aus -- Erskine dachte zuerst, er wollte die seine schütteln -- »geben Sie mir eine halbe Krone für die Kosten unseres heutigen Unternehmens, das die Rechte des Volkes sichern soll, den Boden zu betreten, auf dem wir jetzt stehen.« »Sie sollen das nicht tun, Chester,« schrie Lady Brandon. »So was hab ich in meinem Leben noch nicht gehört. Bezahlen _Sie_ uns die Mauer und den Zaun, die Ihre Leute zerstört haben, Mr. Smilasch, das würde zu dem Zwecke besser sein.« »Wenn ich tausend Männer finden könnte, die so tüchtig sind wie Sie, Lady Brandon, ich würde die nächste große Revolution vor dem Ende dieses halben Jahres durchführen.« Er sah sie einen Augenblick forschend an, als ob er sich an etwas erinnern wollte, und fügte dann unerwartet hinzu: »Wie geht es Ihren Freundinnen? Da war eine Miß -- Miß -- ich fürchte, ich habe alle Namen außer Ihrem eigenen vergessen.« »Gertrude Lindsay ist hier bei uns zu Besuch. Erinnern Sie sich ihrer?« »Ich glaube -- nicht, ich fürchte -- nein. Warten Sie. War es nicht eine stolze, junge Dame?« »Ja,« sagte Lady Brandon eifrig und vergaß Mauer und Zaun. »Aber wer glauben Sie, daß am Donnerstag kommt? Ich traf sie zufällig, als ich das letztemal in der Stadt war. Sie hat sich aber auch gar nicht verändert. Sie können sie nicht vergessen haben, darum stellen Sie sich nicht so verwirrt.« »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer es ist, und ich werde mich ihrer kaum noch erinnern. Sie dürfen nicht von mir erwarten, daß ich jedermann sofort wiedererkenne, wie ich Sie erkannte.« »Welch ein Unsinn. Sie werden Agatha sofort erkennen.« »Agatha Wylie!« sagte er mit plötzlichem Ernst. »Ja, sie kommt Donnerstag. Freuen Sie sich?« »Ich fürchte, ich werde keine Gelegenheit haben, sie zu sehen.« »Oh, natürlich müssen Sie sie sehen. Es wird so lustig für uns alle sein, daß wir wieder wie früher zusammentreffen. Warum können Sie nicht am Donnerstag zum Luncheon kommen?« »Ich werde entzückt sein, wenn Sie mir nach meiner heutigen Aufführung wirklich erlauben, zu kommen.« »Das werden die Anwälte erledigen. Jetzt, da Sie wissen, wer wir sind, werden Sie natürlich aufhören, unsere Mauern einzureißen.« »Natürlich,« sagte Trefusis lächelnd und zog ein Taschenbuch hervor, um die Einladung zu notieren. »Ich muß schnell machen, daß ich zur Wegekreuzung komme. Man hat mich wahrscheinlich inzwischen zum Vorsitzenden gewählt und wartet darauf, daß ich die Versammlung eröffne. Adieu. Sie haben mir diese Gegend, deren ich schon ganz müde geworden war, in unerwarteter Weise interessant gemacht.« Sie wechselten Blicke, wie sie es früher auf der Schule getan hatten. Dann nickte er Sir Charles zu, winkte Erskine familiär mit der Hand und folgte der Prozession, die jetzt außer Sicht war. Sir Charles, der schon längst hatte sprechen wollen, aber wiederholt durch die schnellen Worte seiner Frau und die unbedenklichen Antworten Trefusis' daran gehindert wurde, wandte sich jetzt ärgerlich an sie und sagte: »Was soll das heißen, daß du diesen Burschen in mein Haus einlädst?« »Wirklich, _dein_ Haus! Ich lade ein, wen ich will. Du scheinst dich wieder einmal aufzuregen.« Sir Charles sah sich um. Erskine war diskret fortgegangen und drehte auf der Straße eine Schraube an seinem Rad fester. Die wenigen Personen, die zurückgeblieben waren, standen außer Hörweite. »Wer und was zum Teufel ist er, und wie kommt es, daß du ihn kennst?« fragte er. Er fluchte sonst nie in Gegenwart einer Dame. Nur bei seiner Frau machte er eine Ausnahme, und auch nur dann, wenn sie allein waren. »Er ist ein Gentleman, und das kann man von dir nicht sagen,« entgegnete sie und sandte mit einem Peitschenhieb, der beinahe die Schulter ihres Mannes traf, den Braunen in wilden Sätzen durch die Mauerbresche. »Kommen Sie mit,« sagte sie zu Erskine. »Wir sind zu spät zum Luncheon da.« »Sollen wir nicht lieber auf Sir Charles warten?« fragte er unüberlegt. »Lassen Sie mich in Ruhe mit Sir Charles, er ist schlecht gelaunt,« sagte sie, ohne leiser zu sprechen. »Kommen Sie mit.« Und sie ritt im Galopp davon. Erskine folgte ihr mit dem Gedanken, daß er sich für seinen Besuch eine sehr unglückliche Zeit ausgesucht habe. Zwölftes Kapitel. Am folgenden Donnerstag trafen sich Gertrude, Agatha und Jane zum erstenmal wieder, seit sie die Schule zu Alton verlassen hatten. Agatha war am meisten zurückhaltend von den dreien und hatte sich äußerlich am wenigsten verändert. Sie glaubte, sie sei sehr verschieden von der Agatha aus Alton, aber sie hatte nur ihre Ansicht über sich verändert, ihr Wesen war dasselbe geblieben. Sie hatte bei ihren Freundinnen eine ähnliche Veränderung erwartet und zweifelte sehr daran, daß ihr Zusammentreffen ein fröhliches sein werde. Sie fürchtete das mehr wegen Gertrude als wegen Jane, denn Lady Brandon war, wie sie schon bei der kurzen Unterhaltung in London gefunden hatte, im Benehmen, Denken und Sprechen dieselbe geblieben, die sie als Miß Carpenter gewesen war. Aber Jane flößte selbst Agatha jetzt mehr Respekt ein als früher, denn sie hatte sich aus einem übergroßen Mädchen in eine schöne Frau verwandelt und machte in ihrer ersten Saison eine brillante Partie, während viele ihrer hübschen, stolzen und klugen Altersgenossinnen, die sie auf der Schule beneidet hatte, noch unverheiratet waren und zu Hause ein ungemütliches Heim hatten, weil ihre Eltern die Last ihres Unterhalts los werden und durch ihre Verheiratung ihren Geldbeutel oder ihre Stellung verbessern wollten. Dies war auch bei Gertrude der Fall. Wie Agatha hatte sie alle Heiratsanträge abgewiesen. Sie war stolz auf ihre Familie und ihre Vornehmheit und wollte so wenig wie möglich mit Leuten zu tun haben, die ihr darin nachstanden. Zuerst schlug sie die Bekanntschaft mit verschiedenen sehr reichen und vornehm lebenden Familien ab, weil sie ihre Vorfahren nicht kannten oder sich ihrer schämten. Nachdem sie sich aus diesem Kreise ausgeschlossen hatte, wurde sie bei Hofe vorgestellt und nahm von da ab nur noch Einladungen von solchen Leuten an, die nach ihrer Meinung das Recht zu der gleichen Ehre hatten. Und sie nahm es in diesem Punkte viel genauer als Lord Chamberlain, der, wie sie sagte, seinen Rang geschändet hatte, indem er tatsächlich der reine Kommunist geworden sei. Sie war gut erzogen, hatte feine Sitten und Manieren und kannte die Vorschriften der Etikette so genau, daß sie damit jeden Neuling in Verlegenheit setzte. Sie war zart gebaut, hatte feine Zähne und ein Gesicht von fast griechischem Schnitt, wäre nicht die leicht aufgestülpte Nase und das etwas zu stark ausgeprägte Kinn gewesen. Ihr Vater war ein pensionierter Admiral. Er hatte genügend Einfluß, um seinem Sohne, der nach der Verbindung mit einer reichen Erbin strebte, durch die konservative Regierung eine Sinekure zu verschaffen. Aber Gertrude blieb ledig, und der Admiral, der früher über seine Mittel hinaus für ihre Erziehung gesorgt hatte und noch jetzt in derselben Weise ihren Aufwand bestritt, beklagte sich so bitter über ihre Mißerfolge und über die Last, die sie ihm machte, daß ihr das häusliche Leben fast unerträglich wurde. Sie kam schließlich so weit, daß sie jeden Gentleman aus guter Familie, wie unpassend auch sonst sein Alter und sein Charakter war, genommen hätte, nur damit er sie aus der demütigenden Abhängigkeit befreite. Sie war bereit, auf alles, wonach sich ihre Natur bei einem Manne sehnte, auf Jugend, Schönheit und Tüchtigkeit zu verzichten, wenn sie nicht anders von ihren Eltern loskommen konnte. Nur in einem stand ihr Entschluß fest: sie wollte lieber als alte Jungfer sterben, als einen Emporkömmling heiraten. Ihre Pläne scheiterten an der Geldfrage. Der Admiral war arm. Er hatte kaum sechstausend Pfund Einnahmen im Jahr, und obgleich er mit der äußersten Genauigkeit wirtschaftete, um einen möglichst großen Aufwand damit zu treiben, konnte er doch seiner Tochter keine Mitgift geben. Nun hatten die vornehmen jungen Leute aus ihrem Kreise alle mehr blaues Blut und weniger Reichtum, als sie brauchten. Sie bewunderten Gertrude, machten ihr Komplimente, tanzten mit ihr, aber keiner konnte es sich gestatten, sie zu heiraten. Einige von ihnen sagten ihr das auch gradezu. Sie heirateten die reichen Töchter von Teehändlern, Eisengießern oder erfolgreichen Börsenmaklern und versuchten dann zwischen ihr und ihren niedrig geborenen Schwägern eine Verbindung anzuknüpfen. So war also Gertrude, als sie Lady Brandon traf, heimlich in keiner beneidenswerten Lage, und sie nahm gerne die Einladung nach Brandon Beeches an, schon um dem täglichen Gespötte des Admirals über die Heiratsliste in der >Times< zu entgehen. Sie konnte das um so eher tun, weil Sir Charles kein neugebackener Adliger war, und Jane gegenüber hatte sie ja schon auf der Schule -- die ihr jetzt als die glücklichste Zeit ihres Lebens erschien -- anerkannt, daß ihre Familie und ihr Bekanntenkreis neben ihrem eigenen der vornehmste in Alton war. Agatha, deren Großvater sich als Besitzer von Gaswerken seinen Reichtum erworben hatte, hatte sie niemals ihre Freundschaft angeboten. Agatha hatte sich diese teils durch moralische, teils durch physische Gewalt einfach erzwungen. Aber die Gaswerke wurden doch niemals vergessen, und als Lady Brandon als eine köstliche Neuigkeit erwähnte, sie habe ihre alte Schulfreundin wieder gefunden und sie eingeladen, auch herüber zu kommen, da war Gertrude durchaus nicht angenehm berührt. Andererseits war sie, als sie zusammentrafen, die einzige, deren Augen feucht wurden, denn sie war die am wenigsten Glückliche von den dreien, und ihr Stolz war, ohne daß sie es wußte, etwas gebrochen. Sie glaubte, Agatha habe ihre Mädchenhaftigkeit verloren, sie sei aber dafür mutiger, energischer und gewandter geworden. In Wirklichkeit mußte Agatha ihre ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um ihre Schüchternheit zu verbergen. Sie entdeckte auch Gertrudes Bewegung, denn diese versuchte im letzten Augenblick nicht mehr, sie zu verbergen. Sie hätte sie sogar frei in Worten ausgedrückt, wenn ihre gesellschaftliche Erziehung sie nicht nur gelehrt hätte, ihre Gefühle zu verhehlen, sondern auch, ihnen Worte zu geben. »Denkt ihr noch an Miß Wilson?« fragte Jane, als die drei von der Eisenbahnstation nach Brandon Beeches fuhren. »Denkt ihr noch an Mrs. Miller und ihren Kater? Denkt ihr noch an das Sündenbuch? Wißt ihr noch, wie ich in den Kanal fiel?« Diese Erinnerungen gaben ihnen Gesprächsstoff, bis sie das Haus erreichten und auf Agathas Zimmer gingen. Jetzt hatte Jane etwas im Haushalt zu besorgen und mußte sie verlassen. Sie tat das ungern, denn sie war eifersüchtig auf Gertrude und wollte nicht, daß sie ihr bei der Gewinnung von Agathas Zuneigung zuvorkommen sollte. Sie versuchte sogar, ihre Nebenbuhlerin mit sich zu nehmen. Aber es war vergebens, Gertrude wollte sich nicht rühren. »Was ist das ein schönes Haus und ein prächtiger Platz hier!« sagte Agatha, als Jane gegangen war. »Und was für ein reizender Mensch Sir Charles ist! Wir haben immer über Jane gelacht, aber jetzt kann sie noch über die glücklichste von uns lachen. Ich habe immer gesagt, sie würde stets blindlings ins Glück hineintappen. Ist es wirklich wahr, daß sie sich in ihrer ersten Saison verheiratet hat?« »Ja. Und Sir Charles ist ein Mann von hoher Bildung. Ich kann das nicht verstehen. Ihr Umfang geht über alles, und ihre Manieren sind schlecht.« »Ja!« sagte Agatha mit einem pfiffigen Gesicht. »Jane hatte immer etwas an sich, was die Männer anzog. Und sie ist mehr schelmisch als närrisch. Aber sie ist gewiß ein großer Esel.« Gertrude warf ihr einen ernsten Blick zu, um anzudeuten, daß sie jetzt aus der Gewohnheit heraus sei, auf eine solche Sprache zu hören. Agatha wurde dadurch gereizt und fuhr fort: »Hier sind wir beide und halten uns für doppelt so ansehnlich und umgänglich, als sie ist, aber wir sind alte Jungfern.« Gertrude fuhr zurück, und Agatha setzte schnell hinzu: »Und dabei bist du doch zum Beispiel so außerordentlich hübsch! Sie hat uns übrigens ausdrücklich eingeladen, um uns zu verheiraten.« »Sie würde doch nicht etwa wagen --« »Unsinn, liebe Gertrude. Sie glaubt, wir seien ein paar Narren, die ihre eigenen Angelegenheiten verpfuscht haben, und da sie selbst es so gut gemacht hat, hält sie es für eine Kleinigkeit, uns zu helfen. Hat sie dir etwa nicht gesagt, bevor ich ankam, es sei Zeit für mich, daß ich mich verheiratete?« »Nun ja. Aber --« »Genau dasselbe hat sie mir über dich gesagt, als sie mich einlud.« »Ich würde sofort dieses Haus verlassen,« sagte Gertrude, »wenn ich dächte, sie wollte sich in meine Angelegenheiten hineinmischen. Was geht das sie an, ob ich verheiratet bin oder nicht?« »Wo hast du denn all diese Jahre gelebt, wenn du nicht weißt, daß eine Frau, sobald sie eine gute Partie gemacht, nichts Eiligeres zu tun hat, als nun auch ihre ledigen Freundinnen unter die Haube zu bringen. Jane meint es gar nicht böse. Sie tut es aus lauter Herzensgüte.« »Ich brauche Janes Herzensgüte nicht.« »Ich auch nicht. Aber es schadet doch nichts, und sie soll sich ruhig damit amüsieren, ihre männlichen Bekannten zu meiner Auswahl vorzuführen. Still! Da kommt sie.« Gertrude schwieg. Sie konnte sich nicht mit Lady Brandon zanken, ohne das Haus zu verlassen, und wenn sie das Haus verließ, dann mußte sie zu ihren Eltern zurückkehren. Aber im stillen beschloß sie, Erskine bei seinen Aufmerksamkeiten zu entmutigen, denn sie vermutete, daß er gar nicht in sie verliebt war, wie er behauptete, sondern sie einfach auf eine Empfehlung von Jane hin heiraten wollte. Chichester Erskine hatte mit Sir Charles zusammen in Palästina Skizzen gemalt und war mit ihm durch manche europäische Gemäldegalerie gewandert. Er war ein junger Mann von adliger Abkunft und hatte von seiner Mutter eine Rente von fünfhundert Pfund geerbt, während das Hauptvermögen der Familie an seinen älteren Bruder gefallen war. Da er keinen Beruf hatte und Bücher und Gemälde liebte, hatte er sich den schönen Künsten gewidmet, was die billigste Art war, um sich selbst eine hohe Meinung von der Feinheit und den Fähigkeiten seiner eigenen Natur beizubringen. Er hatte ein Drama veröffentlicht mit dem Titel: >Die patriotischen Märtyrer< mit einem radierten Titelblatt von Sir Charles. Eine Auflage war schnell durch die Dedikationsexemplare an die Freunde des Künstlers und Dichters und an die Zeitschriften und Zeitungen abgesetzt worden. Sir Charles hatte dann einen hervorragenden Tragöden, den er kannte, gebeten, das Werk auf die Bühne zu bringen und einen von den patriotischen Märtyrern zu spielen. Aber der Tragöde wandte ein, die Rollen der andern patriotischen Märtyrer seien ja grade so bedeutend wie seine eigene. Erskine weigerte sich entrüstet, diese Teile zu kürzen oder fallen zu lassen, und so wurde aus der Aufführung nichts. Seitdem trug sich Erskine mit dem Gedanken, ein zweites Drama zu schreiben, ohne sich um die Forderungen der Bühne zu kümmern. Aber er hatte es noch nicht begonnen, denn seine Stimmung kam ihm stets zu ungelegener Zeit, meist spät in der Nacht, wenn er getrunken hatte und nur Lust empfand, Sonette zu schreiben. Die Morgenluft und das Radfahren waren verhängnisvoll für die Art von Poesie, die ihm als die einzige wertvolle erschien. Indessen war trotz des Radfahrens das Drama, das den Titel >Hypatia< trug, auf dem besten Wege, wirklich geschrieben zu werden, denn der Dichter hatte Gertrude Lindsay kennen gelernt und sich in sie verliebt. Ihre fast griechischen Gesichtszüge und etwas Kenntnis von der Differentialrechnung, die sie in Alton erworben hatte, verhalfen ihm zu dem Glauben, sie sei ein passendes Modell für seine Heldin. Als die Damen herunterkamen, fanden sie ihren Wirt und Erskine in der Gemäldegalerie, die in der Umgegend berühmt war, weil sie Sir Charles eine große Summe gekostet hatte. Es gab neue Radierungen zu bewundern, und der Baronet bat sie, das, was er den Ton des Bildes nannte, zu beachten -- Agatha würde es den Grad der Schmiererei genannt haben. Sir Charles ließ seine Augen oft von seinem Kunstwerk abschweifen. Zweimal sah er auf seine Uhr und sagte endlich: »Ich habe den Leuten gesagt, sie sollten pünktlich mit dem Essen sein.« »O ja. Es ist schon gut,« sagte Lady Brandon. Sie hatte Befehl gegeben, das Essen vor der Ankunft eines weiteren Gastes nicht zu servieren. »Zeige Agatha das Bild des Mannes in --« »Mr. Trefusis,« meldete ein Mädchen. Mr. Trefusis trat herein, noch immer in gelbbraunem Anzug. Der Rock war nicht zugeknöpft. Er ging in ungezwungener Gleichgültigkeit und schien bei keiner Gelegenheit irgendwelche Rücksicht auf gesellschaftliche Formen für nötig zu halten. »Da sind Sie ja endlich,« sagte Lady Brandon. »Sie kennen doch alle hier?« »Wie geht es Ihnen?« fragte Sir Charles und bot ihm mit der ernsten Miene eines Mannes, der eine Pflicht gegen den Gast seiner Frau erfüllt, die Hand. Er schüttelte sie herzlich, nickte Erskine zu und sah ohne eine Miene des Erkennens Gertrude an, deren frostiges Schweigen sich gegen die Annahme der Lady Brandon zu verwahren schien, als ob der Fremde mit ihr bekannt sei. Dann wandte er sich zu Agatha und verneigte sich vor ihr. Sie gab ihm keine Antwort, sie war wie erstarrt. Lady Brandon errötete vor Ärger. Sir Charles bemerkte den Empfang seines Gastes mit innerer Genugtuung, aber er teilte doch auch die Verlegenheit, die alle mit Ausnahme von Trefusis ergriffen hatte. Dieser schien ganz gleichgültig und zufrieden zu sein und brachte unbewußt den Eindruck hervor, die andern hätten sich nicht richtig benommen, was ja auch tatsächlich der Fall war. »Wir sahen uns grade ein paar Radierungen an, als Sie hereinkamen,« sagte Sir Charles und beeilte sich, das Stillschweigen zu brechen. »Machen Sie sich etwas aus solchen Dingen?« Und er händigte ihm einen Abzug ein. Trefusis warf einen Blick darauf, als ob er noch nie in seinem Leben so etwas gesehen habe und nicht wüßte, was er damit anfangen sollte. »Alle diese Kritzeleien scheinen mir keinen Sinn zu haben,« sagte er unsicher. Sir Charles warf Erskine ein geringschätziges Lächeln und einen bezeichnenden Blick zu. Dieser, der schon eine instinktive Abneigung gegen Trefusis fühlte, sagte ausdrucksvoll: »Da ist keine von diesen Kritzeleien, die nicht einen Sinn hat.« »Das zum Beispiel, das aussieht wie das Bein einer Mücke -- was bedeutet es?« Erskine zauderte einen Augenblick. Dann faßte er sich und sagte: »Es stellt unverkennbar -- wenigstens für mich -- die Zeichnung eines Fahrweges vor.« »Keine Spur davon.« sagte Trefusis. »Nie hat es auf einem Fahrwege solch einen Einschnitt gegeben. Es scheint ein sehr schlecht geratener Brombeerstrauch zu sein, aber Brombeersträuche wachsen nicht mitten auf dem Wege, besonders auf so belebten, wie der nach den ausgefahrenen Geleisen zu sein scheint.« Er legte die Radierung fort und schien keine Lust mehr zu haben, noch einmal in die Mappe hineinzusehen. Dann sagte er: »Die einzige Kunst, die mich interessiert, ist das Photographieren.« Erskine und Sir Charles wechselten wieder Blicke, und Erskine sagte: »Photographieren ist nach meiner Ansicht keine Kunst, es ist ein Verfahren.« »Und ein viel angenehmeres und vollkommeneres Verfahren als dieses.« sagte Trefusis und wies auf die Radierungen. »Die Künstler kleben nur deshalb an dem alten, barbarischen, schwierigen und unvollkommenen Verfahren des Radierens oder Porträtmalens, um den Monopolwert der dazu erforderlichen Geschicklichkeit hochzuhalten. Die neue, viel kompliziertere und vollkommenere und doch so einfache und schöne Methode des Photographierens haben sie Geschäftsleuten überlassen. Sie rümpfen öffentlich die Nase darüber und nehmen heimlich ihre Zuflucht zu ihr. Schließlich werden die Photographen bessere Künstler als sie selbst, und das ist auch ganz natürlich. Denn wo wie beim Photographieren das Zeichnen nichts ist, da ist das Denken und Urteilen alles. Und wo wie beim Radieren und Klecksen eine große Handfertigkeit dazu gehört, um etwas für das Auge Gefälliges hervorzubringen, da gilt die Ausführung mehr als das Denken, und wenn ein Bursche, dessen Anlagen vielleicht dazu ausreichen, Steine beim Bau hinaufzutragen, nur so viel Ehrgeiz und Ausdauer besitzt, seine Hand auszubilden und sich vorzudrängen, so können Sie ihn nicht mehr auf seinen gehörigen Platz zurückweisen, weil gut ausgebildete Hände so selten sind. Sehen Sie sich die Verhältnisse in der Literatur an. Unsere Bücher sind rein technisch die Arbeit von Druckern und Papiermachern. Sie können einem Schriftsteller die Hände abschneiden, und er ist so gut ein Schriftsteller wie vorher. Was ist die Folge? In einer einzigen Nummer einer Groschenzeitschrift steckt mehr Phantasie, als in einem halben Dutzend Akademiesälen während einer ganzen Saison. Kein Schriftsteller kann gleichzeitig von seiner Arbeit leben und so beschränkt sein, wie es im Durchschnitt ein erfolgreicher Maler ist. Andererseits betrachten Sie die Hilfsmittel der Musik -- das Klavier zum Beispiel. Niemand außer einem Akrobaten wird freiwillig Jahre auf eine so schwierige mechanische Aufgabe, wie die Beherrschung der Klaviatur verwenden, und so genießen wir Beethovens Sonate durch die Aufführungen von Akrobaten, die einander in der Schnelligkeit ihrer Prestos oder in der Ausdauer ihres linken Handgelenks zu übertreffen suchen. Menschen mit Ideen werden nicht ihr Leben damit verbringen, Taschenspielerkunststücke zu lernen. Erfinden Sie ein Klavier, das so feinfühlend dem Drehen eines Handgriffs gehorcht, wie unsere jetzigen dem Druck der Finger, und die Akrobaten werden wieder zu ihren Teppichen und Trapezen zurückkehren müssen, denn die einzige Veranlagung, die der vortragende Musiker braucht, wird die musikalische Veranlagung sein, durch nichts anderes kann er sich Gehör verschaffen.« Die Gesellschaft war etwas verwirrt durch diese unerwartete Belehrung. Sir Charles fühlte, daß solche Ansichten sich gegen sein innerstes Wesen wandten, daß sie das Ideale zerstörten und sich an niedrige Instinkte wandten. Er wollte schon eine verdrießliche Antwort geben, als ihm Erskine zuvorkam und Trefusis fragte, welche Ansicht er über die zukünftige Entwicklung der Kunst habe. Er erwiderte sofort: »Photographie, vervollkommnet durch die neue Erfindung, die Farben ebenso wiederzugeben wie die Umrisse. Die Historienmalerei wird durch Photographien von lebenden Bildern verdrängt, die von tüchtigen Schauspielern und Künstlern entworfen und ausgeführt werden und hauptsächlich zur Belehrung von Kindern dienen. Neun Zehntel unserer heutigen Malerei wird durch den Wettbewerb solcher Photographien verschwinden, und das andere Zehntel hält sich gegen sie nur durch außerordentlich hervorragende Leistungen! Unsere mißtönigen und schwer zu spielenden Orgeln und Klaviere werden durch harmonische Instrumente ersetzt, die man so leicht handhaben kann wie Drehorgeln! Dichtungen werden verdrängt durch interessante Gesellschaft und Unterhaltung. Die Menschen werden aus der Kinderei herauswachsen, mit der sie sich an Geschichten ergötzten, die ihnen groß gewordene Kinder wie Romandichter und dergleichen erzählten! Man wird der verrückten Konfusion ein Ende machen, die sich hinter dem Gesamtnamen Kunst verbirgt, und die Narretei und Täuschung unserer Theateraufführungen wird man beseitigen, um dem Menschen eine höhere Kenntnis seines eigenen Wesens zu geben! Jeder Künstler ein Amateur, und dementsprechend Rückkehr zu der alten, gesunden Ansicht, daß jeder, der mit der Kunst sein Brot verdienen will, als ein Vagabund betrachtet wird und aus der Reihe der anständigen Menschen verjagt wird!« »Worauf die Künstler verhungern und wir keine Kunst mehr haben.« »Mein Herr,« sagte Trefusis, den dieses Wort erregt hatte, »ich als Sozialist kann Ihnen erzählen, daß heute das Verhungern unmöglich ist, wenn nicht, wie in England, freie Männer mit Gewalt verhindert werden, ihre nötige Nahrung zu produzieren. Und Sie als Künstler können mir erzählen, daß heute alle großen Künstler verhungern müssen, wenn sie nicht durch Mildtätigkeit, eigenes Vermögen oder durch mühsame Lohnarbeit, die sie von ihrem eigentlichen Beruf abbringt, am Leben gehalten werden.« »Oh,« sagte Erskine. »Dann haben schließlich die Sozialisten sehr wenig Sympathie mit den Künstlern.« »Ich fürchte,« sagte Trefusis und nahm sich zusammen, so daß er wieder ruhig sprach, »wenn ein Sozialist hört, daß man für eine Zeichnung, die Andrea del Sarto gerne für einen Schilling verkaufte, hundert Pfund bezahlt, dann quält er sein Herz nicht mit Mitleid für den angeblichen Verlust der Künstler, wie das die modernen Kapitalisten tun. Und doch ist das heutzutage der einzige Weg, um Sympathie für die alten Meister zu zeigen. Das ist das Schlimme an der Sache, wenn Sie Ihre Zeichnungen verkaufen wollen, dann haben sie noch nicht diesen Marktwert. Aber,« fügte er, sich schüttelnd, hinzu und sah sich fröhlich um, »ich bin nicht hierher gekommen, um Fachgespräche zu führen. Wir wollen nicht an die Sündflut denken und uns auf unsere Art weiter vergnügen.« »Nein,« sagte Jane. »Reden Sie nur über Kunst. Es ist eine solche Erlösung, wenn man jemand vernünftig darüber sprechen hört. Ich hasse das Radieren. Man bekommt schlechte Augen davon -- wenigstens hat die Säure Sir Charles' Augen angegriffen, und der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Abzug besteht nur in der Einbildung, höchstens, daß der letzte Abzug schlechter ist als der -- da ist das Essen!« Sie gingen dann hinab. Trefusis saß zwischen Agatha und Lady Brandon, mit der er sich ausschließlich unterhielt. Sie plauderten zusammen, ohne daß sie sich viel durch das Geschäft des Essens stören ließen. Denn Jane hatte trotz ihres Umfangs nur einen geringen Appetit und fürchtete sich, zu fett zu werden, und Trefusis war grundsätzlich mäßig. Sir Charles zeigte sich ungewöhnlich schweigsam. Er fürchtete sich, über Kunst zu reden, damit ihm nicht Trefusis widersprechen sollte, der, wie er schon fühlte, sich weniger daraus machte, aber mehr davon verstand als er selbst. Nachdem er Agatha zuerst ein paar Bemerkungen über die Schönheit des erwachenden Frühlings gesagt und sie dann gefragt hatte, ob sie von der Reise ermüdet sei, hatte er auch alles gesagt, was ihm bei einem solchen ersten Zusammentreffen einfallen konnte. Sie selbst richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Trefusis, der nach ihrer Meinung doch wissen mußte, daß ihm alle mit Ausnahme von Jane feindlich gesinnt waren. Aber er schien ebenso selbstzufrieden zu sein wie damals, als er sie zum Narren gehalten hatte. Dieser Gedanke stumpfte ihren Zorn ab. Sie zweifelte nicht an ihrer aufrichtigen Antipathie gegen ihn, obgleich sich heimlich in ihr ein Widerspruch regte, als sie sich einredete, sie sei unzufrieden, ihn wieder zu treffen und sie wolle nicht mit ihm sprechen. Gertrude gab inzwischen Erskine kurze Antworten und lauschte auf Trefusis. Sie hatte aus dem häuslichen Gezänke der letzten Tage so viel entnommen, daß Lady Brandon gegen den Willen ihres Mannes einen berüchtigten Demagogen, den reichen Sohn eines erfolgreichen Baumwollspinners, zu einem Besuch auf Beeches eingeladen hatte. Sie war entschlossen, solch einen Mann von oben herab zu behandeln. Als sie aber den längst vergessenen Smilasch wiedererkannte, war sie so erstaunt, daß sie nicht wußte, was sie tun sollte. So verharrte sie in steifem Schweigen, und um nichts Unpassendes zu tun, tat sie gar nichts, wie das die Gewohnheit der englischen Damen in solchen Fällen ist. Nach und nach hatte dann sein unbefangenes Selbstbewußtsein sie ebenso gefesselt wie die andern, und ihre Absicht, ihn verächtlich zu behandeln, verschwand, wie so viele Vorsätze, die man nicht ausführt. Erskine blieb allein frei von dem Einfluß des Eindringlings. Er wünschte sich selbst an einen andern Ort, aber abgesehen von Gertrude störte ihn die Gegenwart oder Abwesenheit irgendeines Menschen sehr wenig. »Wie geht es den Jansenius'?« fragte Trefusis plötzlich und wandte sich an Agatha. »Danke, es geht ihnen sehr gut,« sagte sie in gemessenem Tone. »Ich traf kürzlich John Jansenius in der Stadt. Sie kennen Jansenius?« fügte er zu Sir Charles gewendet bei. »Cotmans Bank -- der letzte Cotman, der in der Firma war, starb, bevor wir geboren wurden. Der Präsident der Transkanadischen Eisenbahngesellschaft.« »Ich kenne den Namen. Ich bin selten in der City.« »Natürlich,« stimmte Trefusis bei. »Denn wer wollte sich wohl selbst damit quälen und sich, ohne dazu gezwungen zu sein, unter eine solche Sklavenmenge begeben? Ich meine natürlich Sklaven des Mammon. In Cornhill an ihren Gesichtern vorbei Spießruten zu laufen, das kann einen feinfühlenden Mann auf Stunden zur Verzweiflung bringen. Nun, Jansenius, der eine hohe Stellung am Hofe Mammons einnimmt, sieht sich dort nach einem guten Posten für seinen Sohn um. Jansenius ist übrigens der Vormund von Miß Wylie und der Vater meiner verstorbenen Frau.« Agatha hätte dem am liebsten widersprochen, da es aber wahr war, mußte sie es ruhig anhören. Sie wollte aber zeigen, daß die Beziehungen zwischen ihrer Familie und Trefusis keine herzlichen seien, und fragte absichtlich: »Hat Mr. Jansenius mit Ihnen gesprochen?« Gertrude blickte auf, als sei das eine unpassende Bemerkung für eine Dame. »Ja,« sagte Trefusis. »Wir sind die besten Freunde in der Welt -- wenigstens so weit das möglich ist. Er wollte meine Unterschrift zu einem Fonds haben, der den Armen aus Eastend dadurch hilft, daß er ihnen die Auswanderung möglich macht.« »Ich nehme an, Sie haben reichlich gezeichnet,« sagte Erskine. »Das war doch eine Gelegenheit, auch _praktisch_ etwas Gutes zu tun.« »Ich hab es nicht getan,« sagte Trefusis und lächelte über den Spott. »Diese Transkanadische Eisenbahngesellschaft hat von der kanadischen Regierung eine große Menge mageres Land umsonst erhalten. Sie hält es nun für eine gute Idee, englische Arbeiter dort anzusiedeln und eine Rente von ihnen zu beziehen. Viele englische Arbeiter, die durch Maschinen, billige fremde Arbeit oder durch sonst etwas brotlos geworden waren, wollten gerne gehen. Da sie aber die Überfahrt nach Kanada nicht bezahlen konnten, wandte sich die Gesellschaft an die öffentliche Mildtätigkeit, durch Unterzeichnung für sie zu bezahlen, da der Wechsel ihre elende Lage verbessern werde. Ich sah aber nicht ein, warum ich Geld ausgeben sollte, um eine reiche Gesellschaft mit Farmern zu versehen, und ich sagte das auch Jansenius. Er entgegnete, wenn es auf Geld und nicht auf Redensarten ankäme, dann würden die englischen Arbeiter bald einsehen, wer ihre wirklichen Freunde seien.« »Ich verstehe nichts von solchen Fragen,« sagte Sir Charles und machte ein Gesicht, als ob er etwas Überzeugendes vorbrächte. »Aber ich sehe nicht ein, was man gegen die Auswanderung vorbringen könnte.« »Die Idee der Auswanderung,« entgegnete Trefusis, »ist wirklich eine für uns gefährliche. Machen Sie den Arbeiter erst damit vertraut, dann wird er eines Tages einsehen, was für eine famose Sache das ist, wenn er mich und Sie und das Oberhaus mit der ganzen Sippe müßiger Besitzer nach St. Helena verschickt und uns als Entschädigung ein reizendes Geschenk mit der Insel macht. Wir sind solch ein ruheloses, unglückliches Geschlecht, daß ich nicht weiß, ob das Ganze nicht auch für uns gut sein werde. Die Arbeiter würden nichts verlieren außer dem Anblick unserer eleganten Person, unserer feinen Manieren und unseres delikaten Geschmacks. Vielleicht schützen sie sich gegen diesen Verlust, indem sie ein paar von uns herauswählen und als Zierrat benutzen. Keine Nation, die Sinn für Schönheit hat, würde Lady Brandon oder Miß Lindsay oder Miß Wylie verjagen.« »Solch ein Unsinn!« sagte Jane. »Sie werden es kaum glauben, wieviel Geld ich schon ausgegeben habe, um Arbeiter ins Ausland zu senden, trotzdem das ja nach meiner Ansicht nicht im Interesse des Landes liegt,« fuhr Trefusis, zu Erskine gewandt, fort. »Sobald ich einen Arbeiter bekehrt habe, benutzt er die erstbeste Gelegenheit, um irgendwo in einer Rede seine neuen Ansichten darzulegen. Sein Brotherr entläßt ihn dann, er gibt ihm den Laufpaß, wie man sagt. Die Entlassung ist das Schwert des Kapitalisten, und der Hunger hält es stets scharf für ihn. Sein Schild ist das Gesetz, das durch seine eigene Klasse ausdrücklich zu dem Zwecke gemacht ist. So gewappnet, ruiniert er meinen armen Bekehrten, und dieser kommt in seinem Elend zu mir und bittet um meine Hilfe. Da ich ihm für sein ganzes Leben keine Rente bezahlen kann, schaffe ich ihn mir vom Halse, indem ich ihm helfe, auszuwandern. Manchmal geht es ihm gut, und er bezahlt mir das Geld zurück. Mitunter höre ich auch nichts mehr von ihm, oder er kommt, wie er vorher gewesen war, wieder zurück. Ein Mann, den ich nach Amerika sandte, erwarb sich ein Vermögen, aber er war kein Sozialdemokrat. Er war ein Handlungsgehilfe, der eine Unterschlagung gemacht hatte und sich an mich um eine Unterstützung wandte, weil er glaubte, ich halte es für eine sehr verdienstliche Sache, einem Kapitalisten die Kasse zu bestehlen.« »Er war jedenfalls ein praktischer Sozialist,« sagte Erskine. »Im Gegenteil, er war ein etwas zu habgieriger Individualist. Aber wie es auch sei, ich ermöglichte es ihm, seine Unterschlagung wieder gut zu machen -- in der City kann man jede Unterschlagung wieder gut machen, wenn man das Geld zurückzahlt -- und nach Neuyork zu gehen. Aber er wußte es besser als ich, denn er erwarb sich ein Vermögen, indem er mit Geld spekulierte, das nur in der Einbildung derer existierte, mit denen er Geschäfte machte. _Er_ hat mir nie etwas zurückbezahlt. Er ist offenbar ein viel zu guter Geschäftsmann, um Geld zurückzuzahlen, das man ihm nicht durch gesetzliche Mittel oder Abschneidung des Kredits abnehmen kann. Mr. Erskine,« fügte Trefusis, zu dem Dichter gewandt, mit ruhigerer Stimme hinzu, »es ist unrecht, daß Sie gegen Ihre eigene Natur die Partei von Halunken und Glücksjägern nehmen, selbst wenn diese von einem Mann angegriffen werden, der das Photographieren dem Radieren vorzieht.« »Aber ich versichere Ihnen -- Sie mißverstehen mich wirklich,« sagte Erskine verwirrt. »Ich --« Er stockte, blickte Sir Charles um Hilfe an und sagte dann lebhaft: »Ich zweifle nicht, daß Sie völlig recht haben. Ich hasse Geschäfte und Geschäftsmenschen, und was die sozialen Fragen angeht, so habe ich da nur einen Glaubensartikel, daß das einzige Schöne im Menschenleben die schöne Kunst ist.« »Und ich glaube, daß das einzige Schöne in der Kunst das Menschenleben ist. Die Kunst wächst, wenn die Menschen wachsen, und sie verkommt, wenn die Menschen verkommen. Was ist Ihre Meinung?« »Ich stimme in mancher Beziehung mit Ihnen überein,« entgegnete Sir Charles nervös, denn ein Mangel an Interesse für seine Mitmenschen und ein Übermaß von Interesse für sich selbst waren die Ursache, daß er nichts von sozialen Dingen verstand. Da er aber glaubte, ein Baronet müßte das eigentlich auch wissen, fürchtete er sich natürlich, irgend jemand zu widersprechen, der in zuversichtlicher Weise davon anfing. »Wenn Sie an Kunstsachen Interesse haben, kann ich Ihnen, glaube ich, manches Sehenswerte zeigen.« »Das wird mich freuen. Ich werde Ihnen dafür gelegentlich eine Sammlung von Photographien zeigen, von denen ich viele selbst aufgenommen habe. Vielleicht wird sie Ihnen einige Belehrung bieten.« »Ohne Zweifel,« sagte Sir Charles. »Wollen wir zur Galerie zurückkehren? Ich habe da ein paar Schätze, die die Photographie so bald noch nicht übertreffen wird.« »Ich denke, wir gehen durch das Gewächshaus,« sagte Jane. »Lieben Sie Blumen, Mr. Smi-- Nie kann ich mich doch auf Ihren richtigen Namen besinnen.« »Das ist seltsam,« sagte Trefusis. Sie erhoben sich und betraten ein langgestrecktes Treibhaus. Lady Brandon hatte Erskine an ihrer Seite -- Sir Charles und Gertrude gingen vor ihr. Aber sie sah sich nach Trefusis um, denn sie beabsichtigte, unter dem Vorwand, ihm die Blumen zu zeigen, ein wenig mit ihm zu flirten. Er war nicht zu sehen, aber sie hörte seine Schritte auf dem Wege an der andern Seite des Gewächshauses. Agatha war ebenfalls nicht zu sehen. Jane, die diese Anordnung nicht ändern durfte, wenn sie nicht ihre Absicht auffällig machen wollte, mußte mit Erskine weitergehen. Agatha hatte ohne jede Absicht den andern Durchgang betreten. Als sie sah, was sie getan hatte, und sich wirklich ganz allein mit Trefusis, der ihr gefolgt war, fand, tadelte sie ihn deswegen und war schon dabei, zurückzugehen, als er kühl bemerkte: »Waren Sie bestürzt, als Sie von Henriettas plötzlichem Tod hörten?« Agatha kämpfte einen Augenblick mit sich selbst und sagte dann mit unterdrückter Stimme: »Wie können Sie es wagen, mit mir zu sprechen?« »Warum nicht?« fragte er erstaunt. »Ich will mich nicht in eine Auseinandersetzung mit Ihnen einlassen. Sie wissen ganz gut, was ich meine.« »Sie glauben, Sie wären durch mich beleidigt. Das ist klar genug. Aber wenn ich von einer jungen Dame in freundlichster Weise scheide und sie mich nach Jahren, während derer ich sie nicht gesehen und ihr nicht geschrieben habe, gefragt werde, wie ich es wagen dürfte, mit ihr zu reden, dann bin ich natürlich erstaunt.« »Wir schieden nicht in freundlichster Weise.« Trefusis spannte seine Augenbrauen an, als ob er sein Gedächtnis anspannen wollte. »Wenn wir es nicht taten,« sagte er, »so habe ich es auf mein Ehrenwort vergessen. Wann schieden wir voneinander, und was geschah da? Es kann nichts sehr Ernsthaftes gewesen sein, sonst müßte ich mich dessen erinnern.« Seine Vergeßlichkeit verwundete Agatha. »Sie sind zweifellos sehr daran gewöhnt --« Sie unterbrach sich selbst, und es gelang ihr schnell, wieder in ihren gewöhnlichen Unterhaltungston einem Herrn gegenüber zu kommen. »Jetzt, da ich nachdenke, erinnere ich mich kaum, was es eigentlich war. Wahrscheinlich irgendeine Kleinigkeit. Lieben Sie Orchideen?« »Die haben jetzt nichts mit unserer Sache zu tun. Die Orchideen interessieren Sie auch gar nicht so, sie wollen nur von dem Mißverständnis davonlaufen, anstatt es aufzuklären. Das ist immer eine kurzsichtige Politik.« Agatha wurde unruhig, denn sie fühlte, wie sein früherer Einfluß sie wieder überkam. »Ich habe nicht den Wunsch, darüber zu sprechen,« sagte sie fest. Ihre Festigkeit war bei ihm verloren. »Ich weiß noch immer nicht, worum es sich überhaupt handelt,« sagte er. »Aber ich möchte es wissen, denn ich glaube, es liegt da ein Mißverständnis vor, und es ist eine Gewohnheit Ihres Geschlechts, Mißverständnisse zu verewigen, indem Sie sich jede Anspielung darauf verbitten. Als ich Lyvern so schnell verließ, habe ich vielleicht vergessen, ein Versprechen zu erfüllen oder Lebewohl zu sagen oder sonst irgend etwas. Aber wissen Sie, wie plötzlich ich weggerufen wurde? Ich erhielt eine telegraphische Nachricht, daß Henrietta im Sterben liege, und ich hatte kaum die Zeit, meine Kleider zu wechseln -- Sie erinnern sich ja an meine Vermummung -- um den Zug zu erreichen. Und schließlich war sie schon tot, als ich ankam.« »Ich weiß das,« sagte Agatha ängstlich. »Bitte, sagen Sie nichts mehr darüber.« »Nicht, wenn es Sie betrübt. Hoffentlich denken Sie aber auch nicht, ich machte Ihnen Vorwürfe wegen Ihres Anteils an der Sache, oder ich hätte Jansenius davon erzählt. Das tat ich nicht. Ob ich Orchideen liebe? Ja. Eine Pflanze, die auf einem Holzbrettchen leben kann, ist ein Beweis für die Sparsamkeit der Natur --« »_Sie_ machen _mir_ Vorwürfe!« schrie Agatha. »Ich habe es nie den Jansenius' erzählt. Was würden sie von Ihnen gedacht haben, wenn ich es getan hätte?« »Sie hätten schlimmer über Sie gedacht als über mich, natürlich mit Unrecht. Sie waren die unmittelbare Ursache der Tragödie, ich nur die entfernte. Jansenius ist nicht weitblickend, wenn seine Gefühle gekränkt werden. Die wenigsten Männer sind das.« »Ich verstehe Sie nicht im mindesten. Welche Tragödie meinen Sie?« »Henriettas Tod. Ich nenne ihn konventionell eine Tragödie, obgleich er natürlich in Wirklichkeit nichts Ungewöhnliches an sich hatte.« Agatha machte eine Pause und starrte ihn an. »Was soll das heißen, was Sie jetzt sagten? Ich sei die unmittelbare Ursache der Tragödie, und Sie reden von Henriettas -- von Henrietta? Ich hatte mit ihrer Krankheit nichts zu tun.« Trefusis sah sie an, als überlegte er, ob er weitergehen sollte. Dann sagte er, indem er sie mit der Neugierde eines Vivisektors beobachtete: »Es ist seltsam, Agatha« -- sie fuhr stolz zurück, als sie den Namen hörte, »aber wenn Sie nicht gewesen wären, lebte Henrietta vielleicht noch. Ich bin sehr froh, daß sie es nicht tut, und so brauchen Sie sich also meinetwegen keine Vorwürfe zu machen. Sie starb durch eine Reise nach Lyvern, die sie in großer Erregung und Trauer und bei außerordentlich kaltem Wetter machte. Sie veranlaßten sie zu der Reise, denn Sie schrieben ihr einen Brief, der sie eifersüchtig machte.« »Wollen Sie mir etwa vorwerfen --« »Halt! Nein,« sagte er schnell, und seine ganze Vivisektionslust verging vor ihrer zitternden Stimme. »Ich werfe Ihnen gar nichts vor. Warum sprechen Sie nicht aufrichtig zu mir, wenn Sie in Ihrer gewöhnlichen Stimmung sind? Wenn Sie Ihre wirkliche Ansicht nur auf der Folter gestehen, wer sollte nicht Lust bekommen, Sie zu foltern? Man muß Ihnen gleich eine Mordtat vorwerfen, damit Sie von etwas anderm als Orchideen sprechen.« Aber Agatha hatte durch ihre früheren Erfahrungen gelernt und wollte sich nicht mundtot machen lassen. »Es war nicht meine Schuld,« sagte sie. »Es war Ihre -- ganz allein Ihre Schuld.« »Ganz allein meine Schuld,« stimmte er zu und war froh, Sie unwillig statt ängstlich zu finden. Diese wörtliche Zustimmung besänftigte sie nicht. »Ihr Benehmen war eines Mannes sehr unwürdig. Ich habe Ihnen das auch gesagt, und Sie konnten es nicht leugnen. Sie behaupteten, daß Sie -- Sie behaupteten, Sie hätten Gefühle -- Sie gaben sich Mühe, mir den Glauben daran beizubringen -- Oh, was bin ich töricht, daß ich mit Ihnen rede. Sie wissen ganz gut, was ich meine.« »Vollständig. Ich versuchte, Ihnen den Glauben beizubringen, daß ich Sie liebte. Woher wissen Sie, daß es nicht wahr war?« Sie verschmähte es, zu antworten. Aber da er ruhig wartete, sagte sie: »Sie hatten kein Recht, in mich verliebt zu sein.« »Das ist kein Beweis dagegen, daß ich es nicht doch war. Sehen Sie, Agatha, Sie gaben vor, mich zu lieben, und es lag Ihnen doch gar nichts an mir. Das sprachen Sie deutlich genug in jenem Unglücksbrief aus, den ich noch irgendwo zu Hause habe. Er ist quer durchgerissen, und die Spur von ihrem Absatz ist noch daran zu sehen. Das arme Mädchen muß ihn in ihrem Zorn mit Füßen getreten haben. So kann ich Ihnen also Ihre eigene Handschrift als Beweis zeigen, daß Sie mit mir gespielt haben, und Sie klagen mich -- ohne jeden Beweis -- an, ich hätte Sie getäuscht.« »Sie sind klug und können alles verdrehen. Welch ein Vergnügen macht es Ihnen, mich zu quälen?« »Ha!« rief er in einem abgebrochenen, bitteren Lachen. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, Sie behexen mich.« Agatha gab keine Antwort und ging ruhig zu dem Ende des Gewächshauses, wo die andern auf sie warteten. »Wo haben Sie gesteckt und was haben Sie die ganze Zeit über angefangen?« fragte Jane, als Trefusis eilig hinter Agatha herkam. »Ich weiß nicht, wie Sie das nennen, ich nenne es einfach ungehörig.« Sir Charles errötete über das schlechte Benehmen seiner Frau, und Trefusis erwiderte ruhig: »Wir haben die Orchideen bewundert und uns darüber unterhalten. Miß Wylie interessiert sich dafür.« Dreizehntes Kapitel. Eines Morgens erhielt Gertrude von ihrem Vater einen Brief: _Meine liebe Gerty_, ich habe grade von Madame Smith eine Rechnung von 110 Pfund für Deine Kleider erhalten. Darf ich mir vielleicht die Frage erlauben, wie lange das noch so weitergehen soll? Ich brauche Dir wohl nicht zu erzählen, daß ich nicht die Mittel habe, eine solche Verschwendung noch fernerhin zu unterstützen. Ich bin, wie Du weißt, immer ängstlich besorgt, daß Du Deiner Stellung entsprechend auftreten kannst. Aber wenn das nicht anders geht, als daß ich dabei jede Saison Hunderte von Pfund an Madame Smith wegwerfen muß, dann ist es besser, wenn Du die Gesellschaft aufgibst und zu Hause bleibst. Ich kann es tatsächlich nicht aufbringen. Soviel ich sehe, hat das ganze Gesellschaftsleben Dir nicht viel genützt. Vorigen Monat mußte ich 500 Pfund bei Franklands erheben, und es wäre noch schöner, wenn ich noch mehr erheben müßte, um Deine Kleidermacherin zu bezahlen. Wenn Du wenigstens eine Privatperson beschäftigtest, oder eine, die keine solche Preise macht. Madame Smith erklärt mir, sie will nicht länger warten, und sie verlangt für jedes einzelne Kleid 60 Pfund. Ich hoffe, Du hast mich jetzt richtig verstanden, daß diese Sache ein Ende haben muß. Ich höre von Deiner Mutter, daß sich der junge Erskine mit Dir bei den Brandons aufhält. Ich halte nicht viel von ihm. Er ist nicht wohlhabend und wird es auch kaum werden, da er sich mit Poesie und dergleichen abgibt. Und dann habe ich gehört, daß ein Mann namens Trefusis jetzt sehr oft Beeches besucht. Er muß ein Narr sein, denn er trat bei der letzten Wahl in Birmingham als Kandidat auf und erhielt ganze zweiunddreißig Stimmen, weil er sich als Sozialdemokrat oder mit einem ähnlichen ausländischen Unsinn bezeichnete, statt wie ein Mann zu sagen, er sei ein Radikaler. Ich glaube, der Name blieb ihm in der Kehle stecken, denn seine Mutter war eine von den Howards auf Breconcastle. So fließt gutes Blut in ihm, obgleich sein Vater ein Niemand war. Ich wollte, er hätte Deine Rechnungen zu bezahlen. Er kann mich zehnmal kaufen und verkaufen, trotz meiner fünfundzwanzig Jahre Staatsdienst. Da ich vorhabe, das Haus etwas instand setzen zu lassen, so wäre es mir lieb, wenn Du diesen Monat noch nicht zurückkämst, falls Du Dich nur irgendwie bei den Brandons halten könntest. Empfehle mich ihm und bestelle seiner Frau meine freundlichsten Grüße. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du einige Schierlingblätter bekommen könntest und sie mir zuschicktest. Ich brauche sie für meine Salbe. Das Zeug, das die Apotheker verkaufen, taugt nichts. Deine Mutter leidet wieder an den Augen, und Dein Bruder Berkeley hat gespielt. Er scheint zu glauben, ich müßte seine Schulden bezahlen. Das alles macht mir vielen Kummer, und ich hoffe, daß Du bis zu Deiner Verheiratung vernünftiger bleibst und mir nicht mehr diese immerwährenden Rechnungen auf den Hals schickst. Du genießest das Leben und bist fern von allem Unangenehmen, aber es lastet doch schwer auf Deinem Dich liebenden Vater C. B. Lindsay. Ganz schwache Falten, die ersten Anzeichen des beginnenden Alters, erschienen auf Gertrudes Gesicht, als sie den Brief las. Aber sie beeilte sich, die Grüße des Admirals ihren Wirtsleuten mitzuteilen, und besprach dann mit ihnen voll Mitgefühl den Gesundheitszustand ihrer Mutter. Nach dem Frühstück ging sie in die Bibliothek und schrieb ihre Antwort: Brandon Beeches. Dienstag. _Lieber Papa_, es sind drei Jahre her, daß Du zuletzt eine Rechnung an Madame Smith bezahlt hast, und damals machte es einschließlich meines Kleides für den Hof nur 150 Pfund aus. Ich sehe daher nicht ein, wie ich noch sparsamer sein kann, außer ich muß in Lumpen gehen. Es tut mir leid, daß Madame Smith zu so ungelegener Zeit um Bezahlung gebeten hat, aber als ich Dir im März vorigen Jahres riet, ihr etwas zu bezahlen, sagtest Du mir, ich sollte sie durch einen guten Auftrag beruhigen. Ich wundere mich gar nicht über ihre Unhöflichkeit, denn sie hat unter ihren Kundinnen eine Menge Kaufmannstöchter, die ihr für ihre Kleider mehr als 300 Pfund im Jahr bezahlen. Ich trage jetzt einen Rock, den ich vor zwei Jahren erhielt. Sir Charles fährt Donnerstag in die Stadt, er wird Dir den Schierling mitbringen. Sage Mama, daß hier eine alte Frau wohnt, die ein wunderbares Mittel gegen schlechte Augen kennt. Sie will die einzelnen Bestandteile nicht nennen, aber es kuriert jeden. Es hat auch keinen Zweck, einem Augenarzt zwei Guineen zu geben, damit der uns erzählt, daß das Lesen im Bett schädlich für die Augen ist. Wir wissen ja doch ganz gut, daß Mama diese Gewohnheit nie aufgibt. Wenn Du Berkeleys Schulden bezahlst, dann vergiß nicht, daß ich noch von ihm drei Pfund bekomme. Es ist noch eine andere Schulfreundin von mir hier auf Besuch, und ich glaube, Mr. Trefusis wird noch einmal das Vergnügen haben, ihre Rechnungen zu bezahlen. Er ist ein großer Liebling von Lady Brandon. Sir Charles war zuerst böse, weil sie ihn einlud, und wir wunderten uns alle darüber. Der Mann hat einen schlechten Ruf, und er führte einen Pöbelhaufen an, der die Mauern des Parks niederriß. Wir glaubten auch kaum, daß er den Mut haben würde, nach alledem noch zu erscheinen. Aber er scheint sich nichts daraus zu machen, ob wir ihn gern hier haben oder nicht, und er kommt, wenn er will. Da er interessant redet, betrachten wir ihn als ein Geschenk Gottes an diesem öden Platz. Es ist wirklich nicht solch ein Paradies, wie Du denkst. Aber Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich früher zurückkomme, als ich dazu gezwungen bin. Deine Dich liebende Tochter Gertrude Lindsay. Als Gertrude den Brief geschlossen und den ihres Vaters zerrissen hatte, dachte sie noch etwas über beide nach. Sie hätten sie vielleicht unglücklich gemacht, wenn sie vorher glücklich gewesen wäre. Aber hoffnungslose Unzufriedenheit war jetzt ihr gewöhnlicher Zustand und Fröhlichkeit ein seltener Zufall. Daher versetzten diese gegenseitigen Beschuldigungen in dem Briefwechsel mit ihrem Vater sie höchstens in eine schlechte Laune, aber sie wurde dadurch nicht im mindesten enttäuscht oder gedemütigt. Um etwas Bewegung zu haben, beschloß sie, den Brief selbst zu dem Postamt im Dorfe hinzutragen und den Riverside Road zurückzukehren. Sie hatte dort Schierling stehen sehen. Sie gab sich Mühe, ungesehen hinauszukommen, denn sie fürchtete, daß Agatha sich anschließen wollte oder daß Jane vorschlagen würde, sie sollten nachmittags zum Postamt hinausfahren. Und Jane wäre den ganzen Tag verdrießlich gewesen, wenn der Ausflug nicht auf den Nachmittag verlegt worden wäre. Gertrude nahm zum Schutz gegen Stromer einen großen Berhardinerhund namens Max mit. Dieses junge, lebhafte Tier hatte eine starke Zuneigung zu ihr und hatte das offen und stürmisch zum Ausdruck gebracht. Und sie, deren Gefühle zu Hause und in der Gesellschaft verhungert waren, hatte ihn mit mehr Freundlichkeit ermutigt, als sie jemals einem menschlichen Wesen gezeigt hatte. Als sie im Dorf den Brief aufgegeben hatte, schlug sie einen Pfad ein, der zum Riverside Road führte. Max, der nicht wußte, warum sie den längsten Weg nach Hause wählte, war damit nicht zufrieden. Er blieb mitten auf dem Pfade stehen, wedelte heftig mit dem Schwanz und ließ ein mürrisches Bellen hören. »Sei nicht so dumm,« sagte Gertrude ungeduldig, »ich gehe diesen Weg.« Max verstand sie jetzt offenbar. Er flog hinter ihr her, überholte sie und verschwand in einer Wolke von Staub, die er aufgewirbelt hatte, als er genügend vorausgelaufen war und nun plötzlich halt machte. Als er zurückkam, küßte sie seine Schnauze und lief mit ihm um die Wette, bis sie ebenso keuchte wie er und stehenblieb, um Atem zu schöpfen, während er herumsprang und wütend bellte. Seit Jahren hatte sie nicht mehr solchen Spaß gehabt, und da ihr das einfiel, kamen ihr die Tränen in die Augen. Etwas verdrießlich bat sie Max, ruhig zu sein, ging langsam weiter, um sich abzukühlen, und spannte ihren Sonnenschirm auf zum Schutze gegen Sommersprossen. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Zur Rechten von Gertrude an einer Böschung stand Sallusts Haus und gab mit seinen zimtbraunen Wänden und dem gelben Fries der sonst ganz englischen Landschaft ein fremdartiges Gepräge. Sie ging vorbei, ohne daran zu denken, wer dort wohnte. Etwas weiter auf dem Wege, auf einem Stück wüsten Landes, das durch einen trockenen Graben und einen niedrigen Erdwall von der Straße getrennt war, stand ein fast sechs Fuß hoher Haufen von Schierlingpflanzen und vergiftete die Luft mit seinem Geruch. Sie kreuzte den Graben, nahm ein Paar Gartenhandschuhe aus ihrem aus Stroh geflochtenen Handkorb und machte sich eifrig an die Schierlingsblätter, indem sie die zartesten abriß, sie von den Stengeln befreite und den Korb mit dem Grün anfüllte. Sie vergaß Max, bis das Gefühl eines tödlichen Schweigens, als ob die ganze Erde erstarrt sei, sie veranlaßte, in unbestimmter Angst um sich zu blicken. Trefusis stand ganz in ihrer Nähe und beobachtete sie. Er hatte seine Hand dem Hunde zum Spielen überlassen, der versuchte, sie ganz in seinen Mund hineinzuziehen. Gertrude erblaßte und kam schnell zwischen den Sträuchern hervor. Dann hatte sie die seltsame Empfindung, als ob hoch über ihrem Kopfe irgend etwas geschehen sei. Sie hörte ein drohendes Knurren, einen befehlenden Ruf, und dann folgte eine unerklärliche Stille, bis sie sich liegend auf dem Rasenrand fand, wobei der aufgespannte Sonnenschirm ihr Gesicht schützte. Ein plötzliches Lecken von Max' feuchter, warmer Zunge an ihrem Ohr brachte sie wieder zur Bewegung. Sie setzte sich auf und sah Trefusis an ihrer Seite knien. Mit ruhigem Gesicht hielt er den Sonnenschirm, während an der andern Seite Max mit rastloser Ängstlichkeit sie beschnupperte. »Ich muß nach Hause fahren,« sagte sie. »Ich muß sofort nach Hause fahren.« »Durchaus nicht,« bemerkte Trefusis begütigend. »Sie haben grade Nachricht geschickt, es sei alles in Ordnung und Sie brauchten nicht zu kommen.« »Haben sie das wirklich?« fragte sie matt. Dann fiel sie wieder hin, und es schien ihr, als ob eine sehr lange Zeit vergehe. Plötzlich fiel ihr ein, daß Trefusis sie sanft mit seiner Hand gestützt hatte, damit sie nicht zu hart zurückfiel. Sie erhob sich von neuem und kam diesmal mit seiner Hilfe auf ihre Füße zu stehen. »Ich muß nach Hause fahren,« sagte sie wieder. »Es handelt sich um Leben und Tod.« »Nein, nein,« entgegnete er sanft. »Es ist alles in Ordnung. Sie können sich auf mich verlassen.« Sie sah ihn mit ernstem Blick an. Er hielt ihre Hand, um sie zu stützen, denn sie schwankte ein wenig. »Sind Sie sicher?« fragte sie und ergriff ihn beim Arm. »Sind Sie ganz sicher?« »Vollständig sicher. Sie wissen doch, daß ich immer recht habe.« »Ja, o ja! Sie sind immer aufrichtig gegen mich gewesen. Sie --« Hier kehrte plötzlich ihre Besinnung wieder. Sie ließ seine Hand fahren, als ob sie rotglühend geworden sei, und fragte scharf: »Wovon sprechen Sie eigentlich?« »Ich weiß es nicht,« antwortete er und nahm lachend sein gleichgültiges Wesen wieder an. »Geht es Ihnen besser? Ich werde Sie nach Beeches fahren. Mein Stall liegt nur einen Steinwurf von hier entfernt. Ich kann in zehn Minuten ein Gespann haben.« »Nein, danke sehr,« sagte Gertrude stolz. »Ich will nicht fahren.« Sie machte eine Pause und fügte etwas verwirrt hinzu: »Was ist geschehen?« »Sie wurden ohnmächtig, und --« »Ich wurde nicht ohnmächtig,« sagte Gertrude unwillig. »Ich bin in meinem Leben noch nicht ohnmächtig geworden.« »Es ist aber so.« »Verzeihen Sie, Mr. Trefusis. Ich wurde nicht ohnmächtig.« »Sie sollen selbst urteilen. Ich kam über dieses Feld und sah, daß Sie Schierling sammelten. Schierling ist interessant durch die Geschichte des Sokrates, und Sie waren interessant als Dame, die Gift sammelt. So blieb ich stehen und sah Sie an. Gleich darauf kamen sie aus dem Gebüsch heraus, als ob Sie eine Schlange gesehen hätten. Dann fielen Sie in meine Arme -- was mich auf die Vermutung bringt, Sie seien ohnmächtig geworden -- und Max, der glaubte, ich sei daran schuld, sprang mir fast an die Kehle. Sie wurden betäubt durch die Ausdünstung des Wasserschierlings, die Sie zehn Minuten oder noch länger eingeatmet haben müssen.« »Ich wußte nicht, daß eine Gefahr dabei war,« sagte Gertrude niedergedrückt. »Ich fühlte mich schon vorher sehr müde. Daher habe ich auch das zweitemal so lange dagelegen. Ich konnte mir wirklich nicht helfen.« »Sie haben nicht sehr lange dagelegen.« »Nicht beim erstenmal. Ich weiß, das war nur für ein paar Sekunden. Ich muß mindestens noch zehn Minuten dagelegen haben, nachdem ich wieder zu mir gekommen war.« »Sie waren ungefähr eine Minute lang ohne Besinnung, als Sie zum erstenmal fielen. Und nachdem Sie wieder zu sich gekommen waren, wurden Sie noch einmal für eine Sekunde ohnmächtig. Dann phantasierten Sie, und ich erfand passende Antworten, bis Sie mich plötzlich fragten, worüber ich redete.« Gertrude errötete etwas bei dem Gedanken, sie könnte in ihrer Verwirrung unvorsichtig geredet haben. »Es war sehr töricht von mir, daß ich ohnmächtig wurde,« sagte sie. »Es war nicht Ihre Schuld, Sie sind nur ein menschliches Wesen. Ich werde mit Ihnen nach Beeches gehen.« »Danke sehr, ich will Sie nicht bemühen,« sagte sie schnell. Er schüttelte seinen Kopf. »Ich weiß nicht, wie lange die Nachwirkung von diesem abscheulichen Giftkraut dauert,« sagte er. »Ich darf Sie jetzt nicht allein gehen lassen. Wenn Sie es vorziehen, will ich Sie durch meinen Gärtner hinfahren lassen, aber ich würde Sie am liebsten selbst begleiten.« »Sie geben sich wirklich eine ganz unnötige Mühe. Ich will gehen. Ich bin wieder ganz wohl und brauche keine Hilfe.« Sie brachen auf, ohne noch etwas zu sagen. Gertrude mußte alle ihre Willenskraft zusammennehmen, um vor ihm zu verbergen, daß sie schwindlig war. Eine betäubende Müdigkeit hatte sie ergriffen, und sie glaubte schon, daß sie nur träumte, als er sie aufweckte, indem er sagte: »Nehmen Sie meinen Arm.« »Nein, danke sehr.« »Seien Sie nicht so unvernünftig eigensinnig. Sie werden sich an die Hecke anlehnen müssen, um sich zu stützen, wenn sie meine Hilfe zurückweisen. Es tut mir leid, daß ich nicht darauf bestand, den Wagen zu holen.« Gertrude hatte eine solche Sprache seit ihrer Kindheit nicht mehr gehört. »Ich fühle mich vollkommen wohl,« sagte sie scharf. »Sie sind wirklich sehr zudringlich.« »Sie fühlen sich nicht vollkommen wohl, und Sie wissen das auch. Aber wenn Sie tapfer kämpfen, werden Sie vielleicht auch ohne meine Hilfe gehen können, und die Anstrengung wird Ihnen gut tun.« »Sie sind sehr grob,« sagte sie hartnäckig. »Ich weiß das,« entgegnete er ruhig. »Sie werden drei Klassen von Männern finden, die höflich gegen Sie sind -- Sklaven, Männer, die viel von Ihren Manieren und nichts von Ihnen selbst halten, und solche, die Sie lieben. Ich gehöre zu keiner von diesen und gebe Ihnen daher Ihre schlechten Manieren mit Zinsen zurück. Weshalb widerstehen Sie Ihrem besseren Selbst und unterdrücken solche aufrichtigen und natürlichen Regungen. Sie kommen oft genug über Sie und bringen in Ihr Gesicht einen Blick, der einen Bären zahm machen würde. Aber Sie beeilen sich, diesen Blick auszulöschen, wie ein Dieb seine Laterne auslöscht, sobald er nur einen Fußtritt hört.« »Mr. Trefusis, ich bin nicht daran gewöhnt, mich belehren zu lassen.« »Eben deswegen belehre ich Sie. Ich war neugierig, was aus Ihrer guten Erziehung, auf die Sie, wie ich glaube, großen Wert legen, wohl unter gänzlich neuartigen Umständen würde, zum Beispiel, wenn ein Mann Ihnen seine aufrichtige Meinung sagt. Was ist nun das Ergebnis meines Versuchs? Anstatt mich freundlich und würdig zurückzuweisen, was ich trotz aller früheren Beobachtungen von Ihnen erwartet habe, verbitten Sie sich in grober Weise die angebotene Hilfe, die Sie wirklich brauchen, nennen mich selbst sehr roh, sehr zudringlich und tun, kurz gesagt, was Sie können, um meine Lage unangenehm und demütigend zu machen.« Sie sah ihn hochmütig an, aber in seinem Gesicht lag nichts von Beleidigung oder Furcht, und er fuhr, da sie keine Antwort gab, fort. »Ich würde alles das von einer arbeitenden Frau ohne Einwendung ertragen, denn sie schuldet mir weder feines Benehmen noch feine Gefühle. Aber Sie sind eine Dame. Das heißt, viele haben sich in schmutzigem Elend abgequält und haben gehungert, damit Sie weiße und zarte Hände, schöne Kleider und feine Manieren haben -- daß Sie eine lebende Quelle von allem sind, was die Natur und das Leben schön macht. Wenn ein solches kostbares Ding wie eine Dame bei der ersten Berührung durch eine feste Hand zusammenbricht, dann fühle ich mich berechtigt, sie zu beklagen.« Gertrude ging schnell vorwärts und sagte zwischen den Zähnen: »Ich will nichts mehr von Ihren lächerlichen Ansichten hören, Mr. Trefusis.« Er lachte. »Meine armen Ansichten!« sagte er. »Jedesmal, wenn ich eine unbequeme Bemerkung mache, wird sie als Äußerung einer gewissen gefährlichen Verrücktheit, mit der ich behaftet sein soll, zur Seite geworfen. Wenn ich Sir Charles andeute, daß einer seiner Lieblingsmaler etwas nicht genau beobachtet hat, bevor er daranging, es zu zeichnen, dann entgegnet er: >Sie kennen unsere verschiedenen Ansichten über diese Dinge, Mr. Trefusis.< Als ich Miß Wylies Vormund sagte, sein Auswanderungsplan sei nicht viel besser als ein Betrug, meinte er: >Sie müssen mich entschuldigen, aber ich kann auf Ihre merkwürdigen Ansichten nicht eingehen.< Eine meiner augenblicklichen Ansichten ist die, daß Miß Lindsay unter dem Einfluß des Schierlings viel liebenswürdiger ist als unter dem des sozialen Systems, das sie so unglücklich gemacht hat.« »Nun gut!« rief Gertrude sehr beleidigt. Dann sagte sie nach einer Pause: »Ich glaubte, ich sei in der Begleitung eines Gentleman.« Trefusis blieb völlig ungerührt, und sie fügte nach einer weiteren Pause hinzu: »Woran sehen Sie, daß ich unglücklich bin?« »An einem gewissen Mangel in Ihrer Haltung. Ihnen fehlt die letzte Schönheit, die nur das Glück verleiht. Ich sehe es ferner an einem Mangel in Ihrer Stimme, der nie verschwinden wird, bis Sie es lernen, die zu lieben oder zu bemitleiden, mit denen Sie sprechen.« »Sie irren sich,« sagte Gertrude mit ruhiger Verachtung. »Sie verstehen mich nicht im mindesten. Ich hänge sehr an meinen Freunden.« »Dann habe ich Sie nie in ihrer Gesellschaft gesehen.« »Auch darin irren Sie sich.« »Wie können Sie denn so sprechen, blicken und handeln, wie Sie es tun?« »Was meinen Sie damit? Wie blicke oder handle ich?« »Wie einer von den Gitterstäben auf dem Belgrave Square blicken und handeln würde, wenn er Bewußtsein hätte. Er würde sich vor dem Urteil der andern Stäbe fürchten und Angst haben, aus der Reihe herauszufallen. Sie sind kalt, mißtrauisch, grausam gegen nervöse und unbeholfene Menschen, und Sie fürchten sich mehr vor der Kritik der Leute, mit denen Sie tanzen und essen, als vor Ihrem eigenen Gewissen. Wenn alles das nicht wäre, würden Sie den Blick eines Engels haben.« »Danke sehr. Sie glauben wohl, Komplimentemachen gehöre zur Vollendung eines Gentleman?« »Habe ich Ihnen schon viele gemacht? Meine letzte Bemerkung war nicht als Kompliment gemeint. Ich gebe Ihnen mein Wort, die Engel brauchten nicht lieblicher zu sein, als Sie wären, wenn Sie jenen Blick in den Augen und den Ton in der Stimme hätten, von dem ich vorhin sprach. Ich weiß nicht, wie das Ihr Mißfallen erregen kann, wenn Sie das hören. Wäre ich besonders hübsch, ich hätte es gern, wenn man mir so etwas sagte.« »Es tut mir leid, daß ich es Ihnen nicht sagen kann.« »Oh! Ha, ha! Was für eine Entgegnung, Miß Lindsay! Es tut Ihnen gar nicht leid, Sie sind sogar froh darüber.« Gertrude wußte das und war ärgerlich über sich selbst. Nicht weil ihre Entgegnung falsch war, sondern weil sie dachte, sie paßte sich nicht für eine Dame. »Sie haben kein Recht, mich zu quälen,« rief sie gegen ihren Willen aus. »Nein, das habe ich auch nicht,« bemerkte er demütig. »Und wenn ich es getan habe, so vergeben Sie mir, bevor wir voneinander scheiden. Ich will Sie jetzt nicht weiter begleiten. Max wird Lärm machen, wenn Sie auf der Allee ohnmächtig werden. Aber das wird wohl kaum geschehen, da Sie ja den ganzen Schierling vergessen haben.« »Oh, es ist zum Tollwerden!« schrie sie. »Ich habe meinen Korb liegen lassen.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich werde ihn finden und ihn Ihnen gefüllt zuschicken.« »Danke sehr. Es tut mir leid, daß ich Ihnen die Mühe mache.« »Sie machen mir keine Mühe. Hoffentlich wollen Sie nicht den Schierling dazu benützen, um sich der Last des Lebens zu entledigen.« »Unsinn. Ich brauche ihn für meinen Vater, der ihn als Heilmittel benützt.« »Ich werde ihn morgen selbst bringen. Ist das früh genug?« »Vollständig. Ich bin nicht in Eile. Danke vielmals, Mr. Trefusis. Adieu.« Sie gab ihm ihre Hand und lächelte sogar ein wenig. Dann eilte sie davon. Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie unter den Buchen die Allee hinunterging. Einmal, als sie in einen Streifen Sonnenlicht trat, das durch eine Öffnung zwischen den Buchenkronen durchbrach, gab sie in ihrem violett und weißen Frühlingskleid ein so hübsches Bild, daß seine Augen leuchteten, als er sie sah. Er nahm sein Notizbuch heraus und trug ihren Namen und das Datum ein mit einem kurzen Bericht. »Ich habe sie weich gemacht,« sagte er zu sich selbst, als er sein Buch wieder einsteckte. »Bevor ich von ihr scheide, soll sie eine oder zwei Lektionen lernen, die sie einmal ihren Kindern geben kann. Etwas schlecht erzogen ist sie auch, sonst würde sie nicht so viel auf ihre Erziehung geben. Henrietta pflegte gerade so ein Kleid zu tragen. Es freut mich, daß keine Gefahr dabei ist, wenn sie an mir Gefallen findet.« Er wandte sich um und sah ein altes Weib vorbeigehen, das unter einer Last Reisig gebeugt war. Er sah sie neugierig an. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und eilte weiter. »Hallo,« sagte er. Sie ging noch ein paar Schritt. Dann aber sank ihr Mut, und sie blieb stehen. »Sie sind doch Mrs. Hickling?« »Jawohl. Eure Gnaden.« »Sie sind die Frau, die letzten Winter ein altes Holzgitter, das auf Sir Charles Besitztum lag, fortnahm und als Brandholz benützte. Sie mußten dafür sieben Tage ins Gefängnis gehen.« »Sie können mich wieder hinschicken, wenn Sie wollen,« entgegnete sie, und ihre Stimme knirschte zornig. »Aber der Herr wird es Ihnen eines Tages vergelten. Verflucht seien die, die die Armen und Notleidenden bedrängen. Das ist eine von den sieben Todsünden.« »Die grünen Latten, die Sie da auf dem Rücken haben, sind die Reste meiner Gartentüre,« sagte er. »Die erste Hälfte haben Sie letzten Samstag fortgeholt. Das nächstemal, wenn Sie Feuerung gebrauchen, dann kommen Sie ins Haus und verlangen Sie Kohlen. Meinen Zaun können Sie in Ruhe lassen. Ich denke, das Feuer wird Sie auch wärmen, wenn Sie den Brennstoff nicht gestohlen haben. Und jetzt sagen Sie mir als Vergütung für das Gitter etwas, was ich wissen möchte.« »Oh, Sie sind ein gütiger Herr. Gottes Segen --« »Wozu braucht man Schierling?« »Schierling, gütiger Herr? Natürlich für die Skrofeln.« »Skrofeln!« rief er und fuhr zurück. »Der Vater von diesem schönen Mädchen!« Er wandte sich nach Hause zu und schlenderte mit gesenktem Kopf weiter, indem er murmelte: »Alles faul bis auf die Knochen. O Kultur! Kultur! Kultur!« Vierzehntes Kapitel. »Was ist eigentlich in Gertrude gefahren?« sagte Agatha eines Tages zu Lady Brandon. »Wie? Ist etwas mit ihr geschehen?« »Ich weiß es nicht. Sie ist nicht mehr dieselbe, seit sie sich vergiftet hat. Und warum hat sie nichts davon erzählt? Wenn Trefusis nicht wäre, wüßten wir es gar nicht.« »Gertrude hat immer aus allem ein Geheimnis gemacht.« »Sie war die zwei folgenden Tage in abscheulicher Laune, und jetzt ist sie ganz verändert. Sie versinkt in langes Brüten und hört kein Wort von allem, was um sie herum gesprochen wird. Dann kommt sie wieder zur Besinnung und bittet einen mit der größten Sanftmut um Verzeihung, weil sie nicht verstanden hat, was man gesagt hat.« »Ich kann sie nicht leiden, wenn sie höflich ist, das liegt nicht in ihrer Natur. Und daß sie so ins Träumen versinkt, das kommt von dem Schierling. Wir kennen einen Mann, der in einem Bad einen Löffel Strychnin nahm, und er war nachher nie wieder derselbe.« »Ich glaube, sie hat sich entschlossen, Erskine zu ermutigen,« sagte Agatha. »Als ich hierherkam, durfte er es kaum wagen, mit ihr zu sprechen -- wenigstens behandelte sie ihn sehr verächtlich. Jetzt läßt sie ihn reden, so viel er will. Sie schickt ihm sogar Nachrichten und läßt ihn ihre Sachen tragen.« »Ja. So eine wie Gertrude habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Wenn in London Männer aufmerksam gegen sie waren, warf sie ihnen Zudringlichkeit vor. Ließ man sie in Ruhe, so fühlte sie sich vernachlässigt. Nach meiner Meinung kann sie mit Erskine sehr zufrieden sein.« Hier erschien Erskine an der Türe und sah sich im Zimmer um. »Sie ist nicht hier,« sagte Jane. »Ich suche Sir Charles,« bemerkte er und zog sich etwas steif zurück. »Welch eine Lüge!« sagte Jane und war mißvergnügt, weil er ihren Scherz so aufgenommen hatte. »Er hat noch vor zehn Minuten mit Sir Charles im Billardzimmer gesprochen. Die Männer sind solche eingebildete Narren.« Agatha ging langsam an das Fenster und sah unzufrieden über die Landschaft. Früher, auf der Schule, tat sie das oft, wenn sie allein war, jetzt auch manchmal in der Gesellschaft. Die Türe wurde wieder geöffnet, und Sir Charles erschien. Auch er sah sich um, aber als sein flüchtiger Blick Agatha erreicht hatte, ließ er ihn an ihr haften und trat herein. »Haben Sie jetzt was vor, Miß Wylie?« fragte er. »Ja,« sagte Jane schnell. »Sie wollte grade einen Brief für mich schreiben.« »Wirklich, Jane,« sagte er. »Ich denke, du bist doch alt genug und kannst deine Briefe schreiben, ohne erst Miß Wylie zu bemühen.« »Wenn ich meine Briefe selbst schreibe, findest du immer Fehler daran,« entgegnete sie. »Ich dachte, Sie würden vielleicht Lust haben, mit mir ein Duett zu singen,« sagte er zu Agatha. »Gewiß,« antwortete sie und hoffte es gut zu machen, indem sie ihm willfahrte. »Der Brief wird schon vor der Postzeit fertig werden.« Jane errötete und sagte kurz: »Ich will ihn selbst schreiben, wenn du es nicht tun willst.« Sir Charles verlor jetzt seine Selbstbeherrschung. »Wie kannst du so verflucht roh sein?« fragte er seine Frau. »Was hast du dagegen einzuwenden, wenn ich mit Miß Wylie Duette singe?« »Das ist eine hübsche Sprache!« sagte Jane. »Ich habe nie behauptet, ich hätte etwas dagegen. Und du hast kein Recht, sie zum Klavier zu holen, wenn sie grade einen Brief für mich schreiben will.« »Ich will nur, daß Miß Wylie das tut, was ihr am besten gefällt. Aber Briefe an deine Handwerker zu schreiben, das scheint mir keine angenehme Beschäftigung zu sein.« »Bitte, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht,« sagte Agatha. »Es macht mir durchaus keine Mühe. Auf der Schule pflegte ich alle Briefe für Jane zu schreiben. Ich denke, ich schreibe jetzt zuerst den Brief, und dann singen wir das Duett. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn Sie fünf Minuten warten?« »Ich kann natürlich so lange warten, wie es Ihnen paßt. Aber es scheint mir so ein unvernünftiger Mißbrauch Ihrer Gutmütigkeit, daß ich unbedingt protestieren --« »Oh, laß den Brief warten!« schrie Jane. »Wie kann man nur solch einen lächerlichen Unsinn reden, weil ich Agatha bitte, mir einen Brief zu schreiben, grade wenn du von ihr deine Duette gespielt haben willst. Ich bin sicher, sie hat sie so von Herzen satt, daß es ihr übel davon wird.« Um diesem Streit zu entfliehen, ging Agatha auf die Bibliothek und schrieb den Brief. Als sie in das Gesellschaftszimmer zurückkehrte, fand sie niemand mehr vor, doch kehrte Sir Charles gleich zurück. »Es tut mir leid, Miß Wylie,« sagte er, als er ihr den Flügel aufmachte, »wenn Sie durch die lächerliche Eifersucht meiner Frau belästigt werden.« »Eifersucht!« »Natürlich. Es ist blödsinnig!« »Oh, Sie irren sich,« sagte Agatha ungläubig. »Wie könnte sie nur auf _mich_ eifersüchtig sein?« »Sie ist auf jeden und auf alles eifersüchtig,« antwortete er bitter. »Und sie kehrt sich an niemand und an gar nichts. Sie wissen nicht, was ich manchmal von ihr ausstehen muß.« Agatha hielt es für das Beste, sich sofort hinzusetzen und anzufangen: »Ich wollt, daß meine Liebe.« Während sie sang und spielte, dachte sie darüber nach, was Sir Charles grade gesagt hatte. Sie liebte seine Gesellschaft. Er war fröhlich, hatte Sinn für Musik und Spaß, war höflich und aufmerksam. Er wußte ihre Anlagen zu schätzen, war schlagfertig, ohne zu überlegen zu sein, und als verheirateter Mann ungefährlich in seiner Zuneigung. Aber jetzt schien es ihr doch, als ob sie in der letzten Zeit etwas zuviel zusammengewesen seien. Sir Charles war jetzt in ihre Tonart hineingekommen. Er erinnerte sie wieder an die Musik, indem er innehielt und sie fragte, ob er richtig spiele. Sie kannte schon aus Erfahrung die Fehler, die er gewöhnlich machte. Sie gab ihm seinen Ton an und spielte weiter. Sie hatten aber noch nicht lange gesungen, als Jane zurückkam und sich hinsetzte, wobei sie die Hoffnung ausdrückte, sie würde wohl nicht stören. Aber sie störte sie. Agatha hatte das Gefühl, sie sei nur gekommen, um sie zu überwachen, und Sir Charles wußte es. Und dann war Lady Brandon stets unruhig in ihren Bewegungen, selbst wenn sie innerlich nichts bewegte. Wegen der Musik konnte sie nicht sprechen, und obgleich sie ein aufgeschlagenes Buch in der Hand hielt, konnte sie nicht zu gleicher Zeit lesen und beobachten. Sie gähnte und lehnte sich über das eine Ende des Sofas, bis sie im Begriff war, das Gleichgewicht zu verlieren und sich mit einem mächtigen Ruck wieder aufrichtete. Der Boden zitterte bei jeder Bewegung, die sie machte. Zuletzt konnte sie nicht mehr länger schweigen. »Lieber Himmel!« sagte sie laut gähnend. »Es muß mindestens schon fünf Uhr sein.« Agatha drehte sich auf dem Klavierstuhl herum. Sie fühlte, daß die Musik und Lady Brandon sich nicht vereinigen ließen. Sir Charles gab sich seines Gastes wegen die größte Mühe, seine Erregtheit zu unterdrücken. »Das kannst du leicht auf deiner Uhr sehen,« sagte er. »Danke für die Auskunft,« sagte Jane. »Agatha, wo ist Gertrude?« »Aber Jane, wie in aller Welt kann dir denn Miß Wylie sagen, wo sie ist? Ich glaube, du bist heute verrückt geworden.« »Sie spielt wahrscheinlich mit Mr. Erskine Billard,« sagte Agatha schnell, um einer Antwort Janes und der dann unvermeidlichen Auseinandersetzung zuvorzukommen. »Ich halte es für sehr merkwürdig, daß Gertrude den ganzen Tag mit Chester im Billardzimmer ist,« sagte Jane unzufrieden. »Es ist auch nicht im geringsten etwas Unpassendes dabei,« sagte Sir Charles. »Wenn Miß Lindsay als unser Gast nicht über jede Vermutung erhaben ist, dann sollten wir uns etwas schämen. Was würdest du sagen, wenn sonst jemand eine solche Bemerkung machte?« »Ach, Unsinn,« sagte Jane verdrießlich. »Du machst wegen jeder Kleinigkeit solch ein großes Geschwätz. Ich habe gar nicht behauptet, daß sich Gertrude unpassend benehme. Sie ist nach meiner Meinung viel zu förmlich, um eine angenehme Gesellschaft zu sein.« Sir Charles war nicht imstande, sich noch länger zu beherrschen. Er machte ein finsteres Gesicht und verließ das Zimmer, während Jane ihm ein verächtliches Lachen nachsandte. »Mache niemals die Dummheit und verheirate dich,« sagte sie, als er gegangen war. Sie blickte, während sie das sagte, auf und wurde ängstlich, weil Agatha, die auf dem Flügel saß, wie in der Schulzeit eine schwingende Bewegung mit den Füßen machte. »Jane,« sagte sie und warf ihrer Wirtin einen kühlen Blick zu, »weißt du, was ich an Sir Charles' Stelle täte?« Jane wußte es nicht. »Ich würde einen dicken Stock nehmen, dich braun und blau schlagen und dich dann eine Woche lang bei Wasser und Brot einsperren.« Jane erhob sich etwas mit rotem, ärgerlichen Gesicht. »Wa -- was?« fragte sie und sank wieder auf das Sofa zurück. »Wenn ich ein Mann wäre, ich ließe mich nicht aus einfacher Galanterie wie ein lästiger Hund behandeln. Du brauchst eine gesunde Tracht Prügel.« »Ich möchte den sehen, der _mich_ schlägt,« sagte Jane. Sie hatte sich wieder erhoben und reckte ihren gewaltigen Körper. Dann brach sie in Tränen aus und sagte. »Ich will mir so etwas nicht in meinem eigenen Hause sagen lassen. Wie kannst du es wagen?« »Du verdienst es, weil du auf mich eifersüchtig bist,« sagte Agatha. Janes Augen erweiterten sich vor Zorn. »Ich -- ich! -- eifersüchtig auf dich!« Sie sah sich nach einem Wurfgeschoß um. Da sie nichts fand, setzte sie sich wieder hin und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Eif -- eifersüchtig auf _dich_, herrlich!« »Du hast guten Grund dazu, denn er hat mich lieber als dich.« Jane riß krampfhaft ihren Mund und die Augen auf, aber sie konnte nur nach Luft schnappen, und Agatha fuhr ruhig fort: »Ich bin höflich gegen ihn, und das bist du nie. Wenn er mit mir spricht, lasse ich ihn seinen Satz beendigen, ohne daß ich wie du ihn mit einer vorgefaßten Meinung unterbreche, die nicht des Anhörens wert ist. Ich gähne und spreche nicht, während er singt. Wenn er sich mit mir über Kunst und Literatur unterhält, wovon er zweimal so viel versteht als ich und wenigstens zehnmal so viel als du« -- Jane schnappte wieder nach Luft -- »dann gebe ich ihm keine verrückte Antwort oder wende mich an meinen Nachbar auf der andern Seite mit einer Bemerkung über den Pferdestall oder das Wetter. Wenn er bereit ist, sich zu unterhalten, und das ist er immer, dann bin ich unterhaltend. Und deswegen hat er mich gern.« »Er hat dich _nicht_ gern. Er ist gegen jeden Menschen so.« »Mit Ausnahme seiner Frau. Er hat mich so gern, daß du wie eine wirkliche Gans -- was du ja auch bist -- hereinkamst, um unsere Duette zu überwachen. Und du machtest dich so unangenehm, wie du nur konntest, während ich mich angenehm machte. Der arme Mann schämte sich deiner.« »Das tat er nicht,« sagte Jane schluchzend. »Ich habe nichts getan und nichts gesagt. Ich laß mir das nicht gefallen. Ich will mich scheiden lassen. Ich will --« »Du wirst dein Benehmen bessern, wenn du noch etwas Vernunft hast,« sagte Agatha ohne Reue. »Mach nicht solchen Lärm, sonst kommt jemand und sieht, was es gibt, und ich muß von dem Flügel herunter, wo ich sehr bequem sitze.« »_Du_ bist eifersüchtig.« »Oh, wirklich, Jane? Ich habe bisher Sir Charles nicht gestattet, sich in mich zu verlieben, aber ich kann das sehr leicht tun. Was willst du wetten, daß er mich vor morgen abend küßt?« »Es wird sehr gemein und schmutzig von dir sein, wenn er es tut. Du denkst wohl, ich ließe mich wie ein Kind behandeln?« »Du bist auch ein Kind,« sagte Agatha. Sie stieg von ihrem Sitz herunter und schickte sich an hinauszugehen. »Ein gelegentlicher Klaps ist dir ganz gut.« »Es geht dich nichts an, ob ich mich mit meinem Manne gut stehe oder nicht,« sagte Jane in plötzlicher Wut. »Solange ihr euch zankt, wenn ihr allein seid, wie das gut erzogene Paare tun, gewiß nicht. Aber wenn es in meiner Gegenwart vorkommt, dann macht es mir Unbehagen, und das lasse ich mir nicht gefallen.« »Du würdest überhaupt nicht hier sein, wenn ich dich nicht eingeladen hätte.« »Stell dir nur vor, Jane, wie langweilig ohne mich das Haus wäre.« »Wirklich! Es war vor deiner Ankunft gar nicht langweilig. Gertrude hat sich wenigstens immer wie eine Dame benommen.« »Es tut mir leid, daß ihr Beispiel so gar keine Wirkung auf dich ausgeübt hat.« »Ich ertrage das nicht,« sagte Jane schluchzend und ließ sich auf das Sofa fallen, daß die Glasprismen an dem Kronleuchter klirrten. »Ich würde dich nie eingeladen haben, wenn ich gedacht hätte, du könntest so gehässig sein. Ich werde dich nie wieder bitten.« »Ich werde veranlassen, daß sich Sir Charles wegen der Unverträglichkeit deines Charakters von dir scheiden läßt, und ihn dann heiraten. Dann habe ich das ganze Haus für mich allein.« »Er kann sich Gott sei Dank deswegen nicht scheiden lassen. Du weißt nicht, was du redest.« Agatha lachte. »Komm, Jane,« sagte sie gutmütig. »Sei kein alter Esel. Wasch dein Gesicht, bevor es jemand sieht, und denk daran, was ich dir über Sir Charles gesagt habe.« »Es ist sehr hart, in seinem eigenen Hause ein Esel genannt zu werden.« »Es ist noch härter, als ein solcher behandelt zu werden, wie es deinem Mann geschieht. Ich werde im Billardzimmer nach ihm sehen.« Jane lief hinter ihr her und faßte sie beim Ärmel. »Agatha,« bat sie, »versprich mir, daß du nicht gemein bist. Sage, daß du dich nicht in ihn verliebst.« »Ich will es mir überlegen,« entgegnete Agatha ernst. Jane sank stöhnend in einen Sessel, der unter ihrem Gewicht krachte. Agatha wandte sich auf der Schwelle um, und als sie sah, wie Jane den Kopf schüttelte, die Augen zusammenpreßte und in unterdrückter Wut mit den Absätzen auf den Boden hämmerte, sagte sie schnell: »Da kommen die Waltons und die Fitzgeorges und Mr. Trefusis die Treppe herauf. Wie geht es Ihnen, Mrs. Walton? Lady Brandon wird sich sehr freuen, Sie zu sehen. Guten Abend, Mr. Fitzgeorge.« Jane sprang auf, wischte sich die Augen und lief zu einem Spiegel, während sie sich mit den Händen die Haare ordnete. Da aber keine Besucher erschienen, begriff sie, daß sie wieder und vielleicht zum hundertstenmal in ihrem Leben einem Schelmenstreich Agathas zum Opfer gefallen war. Diese war befriedigt, weil ihr Versuch, die alte Herrschaft über Jane wiederzugewinnen, geglückt war. Sie hatte es selbst nicht geglaubt, obgleich sie sich ganz ruhig gestellt hatte. Jetzt ging sie hinunter in die Bibliothek, wo Sir Charles in traurigem Brüten saß und versuchte, seinen häuslichen Ärger durch Beschäftigung mit der Kunstkritik zu vergessen. »Ich dachte, Sie wären im Billardzimmer,« sagte Agatha. »Ich habe nur flüchtig hineingeschaut,« entgegnete er. »Aber es scheint da etwas Besonderes vorzugehen, und ich hielt es für das Beste, mich davonzuschleichen. So bin ich die ganze Zeit allein geblieben.« Das Besondere, was Sir Charles nicht unterbrechen wollte, war weiter nichts als eine Partie Billard. Es war die erste Gelegenheit, die Erskine jemals gehabt hatte, mit Gertrude allein und in Muße zu sprechen. Doch war ihre Unterhaltung noch nie eine so alltägliche gewesen. Sie liebte das Spiel und spielte gut, während sie gleichgültig plauderte. Er spielte schlecht und brachte gegen seinen Willen die trivialsten Gesprächsstoffe vor. Nachdem sie anderthalb Stunden gespielt hatten, sagte Gertrude, daß jetzt das letzte Spiel komme. Er dachte voller Verzweiflung, wenn er so weiter die Bälle ausließ, dann mußte die Partie bald zu Ende sein, und dann hatte er eine Gelegenheit, die vielleicht niemals wiederkam, unbenutzt vorbeigehen lassen. Er beschloß, ihr ohne weitere Einleitung zu sagen, daß er sie anbete. Als er aber seine Lippen öffnete, kam ganz von selbst eine Frage über die persische Art, Billard zu spielen, heraus. Gertrude war nie in Persien gewesen, aber sie hatte im Indischen Museum einige orientalische Queues gesehen. Hatten nicht die Hindu eine wunderbare Fähigkeit, Filigranarbeit, Teppiche und dergleichen anzufertigen? Ob er nicht auch der Ansicht sei, daß die Verschrobenheiten ihrer Teppichmuster ein Mangel seien? Viele Leute gäben vor, grade das zu bewundern, aber sei das nicht alles Unsinn? War nicht ein moderner, gebohnter Fußboden mit einem Teppich in der Mitte viel besser als der alte Teppich, der in den Ecken des Zimmers angebracht wurde? Ja. Viel besser. Unendlich -- »Aber, woran denken Sie heute, Mr. Erskine? Sie haben mit meinem Ball gespielt.« »Ich denke an Sie.« »Was sagten Sie?« fragte Gertrude, die den ernsten Sinn, den er der Unterhaltung gegeben hatte, noch nicht begriff und ihr Queue zu einem Stoß anlegte. »Oh, ich spiele so schlecht wie Sie. Das war, glaube ich, der schlechteste Stoß, den ich je gemacht habe. Verzeihen Sie, Sie sagten grade etwas.« »Ich weiß es nicht mehr. Es war nichts Wichtiges.« Und er stöhnte über seine eigene Feigheit. »Ich schlage vor, wir hören auf,« sagte sie. »Es hat keinen Zweck, die Partie zu Ende zu spielen, wenn unsere Hände unsicher sind. Ich bin ziemlich müde geworden.« »Gewiß -- ganz, wie Sie wünschen.« »Wenn Sie wollen, können wir auch zu Ende spielen.« »Durchaus nicht. Was Ihnen gefällt, gefällt mir auch.« Gertrude machte ihm eine leichte Verbeugung und stieß müßig mit ihrem Queue nach den Bällen. Erskines Augen wanderten umher, seine Lippen bewegten sich unentschlossen. Er war mit sich darüber im klaren gewesen, daß er eine offene Erklärung geben wollte -- Herz gegen Herz. Er hatte es sich genau ausgemalt, wie er in zarter Weise ihre Hand ergriff und sagte: »Gertrude, ich liebe Sie! Darf ich Ihnen das ewig versichern?« Aber diese Form schien ihm jetzt gar nicht ausführbar. »Miß Lindsay.« Gertrude, die sich über das Billard neigte, blickte beunruhigt auf. »Dieser Augenblick ist eine gute Gelegenheit, denn ich will -- ich soll -- ich will --« »_Soll_,« wiederholte Gertrude. »Haben Sie jemals die Lehre von der Notwendigkeit studiert?« »Die Lehre von der Notwendigkeit?« fragte er verwirrt. Gertrude folgte einem Ball an die andere Seite des Billards. Sie erriet jetzt, was kommen sollte, und wollte es erwarten. Nicht weil sie die Absicht hatte, ja zu sagen, sondern weil sie wie andere junge Damen, die in solchen Auftritten Erfahrungen haben, die Heiratsanträge, die man ihr machte, zählte, wie die Rothäute die abgeschnittenen Skalpe. »Wir haben hier eine sehr schöne Zeit verlebt,« sagte er und legte die wichtige Lehre von der Notwendigkeit als unerklärbar zur Seite. »Wenigstens habe ich es getan.« »Nun,« meinte Gertrude schnell, die leicht eine verborgene Anspielung auf ihre persönliche Unzufriedenheit vermutete, »ich auch.« »Ich bin sehr glücklich darüber -- viel mehr, als ich Ihnen in Worten ausdrücken kann.« »Was geht das Sie an?« fragte sie und gab ihrer üblen Laune nach, die er, ohne es zu wissen, in ihr wachgerufen hatte. Sie vermutete auch Mitleid in seinem Bemühen, teilnehmend zu sein. »Ich wollte, es dürfte mich etwas angehen. Das Glück dieses ganzen Aufenthalts habe ich nur Ihnen zu verdanken.« »Wirklich,« sagte Gertrude und zuckte zusammen. Denn alle bösen Dinge, die ihr Trefusis über sie gesagt hatte, traten jetzt wieder in ihre Erinnerung, als Erskine seine unglückselige Anspielung auf ihre Macht, andere zu erfreuen, vorbrachte. »Hoffentlich quäle ich Sie nicht,« sagte er mit Ernst. »Ich weiß nicht, worüber Sie reden,« entgegnete sie und richtete sich in plötzlicher Ungeduld auf. »Sie scheinen zu glauben, es sei sehr leicht, mich zu quälen.« »Nein,« sagte er furchtsam und war ganz verwirrt durch den Eindruck, den er hervorgebracht hatte. »Ich fürchte, Sie mißverstehen mich. Ich bin sehr unbeholfen. Vielleicht ist es besser, wenn ich nichts weiter sage.« Gertrude wandte sich weg und nahm ihr Queue wieder auf. Sie wollte ihm dadurch zeigen, daß es seine Sache sei, darüber nachzudenken. Sie beabsichtigte nicht, sich deshalb stören zu lassen. Als sie ihn wieder ansah, stand er bewegungslos und ängstlich da, mit einem traurigen Gesichtsausdruck, wie ihn ein Hund zeigt, der eine Zärtlichkeit angeboten hat und getreten worden ist. Reue und ein unbestimmtes Gefühl, in ihrem Benehmen gegen ihn liege etwas Niedriges, überkamen sie. Sie sah ihn einen Augenblick an und verließ das Zimmer. Ihr Blick erregte ihn. Er verstand ihn nicht und wagte auch nicht, ihn zu verstehen. Aber es war ein Blick, den er nie vorher auf ihrem Gesicht oder auf dem Gesicht einer anderen Frau gesehen hatte. Es packte ihn als eine plötzliche Offenbarung eines Wortes aus den Patriotischen Märtyrern: »Das köstliche Geheimnis eines Frauenherzens« -- und es gab ihm das Gefühl, daß er sich jetzt keiner gewöhnlichen gesellschaftlichen Unterhaltung widmen dürfte. Er eilte aus dem Hause und ging schnell die Allee hinunter nach der Hütte, in der er sein Rad stehen hatte. Er hinterließ Bescheid, daß er einen Ausflug mache und wahrscheinlich nicht zum Essen zurück sein werde. Dann bestieg er sein Rad und fuhr den Riverside Road hinunter. In weniger als zwei Minuten passierte er die Pforte zu Sallusts Haus, wo er beinahe ein altes Weib überrannt hatte, das mit einem Korb Kohlen beladen war. Sie stellte ihre Last hin und schickte Verwünschungen hinter ihm her. Das brachte ihn zur Besinnung, daß seine unvernünftige Schnelligkeit gefährlich sein könnte. Er ließ etwas nach und sah gleich darauf Trefusis, der hingestreckt am Flußufer lag, das Gesicht auf die Ellbogen gestützt, und aufmerksam las. Erskine hatte ihm vor ein paar Tagen ein Exemplar: »Die patriotischen Märtyrer und andere Dichtungen« verehrt, und er versuchte jetzt, einen Blick auf das Buch zu werfen, in dem Trefusis so ernsthaft las. Es war ein Blaubuch, voll von Zahlen. Erskine fuhr enttäuscht weiter und tröstete sich mit der Erinnerung an Gertrudes Gesicht. Die Landstraße entfernte sich jetzt vom Fluß und stieg zu einer steilen Anhöhe empor, auf deren Gipfel er haltmachte und sich umsah. Das Tageslicht bekam einen rötlichen Schein, und die Schatten wurden länger. Trefusis lag noch hingestreckt in dem Grase, und das alte Weib war auf dem Felde und sammelte Schierling. Erskine fuhr in vollem Schwung den Hügel hinunter und sah sich nicht mehr um, bis er bei Sonnenuntergang eine kleine Stadt erreichte. Er ließ sich Bier und Butterbrot geben und aß ohne großen Appetit. Gertrude hatte ihn in eine Aufregung versetzt, die ihm die Geduld zum Essen nahm. Es war jetzt dunkel. Er befand sich viele Meilen von Brandon Beeches und kannte nicht einmal genau den Rückweg. Plötzlich beschloß er, heute abend noch seinen abgebrochenen Heiratsantrag zu vollenden. Er konnte nicht schnell genug zurückfahren, um seine Ungeduld zu befriedigen. Er versuchte den Weg abzuschneiden, verlor sich und verbrachte fast eine Stunde damit, die Landstraße wieder aufzufinden. Endlich kam er an eine Eisenbahnstation und konnte grade noch einen Zug erreichen, der ihn bis auf eine Meile an seinen Bestimmungsort brachte. Als er aus den Polstern des Eisenbahnwagens herausstieg, fühlte er sich doch etwas ermüdet und bestieg steif sein Fahrrad. Aber sein Entschluß stand so fest wie vorher, und sein Herz klopfte heftig, als er in dem Häuschen sein Rad zurückließ und durch den tiefen Schatten der Buchen die Allee hinaufging. Nahe beim Hause erreichten ihn die ersten Noten von >=Crudel perche finora=<, und er ging mit leisen Schritten auf den Rasen zu, damit das Geräusch seiner Fußtritte auf dem Kies nicht die Hunde aufschreckte, die durch ihr Bellen die Musik gestört haben würden. Ein Rascheln veranlaßte ihn, stehenzubleiben und zu lauschen. Dann flüsterte Gertrudes Stimme durch die Dunkelheit: »Was meinten Sie mit dem, was Sie mir da drinnen sagten?« Eine ganz seltsame Empfindung überkam Erskine, verwirrte Ideen aus einem Feenland flogen durch seine Phantasie. Dann folgte eine bittere Enttäuschung, als ob er aus einem glücklichen Traum erwachte, als Trefusis' Stimme in weicherem Tone, als er sie jemals gehört hatte, antwortete: »Einfach, daß das Reich der Sterne, die über uns funkeln, nicht unbegrenzter ist als meine Verachtung für Miß Lindsay und nicht strahlender als mein Vertrauen auf Gertrude.« »Bitte, Mr. Trefusis, für Sie bin ich immer Miß Lindsay.« »Für mich sind Sie niemals Miß Lindsay. Das sind Sie für die, die nicht in Ihre Seele hineinblicken können, die Gertrude ist. Es gibt Tausende Miß Lindsays auf der Welt, die alle förmlich und unecht sind. Aber es gibt nur eine Gertrude.« »Ich bin ein schutzloses Mädchen, Mr. Trefusis, und Sie können mich nennen, was Sie wollen.« Einen Augenblick kam Erskine der Gedanke, dies sei eine gute Gelegenheit, vorzuspringen und Trefusis, dessen Gestalt er jetzt undeutlich unterscheiden konnte, ein blaues Auge zu schlagen. Aber er zauderte, und die Gelegenheit ging vorbei. »Schutzlos!« sagte Trefusis. »Aber Sie sind doch rings umzäunt und eingeriegelt in Sitten, Vorschriften und Lügen, die die Wahrheit von den Lippen eines jeden Mannes zurückschrecken würden, dessen Glaube an Gertrude weniger stark wäre als der meine. Gehen Sie zu Sir Charles und erzählen Sie ihm, was ich zu Miß Lindsay gesagt habe. In zehn Minuten werde ich außerhalb dieses Tores sein, mit einer Warnung, mich ihm nie mehr zu nähern. Ich bin in Ihrer Gewalt, und wäre ich nur in der Gewalt von Miß Lindsay, ich hätte wenig mehr zu sagen. Glücklicherweise sieht Gertrude ein, obgleich sie es nur dunkel fühlt, daß Miß Lindsay ihre bitterste Feindin ist.« »Das ist lächerlich. Ich bestehe nicht aus zwei Personen, ich bin nur eine. Was mache ich mir daraus, ob Ihre Verachtung für mich so grenzenlos wie die Sterne ist?« »Ah, Sie erinnern sich dieser Worte. Wenn Sie einen Mann über die Sterne reden hören, dann können Sie sicher sein, daß er entweder ein Astronom oder ein Narr ist. Aber Sie und eine schöne Sternennacht können aus jedem Mann einen Narren machen.« »Ich verstehe Sie nicht. Ich gebe mir alle Mühe, aber es gelingt mir nicht. Oder wenn ich Sie verstehe, dann weiß ich nicht, ob Sie ernst reden oder nicht.« »Ich rede im vollen Ernst. Lassen Sie doch ein für allemal diese Befürchtungen fallen, ich scherzte mit Ihnen, oder ich wollte eine müßige Stunde vertändeln, wie das Männer tun, die in Gesellschaft einer schönen Frau sind. Was ich sage, meine ich wörtlich und im tiefsten Ernst. Sie zweifeln an mir, wir haben ja die Gesellschaft so weit gebracht, daß wir uns gegenseitig mißtrauen. Aber die Wahrheit erzwingt sich von denen, die imstande sind, sie zu begreifen, früher oder später doch Glauben. Jetzt darf ich wohl Miß Lindsay zur Besinnung bringen, indem ich sie daran erinnere, daß wir schon zehn Minuten hier draußen sind und daß unsere Wirtin nicht die Frau ist, die unser Fortbleiben ohne Bemerkung zuläßt.« »Wir wollen hineingehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnerten.« »Ich danke Ihnen, daß Sie es vergaßen.« Erskine hörte, wie sich ihre Fußtritte entfernten, und sah die zwei gleich darauf in den Lichtschein hineintreten, der aus der offenen Türe des Billardzimmers hervorleuchtete, durch das sie ins Haus gingen. Trefusis, ein Mann, der heute in der wunderschönen Landschaft gelegen hatte, blind für alles außer den Ziffern eines Blaubuchs, war sein erfolgreicher Nebenbuhler, obgleich man schon an dem Klang seiner Stimme hören konnte, daß er Gertrude nicht liebte -- daß er sie nicht lieben konnte. Nur ein Dichter konnte das. Trefusis war kein Dichter, sondern ein schmutziger, roher Patron, der höchstens in einer Volksversammlung Interesse erregen konnte, aber nicht bei einem Weibe, und am allerwenigsten bei einem so zarten Weibe wie Gertrude. Dabei war sie noch stolz, und doch hatte sie dem Burschen erlaubt, sie zu beschimpfen -- hatte es ihm verziehen, weil er ihr ein paar grobe Komplimente machte. Erskine wurde zornig und spöttisch. Der Vorfall beleidigte sein poetisches Gefühl. Anstatt daß sein Herz von einem tragischen Schmerz erfüllt war, wie ihn ein patriotischer Märtyrer unter ähnlichen Umständen empfunden hätte, fühlte er sich verhöhnt und verspottet. Und was ihm zuerst als ganz selbstverständlich erschienen war, daß Trefusis tief unter ihm stehe, das war ihm jetzt gar nicht mehr so sicher. Er blieb unter den Bäumen stehen, bis Trefusis wieder erschien, um nach Hause zu gehen. Er machte dabei, wie Erskine dachte, mit seinen Absätzen auf dem Kies ein Geräusch, das ein ganzes Regiment fein erzogener Menschen nicht hervorgebracht hätte. An dem Wärterhäuschen fragte er noch etwas und ging dann hinaus, und seine Schritte erstarben in der Dunkelheit. Erskine war steif und erfroren und hatte eine Empfindung, als ob er sich eine böse Erkältung zugezogen hätte. Als er ins Haus hineinkam, war er froh, daß sich Gertrude schon zurückgezogen hatte und daß Lady Brandon, trotzdem sie bestimmt glaubte, er sei in der Dunkelheit in den Fluß hineingefahren, doch ein warmes Abendessen für ihn bereit gehalten hatte. Fünfzehntes Kapitel. Erskine fand jetzt Stoff genug, seinem neu erworbenen bitteren Spott nachzuhängen. Gertrudes Benehmen gegen ihn wurde so milde, daß er glaubte, sie hätte ihr Herz seinem Nebenbuhler geschenkt und wollte ihn jetzt zu einem Antrag bewegen, um ihn zurückzuweisen. Sir Charles, dem er den Auftritt in der Allee erzählt hatte, drückte ihm sein Mitgefühl aus, aber er schien auch zugleich befriedigt zu sein, weil hinter Trefusis' Aufmerksamkeiten gegen Agatha keine ernsthaften Absichten steckten. Daraufhin schrieb Erskine drei bittere Sonette über falsche Freundschaft und zeigte sie Sir Charles, der nicht wußte, daß sie sich auf ihn bezogen, und sie sehr lobte. Sir Charles zeigte sie dann Trefusis, ohne den Autor um Erlaubnis zu bitten. Trefusis bemerkte nur, in einer verdorbenen Gesellschaft zeugten Ausdrücke des Mißvergnügens immer von dem Feingefühl eines Schriftstellers, aber sonst lobte er die Verse nicht viel. »Wie ist er denn auf solche Sachen gekommen?« fragte er. »Hat er in der letzten Zeit irgendeine Enttäuschung erlitten? Hat er Miß Lindsay einen Antrag gemacht und eine Absage bekommen?« »Nein,« sagte Sir Charles, erstaunt über diese offene Anspielung auf einen Gegenstand, über den sie nie vorher gesprochen hatten. »Aber er beabsichtigt auch nicht, Miß Lindsay einen Antrag zu machen.« »Er hat aber die Absicht gehabt?« »Gewiß wollte er das tun, aber er hat die Idee aufgegeben.« »Warum?« fragte Trefusis und mißbilligte offenbar sehr diese Sinnesänderung. Sir Charles zuckte mit den Schultern und gab keine Antwort. »Es tut mir leid, daß ich das höre. Ich wollte, Sie könnten ihn bewegen, diesen Entschluß aufzugeben. Er ist ein prächtiger Mensch und kann ganz anständig leben, obgleich er nach Ihren Anschauungen ein armer Mann ist, so daß sie ihn vollständig uneigennützig heiraten kann. Es wird ganz gut für sie sein, wenn sie jemand heiratet, der ihr keinen pekuniären Vorteil bietet. Sie wird viel mehr Selbstachtung empfinden. Denn wenn sie auch aus Liebe heiratet, so wird es ihr doch nicht am Lebensunterhalt fehlen, und sie braucht ihren Mann nicht wegen seiner Abkunft zu verachten. Machen Sie eine Partie daraus, wenn Sie eben können. Ich interessiere mich für das Mädchen, es hat gute Anlagen.« Sir Charles' Vermutung, Trefusis mache Agatha wirklich den Hof, kehrte nach dieser Unterredung zurück. Er wiederholte sie Erskine, der sich ärgerte, daß man seine Gedichte einem Leser von Blaubüchern gezeigt hatte, und im übrigen glaubte, Trefusis wollte damit nur seine Absichten auf Gertrude verbergen. Sir Charles wollte diese Ansicht nicht gelten lassen, und die beiden Freunde gerieten scharf aneinander, als sie sie besprachen. Nach dem Diner, als die Damen weggegangen waren, drängte Sir Charles nachgiebig und herzlich Erskine, er sollte mit Gertrude sprechen, ohne sich an die Aufrichtigkeit Trefusis' zu stören. Aber Erskine wußte, daß er eine Abweisung nicht ertragen konnte, und es widerstrebte ihm, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. »Hätten Sie den Ton ihrer Stimme gehört, als sie ihn fragte, ob er im Ernst sei, Sie würden nicht so zu mir sprechen,« sagte er mutlos. »Ich wollte, er wäre nie hierhergekommen.« »Nun, das war wenigstens nicht meine Schuld, mein lieber Freund,« sagte Sir Charles. »Er kam gegen meinen Willen hierher. Aber jetzt, da es scheint, daß er wegen des Rasens im Recht ist -- wenigstens gesetzlich -- würde es gehässig aussehen, wenn ich ihn schnitte. Übrigens ist er wirklich kein schlechter Mann, wenn er nur die Mädchen in Ruhe ließe.« »Wenn er mit Miß Lindsay sein Spiel treibt, werde ich ihn bitten, über den Kanal zu kommen, und mich mit ihm schießen.« »Ich glaube nicht, daß er mitkommen würde,« sagte Sir Charles zweifelnd. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich versuchte sofort mein Glück mit Gertrude. Trotz allem, was Sie gehört haben, glaube ich nicht, daß sie einen Mann von seiner Herkunft heiraten würde. Sein Geld gibt ihm ja gewiß einige Aussichten, aber Gertrude hat schon reicheren Männern, als er ist, den Laufpaß gegeben.« »Ich will ehrlich gegen ihn sein,« sagte Erskine. »Ich irre mich vielleicht, denn alle Menschen können sich in ihrem Urteil über sich selbst irren, aber ich glaube doch, daß ich sie glücklicher machen könnte, als er es kann.« Sir Charles war dessen nicht ganz gewiß, aber er entgegnete freundlich: »Gewiß. Er ist überhaupt nicht der Mann für sie, aber Sie sind es. Er weiß das auch selbst.« »Pah!« murmelte Erskine und erhob sich verächtlich. »Wir wollen hinaufgehen.« »Übrigens, wir müssen ihn morgen besuchen und sein Haus und die Photographien besichtigen. Die Photographien! Ha, ha!« »Der Teufel hole sein Haus!« sagte Erskine. Am nächsten Tage gingen sie nach Sallusts Haus. Es stand mitten auf einem Felde, das mit Ausnahme eines Küchengartens unbebaut war. Das Wärterhäuschen am Eingang war unbewohnt, und vor dem offen stehenden Tor waren Schmutz und abgefallenes Laub aufgehäuft. Zwei verlaufene Ponys, eine Ziege und ein Vagabond, der auf dem Rasen schlief, hatten so Eingang gefunden. Das Weib des Vagabonden saß in der Nähe und bewachte ihn. »Ich möchte am liebsten wieder gehen,« sagte Sir Charles und sah sich voll Ekel um. »Der Platz ist schändlich vernachlässigt. Sehen Sie nur, wie der Lump da direkt vor den Fenstern schläft.« »Ich bewundere seine Kühnheit,« sagte Erskine. »Übrigens ein hübsches Paar Ponys.« Sallusts Haus war viereckig und hatte einen zimtbraunen Anstrich. Unter dem Gesims war ein gelber Fries mit Figuren von tanzenden Kindern, eine Nachahmung von Bildern Donatellos in sehr ungeschickter Ausführung. Dann war da eine armselige Säulenhalle von vier Säulen, rot angestrichen, und ein schmuckloser, gelb angestrichener Giebel. Die Farben, die zu dem Anstrich der Wände passen sollten, standen in Wirklichkeit dazu in einem schreienden Widerspruch. Sie waren von einem offenbar farbenblinden Künstler frisch erneuert worden. Die Türe unter dem Säulengang stand offen. Sir Charles klingelte, und eine ältere Frau meldete sich. Aber bevor sie die Besucher anreden konnte, erschien Trefusis in einem weißen, baumwollenen Malerkittel. Sie folgten ihm ins Haus und fanden, daß es ein leeres Viereck bildete, das einen Hof mit einem Bad in der Mitte und einem Brunnen darin einschloß. Der Hofraum, der früher unter freiem Himmel gestanden hatte, war jetzt mit einem schmutzigen Glasdach bedeckt. Die Nymphe, die einst das Wasser des Brunnens ausgegossen hatte, war beschädigt und trocken. Das Bad war zum Teil mit alten Brettern bedeckt, der freie Raum enthielt in einer Ecke einen Haufen Kohlen, in der andern einen Haufen Kartoffeln, ferner ein Bierfaß, ein paar alte Teppiche, ein Segeltuch und einen zerbrochenen Nachen. Der Marmorboden erstreckte sich bis zu den Außenwänden des Hauses und war an den Seiten durch die oberen Stockwerke überdacht, die durch gerillte, steinerne Säulen getragen wurden. Die Säulen waren alle beschmutzt und zerfallen. Trefusis führte seine Besucher zu einem breiten Treppenhaus, das an der Hinterwand des Hauses lag und durch einen Gang zu den oberen Räumen führte. »Dieses Haus ist im Jahre 1780 von einem Vorfahren meiner Mutter erbaut worden,« sagte Trefusis. »Er galt für einen Mann von auserlesenem Geschmack. Er wollte, dieses Haus sollte für immerdar -- er gebrauchte in seinem Testament ausdrücklich dieses Wort -- als Familiensitz gelten, und er sammelte eine schöne Bibliothek, die ich gut gebrauchen konnte, denn alle die Bücher kamen in gutem Zustande in meinen Besitz, bei den meisten waren nicht einmal die Blätter beschnitten. Es gibt Leute, die grade für unaufgeschnittene Bücher von alten Ausgaben hohe Preise bezahlen. Ein Händler gab mir für einen Teil von ihnen dreihundertundfünfzig Pfund. Ich kam auch in Besitz einer Anzahl Familienfetische -- oder Erbstücke, wie man sie nennt. Da war noch ein Schwert, das einer meiner Vorfahren bei Edgehill und in andern Schlachten zur Zeit Karls des Ersten trug. Wir kämpften natürlich auf der verkehrten Seite, aber das Schwert brachte doch fünfunddreißig Schilling ein. Sie werden es kaum glauben, daß mir hundertundfünfzig Pfund für einen goldenen Becher angeboten wurden, der ungefähr fünfundzwanzig wert war, nur weil einmal die Königin Elisabeth daraus getrunken hat. Dies ist mein Arbeitszimmer, es war als Festsaal gedacht.« Sie betraten einen Saal, der so lang war wie die Front des Hauses. An einer Seite befanden sich vier hohe Fenster. Dazwischen standen eckige Pfeiler mit den korinthischen Kapitälen, die das Gesims trugen und halb in die Wand hineingesunken waren. Ähnliche Pfeiler befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite, aber zwischen ihnen waren anstatt der Fenster Bogennischen angebracht. In den Nischen standen lebensgroße Gipsfiguren, alle zerbrochen und unglaublich entstellt. Der Fußboden war aus schräg gestellten, schmalen Parketthölzern zusammengesetzt. Er hatte keinen Teppich und war nicht gebohnt. Die Decke war mit Fresken geschmückt, die sofort Sir Charles' Interesse erregten. Mit Unwillen entdeckte er, daß ein großer Teil der Malerei an der nördlichen Seite des Zimmers zerstört und durch ein eingesetztes Glasdach entstellt war. An andern Stellen waren Haken hineingetrieben, um die Seile eines Trapezes und anderer Stücke eines gymnastischen Apparats zu tragen. Die Wände waren geweißt, und es erschien ungefähr vier Fuß über dem Boden ein dunkler Streifen, der von Bleistiftnotizen und kleinen Zeichnungen herrührte, die auf den weißen Grund gekritzelt waren. Das eine Ende des Raumes war unmöbliert, nur ein gymnastischer Apparat befand sich da, eine photographische Dunkelkammer, eine Leiter, die in der Ecke stand, und ein gewöhnlicher, billiger Tisch, der mit Ölkannen und Farbentöpfen bedeckt war. Am andern Ende des Raumes hatte man einen fast luxuriösen Anblick. Es standen da ein großer Bücherschrank, eine kunstvolle Verbindung von Sekretär und Schreibtisch, ein Gestell mit einem Gewehr, einem Satz Rapieren und einem Schirm daran. Auf einem Tisch befanden sich verschiedene Albums in Folioformat; einige bequeme Stühle und Sofas und ein dicker Teppich vervollständigten die Einrichtung. Dicht dabei und gar nicht dazu passend stand eine Tischlerbank mit dem gewöhnlichen Zubehör und eine Anzahl von Brettern verschiedener Stärke. »Das ist eine Art Bequemlichkeit, die sich nur ein reicher Mann leisten kann,« sagte Trefusis, sich umwendend, und überraschte seine Besucher dabei, wie sie sich Blicke des Erstaunens über seinen Geschmack zuwarfen. »Ich halte mir einen Salon der gewöhnlichen Art, um Gäste zu empfangen, gegen die man konventionell sein muß, aber ich betrete ihn nur bei solchen Gelegenheiten. Wie gefällt Ihnen dieses Arbeitszimmer?« »Wirklich, Trefusis, ich glaube, Sie sind verrückt,« sagte Sir Charles. »Das Zimmer sieht aus, als ob es eine Belagerung durchgemacht hätte. Wie haben Sie das angefangen, diese Statuen so zu zerbrechen und die Wände in einer so schrecklichen Weise zu beschädigen?« Trefusis nahm eine Zeitung von dem Tisch und sagte: »Hören Sie, bitte: >Trotz des ungünstigen Wetters war das Jagdergebnis des Kaisers und seiner Gäste in Steiermark ein ausgezeichnetes. In drei Tagen wurden zweiundfünfzig Gemsen und neunundsiebzig Hirsche und Rehe durch neunzehn einläufige Gewehre erlegt, da der Kaiser keine andern erlaubte.< -- Ich teile die Lust des Kaisers am Schießen, aber ich bin kein Schlächter und brauche den königlichen Geschmack am Blut für meinen Sport nicht. Und ich teile auch nicht den Geschmack meines Vorfahren an Statuen. Deshalb --« Hier öffnete Trefusis eine Schublade, zog eine Pistole heraus und feuerte nach der Hebe, die in der entferntesten Nische stand. »Gut gemacht!« sagte Erskine kühl, als das letzte Bruchstück von Hebes Kopf unter der Berührung mit dem Geschoß in Splitter ging. »Eine sehr nutzlose Arbeit,« sagte Trefusis. »Ich bin ein guter Schütze, aber was nützt mir das? Nichts. Ich traf einmal einen Wildhüter, einen Methodisten. Er war ein ganz ausgezeichneter Redner, aber ein schlechter Schütze. Wenn er seine Anlagen mit meinen hätte austauschen können, ich würde ihm gerne zehntausend Pfund zugegeben haben, obgleich er schon bei dem Austausch an sich ebensoviel Vorteil gehabt hätte wie ich. Ich habe nicht mehr Verlangen oder Bedürfnis, ein guter Schütze zu sein, als König von England oder Eigentümer eines Derbysiegers oder sonst einer komischen Sache, und doch habe ich nie in meinem Leben mein Ziel verfehlt -- dank meiner Verhältnisse ohne Zweck!« »König von England!« sagte Erskine mit verächtlichem Lachen, um Trefusis zu zeigen, daß andere Leute ebenso freiheitliebend seien als er. »Ist es nicht lächerlich, daß sich eine Nation seiner Freiheit rühmt und doch einen König erträgt?« »Oh, zum Teufel mit Ihrem Republikanismus, Chester!« sagte Sir Charles, der im stillen nicht viel von der politischen Seite der patriotischen Märtyrer hielt. »Ich lasse mir in dem Punkt nichts sagen,« entgegnete Erskine. »Ich bewundere einen Mann, der einen König tötet. Darin werden Sie doch mit mir übereinstimmen, Trefusis?« »Durchaus nicht,« sagte Trefusis. »Ein König ist heutzutage nur eine Puppe, die man aufstellt, um das Feuer von den wirklichen Unterdrückern abzulenken. Und das bißchen Gehalt, das er nach Gefallen ausgeben kann, ist gewöhnlich viel zu klein für sein Risiko, seine Sorgen und den Zustand persönlicher Sklaverei, dem er unterworfen ist. Welcher Privatmann in England ist übler dran als der konstitutionelle Monarch? Wir gestatten ihm keine Zurückgezogenheit, er darf nicht heiraten, wen er will, sich nicht seinen Umgang aussuchen, sich nicht nach seinem Geschmack kleiden, oder leben, wo er will. Ich glaube nicht einmal, daß er das essen und trinken kann, was er am liebsten hat. Eine Vorliebe für Schweinebauch oder Zwiebeln von seiner Seite würde eine Beschwerde des Kronrats herbeiführen. Wir schreiben ihm alles vor mit Ausnahme seiner Gedanken und Träume, und selbst diese muß er für sich behalten, wenn sie nach unserer Ansicht für seine Stellung nicht passend sind. Die Arbeit, die wir ihm auferlegen, hat alle Beschwerden der gewöhnlichen Arbeit. Sie ist unfruchtbar, anhaltend, eintönig, und muß meistens mit quälender Langeweile ausgeführt werden. Wir machen ihm sein Königreich zur Tretmühle und treiben ihn darauf von einem Ende zum andern herum. Schließlich, nachdem wir ihm sonst alles weggenommen haben, was uns Menschen wertvoll ist, fallen wir über seinen Charakter her und über den Charakter jedes Menschen, dem er es wagt, seine Gunst zu zeigen. Wir legen ihm enorme Ausgaben auf, halten ihn knapp und sticheln über seinen Geiz. Wir gehen mit ihm um, wie ich mit diesen Statuen umgehe -- wir stellen ihn auf einen Ehrenplatz, damit wir ihn um so leichter verunstalten und mißhandeln können. Wir schicken ihn durch unsere übervölkerten Städte und behaupten, er sei die Ursache von allem Guten und allem Schlechten in der Nation. Und er weiß, daß die meisten Menschen das glauben, er weiß, daß es eine Lüge ist, daß er nicht den Arbeitstag um eine Stunde verkürzen kann, daß er nicht die Löhne um einen Groschen erhöhen kann, daß er nicht das kleinste Gerichtserkenntnis umstoßen kann, so ungerecht es ihm auch erscheinen mag. Er weiß, daß jeder Bergarbeiter im Königreich Dynamit anfertigen kann, daß Revolver für weniger als einen Schilling das Stück verkauft werden. Er weiß, daß er nicht kugelfest ist, daß man schon auf jeden europäischen König in den Straßen geschossen hat. Er muß lächeln und sich verbeugen und eine Miene graziösen Vergnügens bewahren, während der Bürgermeister und die Räte ihm diese geistlose Ansprache halten, die er schon tausendmal gehört hat. Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie königstreu sind, Erskine, aber ich erwarte, daß Sie aus einfacher Menschenliebe Mitgefühl mit der Hauptfigur in dem Possenspiel haben, die für die mannigfachen Übel und Schändlichkeiten in ihrem Reich nicht mehr verantwortlich ist, als der Lord-Mayor für die Diebstähle der Taschendiebe, die seinem Umzug am neunten November folgen.« Sir Charles lachte über die Mühe, die sich Trefusis gab, um seine Ansicht klarzulegen, und sagte beschwichtigend: »Mein lieber Freund, Könige sind an so etwas gewöhnt, sie erwarten es so, und sie lieben es so.« »Und offenbar sehen sie es ebensowenig in demselben Lichte wie ich, wie es die meisten Menschen tun,« stimmte Trefusis zu. »Welch ein feines Gesicht!« rief Erskine plötzlich und blickte auf eine Photographie in einem Rahmen von schwerem Gold und Korallen, der auf einer mit rotem Samt verzierten Miniaturstaffelei stand. Trefusis wandte sich schnell um und war augenscheinlich so befriedigt, daß sich Sir Charles beeilte, auszurufen: »Reizend!« Dann blickte er erst auf das Bild und fügte, etwas erstaunt, hinzu: »Es ist sicherlich ein außergewöhnlich anziehendes Gesicht.« »Vor Jahren,« sagte Trefusis, »als ich dieses Gesicht zum erstenmal sah, da hatte ich dasselbe Gefühl, was Sie jetzt haben.« Es trat ein Schweigen ein. Die beiden Besucher sahen das Bild, und Trefusis blickte sie an. »Eine fremdartige Schönheit,« sagte Sir Charles schließlich etwas zurückhaltender als zuvor. Trefusis lachte unangenehm. »Erkennen Sie in ihr den Künstler -- den begeisterten Amateur?« sagte er und öffnete eine andere Schublade, aus der er ein Bündel Zeichnungen herausholte, die er ihnen zur Ansicht gab. »Sehr gut. Wirklich sehr gut,« sagte Sir Charles. »Ich möchte die Dame kennen lernen.« »Ich war oft nahe daran, sie zu verbrennen,« sagte Trefusis. »Aber sie sind noch immer hier und werden auch wahrscheinlich hierbleiben. Das Porträt ist viel bewundert worden.« »Können Sie uns nicht mit dem Original einmal bekannt machen, alter Freund?« fragte Erskine. »Glücklicherweise nicht. Sie ist tot.« Sie waren unangenehm berührt und sahen ihn einen Augenblick mit Abneigung an. Dann wandte sich Erskine mitleidig und enttäuscht zu dem Bilde und sagte: »Armes Mädchen! War sie verheiratet?« »Ja. Mit mir.« »Mrs. Trefusis!« rief Sir Charles aus. »Ach! Lieber Himmel!« Erskine, der jetzt einen Beweis vor sich hatte, daß es auch einem schönen Mädchen möglich war, Trefusis zu heiraten, sagte nichts. »Ich halte mir ihr Bild immer vor Augen, um meine natürliche Verliebtheit zu bekämpfen. Ich verliebte mich in sie und heiratete sie. Seitdem habe ich mich noch ein- oder zweimal verliebt, aber ein Blick auf meine verlorene Hetty hat mich auch von der leisesten Neigung zu heiraten, geheilt.« Sir Charles gab keine Antwort. Es kam ihm der Gedanke, daß Lady Brandons Bild, wenn sonst nichts mehr von ihr da sei, wohl in derselben Art nützlich sein werde. »Oh, Sie werden sich schon demnächst einmal wieder verheiraten,« sagte Erskine und zwang sich zu einem ermutigenden Tone. »Es ist möglich. Männer sollten heiraten, besonders reiche Männer. Aber ich versichere Ihnen, augenblicklich habe ich keine Neigung, es zu tun.« Erskines Gesicht verdunkelte sich, und er ging zu dem Tisch, auf dem die Albums lagen. »Dies ist die Sammlung von Photographien, von denen ich sprach,« sagte Trefusis, indem er ihm folgte und eins von den Büchern öffnete. »Viele von ihnen habe ich selbst aufgenommen, wobei mir das Licht große Schwierigkeiten machte -- die einzige Schwierigkeit, die Geld nicht immer beseitigen konnte. Dies ist eine Ansicht von dem Hause meines Vaters -- oder vielmehr von einem seiner Häuser. Es kostete fünfundsiebzigtausend Pfund.« »Wirklich sehr hübsch,« sagte Sir Charles voll innerlichem Widerwillen, weil er eine Photographie eines gewöhnlichen Landhauses, wie sie Häusermakler zeigen, bewundern sollte, einfach nur aus dem Grunde, weil es fünfundsiebzigtausend Pfund gekostet hatte. Die Zahlen waren sogar in das Bild hineingeschrieben. »Dies ist das Gesellschaftszimmer und dies eines der besten Schlafzimmer. Auf der rechten Seite des Kartons finden Sie eine Aufstellung über die Kosten der Möbel, der Einrichtung, des Weißzeugs und so fort. Sie waren von der kostbarsten Art.« »Sehr interessant,« sagte Sir Charles und verbarg kaum die Ironie seiner Bemerkung. »Hier ist eine Ansicht -- es ist dies der erste meiner Versuche -- des Zimmers von einem der unteren Diener. Es ist bequem und geräumig und solid ausgestattet.« »Das sehe ich.« »Dies sind die Ställe. Sind sie nicht hübsch?« »Palastartig. Die reinen Säle.« »Da ist jeder Luxus, den sich ein Pferd wünschen kann, einschließlich einer Menge von Bedienten, um ihm aufzuwarten. Sie bemerken hoffentlich die Zahlen. Es sind die Kosten des Gebäudes und der jährlichen Ausgaben für jedes Pferd.« »Ich sehe es.« »Hier ist das Äußere eines Hauses. Was halten Sie davon?« »Es ist sehr malerisch in seinem verfallenen Zustand.« »Malerisch! Würden Sie darin leben wollen?« »Nein,« sagte Erskine. »Ich sehe nichts wirklich Malerisches daran. Was hat Sie denn veranlaßt, eine solche verkommene alte Räuberhöhle zu photographieren?« »Hier ist eine Aufnahme des besten Zimmers darin. Die Photographie gibt Ihnen ein treues Bild von dem zerbrochenen Fußboden und den verklebten Fensterscheiben, aber den Schmutz und den Geruch in dem Zimmer müssen Sie sich selber vorstellen. Einige von den Flecken kamen durch den durchsickernden Regen, andere durch den Dunst und den Schmutz. Der Hausverwalter hat das Haus von einem Pair und vermietet es weiter. Drei Familien wohnten in diesem Zimmer, als ich es aufnahm. Sie können an den Zahlen in der Ecke sehen, daß es dem Besitzer mehr einbringt als durchschnittlich ein Haus in den feineren Teilen Londons. Hier ist der Keller. Er ist an eine Familie für anderthalben Schilling die Woche vermietet, was für besonders billig gilt. Die Sonne scheint natürlich niemals hier herein. Ich habe ihn bei Blitzlicht aufgenommen. Zu der Miete müssen Sie den Betrag für eine genügende Menge schlechten Bieres hinzufügen, die den Mieter unempfindlich gegen den Schmutz in seiner Wohnung macht. Bier ist das Chloroform, das den Arbeiter befähigt, die schwierige Operation des Lebens auszuhalten. Deshalb können wir uns auch immer, wenn wir beim Wein sitzen, gegenseitig versichern, das Elend all dieser Lumpen komme nur durch das gewohnheitsmäßige Saufen. Wir verübeln ihm das, denn wenn er das Leben ohne Bier ertragen könnte, würden wir das Geld für das Bier sparen -- und ihn gegen niedrigere Löhne kaufen können. Kurz gesagt, wir würden reicher und er nüchterner sein. Hier ist der Hofraum, die Zustände sind unbeschreiblich. Sieben von den Bewohnern hatten vor Jahren in der Spinnerei meines Vaters gearbeitet. Das heißt, sie hatten einen großen Teil der ungeheuren Geldsummen geschaffen, auf die ich Sie zu Ihrem Mißvergnügen vorhin aufmerksam machte.« »Das war ich nicht,« sagte Sir Charles zaghaft. »Sie können sehen, wie sehr ihre Lage gegen die der Pferde meines Vaters zurücksteht. Die sieben Mann, die ich erwähnte, wurden mit dreihundert andern durch dieses hier auf die Straße gesetzt.« Hier schlug er ein Blatt um und zeigte die Photographie einer komplizierten Maschine. »Sie ermöglichte es meinem Vater, auf ihre Dienste zu verzichten und dafür ein paar Frauen und Kinder einzustellen. Er hatte das Patent der Maschine für fünfzig Pfund von dem Erfinder gekauft, denn dieser war fast ruiniert durch die Ausgaben seiner Erfindertätigkeit und würde für eine Handvoll bares Geld alles geopfert haben. Hier ist ein Porträt meines Vaters in seinen Freimaurerabzeichen. Er glaubte, daß die Freimaurer im allgemeinen in der Welt vorwärtskämen, und da es der Hauptplan seines Lebens war, vorwärtszukommen, so trat er zu ihnen über und wollte, daß ich dasselbe tun sollte. Aber ich wollte von diesen angeblich geheimen Gesellschaften und ihrem Hokuspokus nichts wissen und weigerte mich. Sie sehen, was er war -- ein würdevoller, unternehmender, selbstsüchtiger Geschäftsmann. Betrachten Sie den erfolgreichen Mann, den königlichen Kaufherrn mit Schiffen auf allen Meeren, den Brotherrn von Tausenden von Arbeitern, den freigebigen Wohltäter bei allen Veranstaltungen öffentlicher Mildtätigkeit, den Kirchenvorsteher, den Parlamentsabgeordneten, den mildtätigen Freund seiner Verwandten -- seine Selbstgerechtigkeit lag immer im Kampf mit seiner angeborenen, niedrigen Geldgier -- den unwissenden und unersättlichen Ausbeuter fremder Arbeit, den Mann, der seine eigene Meinung und seine Würde für Luxus und Delikatessen verkaufte, die zu genießen er viel zu grob war, und für die Gesellschaft von Leuten, die ihm seine niedrige Herkunft bei jeder Gelegenheit zu verstehen gaben --« »Und den Mann, dem Sie alles verdanken, was Sie besitzen,« sagte Erskine grob. »Ich besitze sehr wenig. Alles, was er mir hinterließ, habe ich mit Ausnahme von ein paar Gemälden längst ausgegeben, und auch das wurde durch seine Sklaven und nicht durch ihn erworben. Mein Reichtum kommt jeden Tag frisch durch die Arbeit der armseligen Menschen, die in solchen Höhlen wohnen, wie ich sie Ihnen vorhin zeigte, oder von ein paar Aristokraten der Arbeit, die sich vielleicht zehn Schilling die Woche besser stehen. Indessen gibt es eine Entschuldigung für meinen Vater. Ich geriet einmal bei einem Wahltumult in einen offenen Kampf. Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber da ich mich wehren mußte, wenn ich nicht niedergeschlagen und mit Füßen getreten werden wollte, so schlug ich mich mit Männern, die vielleicht ebenso friedfertig veranlagt waren wie ich selbst. Mein Vater, der in einen freien Wettbewerb geriet -- frei in dem Sinne, daß der Kampf frei, das heißt durch kein Gesetz gehindert ist -- mein Vater hatte die Wahl, entweder selbst ein Sklave zu sein oder die andern zu Sklaven zu machen. Er wählte das letztere, und da er Beifall erhielt und hoch gepriesen wurde, weil er Erfolg hatte, wer darf ihn da tadeln? Ich nicht. Übrigens tat er auch etwas, um die Anarchie zu zerstören, die es ihm ermöglichte, die Gesellschaft so ungestraft auszuplündern. Er stattete mich, seinen Feind, mit der mächtigen Waffe eines großen Vermögens aus. So brütet unser System, die Industrie zu entwickeln, oft selbst die Eier aus, aus denen seine Zerstörer hervorbrechen. Trägt Lady Brandon viele Spitzen?« »Ich -- Nein, das heißt -- Wie zum Kuckuck soll ich das wissen, Trefusis? Welch eine merkwürdige Frage?« »Dies ist die Photographie einer Häkelschule. Es war ein schmutziger, zwölf Quadratfuß großer Raum. Er war mit Ziegelsteinen gepflastert, und die Kinder durften nicht ihre Schuhe tragen, damit die Spitzen nicht schmutzig wurden. Da aber dort zwanzig Kinder -- alles Mädchen -- fünfzehn Stunden täglich arbeiteten, litten sie nicht sehr durch die Kälte. Sie waren hübsch eng zusammengepackt -- oder mögen es noch sein, was weiß ich. Sie brachten mitunter drei oder vier Schilling in der Woche ihren zärtlichen Eltern heim, denn sie hatten flinke Finger, die kleinen Geschöpfe, und arbeiteten fleißig, weil die Aufseherin sie jedesmal schlug, wenn sie aufsahen oder --« »Trefusis,« sagte Sir Charles und entfernte sich von dem Tische, »ich bitte Sie um Verzeihung, aber ich habe keine Lust, jetzt solche abscheulichen Dinge zu genießen. Sie müssen mich wirklich nicht bitten, Ihre Sammlung durchzugehen. Sie ist zweifellos interessant, aber ich kann sie nicht ertragen. Haben Sie nichts Angenehmes, um mich damit zu unterhalten?« »Pah! Sie ekeln sich. Immerhin, Sie sind ein Neuling, und wir wollen uns das übrige aufheben, bis Sie sich daran gewöhnt haben. Die Bilder sind durchaus nicht so schrecklich. Jeder Band befaßt sich mit einem andern Lande. Dieses zum Beispiel enthält Bilder zu der modernen Zivilisation in Deutschland. Das da ist Frankreich -- das Britisch-Indien. Hier haben Sie die Vereinigten Staaten von Amerika, die Heimat der Freiheit, die Schaubühne des allgemeinen Wahlrechts, das königslose und adellose Land des Schutzzolls, des Republikanismus und des durchgeführten radikalen Programms, wo man alle schwarzen Haussklaven in Lohnsklaven verwandelt hat (grade wie die weißen Sklaven meines Vaters). Diese Befreiung der Sklaven in Amerika hat achthunderttausend Menschenleben und einen unberechenbaren Wohlstand gekostet. Sie und ich, wir sind Bettler im Vergleich mit den Großkapitalisten jenes Landes, wo die Arbeiter mit den Chinesen wie Hunde um einen Knochen kämpfen. Viele von diesen großen Männern versahen mich mit Photographien ihrer Jachten und Paläste und hatten keine Ahnung, welchen Gebrauch ich davon machen würde. Hier sind einige Porträts, die Ihre Gefühle nicht verletzen werden. Dies ist meine Mutter, eine Frau aus guter Familie, jeder Zoll eine Lady. Hier ist ein Mädchen aus Lancashire, die Tochter eines gewöhnlichen Bergarbeiters. Sie hat körperlich genau dieselben Merkmale wie meine adelige Mutter -- denselben kleinen Kopf, zarte Gesichtszüge und so fort. Sie könnten Schwestern sein. Diese beiden Männer mit den Halunkengesichtern sehen wie Zwillingsbrüder aus, nur daß der auf der rechten Seite gute Laune in seinen Gesichtszügen hat. Der gutgelaunte ist ein Schiffer auf dem Lyvernkanal, der andere gehört dem höchsten englischen Adel an. Sie zeigen, daß die Natur, selbst wenn sie Generationen lang durch Hunger und Elend verdorben ist, sich doch nicht an die Unterscheidungen kehrt, die wir zwischen den Menschen errichten. Diese Gruppe von Männern und Frauen, alle erträglich intelligent und von gedankenvollen Gesichten, sind sogenannte Feinde der Gesellschaft -- Nihilisten, Anarchisten, Anhänger der Kommune, Mitglieder der Internationale und so weiter. Diese andern armen Teufel, abgeplagt, gezwungen, skrofulös, unbeholfen, geistlos und sogar gewöhnlich -- nur hier und da ist eine halbwegs hübsche Frau darunter, sind europäische Könige, Königinnen, Großherzöge und dergleichen. Hier sind Schiffskapitäne, Verbrecher, Dichter, Männer der Wissenschaft, Pairs, Bauern, Nationalökonomen und Vertreter aller möglichen Berufe. Der Zweck der Sammlung ist, die natürliche Ungleichartigkeit der Menschen zu zeigen und das Verfehlte einer künstlichen Ungleichartigkeit zu beweisen.« »Es scheint mir eine Art höllischer Sammlung zu sein, um die Ansichten der Leute zu verwirren,« sagte Erskine. »Sie sollten es eine Paradoxenmappe nennen.« »In einem vernünftigen Gesellschaftszustand würden sie Paradoxe sein, aber so beweist die Zeit ihre Richtigkeit, grade wie bei Hamlets Paradox. Sie ist aber eine Sammlung von Tatsachen, und ich will ihr keinen Phantasienamen geben. Sie lieben keine Zahlen?« »Ich liebe die Kunst.« »Hier sind ein paar Zahlen, und es ist keine Kunst dabei. Dies ist die Bilanz eines Versuches, den ich vor Jahren machte, um die Idee der Internationalen Vereinigung der Arbeiter -- gewöhnlich unter dem Namen die Internationale bekannt -- auszuführen, der Vereinigung aller Arbeiter in der ganzen Welt, um die Interessen der Arbeit zu verteidigen. Sie sehen das Ergebnis. Ausgaben: viertausendfünfhundert Pfund. Zeichnungen von Arbeitern zweiundzwanzig Pfund, sieben Schilling und zehn und einen halben Penny. Die englischen Arbeiter zeigten ihr Verständnis für meine Bemühungen, sie freizumachen, indem sie mich anklagten, ich wollte die Vereinigung benutzen, um meine eigene Tasche zu bereichern. Sie schmähten und steinigten mich. Jetzt helfe ich ihnen nur noch, wenn sie die Neigung zeigen, sich selbst zu helfen. Ich beschäftige mich zum Teil damit, einen Plan zur Neugestaltung unserer Industrie auszuarbeiten, dann aber greife ich auch meine eigene Klasse mit Frauen und allem an, gradeso wie ich Sie angreife.« »Ich fürchte, es hat wenig Zweck, uns anzugreifen,« sagte Sir Charles. »Es hat viel Zweck,« entgegnete Trefusis zuversichtlich. »Sie haben jetzt eine ganz andere Ansicht von unserer prahlerischen Kultur wie damals, als ich Ihre Mauer niederriß und diese Fanatiker der Bodenreform einlud, über ihre Spielplätze zu gehen! Sie haben in meinem Album etwas gesehen, was Sie vor einer Stunde noch nicht kannten, und Sie sind infolgedessen nicht mehr derselbe Mensch, der Sie vor einer Stunde waren. Meine Bilder haften länger in meinem Gedächtnis als Ihre gekritzelten Radierungen oder die verschwommenen Sachen, in deren Grau Sie sich einbilden, zarte Harmonien zu sehen. Erskines nächstes Drama mag wieder die Freiheit zum Vorbild nehmen, aber seine patriotischen Märtyrer werden dann etwas Besseres zu tun haben, als ein unsinniges Geschwätz gegen Puppenkönige zu richten, die in ihrem ganzen Leben im geheimen nicht so viele feige Gemeinheit, Habgier, Grausamkeit und Tyrannei geplant haben, als es bei jeder Halbjahrsversammlung von einem Dividenden verschluckenden Gewürm offen beschlossen wird, deren armselige Lohnsklaven sich sechszehn von den vierundzwanzig Stunden abschinden müssen.« »Und was soll das Ende von dem allen sein?« fragte Sir Charles etwas verwirrt. »Sozialismus oder Zerstörung. Sozialismus, wenn der Kampf schließlich die Fähigkeit entwickelt, die Aufgaben der Gesellschaft zu ordnen; denn die Gesellschaft ist zu übervölkert und zu kompliziert, um noch länger nach dem alten Zufallssystem des Privateigentums geleitet zu werden. Wenn wir nicht unsere Gesellschaft sozialistisch neuordnen -- vom menschlichen Standpunkt aus ein sehr erhabenes und prächtiges Unternehmen, volkswirtschaftlich ein sehr einfaches und gesundes -- dann wird der Freihandel durch sich selbst England zugrunde richten, und ich will Ihnen genau sagen, auf welche Weise. Als mein Vater sein Vermögen erwarb, hatten wir einen Vorsprung vor allen andern Völkern durch die Entwicklung unserer Industrie und den Reichtum an Eisen und Kohle. Andere Völker kauften unsere Erzeugnisse billiger, als wenn sie sie selbst hervorgebracht hätten, und doch noch so hoch über unserm Herstellungspreis, daß der Verdienst unsere Kapitalisten wie eine Meeresflut überfiel. Als die Arbeiter durch ihre Gewerkschaften ihren Anteil an dem Segen in Form von Lohnerhöhungen verlangten, war es billiger, ihnen das wenige, was sie zu verlangen wagten, zu bewilligen, als den Goldstrom zum Stillstand zu bringen und sie zu bekämpfen und sie zu zerschmettern. Aber jetzt haben unsere Kunden in ihren eigenen Ländern unsere industriellen Methoden nachgeahmt und verbessert, und sie haben Plätze entdeckt, an denen man Kohle und Eisen noch billiger haben kann als heute in England. Sie produzieren für sich selbst, oder kaufen das, was sie früher bei uns gekauft haben, anderswo. Unser Verdienst verschwindet, unsere Maschinen stehen still, unsere Arbeiter liegen auf der Straße. Heute macht es sich bezahlt, die Fabriken zu schließen und die Gewerkschaften zu bekämpfen und zu zerstören, wenn die Männer nicht etwa für eine Lohnerhöhung, sondern gegen eine Lohnherabsetzung streiken. Jetzt, da diese Gewerkschaften geschlagen werden und hilflos in dem Maße, in dem die Zahl der Arbeitslosen in ihren Reihen zunimmt, dem Bankrott entgegengehen, jetzt werden sie von unserer Klasse gehätschelt und gepriesen -- ein unfehlbares Zeichen, daß sie in ihrer Aufgabe, uns zu vernichten, keine weiteren Fortschritte machen. Die kleinen Kapitalisten hat die Ebbe auf den Strand gesetzt, die großen folgen der Strömung des Wassers und bauen ihre Werke da, wo Dampfkraft, Wasserkraft, Arbeitskraft und Güterbeförderung billiger sind als in England, das früher in diesen Dingen am billigsten war. Die Arbeiter werden mit den Fabriken auswandern, aber sie werden sich immer noch stärker vermehren, als sie auswandern, und man wird ihnen vorwerfen, daß sie durch ihre maßlosen Lohnansprüche das Kapital ins Ausland trieben. Und das wird so weiter gehen, solange noch ein Chinese oder Indier unbeschäftigt ist und sie unterbietet. Wenn die englischen Fabriken geschlossen sind, werden sie durch Villen ersetzt werden. Die Industriegegenden werden sich in elegante Aufenthaltsorte für Kapitalisten verwandeln, die von den Erträgnissen ihrer ausländischen Anlagen leben. Die Bauerngüter und Viehwirtschaften werden zerstört und in Jagdgründe verwandelt. Alle Dinge, die irgendwie an andern Orten hergestellt werden können als dort, wo sie gebraucht werden, kommen von auswärts. Sie sind eine Bezahlung für die Benutzung der Jagdgründe durch ausländische Jagdliebhaber oder für die Dividenden der in England lebenden Kapitalisten. Aber da diese Kapitalisten ihre Unternehmungen im Auslande haben, so wird die Einfuhr nicht durch eine Ausfuhr bezahlt, denn für Mieten und Zinsen wird überhaupt kein Gegenwert gegeben. Diese Tatsache wollen die Freihandelsmänner nicht einsehen oder wenigstens nicht eingestehen, obgleich sie der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis ihrer Gegner ist. Man wird stürmisch nach Zollschutz verlangen. Aber keiner will zu einem nachweislich unvernünftigen Mittel seine Zuflucht nehmen, das zuerst die Preise erhöht und dann erst die Löhne, und das nirgendwo den Arbeiter geholfen hat. Es wird nur noch solche Beschäftigung geben, die an Ort und Stelle getan werden muß, wie das Auspacken und Verteilen der Einfuhr, das Bedienen der Eigentümer als Haussklaven, das Theaterspielen, Predigen, Straßenpflastern, Laternenanzünden und so weiter. Und auch in diesen Berufen werden immer weniger Leute beschäftigt werden, da die Kapitalisten zu der Erkenntnis kommen, daß der übertriebene Prunk nicht vornehm ist, und ein einfacheres Leben genießen werden. Ein ungeheueres Proletariat, das sich zuerst aus den früheren Arbeitern in der Exportindustrie entwickelt hat, wird mit seiner Nachkommenschaft dauernd ohne Beschäftigung sein. Sie werden ihren Anteil an dem Land und an den Maschinen verlangen, um für sich selbst zu produzieren, und man wird sie zurückweisen. Dann zerschlagen sie ein paar Fensterscheiben und werden zerstreut. Ihre Führer bekommen eine Warnung. Sie stecken einige Häuser in Brand, ermorden einen oder zwei Polizisten, und jetzt wird an denen, die man verwarnt hat, ein Exempel statuiert. Sie machen einen Aufstand, werden mit Maschinengewehren niedergeschossen -- aus dem Lande verjagt und irgendwie und irgendwo vernichtet. Denn die besitzenden Klassen denken gar nicht daran und sehen auch keine Möglichkeit, anders den berechtigten Ansprüchen der Arbeiter nachzukommen. Sie selbst, Sie haben nur zu leicht fünfzig Pfund für Jansenius' Auswanderungsfonds gegeben, aber Sie würden Polizei, Militär und die Aufstandsgesetze anrufen, wenn die Leute nach Brandon Beeches kämen und Sie aufforderten, auszuziehen und mit den andern für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Nun, wenn das überflüssige Proletariat vernichtet ist, dann bleibt eine Bevölkerung von Kapitalisten übrig, die von einer unverdienten Einfuhr lebt und von einem unzufriedenen Gefolge bedient wird. Eines Tages wird die unverdiente Einfuhr aufhören, vielleicht weil draußen Revolutionen oder Staatsbankrotte ausgebrochen sind, weil der Zinsfuß fällt, weil Regierungen die Unternehmungen für lumpige Summen übernehmen, die man dann anderweitig nicht wieder anlegen kann, oder aus sonstigen Gründen. Unsere Kapitalistengemeinschaft ist dann auf den Rest der letzten Dividende angewiesen, die sie längst verzehrt hat, ehe sie die zerstörten Maschinen wiederhergestellt hat, um sich durch eigene Arbeit am Leben zu erhalten. Pferde, Hunde, Katzen, Ratten, Brombeeren, Pilze und Kannibalismus schieben dann das Ende hinaus, bis --« »Hah! ha! ha!« rief Sir Charles laut. »Bei meiner Ehre, Trefusis, ich dachte anfangs, Sie redeten ernst. Aber jetzt gestehen Sie nur, Sie alter Bursche, es war alles Spaß von Ihnen. Ich hatte Sie halb im Verdacht, Sie seien etwas verdreht.« Und er blinzelte Erskine zu. »Was ich jetzt beschrieben habe, ist das unausbleibliche Ende unserer heutigen Freihandelspolitik ohne Sozialismus. Die Theorie des Freihandels ist nur auf ein Austauschsystem anwendbar, nicht auf eins der Ausbeutung. Wir haben ein Ausbeutungssystem, und wenn wir es nicht verlassen, müssen wir entweder zum Zollschutz zurückkehren oder auf die Art, die ich soeben dargelegt habe, zugrunde gehen. Nun würde der Cobden Klub, ehe er die Anhänger des Schutzzolls triumphieren ließe, lieber selbst unter das Volk gehen und den Arbeitern zeigen, daß Schutzzoll die englischen Besitzer zwingt, Sklaven zu beschäftigen, die in England wohnen, und die daher wahrscheinlich -- wenn auch nicht notwendigerweise -- Engländer sein müssen. Das würde schließlich dem Volke die Augen darüber öffnen, daß es gar nicht im Besitze Englands ist. Wenn sie das erst begriffen haben, werden sie es bald zu ihrem Eigentum machen, und wenn erst England der Gemeinbesitz seiner Bewohner ist, dann wird England sozialistisch. Die künstliche Ungleichheit wird vor der wirklichen Vertragsfreiheit verschwinden. Ein freier Wettbewerb, ein ungehindertes Nacheifern werden uns vorwärtsbringen, und der Freihandel wird endlich seine Versprechungen erfüllen.« »Und die Faulenzer und Bummler,« fragte Erskine. »Was wird aus denen?« »Sie und ich natürlich,« sagte Trefusis, »wir werden wohl verhungern müssen, wenn wir es nicht vorziehen, zu arbeiten, oder wenn man uns nicht mit Rücksicht auf unsere schlechte Erziehung unterstützt.« »Glauben Sie, man wird uns ausplündern?« fragte Sir Charles. »Ich glaube, man wird uns daran hindern, die andern weiter auszuplündern. Wenn die Arbeiter Bedenken tragen, uns bis aufs Hemd auszuziehen oder uns die Kehlen abzuschneiden, falls wir den geringsten Widerstand leisten, dann zeigen sie uns mehr Erbarmen, als wir ihnen je gezeigt haben. Denken Sie daran, was wir getan haben, um unsere Zinsen aus Irland und Schottland zu holen und unsere Dividenden aus Ägypten, falls Sie meine Photographien und ihre Belehrung über unsere heimische Grausamkeit vergessen haben. Ermorden wir nicht die große Masse dieser armen Arbeiter durch Überarbeit und Bedrückung? Ihre durchschnittliche Lebenszeit ist nicht halb so lang wie unsere, obgleich die menschliche Natur in uns dieselbe ist wie in ihnen. Wenn wir ihrem Ansturm widerstehen, wenn es uns gelingt, die Ordnung wiederherzustellen, wie wir das nennen, dann werden wir sie erbarmungslos für ihre Unbotmäßigkeit bestrafen, grade wie wir es 1871 in Paris taten, wo wir ihnen übrigens auch lehrten, wie töricht es ist, seinen Feinden Pardon zu geben. Wenn sie uns überwinden, dann werden wir unsere Schläge bekommen, und es geschieht uns ganz recht. Da ist es doch viel besser, schon jetzt vernünftig zu sein und Blutvergießen zu vermeiden. Nicht wahr, Erskine?« Erskine überlegte grade, welche Antwort er geben sollte, als ihn Trefusis aus der Fassung brachte, indem er klingelte. Gleich darauf erschien eine ältliche Frau, die einen länglichen Tisch vor sich herschob, der wie ein Handwagen auf Rädern ging. »Danke sehr,« sagte Trefusis und entließ sie. »Hier ist guter Wein, gutes Wasser, gutes Obst und gutes Brot. Ich weiß, daß Sie am Wein hängen wie an einer guten, gewohnten Herzstärkung. Was mich angeht, so mache ich keinen Unterschied zwischen ihm und andern Pflanzengiften. Ich genieße sie niemals. Wasser zur Beruhigung, Wein zur Anregung. In mir sprudeln genug Quellen der Anregung, ich habe niemals Mangel daran und brauche nur nach Beruhigung zu suchen. Indessen« -- hier entkorkte er die Flasche, »ein voller Becher hiervon wird Sie für wenigstens eine halbe Stunde sich wie Götter fühlen lassen. Sollen wir auf Ihre Bekehrung zum Sozialismus trinken?« Sir Charles schüttelte den Kopf. »Wie, Mr. Donovan Brown, der große Künstler, ist ein Sozialist, warum sollten Sie keiner sein?« »Donovan Brown?« rief Sir Charles interessiert aus. »Ist das möglich? Kennen Sie ihn persönlich?« »Hier sind verschiedene Briefe von ihm. Sie können sie lesen. Schon das einfache Autograph eines solchen Mannes ist interessant.« Sir Charles nahm die Briefe und las sie aufmerksam durch, während ihm Erskine über die Schulter sah. »Ich stimme vollständig mit allem überein, was er hier sagt,« bemerkte Sir Charles. »Es ist ganz richtig.« »Natürlich stimmen Sie mit uns überein. Donovan Browns Bedeutung als Künstler hat mir einen Rekruten erworben, und Ihre Bedeutung als Baronet wird mir noch mehrere gewinnen.« »Aber --« »Aber was?« sagte Trefusis und öffnete schnell eins von den Albums, daß das Bild eines widerlichen Zimmers zeigte. »Sie sind doch hiergegen, nicht wahr? Donovan Brown ist dagegen, und ich bin dagegen. Sie mögen sonst in allem anderer Meinung sein, aber Sie sind doch auf unserer Seite. Nicht wahr?« »Aber es kann die Folge von Trunksucht, Gleichgültigkeit oder --« »Das Einkommen meines Vaters war fünfzigmal so groß wie das von Donovan Brown. Glauben Sie, daß Donovan Brown fünfzigmal so trunksüchtig und gleichgültig wie mein Vater war?« »Gewiß nicht. Ich leugne auch gar nicht, daß vieles richtig ist an dem, was Sie sagen. Aber Sie verlangen da von mir einen sehr wichtigen Schritt.« »Durchaus nicht. Ich verlange gar nicht, daß Sie sich durch Ihre Unterschrift, Ihren Beitritt oder eine Bürgschaft an irgendeiner Gesellschaft oder einer Verschwörung beteiligen sollen. Ich mochte nur Ihren Namen zur Erwähnung gegenüber solchen Feiglingen, die den Sozialismus für ganz richtig halten, aber ihn nicht bekennen wollen, weil sie ihn nicht für geachtet ansehen. Sie werden sich nicht mehr ihrer Überzeugung schämen, wenn sie hören, daß ein Baronet sie teilt. Sie sehen also, daß Ihnen der Sozialismus schon etwas bietet, er gibt Ihrem sonst wertlosen Titel einen wirklichen Wert.« Sir Charles errötete ein wenig und wurde sich bewußt, daß das Beispiel seines Lieblingsmalers ihn mehr beeinflußt hatte als seine eigene Überzeugung oder die Beweise Trefusis'. »Was meinen Sie, Chester?« fragte er. »Wollen Sie sich anschließen?« »Erskine ist schon durch seine veröffentlichten Schriften dafür bekannt, daß er für die Sache der Freiheit eintritt,« sagte Trefusis. »Drei von den Broschüren auf diesem Büchergestell zitieren die patriotischen Märtyrer.« Erskine wurde rot, da es ihm schmeichelte, daß er zitiert worden war. Diese Aufmerksamkeit war ihm erst einmal zuteil geworden, und zwar durch einen Kritiker, der dadurch zeigen wollte, daß die patriotischen Märtyrer nachlässig geschrieben seien. »Nun?« fragte Trefusis. »Soll ich Donovan Brown schreiben, daß seine Briefe die aufrichtigste Zustimmung und Sympathie von Sir Charles Brandon gefunden haben?« »Gewiß, gewiß. Das heißt, wenn mein unbekannter Name für ihn im geringsten von Interesse ist.« »Gut,« sagte Trefusis und füllte sein Glas mit Wasser. »Laßt uns mit unserm Bruder Sozialdemokrat anstoßen.« Erskine lachte laut, aber gezwungen. »Welch ein Esel sind Sie, Brandon!« sagte er. »Sie, mit Ihrem großen Landbesitz und Säcken von Gold, die in Eisenbahnen angelegt sind, Sie nennen sich einen Sozialdemokraten. Wollen Sie alles verkaufen und verteilen nach dem Wort: Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen?« -- »Keinen Pfennig,« erwiderte Trefusis schnell für Sir Charles. »In diesem Lande kann ein Mann kein Christ sein. Ich habe es versucht und gefunden, daß es unmöglich ist, sowohl wegen der Gesetze als auch wegen der Zustände. Ich bin ein Kapitalist und ein Grundbesitzer. Ich habe Eisenbahnaktien, Grubenaktien, Gebäudeaktien, Bankaktien und Aktien von fast jeder Art, und sie machen mir die größten Sorgen. Aber diese Aktien sind ja kein wirklich existierender Reichtum. Sie sind nur ein Pfandbrief auf die Arbeit von ungeborenen Generationen von Arbeitern, die arbeiten müssen, um mich und die Meinen in Müßiggang und Luxus zu erhalten. Wenn ich sie verkaufte, würde dann wohl der Pfandbrief ungültig gemacht und die ungeborenen Generationen aus ihrer Knechtschaft befreit werden? Nein. Er würde nur in die Hände eines andern Kapitalisten übergehen, und die arbeitende Klasse wäre durch meine Selbstaufopferung nicht besser daran. Sir Charles kann nicht dem Gebot Christi folgen, er soll es nur einmal versuchen! Er mag sein Land für einen öffentlichen Park hergeben, aber nur die reicheren Klassen werden die Muße haben, ihn zu genießen. Und wenn er ihn dicht bei den Wohnungen der Armen anlegt, damit sie wenigstens seine Luft einatmen, so wird er nur den Wert der umliegend Häuser steigern und die Armen daraus vertreiben. Lassen Sie ihn eine Schule für die Armen ausstatten, wie Eton oder Christs Hospital, und die Reichen werden sie für ihre eigenen Kinder nehmen, grade wie in den zwei soeben genannten Fällen. Sir Charles will nicht die Armut pflegen, sondern sie zerstören. Es ist gleichgültig, wieviel Sie den Armen geben, alles, mit Ausnahme der nacktesten Existenzmittel, wird ihnen mit Gewalt wieder abgenommen. Alles Reden über praktisches Christentum oder selbst einfache Gerechtigkeit ist heute nur Verschwendung von Worten. Wie können Sie einem Arbeiter einen gerechten Lohn geben, wenn Sie dank der allgemeinen Gewohnheit, ihm seine Arbeit zu stehlen, ihren Wert gar nicht festsetzen können? Ich weiß das aus Erfahrung. Ich wollte den richtigen Preis für das Grabmal meiner Frau bezahlen, aber ich konnte seinen Wert nicht herausfinden und werde es auch nie können. Der Grundsatz, nach dem wir unsere nationale Industrie einzelnen zur Ausplünderung verpachten, die sich für die Rente durch Erpressungen entschädigen, hat uns so verdorben und schlecht gemacht, daß wir gar nicht mehr ehrenhaft sein können, selbst wenn wir es wollen. Und der Grund, weshalb wir das so ruhig ertragen, ist, weil sehr wenige es wirklich anders wollen.« »Ich muß diese wichtige Frage studieren,« sagte Sir Charles unruhig und füllte seinen Becher wieder. »Können Sie mir ein gutes Buch über den Gegenstand empfehlen?« »Jede gute Abhandlung über Nationalökonomie genügt,« sagte Trefusis. »In der ökonomischen Wissenschaft führen alle Wege zum Sozialismus, obgleich in neun von zehn Fällen der Studierende nicht sein Ziel erkennt und den Fluch auf sich lädt, den Jeremias über die ausspricht, die gegen Belohnung die Bösen in Schutz nehmen. Ich werde Ihnen ein oder zwei Bücher aussuchen. Und wenn Sie das nächste Mal, da Sie in London sind, Donovan Brown aufsuchen, so wird er sich, das weiß ich sicher, sehr freuen. Er trifft sich mit sehr wenigen Männern, die sowohl mit seiner sozialen als auch seiner künstlerischen Anschauung übereinstimmen.« Sir Charles Augen glänzten, als er an Donovan Brown erinnert wurde. »Ich werde mir eine Einführung bei ihm zu hoher Ehre anrechnen,« sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, daß er ein Freund von Ihnen war.« »Ich war ein sehr tätiger junger Sozialist, als ich ihn zum erstenmal traf,« sagte Trefusis. »Als Brown noch unbekannt und ein erbärmlich armer Mann war, kaufte meine Mutter auf Bitten eines seiner Freunde aus Barmherzigkeit eins seiner Bilder für dreißig Pfund, und er war sehr froh, das Geld zu bekommen. Nach zehn Jahren, als meine Mutter tot und Brown berühmt war, wurden mir achthundert Pfund für dieses Bild angeboten, das übrigens nach meiner Meinung ein sehr schlechtes war. Nun würde, wenn ich auch den gewöhnlichen, ungerechtfertigten Abzug machte, für die Zinsen der dreißig Pfund während der zwölf Jahre, die ungefähr verflossen waren, mir der Verkauf des Bildes doch noch einen Verdienst von über siebenhundertundfünfzig Pfund gebracht haben, eine unverdiente Bereicherung, auf die ich keinen Anspruch hatte. Mein Anwalt, demgegenüber ich die Sache erwähnte, meinte, ich könnte mit Recht die siebenhundertundfünfzig Pfund einstecken. Meine Mutter habe sie durch ihre Mildtätigkeit verdient, mit der sie ein voraussichtlich wertloses Bild von einem unbekannten Maler kaufte. Er überzeugte mich aber nicht davon, daß ich ein Recht hätte, mir die Tugenden meiner Mutter bezahlen zu lassen, obgleich wir darin übereinstimmten, daß weder ich noch meine Mutter irgendeine Vergütung in Form von Vergnügen bei der Betrachtung des Bildes empfangen hatten, denn es war seit seiner Erwerbung durch das Blindwerden der Farben im hohen Maße verdorben. Schließlich ging ich mit dem Bilde nach Browns Atelier. Ich sagte ihm, es habe für mich keinen Wert, da ich es für ein besonders schlechtes Bild halte, und er sollte es für fünfzehn Pfund, die Hälfte des früheren Preises, zurückhaben. Er sagte mir sofort, ich würde von jedem Händler mehr dafür bekommen, als er selbst mir geben könnte. Aber er sagte auch, ich hätte kein Recht, mit seiner Arbeit ein Geschäft zu machen, und er bot mir den Originalpreis von dreißig Pfund an. Ich nahm sie und sandte ihm dann den Mann zu, der mir die achthundert angeboten hatte. Zu meinem Verdruß weigerte sich Brown, das Bild überhaupt zu verkaufen, weil er es für seiner unwert hielt. Der Mann bot bis fünfzehnhundert Pfund, aber Brown blieb standhaft, und so fand ich, daß ich ihm nicht nur keine siebenhundertundsiebzig Pfund in die Tasche gesteckt, sondern ihm sogar dreißig weggenommen hatte. Ich bot ihm daher an, die dreißig Goldstücke zurückzugeben. Brown empfand dieses Anerbieten als eine Beleidigung und lehnte jede weitere Auseinandersetzung mit mir ab. Dann bestand ich darauf, daß die Angelegenheit dem Schiedsgericht unterworfen werde, und verlangte fünfzehnhundert Pfund als den vollen Handelswert des Gemäldes. Alle Schiedsrichter fanden das ungeheuerlich, worauf ich mich damit zufriedengab, wenn sie mein Anrecht auf den Handelswert nicht anerkennen wollten, dann sollten sie mir wenigstens mein Anrecht auf den Gebrauchswert anerkennen. Sie stimmten dem zu und setzten ihre Entscheidung für vierzehn Tage aus, um Adam Smith zu lesen und zu entdecken, was in aller Welt ich mit meinen Gebrauchswerten und Handelswerten meinte. Ich zeigte ihnen darauf, daß das Gemälde für mich keinen Gebrauchswert habe, da ich es nicht liebte, daß ich daher zu gar nichts berechtigt sei und Brown die dreißig Pfund zurücknehmen müßte. Sie freuten sich, mir dies auch zuzugeben, da sie alle Kunstfreunde von Brown waren und nicht wünschten, daß er bei dem Handel sein Geld verlöre, obgleich sie heimlich ebenso wie ich das Bild für ein schlechtes hielten. Hierauf wurden Brown und ich sehr gute Freunde. Er duldete anfangs meine Annäherung, damit es nicht aussähe, als ob er über die Herabsetzung seines Werkes beleidigt sei. Nach und nach ging er zu meinen Ansichten über, gradeso wie Sie es getan haben.« »Das ist sehr interessant,« sagte Sir Charles »Wie vornehm -- fünfzehnhundert Pfund zurückzuweisen! Er konnte sie wahrscheinlich gut gebrauchen.« »Heldenhaft war es -- nach den Ansichten des neunzehnten Jahrhunderts über Heldentum. Aus freien Stücken auf eine Gelegenheit, Geld zu verdienen, zu verzichten. Das ist das =non plus ultra= des Märtyrertums. Browns Frau war sehr böse über ihn, weil er so gehandelt hatte.« »Es ist eine interessante Geschichte -- oder könnte als eine solche gelten,« sagte Erskine. »Aber Sie machen mich ganz verdreht mit Ihrem verdammten Wertaustausch und dergleichen Unsinn. Alles ist bei Ihnen eine Zahlenfrage.« »Das kommt daher, weil ich kein Poet bin,« sagte Trefusis. »Aber wir Sozialisten sollten die romantische Seite unserer Bewegung studieren, um die Frauen zu gewinnen. Wenn Sie eine Sache groß machen wollen, dann interessieren Sie jedes weibliche Wesen dafür. Sie ist verheiratet oder wird es eines Tages sein, und dann widerspricht sie ihrem Mann mit Fetzen aus unsern Beweisgründen. Ein Wortstreit wird folgen, und ihr Sohn wird zuhören und zu denken anfangen, wenn er überhaupt dazu fähig ist. So setzen sich unsere Ideen in die Köpfe der Leute. Ich habe schon manches junge Mädchen bekehrt. Die meisten wissen nicht mehr von der volkswirtschaftlichen Theorie des Sozialismus, als sie von Chaldäa wissen, aber sie fürchten und verurteilen nicht mehr länger diesen Namen. Oh, ich versichere Ihnen, es kann auf diesem Gebiete viel von Männern getan werden, die nicht ängstlich vor Frauen sind und Zeit haben, ruhig zu warten, bis ihre ausgestreute Saat aufgegangen ist.« »Nehmen Sie sich in acht. Eine von Ihren weiblichen Proselyten wird einmal die Oberhand über Sie bekommen. Der zukünftige Ehemann, dem man widerspricht, kann auch Sidney Trefusis sein. Ha, ha, ha!« Sir Charles hatte ein zweites großes Glas mit Wein geleert und war etwas erhitzt und laut. »Nein,« sagte Trefusis, »ich selbst habe genug bekommen von der Liebe, und ich bin auch nicht der Mann, der so leicht welche einflößt. Frauen machen sich nichts aus Männern, denen, wie Erskine sagt, alles eine Zahlenfrage ist. Früher flirtete ich mit Frauen, jetzt belehre ich sie, und ich verabscheue das Flirten eines Mannes noch mehr als das einer Frau. Noch etwas Wein? Oh, Sie dürfen den Rest dieser Flasche nicht umkommen lassen.« »Ich denke, wir gehen am besten, Brandon,« sagte Erskine, der ein wachsendes Mißtrauen gegen Trefusis empfand. »Wir haben versprochen, vor zwei zurück zu sein.« »Das sollen Sie auch,« sagte Trefusis. »Es ist jetzt noch nicht Viertel nach eins. Übrigens, ich habe Ihnen noch nicht Donovan Browns Lieblingsdokument zur Erneuerung der Gesellschaft gezeigt. Hier ist es. Eine Riesenpetition, die verlangt, daß es für ein schweres Verbrechen erklärt wird, wenn man einem Arbeiter irgendeinen Teil des Wertes, den seine Arbeit hat, vorenthält. Das ist alles.« Erskine stieß leise Sir Charles, und dieser sagte schnell: »Danke sehr, aber ich will lieber nichts unterzeichnen.« »Ein Baronet soll eine solche Petition unterzeichnen!« rief Trefusis aus. »Ich dachte gar nicht daran, Sie darum zu bitten. Ich zeige es Ihnen nur als ein interessantes geschichtliches Dokument, das die Unterschriften einiger Künstler und Dichter enthält. Hier ist zum Beispiel die von Donovan Brown. Er hat auch die Petition angeregt, die kaum viel Gutes erwirken wird, da die Sache gar nicht auf solche Art durchgeführt werden kann. Indessen, ich habe Brown versprochen, so viele Unterschriften wie möglich zu sammeln. Darum mögen Sie sie wenigstens unterzeichnen, Erskine. Sie enthält zwar nichts in Blankversen über die heilige Pflicht des Tyrannenmordes, aber sie ist doch ein Schritt vorwärts auf dem rechten Wege. Sie werden doch nicht bei einer solchen Kleinigkeit Bedenken haben -- oder sind Sie durch die Kritiken ängstlich geworden? Kommen Sie, Ihren Namen und Ihre Adresse.« Erskine schüttelte den Kopf. »Haben Sie denn nur dann revolutionäre Gefühle, wenn Sie dadurch Ruhm als Dichter gewinnen können?« »Ich zeichne einfach nicht, weil ich keine Lust dazu habe,« sagte Erskine erregt. »Mein lieber Freund,« sagte Trefusis fast herzlich, »wenn ein Mann ein Gewissen hat, so kann er in Überzeugungssachen nicht schwanken. Ich habe irgendwo in Ihrem Buch gelesen, daß der Mann, der für die Freiheit seines Bruders nicht sein Blut vergießt, ein Feigling und ein Sklave ist. Wollen Sie nicht einen Tropfen Tinte vergießen -- dazu noch meiner Tinte -- für das Anrecht Ihrer Brüder an ihrer Hände Werk? Ich machte mir auch zuerst nichts daraus, diese Petition zu unterschreiben, denn ich könnte ebensogut einen Tiger bitten, seine Beute mit mir zu teilen, wie unsere Herrschenden, die gestohlene Arbeit, von der sie leben, fahren zu lassen. Aber Donovan Brown sagte zu mir: >Sie haben keine Wahl. Entweder glauben Sie, daß dem Arbeiter der Ertrag seiner Arbeit gehört, oder Sie glauben es nicht. Wenn Sie es aber glauben, dann bekennen Sie auch Ihre Überzeugung, selbst wenn das so nutzlos sein wird, als das Händewaschen des Pilatus.< So habe ich denn unterzeichnet.« »Donovan Brown hatte recht,« sagte Sir Charles. »Ich will unterzeichnen.« Und er schrieb sorgfältig seinen Namen hin. »Brown wird entzückt sein,« sagte Trefusis. »Ich werde ihm heute schreiben, daß ich wieder eine gute Unterschrift für ihn erlangt habe.« »Zwei Unterschriften,« sagte Sir Charles. »Sie sollen zeichnen, Erskine. Der Teufel soll mich holen, wenn Sie es nicht tun! Es ist nur gegen die Halunken, die davonlaufen und ihren Arbeitern nicht ihre Löhne bezahlen.« »Oder, die sie nicht ganz bezahlen,« bemerkte Trefusis mit seltsamem Lächeln. »Aber unterzeichnen Sie lieber nicht, wenn Sie keine Lust haben.« »Chester, wenn Sie nach mir nicht zeichnen, sind Sie ein Duckmäuser,« sagte Sir Charles. »Ich weiß nicht, was es bedeutet,« sagte Erskine unschlüssig. »Ich verstehe nichts von Petitionen.« »Es bedeutet, was es sagt. Man kann Sie nicht für irgendeine Meinung verantwortlich machen, die nicht darin ausgedrückt ist,« erwiderte Trefusis. »Aber lassen wir es sein. Sie mißtrauen mir, glaube ich, etwas und möchten lieber nichts mit meinen Petitionen zu tun haben. Aber Sie werden eine bessere Ansicht darüber bekommen, wenn Sie erst mehr mit mir bekannt sind. Inzwischen hat es ja keine Eile. Unterschreiben Sie jetzt noch nicht.« »Unsinn! Ich zweifle gar nicht an Ihrer ehrlichen Überzeugung,« sagte Erskine schnell und leugnete seinen Verdacht, den er wohl fühlte, für den er aber keine Begründung wußte. »Hier haben Sie es!« Und er unterzeichnete auch. »Sehr gut!« sagte Trefusis. »Das wird Brown für einen Monat glücklich machen.« »Es ist jetzt Zeit für uns, daß wir gehen,« meinte Erskine verdrießlich. »Besuchen Sie mich zu jeder Zeit. Sie sind mir willkommen,« sagte Trefusis. »Sie brauchen in keiner Weise formell zu sein.« Dann schieden sie voneinander, und Sir Charles versicherte Trefusis, daß er noch nie einen so interessanten Vormittag verlebt habe. Er schüttelte ihm dreimal lange die Hand. Erskine sagte wenig, bis er mit seinem Freunde auf dem Riverside Road war, dann aber brach er plötzlich heraus: »Was zum Teufel soll das heißen, daß Sie mittags um ein Uhr zwei Glas von solch einem berauschenden Zeug trinken, und dazu noch im Hause eines so gefährlichen Menschen, wie er es ist? Es tut mir sehr leid, daß ich den Burschen besucht habe. Ich hatte schon vorher meine Besorgnisse, und sie sind vollständig eingetroffen.« »Wieso?« fragte Sir Charles und fuhr zurück. »Er hat uns angeführt. Ich war ein richtiger Narr, daß ich das Papier unterzeichnete, und Sie auch. Deswegen hat er uns nur eingeladen.« »Unsinn, mein lieber Junge. Es war nicht sein Schriftstück, sondern das von Donovan Brown.« »Das bezweifle ich. Wahrscheinlich hat er Brown ebenso zum Zeichnen beschwatzt, wie er uns beschwatzt hat. Seine Wege sind grade so schief wie seine Ansichten. Hörten Sie, wie er über Miß Lindsay log?« »Oh, Sie haben sich darüber geirrt. Er macht sich gar nichts aus ihr oder aus sonst jemand.« »Gut, wenn Sie zufrieden sind, ich bin es nicht. Sie würden darüber nicht in so guter Laune sein, wenn Sie so wenig Wein getrunken hätten wie ich.« »Pah! Sie sind zu komisch. Es war famoser Wein. Glauben Sie etwa, ich sei betrunken?« »Nein. Aber Sie würden auch nicht unterschrieben haben, hätten Sie nicht das zweite Glas getrunken. Wäre ich nicht durch Sie gezwungen worden -- nachdem Sie das Beispiel gegeben hatten, konnte ich nicht anders -- ich hätte ihn lieber am Galgen gesehen, als mich mit seiner Petition abgegeben.« »Ich sehe nicht ein, was das für schlimme Folgen haben kann,« sagte Sir Charles und unterdrückte mit Gewalt eine in ihm aufsteigende Unruhe. »Nie wieder betrete ich sein Haus,« sagte Erskine mürrisch. »Wir waren wie zwei Fliegen in einem Spinnennetz.« Unterdessen schrieb Trefusis, wie er versprochen hatte, an Donovan Brown. Sallusts Haus. Lieber Brown, ich habe den Vormittag damit verbracht, zwei noch sehr junge Fische zu angeln, und ich habe sie mit mehr Mühe ans Land gebracht, als sie es wert sind. Einer ist ein hohes Tier. Er ist Baronet und Kunstliebhaber, mit Respekt zu sagen. Alle meine Gründe und mein kleines Museum von Photographien waren an ihm verloren, aber als ich Ihren Namen nannte und ihm Ihre Bekanntschaft versprach, biß er sofort an. Er war halb betrunken, als er unterschrieb, und ich hätte ihn nicht das Papier berühren lassen, wenn ich mich nicht vorher überzeugt hätte, daß er es ehrlich meinte und daß mein Wein nur seine bessere Natur von ihrer gewöhnlichen Feigheit und Voreingenommenheit befreit hatte. Wir müssen es in möglichst vielen Zeitungen veröffentlichen, daß er unsere große Petition unterschrieben hat. Das wird andere verlocken, gradeso wie Ihr Name ihn verlockt hat. Der zweite Neubekehrte, Chichester Erskine, ist ein junger Dichter. Er wird uns nicht viel nützen, obgleich er ein Vorkämpfer der Freiheit in Blankversen ist und seine Werke Mazzini und andern widmet. Er hat widerstrebend unterschrieben. Ihr ganzes Zaudern ist die Unentschlossenheit, die von der Unwissenheit herrührt. Sie haben aus sich heraus noch nicht die Wahrheit gefunden und wagen es nicht: mir zu vertrauen, da es sich hier um Dinge handelt, in denen keiner dem andern vertrauen kann. Ich habe hier eine hübsche junge Dame kennen gelernt, die Ihnen als Modell für Ihre Hypatia dienen könnte. Sie ist vollgepfropft mit allen adeligen Vorurteilen, aber ich bin dabei, sie zu kurieren. Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, sie mit Erskine zu verheiraten, und er ist eifersüchtig auf mich, weil er glaubt, ich stellte ihr nach. Das Wetter ist hier fein, und ich führe ein lustiges Leben, aber ich finde, daß ich dabei zu müßig bin. Usw. usw. Sechzehntes Kapitel. An einem sonnigen Vormittag saß Agatha auf der Türschwelle vor dem Treibhaus und las. Der Schatten ihres seidenen Sonnenschirmes wurde plötzlich dunkler, und als sie aufblickte, sah sie Trefusis vor sich stehen. »Oh!« Sie bot ihm sonst keinen Gruß an, denn sie war mit ihm übereingekommen, soviel als möglich alle Begrüßungen und Förmlichkeiten zu vermeiden. Er schien es nicht eilig zu haben, etwas zu sagen, und so begann sie nach einer Pause: »Sir Charles --« »Ist in die Stadt gegangen,« sagte er. »Erskine ist mit dem Zweirad aus. Lady Brandon und Miß Lindsay sind in dem Wagen ins Dorf gefahren, und Sie sind hier herausgekommen, um die Sommersonne zu genießen und um braun zu werden. Ich weiß schon alle Ihre Neuigkeiten.« »Sie sind sehr klug und irren sich, wie gewöhnlich. Sir Charles ist nicht in die Stadt gegangen. Er ist nur wegen einiger Papiere zur Eisenbahnstation gegangen und wird vor dem Essen zurück sein. Woher wissen Sie das alles, was hier vorgeht?« »Ich war mit meinem Feldstecher auf dem Dache meines Hauses. Ich sah Sie herauskommen und hier Platz nehmen. Dann kam Sir Charles vorbei. Dann Erskine. Dann Lady Brandon, die mit großer Energie losfuhr und einen bemerkbaren Gegensatz zu der hochmütigen Ruhe Gertrudes bot.« »Gertrude! Mir gefällt Ihre Dreistigkeit.« »Sie wollen sagen, Ihnen mißfällt meine Anmaßung.« »Nein, ich halte Dreistigkeit für ein bezeichnenderes Wort als Anmaßung, und ich will sagen, daß sie mir gefällt -- daß sie mich amüsiert.« »Wirklich! Was lesen Sie jetzt?« »Ich lese, was Sie jetzt grade sagten, nämlich Unsinn. Einen Roman.« »Also eine erlogene Geschichte von zwei Menschen, die niemals gelebt haben, und die ganz anders handeln würden, wenn sie lebten.« »Das ist richtig.« »Könnten Sie sich nicht etwas ebenso Amüsantes aus sich selbst erdenken?« »Vielleicht, aber es würde mir zu viele Mühe machen. Übrigens benimmt einem das Kochen den Appetit zum Essen. Ich würde keinen Geschmack an Geschichten haben, die ich selbst geschrieben habe.« »Bei welchem Band sind Sie jetzt?« »Beim dritten.« »Dann sind wohl der Held und die Heldin grade dabei, sich zu vereinigen?« »Ich weiß es wirklich nicht. Es ist einer von diesen geistreichen Romanen. Ich wollte, die Personen würden nicht soviel reden.« »Das ist Nebensache. Zwei von ihnen sind doch ineinander verliebt?« »Ja. Sonst würde es doch kein Roman sein.« »Glauben Sie in Ihrem geheimsten Innern, Agatha -- ich nehme mir die Freiheit, Sie beim Vornamen zu nennen, weil ich sehr ernst sein will -- glauben Sie wirklich, daß schon einmal zwei menschliche Wesen selbstlos genug gewesen sind, sich in der Art der Romane zu lieben?« »Natürlich. Wenigstens vermute ich es. Ich habe nie viel darüber nachgedacht.« »Ich bezweifle es. Meine Ansicht geht dahin, daß heutzutage kein Mann mehr an die Tiefe und Dauer seiner Zuneigung zu seiner Gefährtin glaubt. Trotzdem zweifelt er nicht an der Aufrichtigkeit ihrer Geständnisse, und er verbirgt die Unredlichkeit seiner eigenen vor ihr, zum Teil, weil er sich schämt, zum Teil auch, weil er mit ihr Mitleid hat. Und sie auf der andern Seite spielt genau dieselbe Komödie.« »Ich glaube, daß die Männer das tun, aber nicht die Frauen.« »Wirklich! Bitte, erinnern Sie sich, wie Sie einst vorgaben, Sie seien sehr in mich verliebt, als --« Agatha errötete und stützte ihre Hand auf die Türschwelle, wie um aufzuspringen. Aber sie blieb ruhig und sagte: »Halt, Mr. Trefusis. Wenn Sie darüber sprechen, werde ich gehen. Ich wundere mich über Sie! Haben Sie kein Taktgefühl?« »Gar keins. Und ich, der beleidigte Teil war an jenem -- halt, gehn Sie nicht fort. Ich will nicht wieder darauf anspielen. Ich fürchte mich immer mehr vor Ihnen. Sonst pflegten Sie vor mir Angst zu haben.« »Ja, und Sie pflegten mich einzuschüchtern. Sie haben die Gewohnheit, Frauen einzuschüchtern, die schwach genug sind, sich vor Ihnen zu fürchten. Sie sind viel klüger als ich und wissen wohl auch mehr, aber ich fürchte Sie nicht im mindesten.« »Dazu haben Sie auch keinen Grund, ebensowenig wie Sie früher einen hatten. Wenn Henrietta am Leben wäre, sie könnte es bezeugen, daß der einzige Mangel in meinen Beziehungen zu Frauen der ist, daß ich zu übertrieben liebenswürdig bin. Ich könnte einer Frau keinen Herzenswunsch verweigern, außer wenn sie meine Hand zur Ehe haben wollte. Solange Ihr Geschlecht davor halt macht, kann es mit mir tun, was es will.« »Wie grausam! Ich dachte, Sie wären sozusagen verlobt mit Gertrude.« »Die gewöhnliche Deutung einer Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau! Ich habe nie an so etwas gedacht, und ich bin sicher, daß sie es auch nie getan hat. Wir sind nicht halb so vertraut miteinander wie Sie und Sir Charles.« »Oh, Sir Charles ist verheiratet. Und ich rate Ihnen, sich zu verheiraten, wenn Sie nicht durch Ihre Freundschaften Mißverständnisse schaffen wollen.« Trefusis war betroffen. Anstatt zu antworten, stand er da, nachdem er ihr einen überraschten Blick zugeworfen hatte, und starrte unbeweglich auf den Knöchel seines Zeigefingers. »Haben Sie Mitleid mit unserm armen Geschlecht,« sagte Agatha boshaft. »Sie sind so reich und so klug und sehen wirklich so hübsch aus, daß Sie sich mit jemand verheiraten müßten. Gertrude würde nur zu glücklich sein.« Trefusis lächelte und schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. »Ich glaube, ich würde keine Aussicht haben,« fuhr Agatha pathetisch fort. »Ich würde natürlich entzückt sein,« entgegnete er mit gespielter Verwirrung, aber mit einem lauernden Aufleuchten seiner Augen, das sie vielleicht zurückgeschreckt hätte, wenn sie es bemerkt hätte. »Heiraten Sie mich, Mr. Trefusis,« flehte sie und faltete ihre Hände in übermütigem Spott. »Bitte, tun sie es.« »Ich danke Ihnen,« sagte Trefusis entschlossen. »Ich will es tun.« »Ich bin ganz sicher, daß Sie es nicht tun,« sagte Agatha, nachdem sie einen Augenblick ungläubig geschwiegen hatte. Dann sprang sie auf und faßte ihren Rock an, als wollte sie davonlaufen. »Sie glauben doch nicht etwa, es sei mir ernst gewesen?« »Ohne Zweifel tu ich das. Und ich bin im Ernst.« Agatha zauderte und wußte nicht, ob er nicht vielleicht mit ihr spielte, grade so wie sie vorhin mit ihm gespielt hatte. »Nehmen Sie sich in acht,« sagte sie. »Ich könnte meine Ansicht ändern und auch im Ernst sein. Und wie würde es Ihnen dann zumute sein, Mr. Trefusis?« »Ich denke, unter den veränderten Beziehungen sollten Sie mich lieber Sidney nennen.« »Und ich denke, wir sollten lieber mit dem Scherz aufhören. Es war sehr geschmacklos von mir, und ich hätte es vielleicht nicht tun sollen.« »Es wäre ein schändlicher Scherz, und darum habe ich gar nicht die Absicht, ihn als solchen zu betrachten. Ich werde Sie beim Wort halten, Agatha. Sind Sie in mich verliebt?« »Durchaus nicht. Nicht im allergeringsten. Ich weiß auf der ganzen Welt niemand, in den ich weniger verliebt wäre oder in den ich mich weniger verlieben könnte.« »Dann müssen Sie mich heiraten. Wenn Sie in mich verliebt wären, würde ich davonlaufen. Meine verstorbene Henrietta betete mich an und ich erwies mich ihrer Anbetung unwürdig -- obgleich sie mir unendlich schmeichelte.« »Ja, gewiß. Die Art, wie Sie Ihre erste Frau behandelt haben, müßte genügen, um jedes Mädchen zu warnen, Ihre zweite zu werden.« »Jedes Mädchen, das mich liebt, wollen Sie sagen. Aber Sie lieben mich ja nicht, und wenn ich davonlaufe, dann haben Sie das Vergnügen, mich los zu sein. Unser Heiratsvertrag kann so eingerichtet werden, daß er Ihnen für diesen Fall mein halbes Vermögen zusichert.« »Sie werden nie die Möglichkeit haben, von mir davonzulaufen.« »Ich werde es auch nicht wünschen. Ich bin nicht mehr so eigen, wie ich früher war. Ich glaube nicht, daß ich von Ihnen davonlaufen werde.« »Ich glaube es auch nicht.« »Gut, und wann wollen wir uns heiraten?« »Niemals.« sagte Agatha und wollte weglaufen. Aber bevor sie einen Schritt getan hatte, erfaßte er sie. »Tun Sie es nicht,« sagte sie atemlos. »Nehmen Sie Ihren Arm weg. Wie können Sie es wagen?« Er ließ sie frei und schloß die Türe zu dem Gewächshaus. »Wenn Sie jetzt davonlaufen wollen, dann müssen Sie ins Freie laufen.« »Sie sind sehr unverschämt. Lassen Sie mich sofort gehen.« »Wollen Sie, daß ich Sie um Ihre Hand bitte, nachdem Sie mir Ihre Zustimmung aus freien Stücken gegeben haben?« »Aber ich scherzte doch nur. Ich mache mir gar nichts aus Ihnen,« sagte sie und sah sich nach einem Ausweg um. »Agatha,« sagte er mit grimmiger Geduld, »vor einer halben Stunde hatte ich nicht mehr die Absicht, Sie zu heiraten, als eine Reise nach dem Mond zu machen. Aber, als Sie mir den Vorschlag machten, da fühlte ich mit einem Male alle Gewalt, die darin liegt, und jetzt kann mich nichts auf der Welt zufrieden stellen, als Sie beim Wort zu halten. Von allen Frauen, die ich kenne, sind Sie die einzige, die nicht ganz ein Narr ist.« »Ich würde ein großer Narr sein, wenn --« »Wenn Sie mich heirateten, wollen Sie sagen. Aber ich bin nicht Ihrer Meinung. Ich bin der einzige Mann von Ihrer Bekanntschaft, der nicht ganz ein Esel ist. Ich kenne meinen und Ihren Wert. Und ich liebte Sie schon lange, als ich noch kein Recht dazu hatte.« Agatha zog ihre Brauen zusammen. »Nein,« sagte sie. »Es hat keinen Zweck, noch weiter hierüber zu reden. Die Sache ist ganz außer Frage.« »Aber seien Sie doch nicht rachsüchtig. Ich war aufrichtiger, als Sie es waren. Sie haben unsere wieder angeknüpfte Bekanntschaft dazu benutzt, sich gegen mich zu verteidigen, mir Vorwürfe zu machen, mich zu hänseln und zu verlocken. Seien Sie einmal großmütig, und sagen Sie gutwillig ja.« »Oh, ich habe Sie _nie_ verlockt,« schrie Agatha. »Ich tat es nicht. Das ist nicht wahr.« Er antwortete nichts, sondern bot ihr die Hand dar. »Nein, gehen Sie fort. Ich will nicht.« Er blieb unbewegt und sie fühlte plötzlich, wie die Kraft ihres Widerstandes verschwand. Voller Schrecken sagte sie hastig: »Es hat durchaus keinen Zweck, mich zu quälen. Ich werde Ihnen heute keine Antwort geben.« »Versprechen Sie mir bei Ihrer Ehre, daß Sie morgen ja sagen werden, und ich will Sie bis dahin in Frieden lassen.« »Ich will nicht.« »Der Kuckuck hole Ihr Geschlecht,« sagte er klagend. »Sie kennen jetzt meinen Entschluß, und ich muß hier stehen und mit Ihnen kokettieren, weil Sie selbst Ihren eigenen nicht kennen. Wenn ich auf meine Bequemlichkeit Wert legte, würde ich Junggeselle bleiben.« »Ich rate Ihnen, das zu tun,« sagte sie, und stahl sich rückwärts nach der Türe hin. »Sie sind ein sehr interessanter Witwer. Eine Frau würde Ihnen diesen Vorzug nehmen. Und dann bedenken Sie die Unannehmlichkeiten des Haushalts.« »Ich liebe Unannehmlichkeiten. Sie machen stark -- aha!« Sie hatte nach dem Türknopf gegriffen, und er legte schnell seine Hand auf die ihrige und hielt sie zurück. »Noch nicht, wenn ich bitten darf. Können Sie denn nicht wie eine Frau reden -- wie ein Mann, meine ich? Sie mögen Max einen Knochen vorenthalten, bis er sich auf den Hinterfüßen aufrichtet und schön macht, aber mich sollten Sie nicht wie einen Hund behandeln. Sagen Sie offen ja, und lassen Sie mich nicht länger bitten.« »Warum in aller Welt, wollen Sie mich denn heiraten?« »Weil ich so veranlagt bin, einen Haushalt auf den Schultern zu tragen, und weil ich es tun will. Ich will das tun, was für mich das Beste ist, und ich werde nie wieder eine so gute Wahl haben. Und dann kann ich auch gar nicht anders, ich weiß nicht warum. Das ist die volle Wahrheit in der Sache. Sie wollen doch eines Tages jemand heiraten.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Gewiß werden Sie das tun. Warum wollen Sie mich nicht heiraten?« Agatha biß auf ihre Unterlippe, blickte kläglich über den Rasen und sagte nach einer langen Pause widerstrebend: »Nun gut. Aber bedenken Sie, daß Sie sehr töricht handeln, und wenn Sie nachher enttäuscht sind, müssen Sie _mir_ keine Vorwürfe machen.« »Ich übernehme die Verantwortung für mein Handeln,« sagte er und ließ ihre Hand frei. Dann zog er sein Taschenbuch heraus und lehnte es gegen die Türe. »Sie brauchen sie für Ihr Handeln nicht zu übernehmen, und ich hoffe, daß Sie nicht das schlechtere Los von uns beiden ziehen. Wir haben heute den siebzehnten Juni. Welcher Tag vor dem vierundzwanzigsten Juli wird Ihnen passen?« »Sie meinen doch den vierundzwanzigsten Juli nächsten Jahres?« »Nein, ich meine dieses Jahr. Ich muß an diesem Tage, verheiratet oder nicht, ins Ausland gehen und einer Konferenz in Genf beiwohnen, und ich möchte Sie mitnehmen. Ich will Ihnen eine Menge Plätze und Dinge zeigen, die Sie nie vorher gesehen haben. Es ist Ihr Recht, den Tag zu bestimmen, aber Sie haben keine ernsthaften Besorgungen und ich habe sie.« »Aber Sie wissen ja gar nicht, was ich alles besorgen müßte. Sie warten besser, bis Sie vom Festlande zurück sind.« »Sie brauchen für gar nichts außer der Wohnung und Ihrer Aussteuer zu sorgen. Die Aussteuer, das ist alles Unsinn, und Jansenius kennt mich, wie schnell ich eine Wohnung einrichte. Ich war in sechs Wochen verheiratet.« »Ja,« sagte Agatha scharf, »aber ich bin nicht Henrietta.« »Nein, Gott sei Dank, nicht,« stimmte er ruhig zu. Agatha fühlte Gewissensbisse. »Es war häßlich von mir, das zu sagen,« bemerkte sie. »Und von Ihnen auch!« »Was wahr ist, soll man sagen, ob es häßlich ist oder nicht. Wollen Sie am vierundzwanzigsten mit nach Genf kommen?« »Aber -- Ich dachte wirklich nicht, als ich -- Ich wollte nicht sagen, ich würde -- Ich --« »Ich weiß es. Sie wollen mitkommen, wenn wir verheiratet sind.« »Ja. _Wenn_ wir verheiratet sind.« »Wir werden verheiratet sein. Schreiben Sie nicht, weder an Ihre Mutter noch an Jansenius, bis ich Sie darum bitte.« »Ich habe gar nicht die Absicht. Ich wüßte nicht, was ich darüber schreiben sollte.« »Sie Schelm! Und seien Sie nicht eifersüchtig, wenn Sie mich dabei ertappen, wie ich Lady Brandon den Hof mache. Ich tue das immer, sie erwartet es von mir.« »Sie mögen den Hof machen, wem Sie wollen. Das geht mich nichts an.« »Hier kommt der Wagen mit Lady Brandon und Ger-- und Miß Lindsay. Ich darf sie jetzt nur noch Gertrude nennen, wenn Sie nicht dabei sind. Bevor die andern uns unterbrechen, darf ich Sie wohl noch einmal an drei Punkte erinnern, über die wir uns einig sind. Ich liebe Sie. Sie lieben mich nicht. Wir heiraten vor dem Vierundzwanzigsten nächsten Monats. Jetzt muß ich eilen und der gnädigen Frau beim Aussteigen behilflich sein.« Er lief zur Haustüre, vor der der Wagen grade gehalten hatte. Agatha war verwirrt und schämte sich, ihren Freundinnen gegenüberzutreten. Sie ging durch das Gewächshaus in ihr Zimmer und schloß sich ein. Trefusis ging mit Gertrude in die Bibliothek, während sich Lady Brandon noch im Hausflur aufhielt, um ihre Handschuhe auszuziehen und an die Hausmädchen einige Fragen zu stellen. Als sie dann folgte, fand sie die beiden nebeneinander am Fenster stehen. Gertrude hörte ihm mit dem geduldigen Ausdruck zu, den sie jetzt oft zeigte, wenn er sprach. Er lächelte, aber es fiel Jane doch auf, daß er etwas unruhig war. »Ich begann grade,« sagte er, »Miß Lindsay von dem außerordentlichen Ereignis zu erzählen, das in Ihrer Abwesenheit vorgekommen ist.« »Ich weiß schon,« rief Jane mit plötzlicher Überzeugtheit aus. »Die Heizvorrichtung im Gewächshaus ist gesprungen.« »Möglich,« sagte der Trefusis. »Aber wenn es der Fall ist, ich habe nichts davon gehört.« »Wenn sie nicht gesprungen ist, wird sie noch springen,« sagte Jane verdrießlich. Dann zwang sie sich mit einiger Mühe, für Trefusis' Neuigkeiten Interesse zu zeigen, und fügte hinzu: »Nun, was hat sich ereignet?« »Ich plauderte vorhin mit Miß Wylie, und da fiel uns eine merkwürdige Idee ein. Wir besprachen sie eine Zeitlang, und das Ergebnis ist, wir werden uns vor Ende des nächsten Monats verheiraten.« Jane errötete und starrte ihn an, und er blickte scharf nach ihr zurück. Gertrude wechselte, obgleich sie unbeobachtet war, ihre ruhige, glückliche Miene keine Sekunde, aber eine grünlichweiße Farbe erschien auf ihrem Gesicht und machte nur langsam ihrem gewöhnlichen Teint Platz. »Wollen Sie sagen, Sie verheiraten sich mit _Agatha_?« fragte nach einer Pause Lady Brandon ungläubig. »Ja. Ich hatte diese Absicht noch nicht, als ich Sie das letztemal sah, sonst hätte ich es Ihnen gesagt.« »So was habe ich in meinem Leben noch nicht gehört! Sie haben sich also innerhalb fünf Minuten ineinander verliebt?« »Lieber Himmel, nein! Wir sind nicht ineinander verliebt. Glauben Sie, ich würde mich aus solch einem leichtfertigen Grunde verheiraten? Nein. Die Idee kam ganz plötzlich, und die Vorteile einer Heirat zwischen uns drängten sich mir gewaltsam auf. Ich war glücklich genug, sie zu meiner Ansicht zu bekehren.« »Gewiß, es wird ein starker Druck bei ihr nötig gewesen sein. Freilich!« sagte Jane und warf Gertrude, die ausdruckslos lächelte, einen Blick zu. »Wie Sie durchblicken lassen,« bemerkte Trefusis kühl, »mag ihr Widerstreben nur Verstellung gewesen sein. Sie war vielleicht nur zu glücklich, einen solchen reizenden Gatten zu bekommen. Aber in diesem Falle hat sie das sehr gut zu verbergen gewußt.« Gertrude nahm ihren Hut ab und verließ, ohne etwas zu sagen, das Zimmer. »Das ist meine Rache, weil Sie Brandon geheiratet haben,« sagte er dann und näherte sich Jane. »O ja,« entgegnete sie ironisch. »Ich glaube Ihnen das natürlich alles.« »Sie haben für seine Wahrheit denselben Beweis wie für all die törichten Dinge, die ich Ihnen gestehe. Hier!« Er zeigte auf einen Spiegel, der Janes Figur in voller Größe zurückwarf. »Ich sehe nichts, was daran zu bewundern ist,« sagte Jane und sah sich mit großem Wohlgefallen an. »Höchstens meine Größe, wenn Sie die bewundern.« »Es ist unmöglich, von einer guten Sache zuviel zu haben. Aber ich darf Sie jetzt nicht mehr ansehen. Wenn auch Agatha sagt, sie liebt mich nicht, so weiß ich doch nicht sicher, ob es ihr angenehm ist, wenn ich jemand anderm einen Liebesblick zuwerfe.« »Sie sagt, sie liebt Sie nicht! Glauben Sie ihr das nicht. Sie hat sich Mühe genug gegeben, Sie zu fangen.« »Sie schmeicheln mir. Sie selbst haben mich doch ohne Mühe gefangen, und doch würden Sie mich nicht haben wollen.« »Es gehört sich, daß ein Mädchen wartet, bis sie gefragt wird. Ich glaube, Sie haben an Gertrude schändlich gehandelt -- hoffentlich sind Sie nicht beleidigt, weil ich Ihnen das sage. Ich tadele Agatha am meisten. Sie ist ein schrecklich falsches Geschöpf.« »Wieso?« fragte Trefusis erstaunt. »Was hat Miß Lindsay damit zu tun?« »Das wissen Sie sehr gut.« »Ich versichere Ihnen, daß ich es nicht weiß. Wenn Sie von sich selbst sprächen, könnte ich es verstehen.« »Oh, Sie verstehen sich schlau herauszuwinden, wie alle Männer. Aber mich können Sie nicht täuschen. Sie hätten nicht tun sollen, als ob Sie Gertrude liebten, wenn Sie wirklich ein Band mit Agatha anknüpfen wollten. Und sie, die so tut, als wollte sie mit Sir Charles flirten -- als ob er sich auch nur so viel aus ihr machte!« Trefusis schien etwas verwirrt. »Ich hoffe, Miß Lindsay hat nicht solche -- aber das konnte sie ja auch nicht.« »So, konnte sie das nicht? Sie werden das ja bald sehen.« »Sie haben uns falsch beurteilt, Lady Brandon. Miß Lindsay weiß es besser. Und dann bedenken Sie, daß mein Antrag gar nicht vorher beschlossen war. Heute morgen hatte ich durchaus keine zärtlichen Gedanken an irgend jemand -- ausgenommen an eine, die ich jetzt nicht nennen kann.« »Oh, das sind alles Redensarten. Es hat _jetzt_ keinen Zweck mehr.« »Ich will nichts mehr sagen. Ich muß zum Dorfe fahren, um an meinen Anwalt zu telegraphieren. Wenn ich Erskine treffe, will ich ihm die gute Nachricht mitteilen.« »Er wird entzückt sein. Er, wie wir alle, dachte, Sie wollten ihn bei Gertrude ausstechen.« Trefusis lächelte, schüttelte seinen Kopf und ging mit einem Blick bewundernder Huldigung für Janes Reize hinaus. Jane betrachtete sich im Spiegel, bis ein Dienstmädchen sie bat, zu Master Charles und Miß Fanny zu kommen. Sie eilte die Treppe hinauf in die Kinderstube, wo ihr Sohn und ihre Tochter sich um das Vorrecht balgten, das Baby zu quälen. Sie waren durch Janes Eintritt etwas erschreckt, aber durchaus nicht besänftigt. Sie schalt, schmeichelte, drohte, gab gute Worte, zitierte Dr. Watts, flehte das Kindermädchen an und beschimpfte es dann, fragte die Kinder, ob sie einander liebten, ob sie Mama liebten, und ob sie eine gehörige Tracht Prügel haben wollten. Schließlich geriet sie außer sich, weil sie nicht imstande war, Ordnung zu schaffen. Sie nahm das Baby, das ununterbrochen laut geschrien hatte, und sagte, es täte das mit Absicht, und sie wollte ihm einen wirklichen Grund zum Schreien geben. Sie gab ihm einen gehörigen Schlag und befahl den andern beiden, zu Bett zu gehen. Der Knabe war entsetzt über das Schicksal seines kleinen Bruders und machte den Vermittlungsvorschlag, er wollte brav sein, wenn Miß Wylie käme und mit ihm spielte, worauf ihm seine eifersüchtige Mutter eine Ohrfeige verabreichte, daß er heulend in seine Ecke flog. Dann verließ sie das Zimmer, nachdem sie in der Türe sich noch einmal umgewandt und erklärt hatte, wenn sie heute noch einen Laut hörte, dann könnte man von ihr das Schlimmste erwarten. Als sie erhitzt und ärgerlich in das Gesellschaftszimmer herabkam, fand sie Agatha dort allein. Sie blickte mit einem Ausdruck zum Fenster hinaus, als ob die Landschaft etwas besonders Unbefriedigendes böte. »Selbstsüchtige, kleine Bestien!« rief Jane und erregte mit ihren Röcken einen kleinen Wirbelwind, als sie hereinkam. »Charlie ist direkt ein kleiner Teufel. Er verbringt alle seine Zeit damit, nachzudenken, wie er mich quälen kann. Ach ja! Er ist genau wie sein Vater.« »Danke sehr, mein Schatz,« sagte Sir Charles vom Eingang her. Jane lachte. »Ich wußte, daß du da warst,« sagte sie. »Wo ist Gertrude?« »Sie ist ausgegangen,« sagte Sir Charles. »Unsinn! Sie ist soeben erst mit mir von der Ausfahrt zurückgekommen.« »Ich weiß nicht, was du mit dem Wort Unsinn willst,« sagte Sir Charles gereizt. »Ich sah sie, wie sie den Riverside Road entlang ging. Ich war auf der Dorfstraße, und sie sah mich nicht. Sie schien in Eile zu sein.« »Ich traf sie auf der Treppe und sprach sie an,« sagte Agatha. »Aber sie hörte mich nicht.« »Hoffentlich ist sie nicht fortgegangen, um sich im Fluß zu ertränken,« sagte Jane. Dann wandte sie sich zu ihrem Manne und fragte ihn: »Hast du schon die Neuigkeit gehört?« »Die einzige Neuigkeit, die ich gehört habe, ist aus dieser Zeitung,« sagte Sir Charles und zog ein Blatt heraus, das er auf den Tisch schleuderte. »Hier wird in einem Artikel gesagt, ich hätte mich einer höllischen sozialistischen Verbindung angeschlossen, und dann habe ich auch gehört, daß in der >Times< ein Aufsatz über die Ausbreitung des Sozialismus steht, in dem mein Name genannt ist. Das verdanke ich alles Trefusis, und ich glaube, er hat mir einen ganz schändlichen Streich gespielt. Das werde ich ihm auch sagen, sobald ich ihn treffe.« »Du solltest dir lieber in Agathas Gegenwart überlegen, was du über ihn sagst,« bemerkte Jane. »Oh, du brauchst nicht aufgeregt zu werden, Agatha. Ich weiß schon alles. Er hat es uns in der Bibliothek erzählt. Wir fuhren diesen Morgen aus -- Gertrude und ich -- und als wir zurückkamen, fanden wir Mr. Trefusis und Agatha am Eingang zum Gewächshaus in sehr vertrautem Gespräch. Sie hatten sich grade verlobt.« »Wirklich!« sagte Sir Charles verwirrt und mißvergnügt und versuchte zu lächeln. »Dann darf ich Ihnen also gratulieren, Miß Wylie?« »Sie brauchen das nicht,« sagte Agatha und bewahrte ihre Fassung, so gut sie es konnte, »Es war nur ein Scherz. Wenigstens kamen wir im Scherz dazu. Er hat kein Recht, zu sagen, wir seien verlobt.« »Unsinn! Dummes Zeug!« sagte Jane. »Das geht nicht, Agatha. Er ist fortgegangen, um an seinen Sachwalter zu telegraphieren. Es ist ihm vollständig Ernst.« »Ich bin ein großer Narr,« sagte Agatha. Sie setzte sich hin und rang ratlos die Hände. »Ich glaube, ich habe irgend etwas gesagt, aber ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Er brachte mich zum Sprechen, bevor ich wußte, was ich sagte. Ich habe mir da eine schöne Suppe eingebrockt!« »Es freut mich, daß du endlich einmal übertölpelt worden bist,« sagte Jane mit schadenfrohem Lachen. »Du hast nie mit mir das geringste Mitleid gehabt, wenn ich im Augenblick nicht die richtigen Worte finden konnte.« Agatha ließ die Stichelei unbeachtet. Ihr Blick wanderte umher und blieb zuletzt flehend auf Sir Charles haften. »Was soll ich tun?« fragte sie ihn. »Nun, Miß Wylie,« antwortete er ernst, »wenn Sie keine Lust hatten, ihn zu heiraten, dann hätten Sie es ihm nicht versprechen sollen. Ich möchte mich nicht gleichgültig verhalten, und ich weiß, daß es sehr schwer ist, Trefusis los zu werden, wenn er auf etwas Absicht hat, aber noch --« »Laß sie in Ruhe,« unterbrach ihn Jane. »Sie will ihn ebenso ernsthaft haben, wie er sie haben will. Du würdest ja ganz unglücklich sein, wenn er davonliefe, trotz allem deinem interessanten Sprödetun.« »Es ist wirklich nicht so,« sagte Agatha ernst. »Ich wollte, ich hätte mir Zeit ausbedungen, um darüber nachzudenken. Jetzt hat er es wohl schon aller Welt erzählt.« »Dann können wir die Sache wohl als entschieden betrachten?« fragte Sir Charles. »Natürlich kannst du das,« antwortete Jane verächtlich. »Bitte, Jane, laß Miß Wylie für sich selber sprechen. Ich gestehe, ich weiß nicht, warum Sie noch im Zweifel sind -- wenn Sie ihm wirklich Ihre Zusage gegeben haben.« »Ich glaube, ich habe mich einverstanden erklärt,« sagte Agatha. »Mir ist es, als ob ich noch ein schlimmes Bedenken gehabt hätte, aber ich weiß nicht mehr, was es war. Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen.« Sir Charles war verwirrt. »Ich verstehe das Benehmen der Damen in solchen Dingen nicht,« sagte er. »Da es indessen nicht mehr zweifelhaft scheint, daß Sie und Trefusis verlobt sind, so werde ich ihm natürlich nichts sagen, was ihm seine Besuche hier unangenehm macht. Aber ich muß doch bemerken, daß er -- um mich gelinde auszudrücken -- mir gegenüber leichtfertig gehandelt hat. Ich unterzeichnete in seinem Hause ein Schriftstück unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß es streng privat sei. Und jetzt hat er es in die ganze Welt ausposaunt und öffentlich meinen Namen nicht nur mit seinem zusammengebracht, sondern auch mit dem von Personen, von denen ich nur weiß, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben möchte.« »Was macht es?« fragte Jane. »Niemand legt den geringsten Wert darauf.« »Ich lege Wert darauf,« sagte Sir Charles ärgerlich. »Kein vernünftiger Mensch kann mir vorwerfen, ich überschätzte meine eigene Bedeutung, wenn ich dagegen protestiere, daß mein Name öffentlich zur Unterstützung von Bestrebungen benutzt wird, die ich nicht billige.« »Vielleicht hatte Mr. Trefusis nichts damit zu tun,« sagte Agatha. »Die Zeitungen veröffentlichen doch, was sie wollen.« »So ist's recht!« fiel Jane boshaft ein. »Laß niemand etwas Böses über ihn sprechen.« »Ich spreche nichts Böses über ihn,« sagte Sir Charles, bevor Agatha erwidern konnte. »Es ist nur eine Vermutung, und ich würde sie gar nicht erwähnt haben, wenn ich die veränderten Beziehungen zwischen ihm und Miß Wylie gekannt hätte.« »Bitte, sprechen Sie nicht davon,« sagte Agatha. »Am liebsten würde ich mit dem nächsten Zug davonfahren.« Inzwischen kehrte Erskine von seinem Morgenausflug zurück und traf im Dorf Trefusis, an dem er mit einem Kopfnicken vorbeizukommen suchte. Aber Trefusis rief ihn an, zu halten, und er stieg widerstrebend ab. »Ich möchte nur sagen, daß ich mich verheirate,« sagte Trefusis. »Mit --?« Erskine konnte Gertrudes Namen nicht herausbringen. »Mit einer Ihrer Freundinnen auf Beeches. Raten Sie, mit welcher.« »Mit Miß Lindsay vermutlich.« »Wer zum Teufel hat Ihnen allen in den Kopf gesetzt, Miß Lindsay und ich seien besonders miteinander befreundet?« rief Trefusis aus. »Sie sind mir immer als der richtige Mann für Miß Lindsay erschienen. Ich werde mich mit Miß Wylie verheiraten.« »Wirklich!« rief Erskine mit einem Gefühl, als ob plötzlich nach einem strengen Frost Tauwetter eingetreten sei. »Natürlich. Und jetzt, Erskine, haben Sie den Vorteil, ein armer Mann zu sein. Lassen Sie das prächtige Mädchen nicht für Geld heiraten. Wenn Sie wie bisher weiter zögern, dann machen Sie sich selbst und sie auch unglücklich.« Er nickte ihm zu und ging weiter. Der andere stand da und starrte ihm nach. »Wenn er sie hintergangen hat, ist er ein Schuft,« sagte Erskine. »Es tut mir leid, daß ich ihm das nicht gesagt habe.« Er bestieg wieder sein Rad und fuhr langsam den Riverside Road hinunter. Er vermutete zuerst, Trefusis habe ihn getäuscht, aber dann kam er doch dazu, ihm zu glauben, und beschloß auf jeden Fall, seinem Rat in bezug auf Gertrude zu folgen. Die Unterhaltung, die er in der Allee belauscht hatte, machte ihn noch unsicher. Er konnte sie nicht übereinbringen mit Trefusis Geständnis, daß er keine Absichten auf Gertrude habe. Sein Rad trug ihn geräuschlos auf den Gummireifen zu der Stelle, an der der Schierling wuchs, und hier sah er Gertrude auf dem niedrigen Erdwall sitzen, der das Feld von dem Wege schied. Ihr Strohkorb, mit der Schere darin, lag neben ihr. Sie hatte ihre Finger gekreuzt und ließ ihre Hände auf den Knien ruhen. Ihr Gesichtsausdruck war ganz leer und verriet so wenig ernsthafte Bewegung, daß Erskine lachte, als er dicht neben ihr absprang. »Sind Sie müde?« fragte er. »Nein,« entgegnete sie ganz ohne Überraschung, und sie lächelte mechanisch, was eine ungewöhnliche Herablassung von ihrer Seite war. »In Träume versunken?« »Nein.« Sie setzte sich etwas zur Seite und bedeckte den Korb mit ihrem Kleid. Er fing an zu fürchten, daß etwas nicht in Ordnung sei. »Ist es möglich, daß Sie sich wieder unter diese vergifteten Pflanzen gewagt haben?« fragte er. »Sind Sie krank?« »Durchaus nicht,« antwortete sie und richtete sich etwas auf. »Ihre Besorgnis ist ganz weggeworfen. Ich fühle mich vollkommen wohl.« »Ich bitte Sie um Verzeihung,« sagte er gekränkt. »Ich dachte -- halten Sie es nicht für gefährlich, auf diesem feuchten Erdwall zu sitzen?« »Er ist nicht feucht. Er zerfällt vor Trockenheit in Staub.« Ein unnatürliches Lachen, mit dem sie schloß, verstärkte den Eindruck ihrer inneren Ruhelosigkeit. Er begann einen Satz und hielt wieder inne, und um Zeit zu gewinnen, stellte er sein Rad in den gegenüberliegenden Graben. Sie sah ihm ungeduldig zu, als sie seine Absicht, hier zu bleiben und zu sprechen erkannte. Sie war aber die erste, die etwas sagte, und sie tat es mit einer so stumpfen Gleichgültigkeit, daß er erschrak. »Haben Sie die Neuigkeit gehört?« »Welche Neuigkeit?« »Über Mr. Trefusis und Agatha. Sie sind verlobt.« »Trefusis erzählte es mir. Ich traf ihn im Dorfe. Ich war sehr erfreut, als ich es hörte.« »Natürlich.« »Aber ich hatte einen besonderen Grund, erfreut zu sein.« »Wirklich?« »Ich hatte eine verzweifelte Furcht, bevor er mir die Wahrheit erzählte, daß er andere Absichten hätte -- Absichten, die meinen teuersten Hoffnungen unheilvoll gewesen wären.« Gertrude runzelte die Stirne, und ihr Stirnrunzeln stachelte ihn auf, sie herauszufordern. Er verlor seine Selbstbeherrschung, die schon durch ihr seltsames Benehmen erschüttert war. »Sie wissen, daß ich Sie liebe, Miß Lindsay,« sagte er. »Es mag vielleicht keine vollkommene Liebe sein, aber, menschlich gesprochen, ist sie eine treue Liebe. Ich war ja ungefähr so weit, Ihnen das zu sagen, als wir an jenem Tage zusammen in dem Billardzimmer waren. Aber an demselben Abend tat ich etwas sehr Unehrenhaftes. Als Sie mit Trefusis in der Allee sprachen, stand ich dicht dabei und belauschte Sie.« »Dann haben Sie ihn gehört,« schrie Gertrude heftig. »Sie hörten, wie er schwur, es sei ihm ernst.« »Ja,« sagte Erskine zitternd. »Und ich dachte, er meinte, daß er Sie im Ernst liebte. Sie dürfen mich kaum deswegen tadeln. Ich war selbst verliebt, und die Liebe ist blind und eifersüchtig. Ich gab alle Hoffnung auf, bis er mir erzählte, daß er sich mit Miß Wylie verheiraten würde. Darf ich jetzt mit Ihnen sprechen, da ich weiß, daß ich mich geirrt habe, oder da Sie andern Sinnes geworden sind.« »Oder da _er_ anderen Sinnes geworden ist,« sagte Gertrude höhnisch. Erskine, den eine neue Angst um sie befiel, zuckte zusammen. Ihr Stolz war ihm teuer, und er sah, daß ihre Enttäuschung sie gleichgültig dagegen machte. »Sagen Sie mir jetzt nichts, Miß Lindsay, damit Sie nicht --« »Was habe ich gesagt? Was soll ich sagen?« »Nichts, außer über meine eigenen Angelegenheiten. Ich liebe Sie von Herzen.« Sie machte eine ungeduldige Bewegung, als ob das eine sehr gleichgültige Sache sei. »Ich hoffe, Sie glauben mir das,« sagte er furchtsam. Gertrude machte eine Anstrengung, um ihre gewöhnliche Zurückhaltung als Dame wiederzugewinnen, aber ihre Energie ließ nach, bevor sie mehr als ihren Kopf erhoben hatte. Sie sank in ihre Teilnahmlosigkeit zurück und machte eine schwache Bewegung des Widerstrebens. »Es kann Ihnen doch nicht ganz gleichgültig sein, wenn Sie geliebt werden,« sagte er und wurde ungeduldiger und dringender. »Sie sind mein ganzes Glück. Ich biete Ihnen meine Dienste und meine Verehrung an. Ich bitte Sie um keine Belohnung.« Er sprach jetzt sehr schnell und fast unhörbar. »Sie mögen meine Liebe annehmen, ohne sie zu erwidern. Ich wünsche -- ich suche keinen Vorteil zu erlangen. Wenn Sie einen Freund brauchen, so können Sie sich auf mich viel vertrauensvoller verlassen, da Sie wissen, daß ich Sie liebe.« »Oh, Sie glauben das,« unterbrach ihn Gertrude. »Aber Sie werden darüber hinwegkommen. Ich bin nicht die Art von Frauen, in die sich die Männer verlieben. Sie werden bald Ihre Neigung ändern.« »Sie sind nicht die Art? Oh, wie wenig wissen Sie!« sagte er und wurde beredt. »Ich hatte übergenug Zeit, anderen Sinnes zu werden, aber ich bin darin so fest wie jemals. Wenn Sie Zweifel haben, dann warten Sie und stellen Sie mich auf die Probe. Aber behandeln Sie mich nicht rauh. Sie quälen mich mehr als Sie denken, wenn Sie heftig oder gleichgültig sind. Ich spreche im Ernst.« »Ha, ha! Das ist leicht gesagt.« »Nicht von meiner Seite. Ich wechsele in meinem Urteil über andere Leute je nach meiner Stimmung, aber ich glaube standhaft an Ihre Güte und Schönheit -- als ob Sie ein Engel wären. Mir ist meine Liebe zu Ihnen so ernst wie meine Liebe zu meinem eigenen Leben, das ich nur durch Ihre Hilfe und Ihren Einfluß vervollkommnen kann.« »Sie irren sich sehr, wenn Sie glauben, ich sei ein Engel.« »Es ist unrecht, daß Sie sich selbst mißtrauen. Aber ich denke an das, was ich Ihnen schuldig bin, nicht an das, was ich von Ihnen erwarte, wenn ich Sie einen Engel nenne. Ich weiß, daß Sie für sich selber kein Engel sind. Aber für mich sind Sie es sicher.« Sie saß da und verharrte in eigensinnigem Schweigen. »Ich will Sie jetzt nicht zu einer Antwort drängen. Ich bin zufrieden, daß Sie meine Gefühle jetzt kennen. Wollen wir zusammen zurückkehren?« Sie sah sich langsam um und blickte nach dem Schierling und von da über den Fluß. Dann nahm sie ihren Korb, erhob sich und wandte sich mit gezwungener Bewegung zum Gehen. »Wollen Sie noch etwas Schierling?« fragte er. »Ich will Ihnen gerne welchen pflücken.« »Ich wollte, Sie ließen mich allein,« sagte sie in plötzlichem Ärger. Dann fügte sie, etwas beschämt, hinzu: »Ich habe Kopfschmerzen.« »Es tut mir sehr leid,« sagte er bestürzt. »Ich habe nur nicht gerne, wenn man mit mir spricht. Es schmerzt meinen Kopf, wenn ich zuhöre.« Er nahm demütig sein Rad aus dem Graben und fuhr, ohne weiter ein Wort zu sagen, neben ihr her bis Beeches. Sie gingen durch das Gewächshaus in das Speisezimmer, wo sie voneinander schieden. Bevor sie ihn verließ, sagte sie etwas reuig: »Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen weh zu tun, Mr. Erskine.« Er errötete, murmelte etwas und versuchte, ihre Hand zu küssen. Aber sie riß sie weg und ging schnell hinaus. Diese Zurückweisung kränkte ihn, und er stand da und quälte sich mit den Gedanken daran, bis ihn der Eintritt eines Dienstmädchens aufstörte. Er erfuhr von ihr, daß Sir Charles im Billardzimmer war. Er ging zu ihm und fragte ihn gleichgültig, ob er schon die Neuigkeit gehört habe. »Über Miß Wylie?« fragte Sir Charles. »Ja, ich dächte. Ich glaube, die ganze Gegend weiß es schon, obgleich sie noch keine drei Stunden verlobt sind. Haben Sie dieses hier gesehen?« Und er legte ein paar Zeitungen auf den Tisch. Erskine mußte sich ein paarmal zusammennehmen, bevor er lesen konnte. »Sie waren ein Narr, daß Sie dieses Schriftstück unterzeichnet haben,« sagte er. »Ich habe es Ihnen damals schon gesagt.« »Ich verließ mich darauf, daß der Bursche ein Gentleman sei,« sagte Sir Charles erregt. »Ich sehe nicht ein, daß ich ein Narr war. Ich sehe nur, daß er ein ungehobelter Patron ist, und wegen der Sache mit Miß Wylie möchte ich ihm meine Meinung sagen. Ich will Ihnen nur sagen, Chester, daß er mit Miß Lindsay ein falsches Spiel gespielt hat. Oben ist der Teufel los. Sie hat grade Jane erzählt, daß sie sofort nach Hause fahren muß. Miß Wylie erklärt, sie wolle nichts mit Trefusis zu tun haben, wenn Miß Lindsay ein früheres Anrecht an ihn habe, und Jane ist entrüstet, weil er alle Welt bewundert, nur sie nicht. Es geschieht mir recht. Mein Instinkt warnte mich von Anfang an vor diesem Kerl.« Grade jetzt wurde das Essen angekündigt. Gertrude kam nicht herunter. Agatha war schweigsam und verdrießlich. Jane versuchte von Erskine einen Bericht über sein Zusammentreffen mit Gertrude zu bekommen, aber er enttäuschte ihre Neugierde, indem er aus seiner Beschreibung alles ausließ, was über alltägliche Redensarten ging. »Ich finde ihr Benehmen sehr seltsam,« sagte Jane. »Sie besteht darauf, mit dem Vieruhrzug abzufahren. Ich betrachte das als eine Unhöflichkeit gegen mich, besonders da sie immer so viel auf ihr feines Benehmen gegeben hat. So etwas ist mir noch nicht vorgekommen!« Nach Tisch gingen sie zusammen in das Gesellschaftszimmer und waren kaum dort angelangt, als Trefusis gemeldet wurde. Er war auch schon im Zimmer, ehe sie die Bestürzung verbergen konnten, die sein Name auf ihren Gesichtern hervorrief. »Ich komme, um mich zu verabschieden,« sagte er. »Ich finde, daß ich mit dem Vieruhrzug zur Stadt fahren muß, um meine Angelegenheiten persönlich in Ordnung zu bringen. Die Telegramme, die ich erhalten habe, reden nur von Aufschub. Haben Sie die >Times< gelesen?« »Gewiß habe ich das,« sagte Sir Charles nachdrücklich. »Sie stehen auch schon in einigen anderen Zeitungen und werden im Laufe der nächsten vierzehn Tage noch in ein weiteres halbes Dutzend hineinkommen. Leute, die sich zu einer Ansicht bekannt haben, haben immer Ärger mit den Zeitungen, einige, weil sie nicht hineinkommen können, andere, weil man sie nicht draus läßt. Wenn Sie ein donnerndes revolutionäres Manifest erlassen hätten, keine Tageszeitung würde es wagen, darauf anzuspielen. Es gibt doch keine Feigheit, wie die Feigheit vor der Fleetstreet! Ich muß forteilen, Ich habe noch viel zu tun, bevor ich abreise, und es geht auf drei Uhr an. Adieu, Lady Brandon, und die andern.« Er schüttelte Jane die Hand, nickte den andern einzeln zu, wobei er zu Agathas Gunsten keine Ausnahme machte, und eilte hinaus. Sie starrten ihm einen Augenblick nach, und dann rannte Erskine hinaus und die Treppe hinunter, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Trotzdem mußte er bis zur Allee laufen, bis er seinen Mann einholte. »Trefusis,« sagte er atemlos, »Sie dürfen nicht mit dem Vieruhrzug fahren.« »Warum nicht?« »Miß Lindsay fährt mit demselben Zug zur Stadt.« »Um so besser, mein lieber Junge, um so besser. Sie sind doch jetzt nicht mehr eifersüchtig auf mich?« »Sehen Sie, Trefusis. Ich weiß nicht und frage auch nicht, was zwischen Ihnen und Miß Lindsay vor sich gegangen ist. Aber Ihre Verlobung hat sie ganz aus der Fassung gebracht, und sie flieht nur deswegen nach London. Wenn Sie hört, daß Sie mit demselben Zug fahren, wird sie bis morgen warten, und ich glaube, der Aufschub würde ihr sehr unangenehm sein. Wollen Sie ihr auch diese Pein noch zufügen?« Trefusis war augenscheinlich verwirrt und sah Erskine zweifelnd an, indem er einen Augenblick überlegte. »Ich glaube, Sie sind in dieser Sache auf einer falschen Fährte,« sagte er. »Meine Beziehungen zu Miß Lindsay hatten nichts mit Gefühlen zu tun. Haben Sie ihr etwas gesagt -- ich meine, in Ihrer eigenen Sache?« »Ich habe über beide Angelegenheiten mit ihr gesprochen und weiß aus ihrem eigenen Munde, daß ich recht habe.« Trefusis stieß einen leisen Pfiff aus. »Es ist nicht das erstemal, daß ich in dieser Sache einen klaren Einblick gewann,« sagte Erskine bezeichnend. »Bitte, behandeln Sie die Sache ernsthaft, Trefusis. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen offen sage, daß nur Ihr gänzlicher Mangel an Gefühl sie wegen der Art, wie Sie gegen sie gehandelt haben, entschuldigt.« Trefusis lächelte. »Verzeihen Sie mir dafür meine Neugierde,« sagte er. »Was antwortete sie Ihnen auf Ihren Antrag?« Erskine zauderte und zeigte durch sein Benehmen, daß Trefusis nach seiner Ansicht kein Recht zu dieser Frage hatte. »Sie sagte gar nichts,« antwortete er. »Hm!« sagte Trefusis. »Gut, was den Zug angeht, so können Sie sich auf mich verlassen. Hier ist meine Hand darauf.« »Ich danke Ihnen,« sagte Erskine mit Wärme. Sie schüttelten sich die Hände und schieden voneinander. Trefusis ging mit einem Grinsen davon, das alles andere als Vertrauen erweckte. Siebzehntes Kapitel. Gertrude, die nichts davon wußte, in welchem Grade sie schon ihre Enttäuschung verraten hatte, glaubte, daß ihre Besorgnis für die Gesundheit ihres Vaters, die sie als Grund zu ihrer plötzlichen Abreise angab, ihre Freunde täuschen könnte. Es war ihr völlig unmöglich, mit Agatha zu sprechen oder ihre Anwesenheit zu ertragen. Eine heftige Wut erfaßte sie, wenn sie an die Art von Mitleid dachte, die man gewöhnlich verlassenen Mädchen widmet. Das Schlimmste aber war ihre Furcht, mit Trefusis zusammenzutreffen. Sie hatte ihn seit einiger Zeit für einen rechtschaffenen und vollkommenen Mann gehalten, der sich aufs stärkste für sie interessierte. Aber obgleich ihre Erziehung eine verhältnismäßig freie gewesen war, dachte sie doch nicht entfernt an die Möglichkeit, daß sich ein Mann für eine Frau interessieren könnte, ohne sie heiraten zu wollen. Er hatte es in seinen ernsthafteren Stimmungen versucht, ihr eine Empfindung dafür beizubringen, wie gewöhnlich ihre gesellschaftliche Oberflächlichkeit war. Aber er schmeichelte ihr dabei nur durch seine unverhehlte und auch wirklich ernst gemeinte Überzeugung, daß sie eines höheren Lebens fähig sei. Und dazu kam seine unverbesserliche Galanterie, der sein Humor und seine Zärtlichkeit gegen Frauen, die er leiden konnte, Reiz und Abwechslung gaben. Alles das konnte in einem Augenblick an die Stelle seiner Ernsthaftigkeit treten, und Gertrude hatte ein viel zu gleichmäßiges Wesen, um ihm darin zu folgen. Sie glaubte, er rede noch immer im vollen Ernst, wenn er längst in blühender Romantik schwärmte, und wurde dadurch gefährlich getäuscht. Er empfand gar keine Bedenken bei seinem Liebesspiel, weil er sich nicht für einen Mann hielt, der den Frauen so leicht Liebe einflößte. Andererseits wußte Gertrude nicht, daß ihre Schönheit jeder Stunde, die man mit ihr verbrachte, einen Reiz gab, dem wenige Männer von Phantasie und Gefühl widerstehen konnten. Sie, die seit ihrem Austritt aus der Schule immer auf dem Heiratsmarkt gelebt hatte, betrachtete das Liebeln als das ernsthafteste Geschäft von der Welt. Für ihn war es nur eine angenehme Spielerei, deren Reiz durch ein leises Bedauern, daß gar so wenig dahintersteckte, nur gehoben wurde. Von allen Umständen bei ihrer Abreise war ihr der Kuß, den sie Agatha anbieten mußte, am unangenehmsten. Sie war auf der Schule schon auf sie eifersüchtig gewesen, trotzdem sie sich für die vornehmere von den beiden hielt. Aber dieser Vorzug konnte sie kaum über Agathas schnellere Auffassung trösten, über ihre Gewandtheit, ihren Mut, ihre Erfindungsgabe, ihre Fähigkeit, schwierige Gedankengänge zu finden oder ihnen zu folgen, und die daraus folgende Macht, andere zu verwirren. Ihre Eifersucht auf diese Eigenschaften war jetzt noch verstärkt worden, weil sie fühlte, daß Agatha darin viel mehr mit Trefusis verwandt war als sie selbst. Es machte ihr wenig aus, wie sie sich selbst im Vergleich mit Agatha vorkam. Aber es machte alles aus, daß sie Trefusis langsam, steif, kalt und gekünstelt vorkam, und daß sie ihn nicht davon überzeugen konnte, wie sie in Wirklichkeit war. Denn sie wollte die Richtigkeit des Eindrucks nicht zugeben, den sie durch ihr Benehmen machte, da sie ja meist das Gegenteil von dem tat, was sie tun wollte. Sie sah sich in ihrer Einbildung nicht so, wie sie war, sondern wie sie sein wollte. Was die einzige Eigenschaft anging, in der sie sich stets Agatha überlegen gefühlt hatte, die sie >gute Erziehung< nannte, so hatte grade darin Trefusis ihren Dünkel so sehr zerstört, daß sie jetzt anfing zu zweifeln, ob es nicht ihr Hauptmangel sei. Sie konnte kein Wort hervorbringen, als sie ihre Schulfreundin umarmte, und Agathas Zunge war ebenfalls gelähmt. Ein Gefühl von Reue und geheimer Zärtlichkeit erstickte ihre Worte, und ihr Schweigen würde peinlich gewesen sein, wenn nicht Jane für alle drei genug geredet hätte. Sir Charles saß draußen im Wagen und wartete, um Gertrude nach der Station zu fahren. Erskine hielt sie im Hausflur auf, als sie hinausgehen wollte. Er sagte ihr, er würde trostlos sein, wenn sie fort wäre, und bat sie, seiner zu gedenken. Seine kleine Bitte rührte sie wenig, und ihr fiel nur auf, daß sie das beredte Flehen, das in seinen dunklen Augen lag, schon einmal bei den Känguruhs im Zoologischen Garten gesehen hatte. Während sie auf der Station zum Zuge ging, brachte er die Pferde in Ordnung, um von der peinlichen Unterhaltung über die plötzliche Abreise seines Gastes entbunden zu sein. Er hatte ein paar Bemerkungen über die Ängstlichkeit der jungen Pferde gemacht und über das Wetter, bis sie das hübsche Stationsgebäude erreichten, das auf freiem Felde stand und von dem Bahnsteig aus einen Blick über den Fluß gewährte. Zwei Wagen waren da, zwei Gepäckträger, ein Bücherstand und ein Erfrischungsraum, hinter dessen Bar sich eine verblühte Schönheit abhärmte. Sir Charles hielt sich noch am Schalter auf, um für Gertrude, die schon auf den Bahnsteig gegangen war, ein Billett zu kaufen. Der erste Mensch, den Gertrude sah, war Trefusis, der dicht neben ihr stand. »Ich fahre mit diesem Zuge zur Stadt, Gertrude,« sagte er schnell. »Ich darf mich Ihnen wohl zur Verfügung stellen. Ich habe Ihnen etwas zu sagen, denn es ist da ein Mißverständnis zwischen uns entstanden, das ein Ende nehmen muß. Sie --« Grade jetzt kam Sir Charles heraus und stand erstaunt da, als er sie in der Unterhaltung sah. »Ich fahre zufällig mit diesem Zug,« sagte Trefusis. »Ich will für Miß Lindsay sorgen.« »Miß Lindsay hat ihr Mädchen bei sich,« sagte Sir Charles fast stotternd und blickte auf Gertrude, deren Gesichtsausdruck undurchdringlich war. »Wir können in den Pullmanwagen einsteigen,« sagte Trefusis. »Wir sind dort so ungestört wie in einer Ecke eines überfüllten Salons. Ich darf doch mit Ihnen reisen, nicht wahr?« sagte er, als er Sir Charles' verwirrten Blick sah, und wandte sich an sie um besondere Erlaubnis. Sie fühlte, wenn sie ihn abwies, dann stieß sie ihre letzte Aussicht auf Glück von sich. Indessen beschloß sie, es doch zu tun, und wenn sie vor Schmerz auf dem Wege nach London sterben sollte. Als sie ihren Kopf erhob, um es ihm um so ausdrucksvoller zu verbieten, begegnete sie seinem Blick, der ernst und erwartungsvoll war. Für einen Augenblick verlor sie ihre Fassung, und so sagte sie: »Ja, ich werde mich sehr freuen.« »Gut, wenn das der Fall ist,« sagte Sir Charles in einem Tone, als ob seine Sympathie durch ein unverzeihliches Verbrechen verwirkt worden sei, »dann hat es keinen Zweck, wenn ich hier warte. Ich lasse Sie in den Händen von Mr. Trefusis. Adieu, Miß Lindsay.« Gertrude fuhr zurück. Es wurde ihr schwer, von einem Mann, der sonst immer freundlich war, beim Abschied diese Unfreundlichkeit zu ertragen. Sie wollte ihm schon schweigend die Hand anbieten, als Trefusis sagte: »Warten Sie, bis wir abfahren. Wenn wir zufällig auf der Reise getötet werden -- was auf einer englischen Bahn leicht möglich ist -- werden Sie sich selbst später Vorwürfe machen, wenn Sie uns nicht im letzten Augenblick gesehen haben. Hier ist der Zug, Sie werden keine Minute verlieren. Sagen Sie Erskine, daß Sie mich hier gesehen haben, daß ich mein Versprechen nicht vergessen habe, und daß er sich auf mich verlassen kann. Gehen Sie hier hinein, Miß Lindsay.« »Mein Mädchen,« sagte Gertrude bedenklich, denn sie wollte nicht so kostspielig reisen. »Sie --« »Sie kommt mit uns, um auf mich acht zu geben. Ich habe für alle Billette,« sagte Trefusis und half ihnen hinein. »Aber --« »Bitte einsteigen,« sagte der Schaffner. »Fahren Sie mit, mein Herr?« »Adieu, Sir Charles. Grüßen Sie vielmals Lady Brandon und Agatha und die lieben Kinder. Und ich danke auch für die sehr angenehme --« Jetzt fuhr der Zug ab, und Sir Charles wurde weich. Er lächelte und schwenkte seinen Hut, bis er plötzlich Trefusis' Gesicht sah, auf dem ein so satanisches Lächeln lag, daß er ganz versteinert mitten in seinen Gestikulationen einhielt und mit seinem ausgestreckten Arm wie ein optischer Telegraph aussah. Die Rückfahrt beruhigte ihn wieder etwas, aber er war noch ganz voller Erstaunen, als er im Gesellschaftszimmer in Beeches Agatha, seine Frau und Erskine traf. Im Augenblick, als er hereintrat, sagte er ohne jede Einleitung: »Sie ist mit Trefusis davongefahren.« Erskine, der gelesen hatte, fuhr empor und packte sein Buch, als wollte er es nach jemand schleudern. Dann schrie er: »War er am Zug?« »Ja, und er ist mit nach der Stadt gefahren.« Erskine schleuderte das Buch heftig auf den Boden. »Dann ist er ein Schurke und ein Lügner,« sagte er. »Was ist los?« fragte Agatha, sich erhebend, während Jane ihn mit offenem Munde anstarrte. »Ich bitte Sie um Verzeihung, Miß Wylie, ich vergaß sie. Er verpfändete mir seine Ehre, daß er nicht mit diesem Zuge gehen wollte. Ich werde --« Er eilte aus dem Zimmer. Sir Charles lief hinter ihm her und holte ihn unten an der Treppe ein. »Wo gehen Sie hin? Was wollen Sie tun?« »Ich will dem Zug folgen und ihn an der nächsten Station abfangen. Ich kann das mit meinem Rad.« »Unsinn, Sie sind verrückt. Sie haben einen Vorsprung von fünfunddreißig Minuten, und der Zug macht fünfundvierzig Meilen in der Stunde.« Erskine setzte sich auf die Treppe und starrte ausdruckslos auf die gegenüberliegende Wand. »Sie müssen ihn mißverstanden haben,« sagte Sir Charles. »Ich sollte Ihnen mitteilen, daß er sein Versprechen nicht vergessen habe und daß Sie sich auf ihn verlassen könnten.« »Was ist denn geschehen?« fragte Agatha, die, von Lady Brandon gefolgt, herunterkam. »Miß Wylie,« sagte Erskine aufspringend, »er gab mir sein Wort, als ich ihm sagte, daß Miß Lindsay mit diesem Zuge führe, daß er nicht hingehen werde. Er hat sein Wort gebrochen und diese Gelegenheit benutzt, da ich töricht und leichtgläubig genug war, ihm davon zu erzählen. Wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, Brandon, ich hätte ihn eher erwürgt oder unter die Räder geworfen, ehe ich ihn hätte gehen lassen. Wie bei jeder Gelegenheit, hat er sich auch jetzt wieder als Schwindler und Verschwörer gezeigt, als ein Mann von Schleichwegen, Ränken, Kunstgriffen, verlogenen Spitzfindigkeiten, herzloser Selbstsucht, grausamem Zynismus --« Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und Sir Charles legte sich ins Mittel. »Sie regen sich wegen gar nichts auf, Chester. Sie sind mit ihrem Mädchen und vielen andern Leuten in einem Pullmanwagen, und sie gab ihm ausdrücklich Erlaubnis, mit ihr zu fahren. Er fragte sie offen in meiner Gegenwart, und ich muß gestehen, ich fand es eine starke Zumutung, daß sie zustimmen sollte. Jedenfalls stimmte sie zu, ich war natürlich nicht in der Lage, ihn zu hindern, nach London zu gehen, wenn es ihm Spaß machte. Also machen Sie keine Szene, alter Junge. Wir können es nicht ändern.« »Es tut mir sehr leid,« sagte Erskine und ließ den Kopf hängen. »Ich wollte keine Szene machen. Ich bitte Sie um Verzeihung.« Er ging auf sein Zimmer, ohne noch etwas zu sagen. Sir Charles folgte ihm und versuchte, ihn zu trösten. Aber Erskine erfaßte seine Hand und bat, ihn allein zu lassen. So kehrte denn Sir Charles in das Gesellschaftszimmer zurück, wo seine Frau endlich einmal vor Verlegenheit kaum zu bemerken wagte, daß sie so etwas noch nie in ihrem Leben gehört hätte. Agatha verhielt sich schweigend. Sie war schon vor langer Zeit ganz von selbst zu der Ansicht gekommen, daß sie und Trefusis die einzigen Mitglieder der Gesellschaft auf Beeches waren, die viel gesunden Verstand hatten. Deshalb glaubte sie auch nicht leicht, daß bei einem Mißverständnis Trefusis unrecht und Erskine recht hatte. Agatha besaß eine leichtfertige Art, die Leute, deren Gewohnheiten und Gedanken von den ihrigen abwichen, als Esel abzutun. Von allen Arten von Männern verkörperte ein unbedeutender Dichter am meisten ihre Vorstellung von einem menschlichen Esel, und Erskine, obgleich er wirklich ein hübscher Mensch und durchaus gut und anständig war, er war doch nach ihrer Meinung nur ein minderwertiger Dichter und daher ein ausgesprochener Esel. Trefusis dagegen war der letzte Mann in ihrer Bekanntschaft, den sie für einen wirklich hübschen Menschen oder einen sittsamen Gentleman gehalten hätte. Aber er war kein Esel, obgleich er hartnäckig an seinen sozialistischen Liebhabereien hing. Sie hatte ihn wirklich im Verdacht einer fast eselhaften Schwäche gegenüber Gertrude gehabt, aber in ihren Beziehungen zu Frauen waren nun einmal alle Männer Esel, und seit er seine Schwäche auf sie übertragen hatte, brauchte er keine Rechtfertigung mehr. Aber jetzt, da sie sich über Erskine, den sie bemitleidete, beruhigte, empfand sie die Reise Trefusis' mit Gertrude voll Unwillen als einen Eingriff in ihren soeben erlangten Alleinbesitz seiner Person. Gertrude hatte einen gewissen Schein von aristokratischem Stolz an sich, um den Agatha sie früher beneidet hatte, und sie fürchtete jetzt, Trefusis möchte ihn für ein Anzeichen von Gesinnungsadel und feiner Lebensart halten. Agatha glaubte nicht, daß ihr Unwille das gewöhnliche Gefühl war, das man Eifersucht nennt, denn sie hielt sich noch immer für eine Ausnahmenatur, aber es gab ihr doch eine Empfindung, gekränkt zu sein, was ihre Stimmung nicht verbesserte. Das Diner war langweilig. Lady Brandon sprach in einem leisen Tone, als ob im Nebenzimmer eine Leiche liege. Erskine litt unter dem Bewußtsein, daß er am Nachmittage seinen Kopf verloren und töricht gehandelt habe. Sir Charles kam auch nicht über die bange Ungewißheit fort, die sie alle wegen der Reise nach London empfanden. Er aß und trank und sagte nichts. Agatha, die sich über sich selbst und über Gertrude ärgerte und schwankte, ob sie sich auch über Trefusis ärgere oder ihm herzliches Vertrauen schenken sollte, folgte dem Beispiel ihres Wirtes. Nach dem Essen begleitete sie ihn bei einer Reihe Schubertliedern. Aber das machte die Stimmung nicht leichter, sondern noch schwerer. Sir Charles zog melancholische Lieder vor, da er grade den Schmerz am besten zum Ausdruck bringen konnte. Und da seine musikalischen Ansichten wie bei den meisten Engländern sich auf dem gründete, was er in seinen Kinderjahren in der Kirche gehört hatte, so war sein Vortrag unangenehm eintönig. Agatha benutzte die erste passende Gelegenheit, um sich vom Klavier zurückzuziehen. Sir Charles fühlte, daß sein Vortrag nicht gelungen war, und bemerkte, nachdem er ein- oder zweimal gehustet hatte, er hätte sich wohl auf der Rückfahrt von der Station erkältet. Erskine saß mit gesenktem Kopf auf dem Sofa und ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien herabsinken. Agatha stand am Fenster und sah in die letzte Glut des Sommerabends. Jane gähnte und brach dann das Schweigen. »Du hast genau den Blick wie auf der Schule, ich könnte mir fast vorstellen, daß wir wieder auf Numero Sechs wären.« Agatha schüttelte ihren Kopf. »Seh ich jemals so aus wie jene -- wie ich damals war?« »Niemals,« sagte Agatha bestimmt, indem sie sich umwandte und die Gestalt betrachtete, von der Miß Carpenter nur eine unreife Vorstufe gewesen war. »Aber warum nicht?« fragte Jane murrend. »Ich sehe nicht ein, warum ich das nicht sollte. Ich habe mich doch nicht so verändert.« »Du bist eine außergewöhnlich schöne Frau geworden, Jane,« sagte Agatha ernst und wandte dann, ohne zu wissen warum, ihren forschenden Blick auf Sir Charles, der unruhig wurde und hinausging. Eine Minute später kehrte er zurück und hatte zwei gelbbraune Umschläge in der Hand. »Ein Telegramm für Sie, Miß Wylie, und eins für Chester.« Erskine fuhr, blaß vor unbestimmter Furcht, auf. Agathas Farbe verlor sich und kam in verstärktem Maße wieder, als sie las: Ich bin wohlbehalten angekommen und lächerlich glücklich. Lesen Sie tausend Dinge zwischen den Zeilen. Ich werde morgen schreiben. Gute Nacht. »Du kannst es lesen,« sagte Agatha und gab es Jane. »Sehr hübsch,« bemerkte diese. »Grade für einen Schilling Aufmerksamkeit -- genau zwanzig Worte! Er kann sich mit Recht einen Ökonom nennen.« Plötzlich begann Erskine ein krähendes Lachen, daß sie sich nach ihm umwandten und ihn anstarrten. »Welch ein Unsinn!« sagte er errötend. »Was das für ein Kerl ist! Ich lege nicht den mindesten Wert darauf.« Agatha faßte das Telegramm an einer Ecke und zog langsam daran. »Nein, nein,« sagte er und hielt es fest. »Es ist zu lächerlich. Ich glaube nicht, daß ich --« Agatha riß es jetzt an sich und las den Inhalt laut vor. Das Telegramm war von Trefusis. »Ich verzeihe Ihnen Ihre Gedanken seit Brandons Rückkehr. Schreiben Sie ihr heute abend und folgen Sie morgen persönlich Ihrem Brief, um eine zustimmende Antwort zu bekommen. Ich versprach Ihnen, Sie könnten sich auf mich verlassen. Sie liebt Sie.« »So was habe ich in meinem Leben noch nicht gehört,« sagte Jane. »Niemals.« »Er ist wirklich ein ganz seltsamer Mensch,« sagte Sir Charles. »Ich bin um meinetwillen froh, daß er nicht so schwarz ist, wie man ihn gemalt hat,« sagte Agatha. »Sie können jedes Wort davon glauben, Mr. Erskine. Tun Sie bestimmt, was er Ihnen sagt. Er weiß ganz sicher, daß er sich nicht irrt.« »Pah!« sagte Erskine und zerknitterte das Papier und steckte es in die Tasche, als wäre es keines zweiten Blickes wert. Gleich darauf schlich er sich fort und kam nicht wieder. Als sie im Begriff waren, sich zurückzuziehen, fragte Sir Charles ein Mädchen, wo er sei. »In der Bibliothek, Sir Charles. Er schreibt.« Sie sahen sich gegenseitig bezeichnend an und gingen zu Bett, ohne ihn zu stören. Achtzehntes Kapitel. Als Gertrude sich mit Trefusis in dem Pullmanwagen befand, wunderte sie sich, wie sie dazu kam, gegen ihren Entschluß, wenn nicht gegen ihren Willen, mit ihm zu fahren. Es waren noch zwei Frauen da, die sie mit mißtrauischen Blicken beobachteten, als ob sie mit schlechten Absichten hierhergekommen sei. Ferner ein Herr, der etwas weiter absaß und sie bewunderte; ihr Mädchen, das Trefusis' Zeitungen las und grade außerhalb der Hörweite war; ein Herr vom Lande, der gleichgültig und mürrisch aus dem Fenster blickte; ein Kaufmann aus der City, der in den >Economist< vertieft war, und eine höfliche Dame, die sie zwar nicht anstarrte, aber doch im stillen beobachtete. Gertrude fühlte, daß sie in Gegenwart aller dieser Menschen keine Szene machen durfte, aber sie wußte, daß sie nicht hierhergekommen war, um eine gewöhnliche Unterhaltung zu führen. Sie brauchte auch darüber nicht lange im ungewissen zu bleiben. Er begann sofort zu sprechen und ging ohne Umschweife auf den Kernpunkt der Sache los. »Was denken Sie über meine Verlobung?« Diese Frage war mehr, als sie ruhig ertragen konnte. »Was geht das mich an?« fragte sie unwillig. »Ich habe nichts damit zu tun!« »Nichts? Dann ist es mit Ihrer Freundschaft für mich nicht weit her. Und ich hielt Sie für einen meiner besten Freunde.« Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn anblicken. Aber sie besann sich. Sie preßte ihre Lippen zusammen und starrte auf den leeren Sitz vor ihr. Für den Vorwurf, den er nach ihrer Ansicht verdiente, fand sie keinen Ausdruck. »Ich habe noch immer diese Überzeugung, trotzdem Miß Lindsay so gleichgültig gegen meine Angelegenheiten ist. Aber ich muß auch gestehen, ich weiß kaum, wie ich Ihnen etwas mehr Teilnahme für mich einflößen soll. Sie sind erstens niemals verheiratet gewesen, ich aber wohl. Dann sind Sie so viel jünger als ich, und zwar nicht nur an Jahren. Höchst wahrscheinlich stammen Ihre Ansichten über solche Dinge meistens aus Romanen, in denen ein glücklicher Ausgang schon so wie so an sehr seltsame Umstände geknüpft ist -- an Umstände, die im wirklichen Leben ganz andere Folgen haben. Wenn Ihre Freundschaft ein Kapitel aus einem Roman wäre, was würde wohl das Ende sein? Nun, ich müßte Sie entweder heiraten oder Ihnen durch meine Treulosigkeit das Herz brechen.« Gertrudes Augen wanderten umher, als habe sie die Absicht, zu entfliehen. »Aber unsere Beziehungen sind solche des wirklichen Lebens und darum viel zartere als die eines Romanes. Ich habe nie davon geträumt, Sie zu heiraten. Ich habe Ihre Freundschaft gewonnen und sie genossen, ohne dabei geschäftliche Pläne zu haben, von denen sich die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts sonst nicht einmal im Schlafe freimachen. Und Sie sind mir gegenüber ebenso uninteressiert und denken gar nicht daran, sich das Herz brechen zu lassen. Aber ich glaube, daß Sie etwas verletzt sind, weil ich einen so wichtigen Schritt, wie die Heirat mit Agatha, überlegt und ausgeführt habe, ohne Ihnen meine Absicht anzuvertrauen. Und zur Strafe sagen Sie mir, daß Sie nichts damit zu tun hätten -- daß es Ihnen ganz gleichgültig sei. Doch ich habe diesen Schritt gar nicht vorher überlegt und konnte ihn daher auch nicht vor Ihnen verhehlen. Es geschah in weniger als einer Minute, daß ich den Entschluß faßte und ihn ausführte. Obgleich meine erste Heirat eine törichte Liebesgeschichte und ein Fehler war, so war ich mir doch immer darüber im klaren, daß ich wieder heiraten müßte. Ein Junggeselle ist ein Mann, der sich jeder Verantwortlichkeit und jeder Verpflichtung entzieht. Ich suche sie aber grade und halte es für meine Schuldigkeit, bei meinem ungeheuren Überfluß an Reichtum meine Neigungen nicht zu sehr anwachsen zu lassen. Bei alledem hatte ich aber keine Eile. Es gab so viele Dinge, die mich beschäftigten, ich liebte die Freiheit meines Junggesellenlebens und wußte auch manchmal nicht, ob es recht war, noch mehr Müßiggänger auf die Welt zu setzen, die die Arbeiter ernähren mußten. Dazu kam die gewöhnliche Schwierigkeit, ein passendes Mädchen zu finden. Ich wollte keine Gehilfin haben, ich kann mir selber helfen. Ebensowenig erwartete ich eine hingebende Liebe zu finden. Das Menschengeschlecht hat noch keinen Mann hervorgebracht, den man bei intimer Bekanntschaft liebt. Sogar meine Eigenliebe ist weder tief noch dauernd. Ich wollte einen munteren Gefährten für das häusliche Leben haben, und es kam mir plötzlich der Gedanke, Agatha sei vielleicht noch das Passendste, was ich auf dem Heiratsmarkt finden konnte. Denn es ist sehr schwer, hier etwas Zusagendes zu finden, und wenn man in der Hoffnung, etwas Besseres zu finden, zu lauge zaudert, dann schnappen einem die andern noch den besten Handel vor der Nase weg. Ich bewundere Agathas Mut und Befähigung. Ich glaube, ich werde ihr Zuneigung zu mir einflößen, und dann wird unsere Vereinigung zu einem festen Bande verwachsen, wie es für zwei verschiedene Wesen zuträglich und notwendig ist. Vielleicht täusche ich mich über ihren Charakter, denn ich kenne sie nicht so, wie ich Sie kenne, und ich habe schwerlich soviel Zutrauen zu ihr, um mit ihr über solche Sachen wie mit Ihnen zu sprechen. Und doch liegt auch ein romantischer Anstrich über dem Ganzen, der mir Mut gibt. Agatha hat etwas Bezauberndes an sich. Finden Sie das nicht auch?« Gertrudes Bewegtheit war verschwunden. Sie antwortete mit kühler Verachtung: »Es ist wirklich romantisch. Agatha ist sehr glücklich.« Trefusis lachte und seufzte gleichzeitig und war froh, weil sie soviel Selbstbeherrschung zeigte. »Es klingt so -- und vielleicht ist es auch nichts anderes als die selbstsüchtige Berechnung eines enttäuschten Witwers. Sie würden ein solches Angebot nicht besonders schätzen und auch die Empfängerin nicht beneiden.« »Nein,« sagte Gertrude mit ruhiger Geringschätzung. »Und doch liegen hinter allen Anträgen solche Berechnungen. Wir heiraten, um unsere Neigungen zu befriedigen, und je vernünftiger unsere Neigungen sind, desto mehr Aussicht haben wir, daß sie wirklich befriedigt werden. Ich sehe, Sie sind über mich enttäuscht. Ich habe das befürchtet. Sie gehören zu der Art Frauen, die nur eine Entschuldigung für die Ehe kennen -- die Liebe, die reine Gefühlsliebe, die für jede Überlegung blind ist.« »Ich interessiere mich wirklich nicht --« »Sagen Sie das nicht, Gertrude. Ich beobachte ängstlich jeden Schritt, den Sie tun, und ich glaube nicht, daß es Ihnen gleichgültig ist, ob ich mich würdig verhalte. Glauben Sie mir, Liebe ist eine überschätzte Leidenschaft. Man würde längst jedes Zutrauen dazu verloren haben, wenn nicht die jungen Leute und die Romanschriftsteller, die von solchen Tollheiten leben, ein immerwährendes Interesse daran hätten, dieses Zutrauen wieder aufzufrischen. Keine Verbindung, die verschiedenartige Pflichten und einen stetigen Verkehr zwischen zwei Menschen in sich schließt, kann dauernd auf der Liebe allein begründet bleiben. Doch soll man die Liebe nicht geringschätzen, wenn sie einer zarten Natur entspringt. Es gibt einen Mann, der Sie genau so liebt, wie ich nach Ihrer Ansicht Agatha lieben müßte -- wie ich sie aber nicht liebe.« Gertrudes Erregung erwachte von neuem, und sie errötete. »Sie haben jetzt kein Recht mehr, mir so etwas zu sagen,« bemerkte sie. »Warum darf ich nicht für einen andern eintreten? Ich spreche von Erskine.« Ihre Farbe verschwand, und er fuhr fort: »Ich hätte gerne, wenn Sie ihn heiraten. Als verheiratete Frau werden Sie mich besser verstehen, und unsere Freundschaft, die jetzt einen Stoß erhalten hat, wird sich vertiefen. Denn jetzt, da Sie mich nicht mehr mißverstehen können, darf ich Ihnen wohl sagen, daß mir kein weibliches Wesen auf der Welt teurer ist, als Sie es sind. Das ist der Grund, den meine Selbstsucht bei der Angelegenheit hat. Erskine ist ein armer Mann, und seine behagliche Armut -- verzeihen Sie den Ausdruck -- wird Sie vor der Erniedrigung bewahren, sich für Reichtum und Ansehen verheiraten zu müssen. Für Mädchen Ihrer Klasse ist diese Erniedrigung eine ständige Gefahr. Die andern Mädchen bewerben sich darum, Sie aber dürfen das nicht tun. Erskine ist ehrenhaft und liebt Sie. Er ist jung, gesund und umgänglich. Was glauben Sie, daß Ihnen die Welt mehr bieten könnte?« »Hoffentlich viel mehr! Bedeutend mehr!« »Ich fürchte, die Namen, die ich den Dingen gebe, sind nicht romantisch genug. Er ist ein Dichter. Vielleicht würde er ein Held sein, wenn das einem Manne heute möglich wäre. Aber das neunzehnte Jahrhundert wird einst in der Geschichte als die schändliche Zeit dastehen, in der alle Macht über die Natur nur dazu diente, die Habgier des Menschen zu schärfen und die Aushungerung der Mitmenschen als offenes Kampfesmittel zu proklamieren. Erskine ist wenigstens kein Spieler und kein direkter Sklavenhalter. Wenn er von der Ausbeutung der Arbeit lebt, so kann er ebenso wie ich gar nicht anders. Sagen Sie nicht, daß Sie viel mehr erhoffen. Aber erzählen Sie mir, wenn Sie können, worauf Sie sonst Aussicht haben. Ich frage nicht, was Sie wünschen -- wir haben alle ausschweifende Wünsche. Ich frage Sie, was Sie mehr erreichen können.« »Ich halte Mr. Erskine nicht für einen solchen wundervollen Menschen, wie Sie das tun.« »Er ist eben nur ein Mensch. Kennen Sie sonst jemand, der wundervoll ist?« »Übrigens würde auch meine Familie nicht damit einverstanden sein.« »Das ist höchst wahrscheinlich. Wenn Sie es ihnen recht machen wollen, müssen Sie sich an irgendeinen reichen Fabrikvampyr oder einen großen Landbesitzer verkaufen. Wenn Sie sich an den armen Dichter weggeben, der Sie liebt, wird ihre Enttäuschung grenzenlos sein. Wenn heute ein Mädchen ihren Vater und ihre Mutter so ehren will, daß sie zufrieden sind, muß sie sich selbst entehren.« »Ich verstehe nicht, warum Sie so ängstlich bedacht sind, mich an einen andern zu verheiraten!« »An einen andern?« fragte Trefusis verwirrt. »Ich meine nicht, an einen andern,« sagte Gertrude schnell und errötete. »Warum soll ich überhaupt heiraten?« »Warum heiratet überhaupt jemand? Warum heirate ich? Weil das eine Aufgabe ist, die jeder erfüllen soll. Wenn Sie nicht beizeiten aus freier Wahl heiraten, werden Sie später durch die Zudringlichkeit Ihrer Bewerber und Ihrer Eltern dazu getrieben werden, oder Sie tun es, weil Sie der Ungewißheit Ihres jetzigen Lebens müde sind. Haben Sie Mut bei Ihrer Heirat! Werfen Sie sich nicht weg und verkaufen Sie sich nicht. Verschenken Sie sich. Erskine hat ebensoviel zu verlieren wie Sie, und doch bietet er sich ohne Furcht an.« Gertrude erhob stolz ihren Kopf. »Es ist ja richtig,« fuhr Trefusis fort, der etwas ärgerlich diese Bewegung bemerkte, »daß er von Ihnen eine etwas höhere Meinung hat, als Sie es verdienen, dafür unterschätzen Sie ihn auch wiederum. Wenn Sie ihn heiraten, dann müssen Sie ihn vor einer grausamen Enttäuschung bewahren, indem Sie sich wirklich zu dem hohen Standpunkt emporschwingen, den Sie in seiner Einbildung innehaben. Das kostet Sie etwas Mühe, und diese Anstrengung wird Ihnen guttun, ob Sie nun dabei Erfolg haben oder nicht. Und was ihn angeht, den Standpunkt, auf dem er in Ihren Gedanken steht, wird er schon immer erreichen, wenn nur Ihre Gedanken ihn erreichen können.« Gertrude machte eine Bewegung der Ungeduld. »Wie!« sagte er schnell. »Mein langatmiger Appell an Ihre Vernunft ist Ihnen wohl unangenehm? Ich glaube, ich spreche wider Willen so, weil ich schließlich doch auf den Burschen eifersüchtig bin. Aber ich rede im Ernst. Ich möchte, daß Sie sich verheirateten, obgleich ich immer einen geheimen Groll gegen den Mann haben werde, der Sie heiratet. Agatha hat mich im Verdacht der Treulosigkeit, wenn Sie es nicht tun. Erskine wird enttäuscht sein. Sie selbst werden verdrießlich, elend und -- unverheiratet sein.« Gertrudes Wangen röteten sich bei dem Wort eifersüchtig und dann noch einmal bei der Erwähnung Agathas. »Und wenn ich es tue,« sagte sie bitter, »was dann?« »Wenn Sie es tun, wird Agatha zufrieden und Erskine glücklich sein. Sie haben sich selbst geopfert und werden das Glück finden, das einem wertvollen Opfer folgt.« »Sie sind es, der mich geopfert hat,« sagte sie, indem sie ihr Stillschweigen aufgab. Sie blickte ihn jetzt zum erstenmal während ihrer Unterhaltung an. »Ich weiß es,« sagte er in halb geflüstertem Tone und neigte sich zu ihr hin. »Ist nicht Entsagen der Anfang und das Ende aller Weisheit? Ich habe Sie geopfert, weil ich unsere Freundschaft nicht entweihen wollte, indem ich Sie bat, mein ganzes Leben mit mir zu teilen. Sie sind dafür nicht geeignet, und so gehe ich eine andere Verbindung ein. Aber ich bitte Sie, meinem Beispiel zu folgen, damit wir nicht einander zu einem Schritt drängen, der bald beweisen würde, wie recht ich mit meinem Wort habe, daß Sie für mich nicht geeignet sind. Ich habe Ihnen nie gestattet, durch alle Zimmer meines Bewußtseins zu streifen, aber ich habe für Sie dort ein Allerheiligstes und will es unentwegt für Sie bewahren. Selbst Agatha soll den Schlüssel dazu nicht haben. Sie muß zufrieden sein mit den andern Zimmern -- dem Gesellschaftszimmer, dem Arbeitszimmer, dem Speisezimmer und so fort. Alle diese würden Ihnen nicht passen, Sie würden weder die Einrichtung noch die Gäste lieben und nach einiger Zeit nicht einmal mehr den Hausherrn. Wollen Sie mit dem Allerheiligsten zufrieden sein?« Gertrude biß auf ihre Lippen, die Tränen traten ihr in die Augen. Sie sah ihn flehend an. Wären sie allein gewesen, sie hätte sich in seine Arme geworfen und ihn gebeten, alles außer ihrer gegenseitigen starken Zuneigung zu vergessen. »Und wollen Sie einen Winkel in Ihrem Herzen für mich bewahren?« Langsam warf sie ihm einen schmerzlichen Blick des Nachgebens zu. »Wollen Sie tapfer sein und sich dem armen Mann opfern, der Sie liebt? Er wird Sie vor nutzloser Einsamkeit und vor einer oberflächlichen Ehe bewahren -- ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß eins von diesen beiden Ihr Schicksal sein würde.« »Ich mache mir nichts aus Mr. Erskine,« sagte sie und war kaum imstande, ihre Stimme zu beherrschen. »Aber ich will ihn heiraten, wenn Sie es wünschen.« »Ich wünsche es ernstlich, Gertrude.« »Dann haben Sie mein Versprechen,« sagte sie, und wieder kam ein bitterer Ton in ihre Stimme. »Aber Sie werden mich doch nicht vergessen? Erskine wird alles haben außer diesem stillen Gedenken.« »Kann ich mehr tun, als ich grade versprochen habe?« »Vielleicht, aber ich bin zu selbstsüchtig, um etwas noch Großmütigeres zu verstehen. Unser Entsagen wird uns fester aneinanderbinden, als es unsere Vereinigung je hätte tun können.« Sie sahen sich lange an. Dann zog er seine Uhr heraus und begann über die Länge der Fahrt zu sprechen, die jetzt ihrem Ende entgegenging. Als sie in London ankamen, war die erste Person, die sie auf dem Bahnsteig sahen, Mr. Jansenius. »Ah! Sie erhielten also mein Telegramm,« sagte Trefusis. »Vielen Dank für Ihr Kommen. Warten Sie, bitte, während ich diese Dame zu Ihrem Wagen begleite.« Als der Wagen geholt war und Gertrude mit ihrem Mädchen darin saß, flüsterte er ihr noch schnell zu: »Trotz allem drückt es mich hier wie Bleigewicht.« Er zeigte auf sein Herz. »Sie sind tapfer und ich bin vernünftig gewesen. Antworten Sie mir nicht, aber denken Sie daran, daß wir für immer treue Freunde sind.« Er drückte ihre Hand und wandte sich an den Kutscher, dem er die Fahrtrichtung sagte. Gertrude sank in eine Ecke des Wagens zurück, als er sich in Bewegung setzte. Trefusis aber atmete auf, wie ein Mann, der grade von einer schweren, drückenden Last erlöst ist, und ging zu Mr. Jansenius. »Da geht ein echtes Weib,« sagte er. »Ich habe sie überredet, den besten Schritt zu tun, der ihr möglich war. Ich begann als ehrlicher Mann vernünftig zu sprechen und quälte mich damit eine halbe Stunde, aber sie wollte mich nicht anhören. Dann redete ich fünf Minuten lang romantischen Unsinn von der gewöhnlichsten Sorte, und mit Tränen in den Augen stimmte sie mir zu. Wir wollen diesen Wagen nehmen. He! Belsize Avenue. Ja, man muß manchmal mit den Weibern weiblich reden, grade so, wie man mit einem Narren närrisch reden muß. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Jansenius, ob ich ein ungewöhnlich ehrenhafter Mann bin oder eines der schlechtesten Produkte dieser Gesellschaft, die ich mit aller Macht zu vernichten suche -- ob ich also, kurz gesagt, ein höllischer Schurke bin?« »Aber ich bitte Sie, seien Sie doch nicht so töricht,« sagte Mr. Jansenius. »Ich wundere mich, wie ein Mann von Ihrer Befähigung manchmal so handeln und sprechen kann, wie Sie es tun.« »Ich hoffe, ein wenig Aufrichtigkeit ist entschuldbar, wenn man sie als Chloroform gebraucht -- um einer Frau über die Schmerzen verletzter Eitelkeit hinwegzuhelfen. Übrigens, auf dem nächsten Postamt, an dem wir vorbeikommen, muß ich zwei Telegramme aufgeben. Nun ja, wie ich Ihnen schon mitteilte, ich werde mich mit Agatha verheiraten. Es war nur noch ein anderer einzelner Mann und ein anderes Mädchen unten in Brandon Beeches, und jetzt sind sie so gut wie verlobt. Und darum: Hans nimmt sein Gretchen. Jeder sein Mädchen; Es find't seinen Deckel jeder Topf, Und allen geht's nach ihrem Kopf.« _$Ende.$_ +------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Folgende Inkonsistenzen wurden belassen, da beide Schreibweisen | | üblich waren: | | | | adelige -- adlige | | anderen -- andern | | anderer -- andrer | | bekomm -- bekomme | | benutzt -- benützt | | besondern -- besonderen | | gehen -- gehn | | glaube -- glaub | | gerade -- grade -- grad | | Hohepriester -- Hohenpriester | | höheren -- höhern | | keines -- keins | | Ladies -- Ladys | | Lord-Mayor -- Lordmayor | | Schierlingblätter -- Schierlingsblätter | | sechszehn -- sechzehn | | seh -- sehe | | sehen -- sehn | | seiest -- seist | | steh -- stehe | | trocknen -- trockenen | | tu -- tue | | ungeheueres -- ungeheuren | | unseren -- unsern | | Vagabond -- Vagabund | | Versuches -- Versuchs | | | | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen: | | | | S. 6 ">" durch » ersetzt. | | S. 7 ">" durch » ersetzt. | | S. 8 "sagt" durch "sagte" ersetzt. | | S. 8 "«" eingefügt. | | S. 32 Absatz eingefügt. | | S. 32 "." eingefügt. | | S. 36 "«" eingefügt. | | S. 39 "hat" durch "hatte" ersetzt. | | S. 41 "»" eingefügt. | | S. 45 "Manschesterhosen" durch "Manchesterhosen" ersetzt. | | S. 46 "Manschesterweste" durch "Manchesterweste" ersetzt. | | S. 47 "Schwesters" durch "Schwestern" ersetzt. | | S. 48 "«" entfernt. | | S. 50 "." durch "?" ersetzt. | | S. 50 "!" durch "." ersetzt. | | S. 50 "Es" durch "Er" ersetzt. | | S. 55 "bischen" durch "bißchen" ersetzt. | | S. 60 "kaput" durch "kaputt" ersetzt. | | S. 64 "Manschester" durch "Manchester" ersetzt. | | S. 65 "?" durch "." ersetzt. | | S. 65 "Sie" durch "sie" ersetzt. | | S. 65 "auf und abzog" durch "auf- und abzog" ersetzt. | | S. 69 "«" eingefügt. | | S. 70 "," durch ":" ersetzt. | | S. 81 "«" eingefügt. | | S. 70 "Besonneren" durch "Besonneneren" ersetzt. | | S. 118 "den" durch "denn" ersetzt. | | S. 145 Die Zeilen | | "Nachricht schicken, Sie möchten herkommen? Sie | | erfuhr" | | "ja von unserm Ausflug erst um halb zehn gestern" | | mit der Zeile | | "an und sagte: »Wie konnte Miß Wilson Ihnen die" | | vertauscht. | | S. 189 "hätte" eingefügt. | | S. 199 "»" entfernt. | | S. 219 "Salusts" durch "Sallusts" ersetzt. | | S. 223 "«" eingefügt. | | S. 224 "Sie" durch "Sir" ersetzt. | | S. 225 "mir" durch "mich" ersetzt. | | S. 227 "einer" durch "einen" ersetzt. | | S. 238 "das" durch "des" ersetzt. | | S. 245 "«" entfernt. | | S. 286 "»" entfernt. | | S. 307 "." eingefügt. | | S. 313 "«" eingefügt. | | S. 319 "Kanibalismus" durch "Kannibalismus" ersetzt. | | S. 320 "Trefusius" durch "Trefusis" ersetzt. | | S. 337 "." durch "?" ersetzt. | | S. 348 "?" durch "!" ersetzt. | | S. 353 "»" eingefügt. | | S. 354 "deinen" durch "deinem" ersetzt. | | S. 356 "«" entfernt. | | | +------------------------------------------------------------------+ End of the Project Gutenberg EBook of Der Amateursozialist, by Bernhard Shaw *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER AMATEURSOZIALIST *** ***** This file should be named 47077-8.txt or 47077-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/7/0/7/47077/ Produced by Peter Becker, Norbert H. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. 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