The Project Gutenberg EBook of Der Trotzkopf by Emmy von Rhoden This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license Title: Der Trotzkopf Author: Emmy von Rhoden Release Date: February 17, 2010 [Ebook #31309] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER TROTZKOPF*** Der Trotzkopf. Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte fuer erwachsene Maedchen von Emmy von Rhoden. 39. Auflage. Illustriert von _August Mandlick_. Stuttgart _Verlag von Gustav Weise._ Druck von Munz & Geiger, Stuttgart. VORWORT zur zweiten Auflage. Die zweite Auflage dieses Buches ist der ersten in kuerzerer Frist als der eines Jahres gefolgt. Sie ist mit dem Bilde der Verfasserin geschmueckt, damit die jugendlichen Leserinnen auch die Zuege derjenigen kennen und lieben lernen, die ihnen dies schoene Vermaechtnis hinterlassen hat. Sie hat diese Liebe reich verdient; sie hat dieselbe im Leben bei all denen, die ihr edles Herz kannten, im vollsten Masse genossen und sich weit ueber das Grab hinaus gesichert. Emmy von Rhoden war das Pseudonym der zu frueh dahingegangenen Gattin eines unsrer beliebtesten Schriftsteller, meines Freundes Friedrich Friedrich. Mir selbst und den Meinen war die Verfasserin eine teure Freundin, deren schriftstellerisches Debuet ich mit waermstem Interesse begleitete. Als sie ihre ersten, fuer ein juengeres Alter berechneten Jugendschriften ("_Das Musikantenkind_", eine Erzaehlung fuer Kinder von 11-14 Jahren, und "_Lenchen Braun_", eine Weihnachtsgeschichte fuer Kinder von 10-12 Jahren) veroeffentlichte und damit schnell litterarisches Aufsehen und nachhaltige Freude in den empfaenglichen Gemuetern der Kinderwelt erregte, hatte Emmy Friedrich Friedrich aus Bescheidenheit das Pseudonym Emmy von Rhoden gewaehlt. Jetzt hat der Tod den Schleier der Pseudonymitaet gelueftet. Es ist mir ein Herzensbeduerfnis, den Wunsch meines tiefgebeugten Freundes zu erfuellen, der aus leichtbegreiflichen Gruenden es nicht ueber sich vermochte, der zweiten Auflage des "Trotzkopf" ein Vorwort zu geben. Er war der Meinung, dass ich, der ich die Unvergessliche in ihrer liebenswuerdigen menschlichen und schriftstellerischen Eigenart genau kannte, ein charakterisierendes Einfuehrungswort der neuen Auflage finden wuerde. Nun aber, da ich das innerliche Wesen dieser seltenen Frau in Worte kleiden soll, fuehle ich die ganze Schwere dieser Aufgabe. Soll ich von der Gemuetstiefe reden, mit welcher die Verewigte das Wesen der Jugend erfasste; von dem innigen Verstaendnis, welches sie den Eigentuemlichkeiten einer jungen Maedchenseele entgegenbrachte; von der feinen Beobachtung des jugendlichen Gebarens; von der farbenfrischen Erzaehlerkunst, mit welcher sie vor dem seelischen Ohr des Lesers auch die zartesten Saiten der jugendlichen Empfindung erklingen liess? Wer einen Ueberblick ueber die neueste Unterhaltungslitteratur fuer die Jugend gewann, in welcher sich allerlei Unnatur und Tendenz aufdringlich breit macht, wird die grossen Vorzuege erkennen, welche den "Trotzkopf" zu einer echten und wahren Jugendschrift machen. Diese Erzaehlung ist natuerlich frisch, unterhaltend und spannend, und was schwerer als dies alles wiegt: sie ist psychologisch wahr! Mit gluecklichem Takt hat die Verfasserin alles rein Belehrende, alles Pedantische und unnatuerlich Pruede vermieden. Sie erzaehlt mit ungekuenstelter Natuerlichkeit, wie ein junges, ungebaendigtes Menschenkind durch das Leben selbst erzogen wird. Deshalb wirkt dies Buch auch im besten Sinne erziehend. Eine Erzaehlung, welche die jugendlichen Gemueter nicht fesselt und packt, bleibt wirkungslos und wenn tausend weise Lehren in dieselbe hineingestreut sind, denn diese sind nur graue Theorien, waehrend das Gruen des goldenen Lebensbaumes nur aus dem Leben selbst emporwaechst. Und so moege dies anziehende, von der Sonne der Phantasie beglaenzte Werk, das auf innerlichster Lebenserfahrung aufgebaut ist, seinen Weg weiter gehen zur Freude der gern angeregten Jugend! Es ist der Segen aller guten und edlen Naturen, dass ihre Schoepfungen auf viele Generationen hinaus wirken. Des alten Sebastian Frank Wort mag sich auch an dieser Jugendschrift als wahr erweisen: "Das aber ist der Buecher rechter einiger Gebrauch, dass wir darinnen ein Zeugnis unsres Herzens sehen." _Berlin_, Oktober 1885. *Franz Hirsch.* [Illustration] "Papa, Diana hat Junge!" Mit diesen Worten trat ungestuem ein junges, schlankes Maedchen von fuenfzehn Jahren in das Zimmer, in welchem sich ausser dem Angeredeten, dessen Frau und dem Prediger des Ortes, noch Besuch aus der Nachbarschaft, ein Herr von Schaeffer mit Frau und seinem erwachsenen Sohne, befand. Alles lachte und wandte sich dem kleinen Backfische zu, der ohne jede Verlegenheit auf den Papa zueilte und ausfuehrlich ueber das wichtige Ereignis berichtete. "Es sind vier Stueck, Papa," erzaehlte sie lebhaft, "und braun sehen sie aus, wie Diana. Komm sieh dir sie an, es sind zu reizende Tierchen! Vorn an den Pfoetchen haben sie weisse Spitzen. Ich habe gleich einen Korb geholt und mein Kopfkissen hineingelegt, sie muessen doch warm liegen, die kleinen Dinger." Herr Oberamtmann Macket hatte den Arm um die Schulter seines Lieblings gelegt und strich ihm das wirre Lockenhaar aus dem erhitzten Gesicht, dabei sah er sein Kind mit wohlgefaelligen Blicken an, was eigentlich zu verwundern war, da Ilse in einem Aufzuge hereingekommen, der durchaus nicht geeignet war, Wohlgefallen zu erregen, besonders in diesem Augenblicke, wo fremde Augen denselben musterten. Das verwaschene, dunkelblaue Kattunkleid, blusenartig gemacht und mit einem Lederguertel gehalten, mochte wohl recht bequem sein, aber kleidsam war es nicht, und einige Flecken und Risse darin dienten ebenfalls nicht dazu, die Eleganz desselben zu heben. Die hohen, plumpen Lederstiefel, die unter dem kurzen Kleide hervorblickten, waren tuechtig bestaubt und sahen eher grau als schwarz aus. Aber wie gesagt, Herrn Macket genierte dieser Aufzug gar nicht, er sah in die froehlichen, braunen Augen seines Lieblings, um dessen Kleider kuemmerte er sich nicht. Er war im Begriffe, sich zu erheben, um seines Kindes Wunsch zu erfuellen, als seine Gattin, eine vornehme Erscheinung mit sanften und doch bestimmten Zuegen, ihm zuvorkam. Sie hatte sich erhoben und trat auf Ilse zu. "Liebe Ilse," sagte sie in freundlichem Tone und nahm dieselbe bei der Hand, "ich moechte dir etwas sagen, Kind. Willst du mir auf einen Augenblick in mein Zimmer folgen?" Sehr ruhig, aber sehr bestimmt waren die Worte gesprochen und Ilse fuehlte, dass ein Widerstand dagegen vergeblich sein wuerde. Ungern und gezwungen folgte sie der Mutter in das anstossende Gemach. "Was willst du mir sagen, Mama?" fragte sie und sah Frau Macket trotzig an. "Nichts weiter, mein Kind, als dass du sogleich auf dein Zimmer gehst und dich umkleidest. Du wusstest wohl nicht, dass Gaeste bei uns waren?" "Doch, ich wusste es, aber ich mache mir nichts daraus," gab Ilse kurz zur Antwort. "Aber ich, Ilse. Ich kann nicht gleichgueltig dabei sein, wenn du in einem so unordentlichen Kostueme dich blicken laesst. Du bist kein Kind mehr mit deinen fuenfzehn Jahren; bedenke, dass du seit Ostern konfirmiert bist, eine angehende junge Dame aber muss den Anstand wahren. Was soll der junge Schaeffer von dir denken, er wird dich auslachen und dich verspotten." "Der dumme Mensch!" fuhr Ilse auf. "Ob der ueber mich lacht oder spottet, ist mir ganz gleichgueltig. Ich lache auch ueber ihn! Thut, als ob er ein Herr waere mit seinem Klemmer und geht doch noch in die Schule." "Er ist in Prima auf dem Gymnasium und zaehlt neunzehn Jahre. Nun sei vernuenftig und kleide dich um, Kind, hoerst du?" "Nein, - ich ziehe kein andres Kleid an, ich will mich nicht putzen!" "Wie du willst, aber dann bitte ich dich, ja ich wuensche es entschieden, dass du in deinem Zimmer bleibst und dein Abendbrot dort verzehrst," gab Frau Macket mit grosser Ruhe zur Antwort. Ilse biss auf die Unterlippe und trat mit dem Fusse heftig auf die Erde, aber sie sagte nichts. Mit einer schnellen Wendung ging sie zur Thuer hinaus und warf dieselbe unsanft hinter sich zu. Oben in ihrem Zimmer liess sie sich auf einen Stuhl fallen, stuetzte die Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte Thraenen des bittersten Unmutes. "O wie schrecklich ist es jetzt!" stiess sie schluchzend heraus. "Warum hat auch der Papa wieder eine Frau genommen, - es war so viel, viel huebscher, als wir beide allein waren! Alle Tage muss ich lange Reden hoeren ueber Sitte und Anstand und ich will doch keine Dame sein, ich will es nicht - und wenn sie es zehnmal sagt!" - - Als sie mit ihrem Vater noch allein war, fuehrte sie freilich ein ungebundeneres und lustigeres Leben. Niemand hatte ihr Vorschriften zu machen oder durfte ihre dummen Streiche hindern; was sie auch ausfuehrte, es galt alles als unuebertrefflich. Das Lernen wurde nur als langweilige Nebensache betrachtet und die Gouvernanten fuegten sich entweder dem Willen ihrer Schuelerin oder sie gingen davon. Beklagte sich ja einmal diese oder jene bei dem Vater und hatte derselbe auch wirklich den festen Entschluss gefasst, ein Machtwort zu sprechen gegen sein unbaendiges Kind, er kam nicht dazu, es auszufuehren. Sobald er mit ernster Miene ihr gegenueber trat, fiel Ilse ihm um den Hals, nannte ihn ihren "einzigen, kleinen Papa", trotzdem er ein sehr grosser, kraeftiger Mann war, und kuesste ihm Mund und Wangen. Versuchte er, ihr ernste Vorstellungen zu machen, hielt sie ihm den Mund zu. "Ich weiss ja alles, was du mir sagen willst, und ich will mich ganz gewiss bessern!" mit solchen und aehnlichen Worten und Versprechungen troestete sie den Papa - ach und wie gern liess er sich also troesten! Er konnte dem Kinde nie ernstlich zuernen, es war sein alles. Als Ilses Mutter starb, legte sie ihm das kleine hilflose Ding in den Arm. Es hatte die schoenen, frohen Augen der frueh Geschiedenen geerbt, und blickte sie ihn an, war es ihm, als ob die Gattin, die er so sehr geliebt hatte, ihn anlaechle. Lange Jahre war er einsam geblieben und hatte nur fuer sein Kind gelebt. Da lernte er seine zweite Frau kennen. Ihr kluges, sanftes Wesen fesselte ihn so, dass er sie heimfuehrte. Frau Anne betrat das Haus ihres Mannes mit dem festen Vorsatze, seinem Kinde die treueste, liebevollste Mutter zu sein und alles aufzubieten, um ihr die frueh Verlorene zu ersetzen; indes jede herzliche Annaeherung von ihrer Seite scheiterte an Ilses trotzigem Widerstande. Bald ein Jahr waltete sie nun schon als Frau und Stiefmutter und noch immer hatte sie es nicht vermocht, Ilses Liebe zu gewinnen. - - - Die Gaeste blieben zum Abendessen auf Moosdorf, so hiess das grosse Gut des Oberamtmann Macket. Als der Tisch gedeckt war und alle sich an demselben niedergesetzt hatten, fragte Herr Macket, warum Ilse noch nicht anwesend sei. Frau Anne erhob sich und zog an der Klingelschnur. Der eintretenden Dienstmagd befahl sie, das Fraeulein zu Tisch zu rufen. - - - - Ilse sass noch in derselben Stellung am Fenster. Sie hatte sich eingeschlossen und die Magd musste erst tuechtig pochen und rufen, bevor sie sich bequemte, die Thuer zu oeffnen. "Sie sollen herunterkommen, Fraeulein, die gnaedige Mama hat es befohlen," sagte Kathrine und betonte das "sollen" und "befohlen" so recht auffallend. "Ich soll!" rief Ilse und wandte den Kopf hastig herum, "aber ich will nicht! Sag' das der gnaedigen Frau Mama!" "Ja," sagte Kathrine, so recht befriedigt von dieser Antwort, denn auch sie war durchaus nicht damit einverstanden gewesen, dass wieder eine Frau in das Haus gekommen war, welche der schoenen Freiheit ein Ende gemacht hatte, "ja, ich werd's bestellen. Gnaediges Fraeulein haben ganz recht, das ewige Befehlen, wenn man selbst alt genug ist, ist hoechst unpassend, noch dazu, wenn fremde Leute dabei sind." Und sie ging hinunter in das Speisezimmer und fuehrte woertlich Ilses Bestellung aus. Herr Macket blickte seine Frau verlegen an, er wusste gar nicht, was diese Antwort bedeuten sollte. Sie verstand seine stumme Frage und ohne im geringsten den Unmut merken zu lassen, den sie in ihrem Innern empfand, sagte sie gelassen: "Ilse ist nicht ganz wohl, lieber Mann, sie klagte etwas ueber Kopfschmerzen. Kathrine hat ihre Bestellung ungeschickt ausgerichtet." Alle Anwesenden errieten sofort, dass Frau Anne eine Ausrede machte, nur Herr Macket glaubte, dass es sich in Wahrheit so verhielt. "Wollen wir nicht lieber einen Boten zum Arzt schicken?" fragte er besorgt. Die Antwort hierauf gab ihm sein Kind selbst, das heisst, sie bewies ihm, dass ihr kein Finger weh that. Laut jubelnd und lachend trieb sie einen Reif mit einem Stock ueber den grossen Rasenplatz, und der Jagdhund, Tyras, sprang demselben nach, und wenn er mit seinen Pfoten den Reif beinahe erhascht hatte und ihn doch nicht halten konnte, stiess er ein aergerliches Geheul aus, worueber Ilse sich totlachen wollte. Herrn Mackets Gesicht verklaerte sich ordentlich bei diesem Anblicke. Er stand auf, trat in die offenstehende Fluegelthuer des Zimmers und eben im Begriffe, Ilse zu rufen, hielt ihn Frau Anne davon zurueck. "Lass sie - ich bitte dich, - lieber Mann," bat sie, vor Unwillen leicht erroetend, und zu den Gaesten gewendet setzte sie hinzu: "Es thut mir leid, nun doch die Wahrheit sagen zu muessen, indes Ilses Benehmen zwingt mich dazu." Und sie erzaehlte so mildernd als moeglich den kleinen Vorfall. Es wurde darueber gelacht, ja Herr von Schaeffer behauptete, die kleine habe Temperament und es sei schade, dass sie kein Knabe sei. Seine hochgebildete Frau konnte ihm nicht beistimmen, sie fand das wilde Maedchen geradezu entsetzlich und nannte es auf dem Heimwege ein _enfant terrible_. Als die Gaeste fortgefahren waren, blieb der Prediger noch zurueck. Derselbe war ein wohlwollender, nachsichtiger Mann, der Ilsen vaeterlich zugethan war. Er hatte sie getauft und eingesegnet, unter seinen Augen war sie herangewachsen. Seit kurzer Zeit, seitdem die letzte Gouvernante ihren Abschied genommen hatte, leitete er auch ihren Unterricht. Es trat ein augenblickliches, beinahe peinliches Stillschweigen ein. Ein jeder der drei Anwesenden hatte etwas auf dem Herzen und scheute sich doch, das erste Wort zu sprechen. Herr und Frau Macket sassen am Tische, er rauchend, sie eifrig mit einer Handarbeit beschaeftigt. Prediger Wollert ging im Zimmer auf und ab und sah recht ernst und nachdenklich aus. Endlich blieb er vor dem Oberamtmann stehen. "Es kann nichts helfen, lieber Freund," redete er denselben an, "das Wort muss heraus. Es geht nicht mehr so weiter, wir koennen das unbaendige Kind nicht zuegeln, es ist uns ueber den Kopf gewachsen." Der Oberamtmann sah den Prediger verwundert an. "Wie meinen Sie das?" fragte er, "ich verstehe Sie nicht." "Meine Meinung ist, geradeheraus gesagt, die," fuhr der erstere fort, "das Kind muss fort von hier, in eine Pension." "Ilse? In eine Pension? Aber warum, sie hat doch nichts verbrochen!" rief Herr Macket ganz erschreckt. "Verbrochen!" wiederholte laechelnd der Prediger. "Nein, nein, das hat sie nicht! Aber muss denn ein Kind erst etwas Boeses gethan haben, um in ein Institut zu kommen? Es ist doch keine Strafanstalt. Hoeren Sie mich ruhig an, lieber Freund," fuhr er besaenftigend fort und legte die Hand auf Mackets Schulter, als er sah, dass dieser heftig auffahren wollte. "Sie wissen, wie ich Ilse liebe, und wissen auch, dass ich nur das Beste fuer sie im Auge habe; nun wohl, ich habe reiflich ueberlegt und bin zu dem Resultate gekommen, dass Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht genug besitzen, sie zu erziehen. Sie trotzt uns allen dreien, was soll daraus werden? Sie hat soeben ein glaenzendes Beispiel ihrer widerspenstigen Natur gegeben." Der Oberamtmann trommelte auf dem Tische. "Das war eine Ungezogenheit, die ich bestrafen werde," sagte er. "Etwas Schlimmes kann ich nicht darin finden. Mein Gott, Ilse ist jung, halb noch ein Kind, und Jugend muss austoben. Weshalb soll man einem uebermuetigen Maedchen so strenge Fesseln anlegen und es Knall und Fall in eine Pension bringen? Was ist dabei, wenn es einmal ueber den Strang schlaegt? Verstand kommt nicht vor den Jahren! Was sagst du dazu, Anne," wandte er sich an seine Frau, "du denkst wie ich, nicht wahr?" "Ich dachte wie du," entgegnete Frau Anne, "vor einem Jahre, als ich dieses Haus betrat. Heute urteile ich anders, heute muss ich dem Herrn Prediger recht geben. Ilse ist schwer zu erziehen, trotz aller Herzensguete, die sie besitzt. Ich weiss nichts mit ihr anzufangen, soviel Muehe ich mir auch gebe. Gewoehnlich thut sie das Gegenteil von dem, was ich ihr sage. Bitte ich sie, ihre Aufgaben zu machen, so thut sie entweder, als ob sie mich nicht verstanden hat, oder sie nimmt hoechst unwillig ihre Buecher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich davor und treibt allerhand Nebendinge. Nach kurzer Zeit erhebt sie sich wieder und fort ist sie! Da hilft kein guetiges Zureden, keine Strenge, sie will nicht! Frage den Herrn Prediger, wie ungleichmaessig Ilses wissenschaftliche Bildung ist, wie sie zuweilen sogar noch orthographische Fehler macht." "Was kommt bei einem Maedchen darauf an," entgegnete Herr Macket und erhob sich. "Eine Gelehrte soll sie nicht werden; wenn sie einen Brief schreiben kann und das Einmaleins gelernt hat, weiss sie genug." Der Prediger laechelte. "Das ist Ihr Ernst nicht, lieber Freund. Oder wuerde es Ihnen Freude machen, wenn man von Ihrer Tochter sagte, dass sie dumm sei und nichts gelernt habe! Ilse hat gute Anlagen, es fehlt ihr nur der Trieb, die Lust zum Lernen. Beides wird sich einstellen, sobald sie unter junge Maedchen ihres Alters kommt. Das Streben derselben wird ihren Ehrgeiz wecken und ihr bester Lehrmeister sein." Die Wahrheit dieser Worte leuchtete Herrn Macket ein, aber die Liebe zu seinem Kinde liess es ihn nicht laut eingestehen. Der Gedanke, dasselbe von sich zu geben, war ihm furchtbar. Nicht taeglich es sehen und hoeren zu koennen, - ihm war als ob die Sonne ploetzlich aufhoeren muesse zu scheinen, als solle ihm Licht und Leben genommen werden. Frau Anne empfand, was in ihres Mannes Herzen vorging, liebevoll trat sie zu ihm und ergriff seine Hand. "Denke nicht, dass ich hart bin, Richard, wenn ich fuer den Vorschlag unsres Freundes stimme," sagte sie. "Ilse steht jetzt auf der Grenze zwischen Kind und Jungfrau, noch hat sie Zeit, das Versaeumte nachzuholen und ihre unbaendige Natur zu zuegeln. Geschieht das nicht, so koennte man eines Tages unser Kind als unweiblich bezeichnen, waere das nicht furchtbar?" Er hoerte kaum, was sie sprach. "Ihr wollt sie einsperren," sagte er erregt, "aber das haelt sie nicht aus. Lasst sie erst aelter werden, es ist dann immer noch Zeit genug, sie fortzugeben." Dagegen protestierten Frau Anne und der Prediger auf das entschiedenste; sie bewiesen, dass jetzt die hoechste Zeit sei, wenn die Pension noch etwas nuetzen solle. "Ich wuesste ein Institut in W., das ich fuer Ilse ausgezeichnet empfehlen koennte," erklaerte der Prediger. "Die Vorsteherin desselben ist mir genau bekannt, sie ist eine vorzuegliche Dame. Neben der Pension, die unter ihrer Leitung herrlich gediehen ist, hat sie eine Tagesschule in das Leben gerufen, die sich von Jahr zu Jahr vergroessert hat. Ilse wuerde den besten Unterricht und die liebevollste Pflege vereint finden. Und welch ein Vorzug ist nicht die wunderbare Lage dieses Ortes. Die Berge ringsum, die kostbare Luft - - -" "Ja ja," unterbrach ihn Herr Macket unruhig und abwehrend, "ich glaube das alles gern! Aber lasst mir Zeit, bestuermt mich nicht weiter. Ein so wichtiger Entschluss, selbst wenn er notwendig ist, bedarf der Reife." - Er kam schneller als er geglaubt hatte. - Am andern Morgen, es war noch sehr frueh, traf der Oberamtmann sein Toechterchen, wie es eben im Begriffe war, hinaus auf die Wiese zu reiten, um das Heu mit einzuholen. Ungeniert hatte Fraeulein Ilse sich auf eines der Pferde, das vor dem Leiterwagen gespannt war, von dem Kutscher hinaufheben lassen, derselbe stand auf dem Wagen und hielt die Zuegel in der Hand. "Guten Morgen, Papachen!" rief sie ihm laut schon von weitem entgegen, "wir wollen auf die Wiese fahren, das Heu muss herein; der Hofmeister sagt, wir bekommen gegen Mittag ein Gewitter. Ich will gleich mit aufladen helfen!" Der Vater hatte heute nicht die unbefangene Freude an dem Wesen seines Kindes, ihm fielen die Worte seiner Frau vom gestrigen Abend ein. Ilse sah wenig weiblich in diesem Augenblicke aus, eher glich sie einem wilden Buben. Wie ein solcher sass sie auf dem Pferde und hatte die Fuesse an beiden Seiten herunterhaengen. Das kurze blaue Kleid deckte dieselben nicht, man sah den plumpen, hohen Lederstiefel und noch ein Stueck des bunten Strumpfes. Es war wahrlich kein schoener Anblick. "Steig' herab, Ilse," sagte Herr Macket, dicht zu ihr tretend, um ihr beim Heruntersteigen behilflich zu sein, "du wirst jetzt nicht auf die Wiese reiten, hoerst du, sondern deine Aufgaben machen." Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass der Vater in so bestimmter Weise zu ihr sprach. Im hoechsten Grade verwundert blickte sie ihn an, aber sie machte keine Miene, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie schlug die Arme ineinander und fing an, herzlich zu lachen. "Hahahaha! Arbeiten soll ich! Du kleiner reizender Papa, wie kommst du denn auf diesen komischen Einfall? Mach' nur nicht ein so boeses Gesicht! Weisst du, wie du jetzt aussiehst? Gerade wie Mademoiselle, die letzte, Papa, von den vielen, - wenn sie boese war! {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Fraeulein Ilse, gehen Sie auf Ihr Zimmer _mais tout-de-suite_. Aben Sie mir _compris_!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Dabei zog sie die Stirn in Falten und riss die Augen auf - so", und sie versuchte es nachzuahmen. "Oh, es war zu himmlisch! Adieu Papachen, zum Fruehstueck komm' ich zurueck!" Sie warf ihm noch eine Kusshand zu, lachte ihn schelmisch an und fort ging's im lustigen Trabe hinaus auf die Wiese in den taufrischen Sommermorgen hinein. Herr Macket schuettelte den Kopf, mit einem Male stiegen ernstliche Bedenken wegen Ilses Zukunft in ihm auf. Er fand den Gedanken, sie in eine Pension zu geben, heute weniger schrecklich, als gestern. Sie hatte ihm soeben den Beweis gegeben, dass sie auch ihm Widerstand entgegensetzte. Freilich musste er sich gestehen, dass er durch seine Nachgiebigkeit denselben in ihr gross gezogen hatte. Er ging in das Speisezimmer und trat von dort auf die Veranda, die weinumrankt sich an der Vorderseite des Hauses entlang zog. Seine Frau erwartete ihn dort am gedeckten Fruehstueckstische. Ganz gegen seine Gewohnheit war er still und einsilbig. "Hattest du Unannehmlichkeiten?" fragte Frau Anne und reichte ihm den Kaffee. "Nein," entgegnete er, "das nicht." Er hielt einen Augenblick inne, als ob es ihm schwer wuerde, weiter zu sprechen, dann fuhr er fort: "Ich moechte dir eine Mitteilung machen, oder richtiger gesagt, dir meinen Entschluss wegen unsres gestrigen Gespraeches verkuenden. Zum 1. Juli soll Ilse in die Pension." "Du scherzest," sagte Anne und sah ihn fragend an. "Es ist mein Ernst," erwiderte er. "Wirst du im stande sein, bis zu dem Termine alles zu Ilses Abreise einrichten zu koennen? Wir haben heute den 12. Juni." "Ja, das wuerde ich koennen, lieber Richard; aber verzeihe, mir kommt dein Entschluss etwas uebereilt vor. Wird er dich nicht gereuen? Lass Ilse die schoenen Sommermonate noch ihre Freiheit geniessen und gieb sie erst zum Herbste fort. Der Abschied von der Heimat wird ihr dann weniger schwer werden." "Nein, keine Aenderung," sagte er, bei einem laengeren Hinausschieben seinen Wankelmut fuerchtend, "es bleibt dabei - zum 1. Juli wird sie angemeldet." Nach einigen Stunden kehrte Ilse wohlgemut mit erhitzten Wangen und ueber und ueber mit Heu bestreut zum zweiten Fruehstuecke zurueck. Wie sie war, ohne den Anzug zu wechseln, trat sie hoechst vergnuegt auf die Veranda. "Da bin ich," rief sie. "Bin ich lange geblieben? Ich sage dir, Papa, das Heu ist kostbar! Nicht einen Tropfen Regen hat es bekommen. Du wirst deine Freude daran haben. Der Hofmeister meint, so gut haetten wir es seit Jahren nicht gehabt." "Lass das Heu jetzt, Ilse," entgegnete Herr Macket, "und hoere zu, was ich dir sagen werde." Er sagte es ziemlich ernst, es wurde ihm nicht leicht, von seinem Plane zu sprechen - sie war so ahnungslos, ja sie nahm gar keine Notiz von seiner Stimmung. Ihr Augenmerk war auf den wohlbesetzten Fruehstueckstisch gerichtet, sie war sehr hungrig von der Fahrt. "Soll ich dir Fruehstueck schneiden?" fragte Frau Anne freundlich, aber Ilse lehnte es ab. "Ich will es schon selbst thun," sagte sie, nahm das Messer und schnitt sich ein tuechtiges Stueck Schwarzbrot ab. Die Butter strich sie fast fingerdick darauf. Nachdem sie ein dickes Stueck Wurst zugelangt hatte, fing sie an, wohlgemut zu essen. Bald von dem Brote, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt, einen Bissen nehmend. Hoechst ungeniert lehnte sie dabei hintenueber in einem Sessel und schlug die Fuesse uebereinander. Es schmeckte ihr koestlich. "Ich denke, du wolltest mir etwas sagen, Papachen!" rief sie mit vollem Munde, "nun schiess los, ich bin ordentlich neugierig darauf." Er zoegerte etwas mit der Antwort, noch war es Zeit, noch konnte er seinen Entschluss zuruecknehmen - einen Augenblick ueberlegte er und es fehlte nicht viel, so haette er es wirklich gethan, aber die Schwaeche ging vorueber und so ruhig wie es ihm moeglich war, teilte er Ilse seinen Beschluss mit. Wenn er erwartet hatte, dass sie sich stuermisch widersetzen wuerde, so hatte er geirrt. Zwar blieb ihr buchstaeblich der Bissen im Munde stecken vor Ueberraschung und Schreck, aber ihr Auge flog zur Mutter hinueber und sie unterdrueckte den Sturm, der in ihr tobte. Um keinen Preis sollte diese erfahren, wie furchtbar es ihr war, die Heimat, den Vater vor allem, zu verlassen, sie, die doch sicherlich nur allein die Anstifterin dieses Planes war, denn der Papa - nein! Nimmermehr wuerde er sie von sich gegeben haben! "Nun, du schweigst?" fragte Herr Macket, "du hast vielleicht selbst schon die Notwendigkeit eingesehen, dass du noch tuechtig lernen musst, mein Kind, denn mit deinen Kenntnissen hapert es noch ueberall, nicht wahr?" "Gar nichts habe ich eingesehen!" platzte Ilse heraus, "du selbst hast mir ja oft genug gesagt, ein Maedchen brauche nicht so viel zu lernen, das allzu viele Studieren mache es erst recht dumm! Ja, das hast du gesagt, Papa, und nun sprichst du mit einemmal anders. Nun soll ich fort, soll auf den Schulbaenken sitzen zwischen andern Maedchen und lernen, bis mir der Kopf weh thut. Aber es ist gut, ich will auch fort, ja ich freue mich auf die Abreise. Wenn nur erst der 1. Juli da waere!" Und sie erhob sich hastig, warf den Rest ihres Fruehstuecks auf den Tisch und eilte fort, hinauf in ihr Zimmer, und jetzt brachen die Thraenen hervor, die sie bis dahin nur muehsam zurueckgehalten hatte. Frau Anne waere dem Kinde gar zu gern gefolgt, sie fuehlte, was in dem jungen Herzen vorging, aber sie wusste genau, dass Ilse ihre guetigen Worte trotzig zurueckweisen wuerde; so blieb sie zurueck und hoffte auf die Zeit, wo Ilses gutes Herz den Weg zu ihrer muetterlichen Liebe finden werde. - - -------------- Die wenigen Wochen bis zum festgesetzten Termine vergingen schnell. Frau Anne hatte alle Haende voll zu thun, um Ilses Garderobe in Ordnung zu bringen. Die Vorsteherin der Pension hatte auf Herrn Mackets Anfrage sofort geantwortet und sich gern zu seiner Tochter Aufnahme bereit erklaert. Zugleich hatte sie ein Verzeichnis der Sachen mitgeschickt, die jede Pensionaerin bei ihrem Eintritt in das Institut mitzubringen habe. Ilse lachte spoettisch ueber die, nach ihrer Meinung vielen unnuetzen Dinge, besonders die Hausschuerzen fand sie geradezu laecherlich. Sie hatte bis dahin niemals eine solche getragen. "Die dummen Dinger trage ich doch nicht, Mama!" sagte sie, als Frau Anne dabei war, den Koffer zu packen, "die brauchst du gar nicht einzulegen." "Du wirst dich doch der allgemeinen Sitte fuegen muessen, mein Kind," entgegnete die Mutter. "Warum wolltest du auch nicht? Sieh' einmal her, diese blau und weiss gestreifte Schuerze mit den gestickten Zacken ringsum, ist sie nicht ein reizender Schmuck fuer ein kleines Fraeulein, das sich im Haushalte nuetzlich machen wird?" "Ich werde mich aber im Haushalte nicht nuetzlich machen!" rief Ilse in ungezogenem Tone, "das fehlte noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Kueche arbeiten oder die Stuben aufraeumen? Die Schuerzen trage ich nicht, ich will es nicht!" "Uebertreibe nicht, Ilse," entgegnete Frau Anne, "du weisst recht gut, dass man dergleichen nie von dir verlangen wird. Wenn du durchaus die Schuerzen nicht tragen magst, so kannst du ja deinen Wunsch der Vorsteherin mitteilen, vielleicht erfuellt sie dir denselben." "Ich werde sie nicht erst darum fragen! Solche Dinge gehen sie gar nichts an!" war Ilses unartige Antwort. Sie verliess die Mutter, auf welche sie einen wahren Groll hatte. All die schoenen Waesche- und Kleidungsstuecke, die Frau Anne mit Liebe und Sorgfalt fuer sie ausgewaehlt hatte, fanden keine Gnade vor ihren Augen, nicht einen Funken Interesse zeigte sie dafuer. Dem Papa erklaerte sie, dass sie ein kleines Koefferchen fuer sich selbst packen werde. Niemand solle ihr dabei helfen, niemand wissen, welche Schaetze sie mit in das neue Heim hinueberfuehren werde. "Das ist eine praechtige Idee, Ilschen," stimmte Herr Macket bei, "nimm nur mit, was dir Freude macht." Und er liess sofort einen allerliebsten, kleinen Koffer kommen und ueberraschte seinen Liebling damit. Als Ilse ihm erfreut und dankend um den Hals fiel, als sie ihn seit laengerer Zeit zum erstenmal wieder "mein kleines Pa'chen" nannte, da wurde es ihm so weich ums Herz, dass er sich abwenden musste, um seine Ruehrung zu verbergen. [Illustration] Am Tage vor ihrer Abreise schloss sich Ilse in ihr Zimmer ein und begann zu packen. Aber wie! Bunt durcheinander, wie ihr die Sachen in die Hand kamen. Zuerst das geliebte Blusenkleid nebst Lederguertel, es wurde nur so in den Koffer hineingeworfen und mit den Haenden etwas festgedrueckt, dann die hohen Lederstiefel mit Staub und Schmutz, wie sie waren, dann eine alte Ziehharmonika, auf der sie nur ein paar Toene hervorbringen konnte, ein neues Hundehalsband mit einer langen Leine daran, ein ausgestopfter Kanarienvogel, und zuletzt, nachdem die wunderbarsten Dinge in den Koffer gewandert waren, griff sie nach einem Glase, in welchem ein Laubfrosch sass. Es ist kaum zu glauben, indessen auch dieses sollte mitverpackt werden, - sie hatte sich so an das Tierchen gewoehnt. Sie nahm ein gutes, gesticktes Taschentuch aus dem Kommodenkasten, band dasselbe ueber das Glas, legte auch noch eine Papierhuelle darueber, schnitt ganz kleine Loecher in beides und steckte einige Fliegen hindurch. "So," sagte sie hoechst befriedigt von ihrer Packerei, "nun bist du gut versorgt, mein liebes Tierchen, und wirst nicht verhungern auf der weiten Reise." Wie sie das Glas hineinbrachte in den Koffer, war wirklich ein Kunststueck, das ihr erst nach vieler Muehe gelang. Aber endlich war sie doch so weit, dass sie den Deckel schliessen konnte. Er klemmte etwas und Ilse musste sich erst darauf knieen, bevor derselbe ins Schloss fiel. Den kleinen Schluessel zog sie ab, befestigte ihn an einer schwarzen Schnur und band diese sich um den Hals. Als das Abendbrot verzehrt war und die Eltern noch am Tische sassen, ging Ilse in den Hof und machte eine Runde durch alle Staelle. Von den Huehnern, Tauben, Kuehen, Pferden - sie hatte so viele Lieblinge darunter - nahm sie Abschied; morgen sollte sie ja alle auf lange Zeit verlassen. Das Lebewohl von den Hunden wurde ihr am schwersten, sie waren alle ihre guten Freunde. Dianas Sproesslinge, die schon allerliebst herangewachsen waren und sie zaertlich begruessten, lockten ihr Thraenen des tiefsten Leides hervor. Neben ihr stand Johann. Er hatte das kleine Fraeulein vom ersten Tage ihres Lebens an gekannt und liebte sie abgoettisch. Als er ihre Thraenen sah, liefen auch ihm einige Tropfen ueber die Wangen. "Wenn das kleine Fraeulein wiederkommt," sagte er mit klaeglicher Stimme und fuhr mit der verkehrten Hand ueber die Wange, "dann wird es wohl eine grosse Dame sein. Ja ja, Fraeulein Ilschen, unsre schoene Zeit ist dahin! Ach und die Hunde, wie werden sie das Fraeulein vermissen! Die sind gescheit! Menschlichen Verstand hat das dumme Vieh! Wie sie schmeicheln, die kleinen Krobaten, als ob sie wuessten, dass unser kleines Fraeulein morgen abreist - -" hier wurde seine Stimme so unsicher, dass er nicht weiter sprechen konnte. "Johann," entgegnete Ilse unter Schluchzen, "sorge fuer die Hunde. Und wenn du mir einen grossen - den letzten Gefallen thun willst, so," hier sah sie sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch niemand in der Naehe war, "so nimm Bob," diesen Namen hatte sie Dianas kleinem Soehnchen gegeben, "mit auf den Kutscherbock morgen, wenn du mich zur Bahn faehrst, aber heimlich. Niemand darf es wissen, ich will ihn mitnehmen. Ein Halsband und eine Leine habe ich schon eingepackt. Aber Johann, heimlich, hoerst du?" Der Kutscher war gluecklich ueber diesen Auftrag und dass er dem lieben, kleinen Fraeulein noch einen Liebesdienst erweisen konnte. Er laechelte verschmitzt und versprach, Bob so geschickt unterzubringen, dass keine menschliche Seele von dem Hunde etwas merken solle. Frueh am andern Morgen stand der Wagen vor der Thuer, der Ilse fortbringen sollte. Herr Macket begleitete sie bis W., um sie der Vorsteherin, Fraeulein Raimar, selbst zu ueberbringen. Er musste sich doch persoenlich ueberzeugen, wo und wie sein Liebling aufgehoben sein werde. Frau Anne nahete sich Ilse im letzten Augenblick, um zaertlich und geruehrt von ihrem Kinde Abschied zu nehmen, aber diese machte ein finsteres, trotziges Gesicht und entwand sich der Mutter Armen. "Lebe wohl," sagte sie kurz und sprang in den Wagen; nicht um die Welt haette sie der Mutter verraten moegen, wie weh und schmerzlich ihr das Scheiden wurde. Als der Wagen sich in Bewegung setzte und Diana denselben laut bellend noch eine kurze Strecke begleitete, bog sie sich weit zum Wagen hinaus mit thraenenden Augen und nickte ihr zu. Gut war es, dass der Vater nichts von den Thraenen merkte, er wuerde vielleicht augenblicklich Kehrt gemacht haben. Auf dem Bahnhofe, als alles besorgt und Ilse mit dem Papa in das Koupee gestiegen war, trat Johann hinzu mit Bob unter dem Arme und der Muetze in der Hand. "Leben Sie recht wohl, Fraeulein Ilschen, und kommen Sie gut hin," sagte er etwas verlegen. "Die Hunde werde ich schon besorgen, dafuer haben Sie nur keine Angst nicht. Den hier nehmen Sie wohl mit, es ist doch gut, wenn Sie nicht so allein in der Pension sind." Ilse jauchzte vor Freude. Sie nahm den Hund in Empfang, liebkoste und streichelte ihn, dann reichte sie Johann die Hand. "Leb wohl," sagte sie, "und habe Dank. Ich freue mich zu sehr, dass ich ein Huendchen mit mir nehmen kann." "Ja, aber Ilse, das geht doch nicht," wandte der erstaunte Oberamtmann ein, "du darfst doch keine Hunde mit in das Institut bringen. Sei vernuenftig und gieb Bob Johann wieder zurueck." Doch daran war nicht zu denken. Ilse liess sich durch keine Vorstellung dazu bewegen. "Die einzige Freude lass mir, Pa'chen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund. Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir," wandte sie sich an den Hund, der es sich bereits hoechst bequem auf ihrem Schosse gemacht hatte, "du bleibst nun immer bei mir!" Es war dem Oberamtmann unmoeglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen, zumal ja Ilse so triftige Gruende fuer ihren Wunsch anfuehrte. Am meisten ueberzeugte ihn der Gedanke, dass die Kleine doch einen heimatlichen Trost mit in die Fremde braechte. Es war eine lange und ziemlich langweilige Fahrt, meist durch flaches Land, erst zuletzt kamen die Berge. Fuer Ilse that sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so grosse Reise gemacht. Auf jeder Station schaute sie mit neugierigen Augen hinaus, jedes Bahnwaerterhaeuschen amuesierte sie. Ueber all den neuen Eindruecken, die sich ihr aufdraengten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund. Spaet am Abend, es war zehn Uhr vorbei, langten sie in W. an. Natuerlich uebernachtete Ilse mit ihrem Vater im Hotel, erst am andern Morgen sollte sie in ihre neue Heimat eingefuehrt werden. Als es am naechsten Tage neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Papa. Sie sah in ihrem grauen Reisekleide und den zierlichen Lederstiefeln ganz allerliebst aus. Unter dem runden, weissen Strohhute, der mit einem Feldstraeusschen und schwarzen Samtband aufgeputzt war, fielen die braunen Locken herab. Die schoenen, grossen Augen blickten heute nicht so froehlich wie sonst, sie hatten einen aengstlich erwartungsvollen Ausdruck, und um den Mund zuckte es in nervoeser Aufregung. "Dir fehlt doch nichts, Ilschen?" fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. "Du bist so blass, hast du schlecht geschlafen?" Die herzliche Frage des Vaters loeste mit einemmal die unnatuerliche Spannung in Ilses Wesen. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurueckgehaltenen Thraenen brachen mit aller Macht hervor. "Aber Kind, Kind," sagte Herr Macket sehr geaengstigt durch ihre Leidenschaftlichkeit, "du wirst ja nicht lange von uns getrennt bleiben. Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Thraenen. Du musst dir das Herz nicht schwer machen. Du wirst uns fleissig Briefe schreiben und die Mama oder ich werden dir taeglich Nachricht geben von uns, von allem, was dich in Moosdorf interessiert." Und er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Thraenen seines Kindes. Der Oberamtmann befand sich in einer gleich aufgeregten Stimmung wie sein Kind, es wurde ihm nicht leicht zu troesten, wo er selbst des Trostes beduerftig war. So schwer hatte er sich die Trennung nicht gedacht, er wuerde sonst nicht darein gewilligt haben; aber da er das einmal gethan hatte, wollte er sich in die Notwendigkeit fuegen. Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setzte ihr den herabgesunkenen Hut wieder auf. "Komm," sagte er, "jetzt wollen wir gehen. Nun sei ein verstaendiges Kind." "Die Mama soll mir nicht schreiben!" stiess Ilse schluchzend heraus, "nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!" "Ilse!" verwies Herr Macket, "so darfst du nicht sprechen. Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir." "Sehr gut!" wiederholte sie in kindischem Zorne, "wenn sie mich lieb haette, wuerde sie mich nicht verstossen haben!" "Verstossen! Du weisst nicht, was du sprichst, Ilse! Werde erst aelter, dann wirst du das grosse Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter anthust, und deine boesen Worte bereuen." "Sie ist nicht meine Mutter, - sie ist meine Stiefmutter!" "Du bist kindisch!" sagte der Oberamtmann, "aber merke dir, niemals wieder will ich dergleichen Aeusserungen von dir hoeren. Du kraenkst mich damit!" Ilse sah schmollend zur Erde nieder und konnte nicht begreifen, wie es kam, dass der Papa sie nicht verstand, er musste doch einsehen, wie unrecht ihr geschah. "Komm jetzt," fuhr er in mildem Tone fort, "wir wollen gehen, mein Kind." Sie ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte so ausgeruestet dem Vater folgen. "Lass ihn zurueck," gebot derselbe, "wir wollen die Vorsteherin erst fragen, ob du ihn mitbringen darfst." Aber Ilse setzte ihren Kopf auf, "dann gehe ich auch nicht," erklaerte sie mit aller Bestimmtheit. "Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall in der Pension!" Macket that dem Eigensinne den Willen aus Furcht, von neuem Thraenen hervorzulocken. Aber Ilses Widerstand war ihm im hoechsten Grade peinlich. Was sollte Fraeulein Raimar denken! Eine Viertelstunde darauf standen Vater und Tochter vor einem stattlichen, zweistoeckigen Hause, das vor dem Thore der kleinen Stadt mitten im Gruenen lag; es war das Institut des Fraeulein Raimar. Der Oberamtmann blieb ueberrascht davor stehen. "Sieh Ilse, welch ein schoenes Gebaeude!" rief er hoechst befriedigt. "Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist geradezu bezaubernd." Was kuemmerten sie die Berge! Sie fuehlte sich so gedrueckt von Kummer, dass ihr die ganze Welt ein Jammerthal duenkte. "Wie kannst du dies Haus schoen finden, Papa," entgegnete sie. "Wie ein Gefaengnis sieht es aus." Herr Macket lachte. "Betrachte doch die hohen, breiten Fenster, Kind," sagte er. "Glaubst du, dass in einem Gefaengnisse aehnliche zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen, blinden Scheiben, die ausserdem noch mit einem Eisengitter versehen sind." "Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefaengnisse ab." "Du bist eine kleine Naerrin!" lachte er und brach das Gespraech, das ihm bedenklich zu werden schien, ab. Er stieg die breiten, steinernen Stufen, die zu dem Eingange fuehrten, hinauf und zog an der Klingel. Ilse, die ihm langsam gefolgt war, schrak unwillkuerlich zusammen, als sie den hellen Schall im Hause vernahm. Gleich darauf wurde die Thuer von einer Magd geoeffnet. Nachdem dieselbe die Angekommenen gemeldet hatte, wurden sie in das Empfangszimmer der Vorsteherin gefuehrt. Bevor sie dasselbe erreichten, mussten sie den Hausflur und einen langen Korridor, von welchem zwei Ausgaenge in einen schoenen, grossen Hof fuehrten, durchschreiten. Es war gerade die Fruehstueckspause in der Schule und so war es natuerlich, dass ueberall lachend und plaudernd grosse und kleine Maedchen umherstanden. Sie verstummten, als sie die neue Pensionaerin, von der sie wussten, dass sie heute ankommen werde, erblickten, und aller Augen richteten sich auf Ilse, der es ploetzlich hoechst beklommen zu Mute wurde. Es schien ihr, als hoere sie verstecktes Kichern hinter sich und sie war herzlich froh, als die Thuer in dem Empfangszimmer sich hinter ihr schloss. Noch war dasselbe leer. Ilse blickte sich um, und in diesem grossen, vornehmen Raume, der kuenstlerisch und elegant zugleich eingerichtet war, stieg mit einem Male ein etwas banges Gefuehl in ihr auf wegen Bob, sie wuenschte fast, des Vaters Willen gefolgt zu sein. Haette sie den Hund in ihrem Arme ploetzlich unsichtbar machen koennen, sie haette es gethan. Nun wollte der Unartige auch noch herunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmoeglich erfuellen, wie haette sie wagen duerfen, ihn auf den kostbaren Teppich, der durch das Zimmer gebreitet lag, herab zu lassen! Die Thuer oeffnete sich und Fraeulein Raimar trat ein. Sie begruesste Herrn Macket mit steifer Freundlichkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen, ernsten, trotzdem aber gewinnenden Ausdruck hatten, auf Ilse. Diese war dicht an den Vater getreten und hatte seine Hand ergriffen. "Sei willkommen, mein Kind!" Mit diesen Worten begruesste die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. "Ich denke, du wirst dich bald bei uns heimisch fuehlen." Als sie den Hund sah, fragte sie: "Hat dich dein Hund bis hierher begleitet?" Ilse blickte etwas hilflos den Papa an, der dann auch fuer sie das Wort nahm. "Sie mochte sich nicht von ihm trennen, Fraeulein Raimar," sagte er etwas verlegen, "sie glaubte, dass Sie die Guete haben wuerden, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen." Das Fraeulein laechelte. Es war das erste Mal, dass man ihr eine solche Zumutung machte. "Es thut mir leid, Herr Oberamtmann," sagte sie, "dass ich den ersten Wunsch Ilses ruecksichtslos abschlagen muss. Sie wird verstaendig sein und einsehen, dass ich nicht anders handeln kann. Stelle dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Pensionaerinnen den gleichen Wunsch haetten, dann wuerden zweiundzwanzig Hunde im Institute sein. Welch ein Spektakel wuerde das geben! Moechtest du das Tier gern in deiner Naehe behalten, so wuesste ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Buergermeister hier, wird deinen Hund gewiss aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du taeglich deinen Liebling sehen." Ilse war rot geworden und dicke Thraenen perlten in ihren Augen. "Dann bleibe ich auch nicht hier!" - sie wollte es eben aussprechen, aber sie wagte es nicht. Die Dame vor ihr hatte so etwas Unnahbares, Vornehmes in ihrem Wesen. Wie eine Fuerstin erschien sie ihr trotz des schlichten, grauen Kleides, dessen kleiner Stehkragen am Halse mit einer einfachen goldenen Nadel zusammengehalten wurde. Ilse senkte den Blick und schwieg. Der Oberamtmann lachte. "Sie haben recht, Fraeulein," sagte er, "und wir haetten das selbst vorher bedenken koennen. Ihre grosse Guete, den Hund bei Ihrem Herrn Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Danke annehmen, nicht wahr?" Sie schuettelte den Kopf. "Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa, du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf." Herr Macket schaemte sich der Antwort seines Kindes, aber Fraeulein Raimar ueberhob ihn geschickt seiner Verlegenheit. Mit ihrem erfahrenen Sinne hatte sie sofort das Trotzkoepfchen vor sich erkannt. Sie that, als merkte sie Ilses Unart nicht. "Du hast ganz recht," sagte sie freundlich, "es ist das beste, der Papa nimmt das Tier wieder mit in die Heimat. Du wuerdest durch dasselbe vielleicht doch mehr zerstreut, als mir lieb waere. Soll die Magd den Hund in das Hotel zuruecktragen, wo Sie abgestiegen sind, Herr Oberamtmann?" "Ich will ihn selbst dorthin tragen, nicht wahr, Papachen?" fragte Ilse und hielt Bob aengstlich fest. "Ich wuensche nicht, dass du es thust, liebe Ilse," wandte Fraeulein Raimar ein. "Ich moechte dich gleich zu Mittag hier behalten, um dich den uebrigen Pensionaerinnen vorzustellen. Ich halte es so fuer das beste. Es thut nicht gut, Herr Oberamtmann, wenn ein Kind, sobald der Vater oder die Mutter es mir uebergeben haben, noch einmal mit ihnen zurueckkehrt in das Hotel. Der Abschied wird ihm weit schwerer gemacht." "Nein, nein!" rief Ilse zitternd vor Aufregung, "ich bleibe nicht gleich hier! Ich will mit meinem Papa so lange zusammen sein, bis er abreist. Du nimmst mich mit dir, nicht, Papa?" Es wurde Herrn Macket heiss und kalt bei ihrem Ungestuem, indes auch diesmal half ihm Fraeulein Raimar ueber die peinliche Lage hinweg. "Gewiss, mein Kind," entgegnete sie mit Ruhe, "dein Wunsch soll dir erfuellt werden. Darf ich Sie bitten, Herr Oberamtmann, heute mittag mein Gast zu sein? Sie wuerden mich sehr erfreuen." Ilse warf ihrem Papa einen flehenden Blick zu, der ungefaehr ausdruecken sollte: "Bleib' nicht hier, nimm mich mit fort! Ich mag nicht hier bleiben bei dem boesen Fraeulein, das mich schlecht behandeln wird!" Leider verstand er den Blick anders, er hielt ihn fuer eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen und sagte zu. Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Der eintretenden Magd trug sie auf, Fraeulein Guessow zu rufen. Wenige Augenblicke darauf trat dieselbe in das Zimmer. Die Gerufene war die erste Lehrerin im Institute und wohnte daselbst. Weit juenger als die Vorsteherin, war sie eine hoechst anmutige, liebenswuerdige Erscheinung von sechsundzwanzig Jahren. Saemtliche Tagesschuelerinnen und besonders die Pensionaerinnen schwaermten fuer sie, sie verstand es, durch gleichmaessige Guete sich die jungen Herzen zu gewinnen. "Wollen Sie die Guete haben, Ilse auf ihr Zimmer zu geleiten," sagte die Vorsteherin, nachdem sie die junge Lehrerin vorgestellt hatte, "damit sie dort ihren Hut ablegen kann." "Gern," erwiderte die Angeredete und trat auf Ilse zu. "Komm, liebes Kind," sagte sie freundlich und ergriff sie bei der Hand, "jetzt werde ich dir zeigen, wo du schlaefst. O, du hast ein schoenes, grosses Zimmer; aber du wohnst nicht allein dort. Ellinor Grey wird deine Stubengenossin sein. Sie ist ein liebes Maedchen. Du moechtest gern gleich mit ihr bekannt werden, nicht wahr?" Ilse ueberhoerte die Frage. Mit scheuen, aengstlichen Augen sah sie den Vater an und fragte: "Du gehst doch nicht fort, Papa?" Als er sie darueber beruhigte, folgte sie Fraeulein Guessow. "Aber den Hund musst du wohl hier lassen, du kannst ihn doch nicht mit hinauf in dein Zimmer nehmen," sagte Fraeulein Raimar. "Du kannst ihn draussen der Magd uebergeben, damit sie ihn so lange in Verwahrung nimmt." Fraeulein Guessow dachte weniger streng als die Vorsteherin. Sie fand es nicht so schlimm, wenn Ilse ihren Hund im Arme behielt. "Hast du ihn so sehr gern?" fragte sie, als sie mit dem jungen Maedchen den Korridor entlangging. "Ja," entgegnete Ilse, "sehr, sehr lieb habe ich Bob. Und ich darf ihn nicht hier behalten." Sie legte ihre Wange auf des Hundes Kopf und kaempfte mit dem Weinen. "Graeme dich nicht darum, Kind," troestete Fraeulein Guessow, "das ist nicht so schlimm. Du findest hier viel etwas Besseres. Du sollst einmal sehen, wie bald du den Bob vergessen haben wirst. Wir haben zweiundzwanzig Pensionaerinnen jetzt im Institute, du wirst manche liebe Freundin unter ihnen finden. Hast du Geschwister?" "Nein," sagte Ilse, die ganz zutraulich gegen Fraeulein Guessow wurde, "ich bin allein." "Nun, siehst du! Da kann ich mir deine Liebe zu dem unvernuenftigen Tiere erklaeren, dir fehlten die Gespielinnen. Gieb deinen Hund getrost dem Papa wieder mit zurueck, du wirst ihn nicht vermissen." Sie stiegen eine Treppe hinauf und kamen auf einen grossen, hellen Vorsaal, auf welchem eine Anzahl Thueren muendeten. Eine derselben oeffnete die Lehrerin, und sie traten in ein geraeumiges Zimmer ein, das nach dem Garten fuehrte. Die Fenster waren geoeffnet und ein maechtiger Apfelbaum streckte seine Zweige fast zum Fenster hinein. Die Einrichtung war nicht elegant, nur das Notwendigste befand sich in dem Zimmer. Zwei Betten, zwei Kommoden und zwei Kleiderschraenke, dann noch ein grosser Waschtisch und einige Stuehle. Als Fraeulein Guessow mit Ilse eintrat, erhob sich schnell ein junges Maedchen von ungefaehr siebzehn Jahren, das mit einem Buche in der Hand am Fenster gesessen hatte. Es war ein schlankes, zartgebautes Wesen, mit goldblondem Haar, das sie in einem Knoten aufgesteckt trug, mit blauen Augen und mit schelmischen Gruebchen in den Wangen, sobald sie lachte. Es war Ellinor Grey, eine Englaenderin. "Hier bringe ich dir Ilse Macket, Nellie," so wurde der Englaenderin Namen allgemein abgekuerzt. "Ich denke, du wirst dich ihrer liebreich annehmen." "O ja, ich werde ihr sehr lieben," antwortete Nellie und reichte der Neuangekommenen die Hand. "Bleibt die Hund auch hier?" fragte sie. "Nein," sagte Fraeulein Guessow. "O wie schade! Es ist ein so suesses Tier!" Und sie streichelte Bob. Es klang so drollig und sie sah so schelmisch aus, dass Ilse sofort sich von ihr angezogen fuehlte. Gern haette sie noch ein Weilchen dem komischen Geplauder Nellies zugehoert, aber sie musste dem Fraeulein folgen, die sich vorgenommen hatte, ihr einige Schulraeume zu zeigen. Zuerst oeffnete sie die Thuer zu dem Musikzimmer, dann gingen sie in den Zeichensaal und zuletzt wurde Ilse in den sogenannten grossen Saal gefuehrt. Die junge Lehrerin erzaehlte ihr, dass in demselben alle Examen und zuweilen auch Festlichkeiten stattfaenden. Ilse hoerte mit halbem Ohre, sie hatte naemlich durch eine offenstehende Thuer einen Blick in eine leerstehende Klasse gethan und Schulbaenke darin entdeckt. Dort eingeklemmt sollte sie von jetzt an sitzen, nicht aufstehen duerfen, wenn es ihr beliebte - o, es war entsetzlich! Ein Grauen ueberkam sie ploetzlich, ihr war, als wuerde ihr die Brust zusammengeschnuert. "In welche Klasse meinst du, dass du kommen wirst?" fragte das Fraeulein, "deinem Alter nach muesstest du wohl in die erste versetzt werden. Hast du deine Arbeitsbuecher mitgebracht? Wie steht es mit den Sprachen? Franzoesisch und Englisch sind dir wohl gelaeufig, da du stets, wie dein Papa schrieb, eine englische oder franzoesische Gouvernante hattest." Von unten herauf toente eine Glocke. Dies war eine sehr gelegene Unterbrechung fuer Ilse, der es unheimlich bei dem Examen wurde. Sie sagte, dass sie nicht wisse, wie weit sie sei, franzoesisch glaube sie sprechen zu koennen. "Nun lass nur, mein Kind," meinte das Fraeulein, "heute wollen wir noch nicht an das Lernen denken, bei deiner Pruefung morgen werden wir ja sehen, welch kleine Gelehrte du bist. - Wir wollen jetzt hinunter in den Speisesaal gehen, die Glocke hat uns zu Tisch gerufen." Als sie in denselben eintraten, fanden sie die Vorsteherin mit dem Oberamtmann bereits dort. Erstere machte ihn mit der herkoemmlichen Einrichtung waehrend des Essens bekannt. Zum Beispiel, dass die zuletzt angekommene Pensionaerin stets ihren Platz neben der Vorsteherin angewiesen erhalte. Dann, dass zwei junge Maedchen woechentlich den Tisch zu besorgen hatten. Dieselben mussten denselben decken und genau acht geben, dass nichts fehlte und saemtliche Gegenstaende sauber und blank waren. Die Juengste der Pensionaerinnen sprach stets das Tischgebet. Dem Oberamtmann gefielen die Anordnungen vortrefflich und als er seinen Blick ueber die junge Maedchenschar hingleiten liess, musste er seine Freude aussprechen, wie gesund und froehlich fast alle aussahen. Ilse sah auch umher, aber es waren nicht die froehlichen und gesunden Gesichter, die sie interessierten, sondern die Schuerzen. Jede Einzelne trug ein solches von ihr verachtetes Ding, und Fraeulein Raimar sah nicht aus, als ob sie eine Ausnahme bei ihr gelten lassen wuerde. Nach dem Gebete wurden die Speisen aufgetragen. Dieselben waren kraeftig und gut gekocht, und Herr Macket konnte sich ueberzeugen, dass sein Kind auch in dieser Hinsicht gut versorgt sein werde. Nach dem Essen verabschiedete er sich bald, und Ilse durfte ihn begleiten. Nellie hatte kaum davon gehoert, als sie wie der Wind die Treppe hinaufflog, um gleich darauf mit Ilses Hut und Handschuhen zurueckzukommen. Diese dankte ihr dafuer, und Herr Macket reichte ihr die Hand. "Leben Sie wohl, mein Fraeulein," sagte er herzlich, denn Nellie hatte durch diese kleine Aufmerksamkeit ihn sofort fuer sich eingenommen, "und haben Sie Geduld mit meinem kleinen Wildfang." "O ja," entgegnete Nellie, "ich werde mir schon gern von sie annehmen." "Nun, Ilse, wie gefaellt dir das Institut?" fragte der Oberamtmann, als sie auf der Strasse gingen, "ich gestehe, dass ich sehr befriedigt von hier abreise, ich weiss, ich lasse dich in guten Haenden." "Mir gefaellt es gar nicht hier!" erklaerte Ilse hoechst verstimmt. "Es ist mir alles so fremd, und vor dem grauen Fraeulein mit dem blonden, glatten Scheitel fuerchte ich mich. Sie ist so hart, so ungefaellig! Du sollst sehen, Papa, sie ist nicht gut gegen mich. Warum soll ich Bob nicht behalten?" "Du hast gehoert, weshalb nicht, nun musst du auch nicht mehr so hartnaeckig auf deinen Wunsch zurueckkommen," verwies er sie leicht. "Nun faengst auch du an, mit mir zu zanken! Niemals hast du so boese mit mir gesprochen," rief Ilse schmerzlich beleidigt. Und sie fuehlte sich in dem Gedanken, dass kein Mensch, selbst der Papa nicht, sie leiden moege, so ungluecklich, dass das grosse Maedchen auf offner Strasse zu weinen anfing. Der Oberamtmann nahm ihren Arm und legte ihn in den seinigen. Des Kindes Thraenen machten ihn so weich. "Aber Kleines," sagte er zaertlich und versuchte zu scherzen, "was machst du denn? Sollen dich die Leute auslachen, wenn das grosse, kleine Maedchen weint?" Er fuehrte sie zurueck in das Hotel und dort fanden sie bereits Bob. Freudig bellend begruesste er Ilse, und diese nahm ihn hoch und liebkoste ihn unter lautem Schluchzen. Um fuenf Uhr reiste der Oberamtmann wieder zurueck in die Heimat. Die wenigen Stunden bis dahin vergingen schnell und stuermisch. Je naeher der Abschied rueckte, desto aufgeregter wurde Ilse, und es bedurfte seiner ganzen Festigkeit, um ihrem Wunsche, sie wieder mit nach Moosdorf zu nehmen, entgegenzutreten. "Sei doch verstaendig!" Wie oft bat er sie in dringendem Tone darum, wenn sie in leidenschaftlicher Erregung allerhand Drohungen ausstiess, wie: "Ich laufe heimlich davon," oder "ich werde so ungezogen sein, dass mich das boese Fraeulein wieder fortschickt!" Er wusste, sie werde beides nicht thun, aber es machte ihm doch Kummer, seinen Liebling so trostlos zu sehen. Sie wollte ihn wenigstens zur Bahn begleiten, auch das litt Herr Macket nicht. "Ich fahre dich zurueck in das Institut und dann allein zur Bahn. So ist es am besten. Nun komm, Ilschen," fuhr er fort, als der Wagen unten vorfuhr, und nahm sie zaertlich in den Arm, "und versprich mir ein gutes, folgsames Kind zu sein. Du sollst einmal sehen, wie bald du dich eingewoehnt haben wirst." Sie hing sich an seinen Hals und mochte sich nicht von ihm trennen. Es fiel ihr mit einemmal schwer auf das Herz, wie sehr sie den Papa gequaelt hatte in den letzten Stunden. "Sei mir gut, mein lieber, lieber Papa!" bat sie, "sei mir gut! Du bist ja der einzige Mensch auf der Welt, der mich lieb hat!" Als der Wagen vor der Anstalt hielt, trennte sich Ilse lautschluchzend von ihrem Vater, und als sie denselben davonfahren sah, war es ihr zu Mute, als ob sie auf einer wuesten Insel allein zurueckgelassen, elendiglich untergehen muesse. * * * Noch eine Weile stand sie vor der verschlossenen Pforte, sie konnte sich nicht entschliessen, an der Klingel zu ziehen. Da wurde die Thuer von selbst geoeffnet und Fraeulein Guessow stand in derselben. Sie hatte von einem Fenster in der oberen Etage den Wagen kommen sehen und war hinuntergeeilt, um Ilse zu empfangen. "Jetzt gehoerst du zu uns, liebes Kind," sagte sie mit warmer Herzlichkeit und nahm sie in den Arm. "Weine nicht mehr, wir werden dich alle lieb haben." Ilse gab keine Antwort, sie fuehlte sich so ungluecklich, dass selbst der liebevolle Empfang der jungen Lehrerin kein Echo in ihrem Herzen fand. "Moechtest du auf dein Zimmer gehen?" fragte diese. [Illustration] Ilse nickte stumm, sie hielt noch immer das Tuch gegen die Augen gedrueckt. "Nellie!" rief Fraeulein Guessow, "gehe mit Ilse hinauf und sei ihr beim Auspacken ihrer Sachen behilflich. Du moechtest doch sicher gern deine Sachen in Ordnung haben, liebe Ilse." Sie wusste sehr wohl, dass Ilse durchaus nicht diesen Wunsch hatte, aber sie wusste auch, dass die Thaetigkeit das beste Heilmittel gegen Kummer und Herzeleid ist. Die beiden Maedchen begaben sich auf ihr Zimmer. Ilse setzte sich auf einen Stuhl, behielt den Hut auf dem Kopfe und starrte zum Fenster hinaus. Es fiel ihr nicht ein, ihre Sachen auszupacken, und sie war geradezu empoert, dass man Dinge von ihr verlangte, die den Dienstboten zukaemen. Nellie hatte schweigend den Schrank geoeffnet und die Schubladen der Kommode aufgezogen, dann sah sie Ilse an, ob diese sich nicht erheben werde. "Gieb mich deiner Schluessel, ich werde aufschliessen die Koffers," sagte sie, "wir muessen auspacken." Unlustig verliess Ilse ihren Platz und da sie an irgend etwas ihren augenblicklichen Unmut auslassen musste, nahm sie ihren Hut vom Kopfe und warf ihn mitten in das Zimmer. "Warum soll ich alles auspacken? Ich weiss gar nicht, ob ich hier bleiben werde," sagte sie. "Mir gefaellt es hier nicht!" Nellie hatte den Hut aufgenommen und ihn auf ein Bett gelegt. "O," sagte sie sanft, "du gewoehnst dir schon. Es geht uns alle wie dich, wenn wir kommen. Du musst nur deiner Kopf nicht haengen lassen. Nun gieb die Schluessels, dass ich oeffnen kann." Ilses Trotz konnte durch keine Waffe besser geschlagen werden, als durch Nellies Sanftmut. Sie gab den Schluessel und jene schloss auf und begann auszuraeumen. Ilse stand dabei und sah zu. "O, du musst dich dein Sachen selbst aufraeumen in dein Kommode," sagte Nellie. "Ich werde dich alles zureichen." Ilse hatte wenig Lust dazu, Ordnung kannte sie nur dem Namen nach. Sie nahm die sauber, mit roten Baendern gebundene Waesche und warf sie achtlos in die Schubkasten, es war ihr gleich, wie alles zu liegen kam. Nellie sah diesem Treiben einige Augenblicke zu, dann fing sie an zu lachen. "Was machst du?" fragte sie. "Weisst du nicht, wie Ordnung ist? Taschentuecher, Kragen, Schuerzen - alles wirfst du durcheinander. Das sieht sehr bunt aus. Huebsch nebeneinander musst du es machen, so -," und sie zog einen Kasten nach dem andern in ihrer Kommode auf und zeigte Ilse, wie sauber dort alles geordnet lag. "Das kann ich nicht!" entgegnete Ilse. "Uebrigens faellt es mir auch gar nicht ein, so viel Umstaende um die dummen Sachen zu machen!" "Dumme Sachen!" wiederholte Nellie. "O Ilse, wie kannst du so sagen! Sieh diesen feinen Taschentuecher, wie sie schoen gestickt, - o und diese suesse Schuerzen! Und du hast die schwere Buecher daraufgethan - wie hast du sie zerdrueckt! - Lass nur sein," fuhr sie fort, als Ilse im Begriffe war, Schuhe und Stiefel auf die Waesche zu werfen, "ich werde ohne dir machen - du verstehst nix!" Ilse liess sich das nicht zweimal sagen. Ruhig sah sie zu, wie Nellie das Schuhzeug nahm und es unten in den Kleiderschrank stellte, wie sie ueberhaupt jedem Dinge den rechten Platz gab. "O, ein schoenes Buch!" rief diese ploetzlich und nahm ein Buch aus dem Koffer, das hoechst elegant in braunen Samt gebunden und mit silbernen Beschlaegen verziert war. In der Mitte des Deckels befand sich ein kleines Schild, auf welchem eingraviert war: Ilses Tagebuch. Ilse nahm dasselbe Nellie aus der Hand und sah es verwundert an. Was war das fuer ein Buch? Sie wusste nichts davon. Ein kleiner Schluessel steckte in dem Schlosse desselben und als sie es aufgeschlossen hatte, fiel ein beschriebenes Blatt ihr gerade vor die Fuesse. Sie hob es auf und las: Mein liebes Kind! Moege dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein. Wenn Dein Herz schwer ist, fluechte zu ihm und teile ihm mit, was Dich bedrueckt. Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie missbrauchen. Gedenke in Liebe Deiner Mama. Ohne ein Wort zu sagen, legte Ilse das Buch beiseite. Sie empfand keinen Funken Freude ueber die reizende Ueberraschung, auch blieben die liebevollen Worte der Mutter ohne Eindruck auf sie. "Freut dir das Buch nicht?" fragte Nellie, die sich ueber diese Gleichgueltigkeit wunderte. Ilse schuettelte den Kopf. "Was soll ich damit?" fragte sie und ihr huebscher, frischer Mund zog sich trotzig in die Hoehe, "ich schreibe niemals etwas hinein. Ich werde froh sein, wenn ich meine Aufgaben gemacht habe. Zu langen, unnuetzen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust." "Ich wuerde viel Freude haben, wenn ich ein Mutter haette, die mir so beschenkte," sagte Nellie traurig. "Ist deine Mutter tot?" fragte Ilse teilnehmend. "O sie ist lange, lange tot," entgegnete Nellie. "Sie starb, als ich noch eines klein Baby war. Meine Vater ist auch tot - ich bin ganz allein. Niemand hat mir recht von Herzen lieb." "Arme Nellie," sagte Ilse und ergriff ihre Hand. "Aber du hast Geschwister?" "O nein! keine Schwester - ganz allein! Ein alte Onkel lasst mir in Deutschland ausbilden, und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe, muss ich ein Gouvernante sein." "Gouvernante!" rief Ilse erstaunt. "Du bist doch viel zu jung dazu! Alte Maedchen koennen doch erst Gouvernanten werden!" Ueber diese naive Anschauung musste Nellie herzlich lachen, und nun war ihre traurige Stimmung wieder verschwunden und ihre angeborene Heiterkeit brach hervor, wie der Sonnenstrahl durch graue Wolken. Auf Ilse aber hatte Nellies Verlassensein einen tiefen Eindruck gemacht. "Lass mich deine Freundin sein," bat sie in ihrer kindlich offnen Weise, "ich will dich auch sehr lieb haben." "Gern sollst du meine Freundin sein," entgegnete Nellie und reichte Ilse die Hand. "Du hast mich von der erste Augenblick so nett gefallen." Der grosse Koffer war nun leer, und Nellie ergriff den kleinen und war eben im Begriffe die Riemen desselben loszuschnallen, als Ilse ihr ihn unsanft aus der Hand nahm. "Der bleibt geschlossen!" sagte sie, "du darfst nicht sehen, was darin ist!" "O je! Was du machst so boese Augen!" rief Nellie und stellte sich hoechst erschrocken. "Hast du Heimlichkeiten in der kleine Koffer? Ist wohl Kuchen und Wurst darin?" Nellie begleitete ihre Worte mit so komischen Gebaerden, dass Ilse lachen musste. Sie bereute auch schon ihre Heftigkeit. "Ich war recht heftig, Nellie, sei mir nicht boese," bat sie. "Wenn du mich nicht verraten willst, dann werde ich dir zeigen, was darin ist; aber gieb mir die Hand darauf, dass du schweigen wirst." Nellie legte den Zeigefinger auf den Mund und besiegelte mit einem Haendedrucke ihre Verschwiegenheit. Jetzt nahm Ilse den Schluessel, den sie am schwarzen Bande um den Hals trug, und als sie eben im Begriffe war aufzuschliessen, wurde zum Abendessen gelaeutet. "O wie schade!" rief Nellie, die vor Neugierde brannte, die geheimnisvollen Schaetze zu sehen. "Nun muessen wir hinunter und erst nach die Schlafgehen koennen wir auspacken!" "Nach dem Schlafengehen?" fragte Ilse erstaunt. "Da liegen wir ja doch in unsren Betten." "Schweig!" entgegnete Nellie und legte abermals den Finger auf den Mund. "Das ist meines Geheimnis." - - Ilse erhielt ihren Platz neben der Vorsteherin. An ihrer andern Seite sass eine junge Russin, Orla Sassuwitsch. Dieselbe war eine pikante, elegante Erscheinung mit kurzgeschnittenem, schwarzen Haar, sehr lebhaften, dunklen Augen und einem Stumpfnaeschen. Sie zaehlte siebzehn Jahre, sah aber aelter aus. Uebrigens sprach sie fliessend deutsch. Ilse haette gern neben Nellie gesessen, mit der sie in den wenigen Stunden so vertraut geworden war, die aber sass weit entfernt von ihr. Augenblicklich hatte sie ihren Platz noch gar nicht eingenommen, sondern sie stand mit noch einem Maedchen an einem Nebentische und war der Wirtschafterin behilflich, den Thee zu servieren. Es war ein allerliebster Anblick, die jungen Maedchen mit ihren sauberen Latzschuerzen so haeuslich geschaeftig zu sehen. Geschickt gingen sie an den Tafeln entlang und reichten die Tassen herum. Verschiedene Schuesseln mit Butterbroetchen, die reichlich mit Wurst und Braten belegt waren, standen verteilt auf den Tischen. Fraeulein Raimar ergriff die vor ihr stehende und reichte sie Ilse. "Nimm dir," sagte sie, "und gieb dann weiter an deine Nachbarin." Ilse war hungrig. Am Mittag hatte sie fast keinen Bissen geniessen koennen, jetzt aber machte die Natur ihre Rechte geltend. Sie nahm sich vier Schnitten auf einmal, legte zwei und zwei aufeinander und verschlang den ganzen Vorrat in drei bis vier Bissen. Freilich hatte sie den Mund recht voll, die Backen traten wie geschwollen heraus, das kuemmerte sie indes wenig, sie war gewohnt, von einem laendlichen Butterbrote tuechtig abzubeissen, so zarte Theebroetchen hatte sie daheim stets verschmaeht. Als sie trank, hielt sie ihre Tasse mit beiden Haenden und stuetzte die Ellbogen dabei auf den Tisch. Fraeulein Raimar hatte nicht acht auf Ilse gegeben und wurde erst aufmerksam, als sie in ihrer Naehe unterdruecktes Kichern hoerte. Melanie und Grete Schwarz, zwei Schwestern aus Frankfurt am Main, die Ilse gerade gegenueber sassen, amuesierten sich koestlich ueber deren Ungeniertheit, stiessen heimlich ihre Nachbarinnen an und zeigten verstohlen auf die nichts ahnende. Ein strenger Blick der Vorsteherin brachte die Maedchen zur Ruhe. Sie liebte es nicht, dass ueber andrer Schwaechen und Fehler gespottet wurde. Ueber Ilses unmanierliche Art zu essen sagte sie vorlaeufig nichts, um sie nicht vor den vielen Maedchen zu beschaemen, erst unter vier Augen pflegte sie dergleichen Fehler zu ruegen. "Bist du noch hungrig, Ilse?" fragte sie. Statt einer Antwort nickte diese mit dem Kopfe, sie hatte ja erst angefangen zu essen. Abermals wurde ihr die Brotschuessel gereicht und abermals nahm sie die gleiche Portion und verzehrte dieselbe genau in der frueheren Weise. "Die ist gefraessig!" fluesterte die fuenfzehnjaehrige Grete ihrer um zwei Jahre aelteren Schwester zu. "Sieh nur, wie sie wieder stopft." Melanie musste die Hand vor den Mund halten, sonst haette sie laut herausgelacht. Um halb acht Uhr war das Abendessen vorbei und zugleich den Pensionaerinnen die Erlaubnis gegeben, frei zu thun, was sie wollten, bis neun Uhr. Dann war Schlafenszeit. "Komm," sagte Nellie und trat auf Ilse zu, "ich werde mit dich in die Garten spazieren. Aber du hast ja dein Serviette noch nicht schoen gelegt und die Ring drauf gezogen! Das musst du erst machen." "Nein," entgegnete Ilse, "das werde ich nicht! Wozu sind denn die Dienstmaedchen da? Zu Hause hatte ich niemals noetig, solche Dinge zu thun." "Ist egal, meine liebe Kind. Hier musst du solche Dinge thun, wir machen es alle." Richtig, da lagen saemtliche Servietten sauber zusammengewickelt, sie war die einzige, die es nicht gethan hatte. Ungeduldig nahm sie die ihrige, schlug sie fluechtig zusammen und zog den Ring darueber. "So nicht," meinte Nellie, "das ist ungeschickt." Und sie faltete die Serviette noch einmal schnell und geschickt mit ihren kleinen Haenden. Die junge Englaenderin hatte bei allem, was sie that, Grazie und Anmut, es war eine Lust, ihr zuzusehen. "Nun schnell in der Garten!" sagte sie, nahm Ilses Arm und fuehrte sie dorthin. Es war ein huebscher Garten, den Ilse jetzt kennen lernte. Nicht so gross und parkartig wie der heimatliche, aber wohl gepflegt. Schoene, hohe Baeume standen darin, auch fehlte es nicht an lauschigen Plaetzen. Von allen Seiten sah man auf die gruenbewaldeten Berge. "Ist es nicht nett hier?" fragte Nellie, habt ihr bei dich auch so schoene Berge?" "Nein, Berge haben wir nicht," entgegnete Ilse, "aber es gefaellt mir doch besser bei uns. Es ist alles so frei, ich kann das ganze Feld uebersehen. Eine Mauer haben wir auch nicht um unsren Park, nur eine gruene Hecke, das ist viel huebscher." Nellie zeigte ihr saemtliche Lieblingsplaetze. Sie fuehrte sie zur Schaukel, zum Turnplatz und zuletzt zu einer alten Linde, die mit ihren breiten Zweigen und Aesten einen grossen, runden Raum beschattete. "O, es ist suess hier! Nicht wahr?" fragte sie entzueckt und sah mit leuchtenden Augen hinauf in das gruene Blaetterdach. "Hier machen wir unsre Ruhe zu Mittag. Dieser alter Baum kann viel erzaehlen, wenn er sprechen will! Er weiss so viel Geheimnisse, die hier verraten sind!" Bei dem Geplauder Nellies verging die Zeit schnell. Ilse, die am Morgen sich so ungluecklich gefuehlt hatte, die am Nachmittage geglaubt hatte, dass sie nie die Trennung vom Papa ueberleben koenne, hatte schon verschiedenemal herzlich ueber Nellie lachen muessen, denn diese hatte eine so drollige Art, sie auf diese oder jene Pensionaerin aufmerksam zu machen. "Wie heisst das junge Maedchen, das bei Tische neben mir sitzt?" fragte Ilse. "Die mit die kurze Haar und der Klemmer auf die Nase? Das ist Orla Sassuwitsch. Oh sie ist klug! Wir haben alle eine kleine wenig Furcht fuer sie, weil sie immer die Wahrheit gerade in die Gesicht sagt." "Das ist doch huebsch," meinte Ilse. "O ja, wenn sie angenehm ist, aber zuweilen thut die Wahrheit weh, das hoert keiner Mensch gern. Wenn ich zu sie sagen wuerde: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Orla, du hast geraucht!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} das wuerde sie gar nicht gefallen, und es ist doch die Wahrheit. Ich habe durch ihr Schluesselloch geluxt und habe grosse, rauchige Wolken gesehen. -" Sie waren jetzt bei einer Trauerweide angelangt, die ihre gruenen Zweige bis auf den Boden gesenkt hatte. Nellie blieb stehen und bog einige Zweige auseinander. "Hier, Ilse, stell ich dich unsre Dichterin vor," sagte sie lachend. Die Angeredete blickte hinein und sah ein junges Maedchen auf einer kleinen Bank sitzen, die hochaufgeschossen, blond und blass, und deren Gesicht mit zahllosen Sommersprossen bedeckt war. Dieselbe hatte auf dem Schosse ein dickes, blaues Heft, in welchem sie eifrig schrieb. Mit einer gewissen neugierigen Scheu blickte Ilse sie an, es war ihr so neu, dass junge, siebzehnjaehrige Maedchen schon dichten koennen. "Sie schreibt Romane," fuhr Nellie fort, "aber wie! Es kommen immer zerbrochene Herzen drin vor. - Du wirst dir die Auge schaden, du hast ja keine Licht genug zu deine Romane!" Bis dahin hatte Flora Hopfstange sich nicht stoeren lassen in ihrer Arbeit, jetzt aber wurde sie aergerlich. "Ich bitte dich, lass mich in Ruhe, Nellie!" rief sie und schlug ihr hellblaues Auge schwaermerisch auf. "Ich hatte eben einen so wundervollen Gedanken, nun habe ich ihn verloren!" "O, ich will ihn suchen!" neckte Nellie und bueckte sich auf die Erde nieder, als ob sie ihn dort finden koenne. [Illustration] "Du bist unausstehlich!" entgegnete Flora aufgebracht. "Du freilich hast keine Ahnung von meiner Poesie, verstehst du doch nicht einmal deutsch zu sprechen!" "Das ist wahr," meinte Nellie lachend und verliess mit Ilse die schwerbeleidigte Dichterin. Melanie und Grete kamen ihnen jetzt entgegen. In ihrer Mitte fuehrten sie ein junges Maedchen, sie mochte in Melanies Alter sein, mit lieben, sanften Gesichtszuegen. Das braune Haar trug sie einfach und glatt gescheitelt, kein Haerchen sprang widerspenstig hervor. Freundlich laechelte sie Ilse und Nellie an, die beiden Schwestern dagegen musterten im Voruebergehen die Neuangekommene mit spoettischen Blicken. "Die Schwestern kennst du," bemerkte Nellie, "sie sitzen dich gradeueber bei Tisch, aber unsre {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Artige{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} ist dich noch unbekannt. O, ich sage dich, Ilse, sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind. Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich, kurz, Rosi Moeller ist eines Musterkind." "Was sagst du von unsrem Musterkinde?" rief ploetzlich eine froehliche Maedchenstimme. "Nellie, Nellie, dein boeses Zuenglein geht sicher mit dir durch!" "Du irrst dir, liebes Lachtaube," entgegnete Nellie, "Ilse ist noch so fremd, ich mache ihr bekannt." "Wer war das?" fragte Ilse, als die kleine, runde Maedchengestalt, die an Orlas Arme hing, vorueber war. "Das ist Annemie von Bosse, genannt Lachtaube. Sie lacht sehr viel, eigentlich immer, und sie kann keine Ende davon finden. Man muss mitlachen, sie steckt an. - Nun habe ich dich aber alle Maedchen gezeigt, die in unsre Alter sind, die anderen sind zu jung oder es sind Englaenderinnen. Von die ist nicht viel zu sage, sie sind alle langweilig und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich." - Mit dem Schlage neun begaben sich saemtliche Pensionaerinnen zurueck in das Haus. Bevor sie zur Ruhe gingen, war es Sitte, dass sich alle erst in das Zimmer der Vorsteherin begaben, um ihr gute Nacht zu wuenschen. Dieselbe reichte jeder einzelnen einen Kuss auf die Stirn. Zuweilen ermahnte, lobte oder tadelte sie diese oder jene dabei, wenn sie den Tag ueber etwas gut oder schlecht gemacht hatten, alles geschah aber in liebevollem Tone, nicht anders als wie eine Mutter zu ihrem Kinde spricht. "Ich moechte noch mit dir sprechen, liebe Ilse," sagte Fraeulein Raimar, als Ilse ihr gute Nacht bot. "Verweile noch einen Augenblick hier." Und als saemtliche Maedchen das Zimmer verlassen hatten, ermahnte sie Ilse, etwas manierlicher zu essen. "Du darfst die Tasse nicht mit beiden Haenden fassen und die Ellbogen dabei aufstuetzen, Kind, du glaubst nicht, wie unschoen das aussieht. Achte auf deine Mitschuelerinnen, du wirst sehen, dass keine einzige es wie du macht. Und dann, weisst du, stecke nicht wieder so grosse Bissen in den Mund. Die kleinen Kinder machen es zuweilen so, aber dann nennt die Mama sie: Nimmersatt!" Ilse war dunkelrot geworden vor Aerger ueber die erhaltene Ermahnung. Trotzig biss sie die Lippen aufeinander und unterdrueckte eine ungezogene Antwort. "Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut." Sie war im Begriffe, Ilse einen Kuss auf die Stirn zu reichen, als diese mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurueckbog. Es war ihr unmoeglich, sich von der Vorsteherin kuessen zu lassen, die sie in diesem Augenblicke geradezu hasste. Fraeulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopfe ab, ohne noch etwas zu sagen, und Ilse verliess das Zimmer. Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Die Thuere warf sie heftig in das Schloss und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war. "Mach nicht der Riegel zu," sagte Nellie, "wir duerfen das nicht thun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fraeulein Guessow bei uns nachsehen." Ilse ruehrte sich natuerlich nicht, und Nellie musste das selbst besorgen. Ungestuem warf sie sich auf ihr Bett und brach in Thraenen aus. "O, was ist dich?" fragte Nellie erschrocken. "Hier bleibe ich nicht! - Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wuesste, wie sie mich behandelt hat!" rief Ilse aufgeregt. Durch viele Fragen bekam Nellie in einzelnen abgerissenen Saetzen von Ilse heraus, was Fraeulein Raimar gesagt hatte. "Ich esse ungeschickt, - ich nehme zu grosse Bissen - und ich bin ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will! - Ich will wieder fort! Morgen reise ich! -" "Du musst dir nicht so viel graemen um so kleine Sach'," sagte Nellie sanft und strich liebkosend Ilses lockiges Haar. "Fraeulein Raimar ist sehr gerecht, sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und muessen noch lernen. - Nun komm, wir legen uns jetzt in die Bett und spaeter, wenn Fraeulein Guessow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Maeuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer." Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. "Nein!" rief sie und sprang auf, "der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!" Hastig zog sie sich aus, warf ihre Kleidungsstuecke drunter und drueber und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen, sie hing das schoene Kleid an einen Nagel, Ilse hatte dasselbe auf einen Stuhl geworfen, und legte alles uebrige glatt und ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe. Bevor sie indes ihr Lager bestieg, kniete sie vor demselben nieder, faltete die Haende und betete leise ein kurzes Gebet. "Gut' Nacht, Ilse," sagte sie dann und gab ihr einen Kuss. "Du musst nun nicht mehr weinen, - alle Anfang ist schwer." Aber Ilse weinte noch lange. Ihre Gedanken kehrten zum Vater zurueck und begleiteten ihn auf seiner Rueckreise. In wenigen Stunden musste er die Heimat erreicht haben. Ach, wenn er wuesste, wie sein einziges Kind behandelt wurde! Sie fuehlte sich zu ungluecklich in der Gefangenschaft! - Wie ein Kind weinte sie sich in den Schlaf, aber boese Traeume schreckten sie mehrmals auf. Bald hielt sie eine maechtige Theetasse in der Hand und liess sie zur Erde fallen, bald hielt ihr die Vorsteherin im grauen Kleide ein heimatliches Butterbrot dicht vor den Mund, wollte sie aber zubeissen, war es verschwunden. * * * Um sechs Uhr am andern Morgen hiess es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlafe befangen waren, es wurde keine Gnade geuebt. Ilse pflegte daheim bald frueh, bald spaet aufzustehen, wie sie gerade Lust hatte. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr gewuenscht, hatte sie sich nicht fuegen wollen. Es wurde ihr denn auch nicht wenig schwer, so auf Kommandowort sich erheben zu muessen, gerade heute hatte sie den Wunsch, noch einigemal sich im Bette herumzudrehen, sie war so spaet erst eingeschlafen. Aber daran war nicht zu denken, Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprunge war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bette gewesen. "Wach auf, Ilse," sagte sie, "um halb sieben trinken wir Kaffee." "Schon aufstehen," antwortete die Verschlafene, "aber ich bin noch so muede." "Thut nix, du darfst nicht mehr schlafrig sein." Aber Ilse zoegerte noch. Nellie stand schon fertig da, ja hatte schon alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette noetig hatte, beiseite geraeumt, als sie sich langsam erhob. "O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit! Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo sind dein Kamm?" Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. "Dort liegen sie eingewickelt," gab sie zur Antwort. "Das ist nicht nett, das gefaellt mir nicht," meinte Nellie und ruempfte das Naeschen. "Du musst dich ein Taschen naehen, von grauer Stoff und rote Band, sieh, wie dies da," und sie zeigte ihre Kammtasche, "siehst du, so ist's fein." Ilse machte nicht viel Umstaende mit ihrem Haar. Sie kaemmte und buerstete es, damit war alles abgemacht, die natuerlichen Locken ringelten sich von selbst ohne weitere Bemuehung. Ein hellblaues Band schlang ihr Nellie durch dieselben und band es mit einer Schleife seitwaerts zu. "Nun noch die Schuerze," sagte sie, als Ilse soweit fertig war, "sie darf nicht fehlen." Sie lachte, als Ilse sich dagegen straeubte. "Du bist ein klein, albern Ding," schalt sie und band ihr die Schuerze vor, trotz Ilses heftigem Widerstande. "Gleich haeltst du still! Ohn' ein Schuerzen giebt es kein Kaffee." Die lustige Nellie setzte es wirklich durch, dass Ilse sich ihrem Willen fuegte. "So," sagte sie, "nun bist du schoen! Die blau gestickter Schuerze ist sehr nett und du bekommst einer suesser Kuss." An langen Tafeln sassen die Maedchen bereits, Nellie und Ilse waren die letzten. Fraeulein Raimar war des Morgens niemals zugegen, nur Fraeulein Guessow fuehrte die Aufsicht. Ilse musste sich zu ihr setzen. Als ihr der Kaffee gereicht wurde, nahm sie die Tasse ganz manierlich beim Henkel in die Hand, ass auch wie es sich gehoert nicht mit grossen Bissen, wie am Abend zuvor; aber sie hatte eine andre Unart, die ebenfalls zu tadeln war, sie schluerfte den Kaffee so laut, dass sie allgemeine Heiterkeit erregte. Ilse hatte keine Ahnung, dass ihr das Gelaechter galt, Orla machte sie damit bekannt. "Du fuehrst ja ein wahres Konzert auf," sagte sie. "Machst du das immer so? Schoen hoert sich diese Tafelmusik nicht an, das kann ich dich versichern." Ilse fuehlte sich schwer beleidigt ueber diese Zurechtweisung. Hastig setzte sie die Tasse nieder, erhob sich und eilte hinaus. "Du durftest sie nicht vor all' den uebrigen so beschaemen, Orla," tadelte Fraeulein Guessow, indem sie ebenfalls aufstand, um Ilse zu folgen, "das kraenkt sehr." Ilse war gerade im Begriff in den Garten zu gehen, als die junge Lehrerin sie zurueckrief. "Wo willst du hin, Ilse?" fragte sie. "Was faellt dir ein, mein Kind, dass du nach deinem Gefallen davonlaeufst? Es ist nicht Sitte bei uns, dass jemand eine Mahlzeit verlaesst, bevor dieselbe beendet ist. Komm gleich zurueck und verzehre dein Fruehstueck." "Ich mag nicht mehr fruehstuecken," entgegnete Ilse, "und ich gehe nicht wieder hinein! Sie haben mich alle ausgelacht und Orla war ungezogen gegen mich. Es geht niemand etwas an, wie ich esse und trinke, ich mache es, wie ich will! Vorschriften lasse ich mir nicht machen, nein!" "Ehe ich weiter mit dir spreche, bitte ich dich erst ruhig und vernuenftig zu sein, liebe Ilse. Ich kann nicht dulden, dass du in einem so unartigen Tone zu mir sprichst." Sehr ernst und nachdruecklich hatte Fraeulein Guessow gesprochen, aber es klang doch ein Ton der Liebe hindurch. Ihr schoenes, weiches Organ verfehlte selten den Weg zum Herzen, das lernte auch Ilse in diesem Augenblicke kennen. Sie blickte zu Boden, und etwas wie Beschaemung stieg in ihr auf. Die Lehrerin las in Ilses beweglichen Zuegen und wusste, was in ihr vorging. "Gieb mir deine Hand, du kleiner Brausekopf!" sagte sie freundlich, "und versprich mir, nicht wieder so stuermisch zu sein und deiner augenblicklichen Laune zu folgen, selbst wenn du glaubst, im Rechte zu sein. Heute warst du es nicht einmal, du trankest wirklich etwas unappetitlich. Orla hat es gut gemeint, dass sie dich darauf aufmerksam machte, du darfst ihr darum nicht boese sein. So eine kleine wohlverdiente Lehre muss sich jede von euch gelegentlich gefallen lassen. Es ist doch besser, jetzt als Kind zurechtgewiesen zu werden, als wenn deine Fehler und Angewohnheiten spaeterhin zum Spott der Gesellschaft wuerden." Daheim hatte Ilse niemals hoeren wollen, dass sie eine junge Dame sei, und jetzt beruehrte es sie gar nicht angenehm, dass man sie gewissermassen noch zu den Kindern rechnete. "Nun siehst du das ein, Ilse?" fragte die Lehrerin. Vielleicht that sie es, aber sie wuerde ein Ja nicht ueber die Lippen gebracht haben. Fraeulein Guessow begnuegte sich mit ihrem Stillschweigen und nahm dasselbe fuer eine Zustimmung. Sie meinte, dass eine Natur wie Ilses nicht mit Gewalt zum Nachgeben gezwungen werden duerfe. "Nun wollen wir zurueck in den Speisesaal gehen," sagte sie, und Ilse wagte keine Widerrede. Sie folgte dem Fraeulein mit niedergeschlagenen Augen, sie hatte Furcht vor den vielen peinlichen Blicken, die sich alle auf sie richten wuerden. Als sie eintraten, war das Zimmer leer und die Fruehstueckszeit vorueber. Niemand war froher als Ilse, die sich wie erloest vorkam. "Ich habe noch einen Auftrag fuer dich, Ilse," sagte die Lehrerin. "Fraeulein Raimar wuenscht deine Arbeitshefte zu sehen, auch sollst du zugleich muendlich geprueft werden. In einer Stunde finde dich in dem Konferenzzimmer ein, du wirst dort zugleich deine zukuenftigen Lehrer und Lehrerinnen zum Teil kennen lernen." "Wollen sie mich alle pruefen?" fragte Ilse etwas besorgt. "Nein," entgegnete das Fraeulein, "aber sie werden zuhoeren, wenn Fraeulein Raimar dich examiniert. Spaeter wirst du dann erfahren, in welche Klasse du gesetzt bist, und morgen nimmst du zum erstenmal an dem Unterricht teil." Ilse ging in ihr Zimmer und suchte ihre Hefte zusammen. Sie waren nicht in der besten Verfassung. Das deutsche Aufsatzheft machte besonders keinen Staat. Verschiedene Tintenflecke zierten es, und sogar einige naseweise Fettflecke machten sich darauf breit. Das franzoesische Heft wurde ganz beiseite gelegt. Sie hatte versucht, einige Seiten, die gar zu verschmiert aussahen, herauszureissen und durch diesen Gewaltstreich waren alle andern Blaetter gelockert - unmoeglich konnte sie das Buch in dieser Verfassung vorzeigen. Nellie, die gerade eine freie Stunde hatte, sah erstaunt Ilses Treiben zu. "Was thust du?" fragte sie. "Willst du dein Buecher so an Fraeulein Raimar vorzeigen? das darfst du nicht. Hat deiner Herr Pastor dir dies erlaubt? Gieb schnell, ich will dich blaues Umschlaege drum wickeln, das ist nett und man sieht die alte Flecken nicht." "Gieb her!" rief Ilse gereizt. "Sie sind gut so! Es ist mir ganz egal, ob Fraeulein Raimar die Flecken sieht oder nicht!" "Nicht so zornig, Fraeulein Ilse! Sie sind eine kleine, unordentliche junge Dame! Wuerde es dir vielleicht spassig sein, wenn Fraeulein Raimar deine Buch mit spitze Finger hoch hielt und sie alle Lehrer zeigte? O nein, das waer dich nicht egal und nicht spassig. Besonders wenn Herr Doktor Althoff, unser deutscher Lehrer, mit seine bekannte, hoehnische Lachen dir so von die Seiten ansieht und fragt: Wie alt sind Sie, mein Fraeulein?" Trotzdem Ilse ungeduldig wurde, trotzdem sie entschieden erklaerte, es waere hoechst unnuetz, dass so viele Umstaende wegen der dummen Buecher gemacht wuerden, setzte Nellie ihren Willen durch. "So, nun kannst du gehen," sagte sie, als sie auch dem letzten Hefte ein blaues Kleid gegeben hatte, "nun bedanke dir fuer mein Muehe." "Du bist doch sehr gut, Nellie," meinte Ilse. "Wie ist es dir nur moeglich, stets so sanft und geduldig zu sein? Ich kann das nicht!" "O, du lernst schon, Kind. Wirst noch eine ganz zahme, kleine Vogel sein!" entgegnete Nellie. Um elf Uhr ging Ilse hinunter in das Konferenzzimmer. Als sie eintrat, fand sie mehrere Lehrer und einige Lehrerinnen anwesend. Sie sassen um einen Tisch, Fraeulein Raimar nahm den Platz obenan ein. "Tritt naeher, Ilse," sagte sie und machte mit einigen freundlichen Worten die neue Schuelerin mit ihren zukuenftigen Lehrern bekannt. Darauf liess sie sich die Schreibhefte reichen. Das Aufsatzbuch fiel ihr zuerst in die Hand. Sie blaetterte und las darin, und einigemal schuettelte sie den Kopf. "Oft recht gute und klare Gedanken," bemerkte sie zu dem neben ihr sitzenden Lehrer der deutschen Sprache, Doktor Althoff, "und dabei diese oberflaechliche, fluechtige Schrift. Sehen Sie einmal, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}uns{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} mit einem {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}z{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} geschrieben - {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Land{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} mit einem {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}t{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}. Da werden wir viel Versaeumtes nachzuholen haben. Wie schreibst du {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Land{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, Ilse, buchstabiere einmal." Ilse konnte unmoeglich diese Frage fuer ernst halten. War sie denn ein kleines Maedchen aus der A-B-C-Klasse? Sie zoegerte mit der Antwort. Die Vorsteherin indes war nicht gewoehnt zu scherzen, sie sah erstaunt die schweigende Ilse an. "Wie du Land schreibst, moechte ich von dir wissen," wiederholte sie noch einmal in bestimmtem Tone, der jeden Zweifel, ob er ernst gemeint sei oder nicht, benahm. Ilse kraeuselte etwas unwillig die Stirn, zog die Lippe in die Hoehe und buchstabierte so schnell, dass man ihr kaum folgen konnte: L-a-n-d. Den Blick hatte sie zum Fenster hinausgewandt, um Fraeulein Raimar nicht anzusehen. "Also nur fluechtig, ich dachte es mir," sagte diese. "Wenn du in Zukunft deine Aufsaetze machst, wirst du sehr aufmerksam sein. Fehler, wie ich sie in deinen Aufgaben finde, kommen bei uns nicht mehr in der dritten Klasse vor." Es wurden nun Ilse Fragen in den verschiedensten Faechern vorgelegt. Manchmal fielen die Antworten ueberraschend aus, zuweilen dagegen geradezu einfaeltig. Doktor Althoff laechelte einigemal, was Ilse das Blut bis hinauf in die braunen Locken trieb. Sie aergerte sich darueber und drehte ihr Taschentuch wie eine Wurst fest zusammen. Im Franzoesischen bestand sie gut. Monsieur Michael, der franzoesische Lehrer, ein aelterer Herr mit weissem Haar, redete sie gleich in dieser Sprache an, sie antwortete ihm korrekt und fliessend. Miss Lead, die englische Lehrerin, die ebenfalls im Institute wohnte, hatte weniger Glueck bei ihrer Anrede. Ilse holperte sehr, als sie die Antwort gab. "Nun kannst du uns verlassen, Kind," sagte Fraeulein Raimar. "Dein Examen ist zu Ende. Spaeter werde ich dir mitteilen, welche Klasse du besuchen wirst." Nachdem Ilse das Zimmer verlassen, wurde nach einigem Hin- und Herberaten der Beschluss gefasst, sie in die zweite Klasse zu geben, im Franzoesischen solle sie indes die erste besuchen. "Ich glaube, Ilse wird uns viel Not machen," aeusserte die Vorsteherin besorgt. "Sie ist widerspenstig und trotzig, auch kann sie nicht den geringsten Tadel vertragen." "Aber sie hat ein gutes Herz," fiel Fraeulein Guessow lebhaft ein. "Ich habe noch keine Beweise dafuer, aber ich lese es in ihrem schoenen, offnen Auge. Ich bin ueberzeugt, dass ich mich nicht taeusche. Eins ist mir indes klar, mit Strenge werden wir wenig ausrichten, dagegen hoffe ich, mit Liebe und Energie wird es uns gelingen, ihren Trotz zu zaehmen." "Das ist ganz meine Ansicht!" stimmte Monsieur Michael bei, "Sie werden sehen, meine Damen und Herren, Mademoiselle Ilse wird eine Zierde der Pension sein! Mit welcher Eleganz spricht sie franzoesisch, wie gewaehlt setzt sie die Worte! Ah, sie ist ein Genie!" - Der kleine Herr hatte sich ordentlich in Begeisterung gesprochen und seine Worte mit lebhaften Gestikulationen begleitet. "Ich wuensche von Herzen, dass Sie recht haben moegen," entgegnete Fraeulein Raimar und erhob sich von ihrem Platze. "An Liebe und Nachsicht wollen wir es nicht fehlen lassen, vielleicht gelingt es uns, Ilse verstaendig und gefuegig zu machen." - Fuers erste schien noch wenig Aussicht dazu. Beim Mittagessen legte Ilse wieder den Beweis ab, wie recht Fraeulein Raimar hatte, wenn sie behauptete, dass Ilse keinen Tadel vertragen koenne. Sie hielt die Gabel schlecht. Die Fingerspitzen beruehrten fast die Speisen. Das Gemuese verzehrte sie mit dem Messer und so heiss, dass sie manchmal, um sich nicht zu verbrennen, den Bissen wieder aus dem Munde fallen liess. Auch hielt sie den Kopf sehr tief ueber den Teller gebeugt, was ihr das Aussehen eines hungrigen Kindes gab. "Sitze gerade, liebe Ilse," ermahnte die Vorsteherin, "es ist dir nicht gesund, so krumm zu sitzen." "Ich esse immer so," erwiderte sie ziemlich kurz. "Ich ass immer so, meinst du wohl, mein Kind, denn hier wirst du dich daran gewoehnen, zu thun, was Sitte ist ... Hast du zu Hause auch stets die Gabel so kurz gefasst und mit dem Messer gegessen?" "Ja," sagte Ilse und warf den Kopf leicht in den Nacken. "Papa hatte nie etwas an mir auszusetzen, er war zufrieden, wenn es mir nur schmeckte." "Aber die Mama, hat auch sie deine Art zu essen gutgeheissen?" Ilse schwieg. Eine Unwahrheit konnte und mochte sie nicht sagen, denn wie oft hatte die Mutter sie ermahnt, und wie oft hatte sie derselben zur Antwort gegeben: "Dann will ich gar nichts essen, wenn du mich immer tadelst." Das Fraeulein hatte leise, nur fuer Ilse verstaendlich gesprochen. Niemand ahnte, was sie sagte, denn ihre Zuege sahen mild und freundlich aus. Eine Antwort auf ihre Frage wartete sie nicht ab, aber es gefiel ihr, dass Ilse lieber schwieg, als gegen ihre Ueberzeugung sprach. "Nun iss nur, Kind," fuhr sie fort, "mit der Zeit wirst du dich schon gewoehnen. In wenigen Wochen hast du alle deine kleinen Unebenheiten abgestreift und wir werden niemals noetig haben, etwas an dir zu ruegen. Nicht wahr?" "Ich weiss es nicht," erwiderte Ilse und sah mit einem ziemlich verdriesslichen Gesicht auf ihren Teller nieder. "Du musst dir Muehe geben, dann wird es schon gehen." Dazu schwieg Ilse. Natuerlich war sie fest davon ueberzeugt, dass ihr das groesste Unrecht geschah. Warum sollte sie nicht natuerlich essen? Der Papa hatte stets gesagt, sie solle keine Zierpuppe werden, nun hatte man bei allem, was sie that und wie sie es that, etwas auszusetzen. Sie wagte kaum noch etwas zu geniessen und wenn das so weiter ging, wollte sie lieber verhungern. - * * * Am Abend, als Nellie und Ilse sich schlafen gelegt hatten, als Fraeulein Guessow bereits ihre Runde gemacht, als das Licht geloescht und alles still im Hause war, rief Nellie, "wachst du, Ilse?" "Ja," antwortete diese, "was soll ich?" "Zieh dir leise an, wir wollen dein kleiner Koffer auspacken." "Es ist ja aber dunkel," meinte Ilse. "O lass nur, ich habe schon eine Licht." Leicht und unhoerbar stieg Nellie aus ihrem Bette und ging auf Struempfen an ihre Kommode. Sie zog den oberen Kasten vorsichtig heraus und nahm einen kleinen Wachsstock aus demselben. Nachdem sie ihn angezuendet hatte, stellte sie ein Buch davor, damit kein Lichtschimmer durch das Fenster drang. "Ist doch fein, nicht?" fragte sie. "Nun eile dich aber," trieb sie Ilse, die sich fluechtig ankleidete. "Wo hast du der Schluessel?" "Hier habe ich ihn," entgegnete Ilse und zog ihn unter dem Kopfkissen hervor, "ich werde selbst aufschliessen." Nellie leuchtete mit dem Wachsstocke und hielt die Hand davor. Vornuebergebeugt stand sie in neugieriger Erwartung, der Schaetze harrend, die sich vor ihren Augen aufthun wuerden. Recht enttaeuscht wurde sie, als Ilse anfing auszupacken. Die erwarteten Delikatessen - Nellie war eine Freundin davon - kamen nicht zum Vorschein. "O, hast du keine Kuchen?" fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte mit der Hand bis auf den Grund. "Au, au!" rief sie ploetzlich und fuhr mit der Hand zurueck. "Was ist dies? Ich habe mir gestochen!" Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger. Ilse begriff nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte, - - o Schrecken! das Glas mit dem Laubfrosche war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt. "Wo nur der Frosch ist," sagte Ilse aengstlich und raeumte die Scherben fort. "Was? - eine Frosch? Eine lebendige Frosch? O je - hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer thun? Ohne Luft muss er tot gehen!" Ilse hatte soeben den kleinen Laubfrosch gefunden, - natuerlich war er tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben. Nellie lachte sie aus. "Du hast die arm, klein Frosch gemordet," sagte sie und nahm ihn in die Hand. "O, er ist kaput! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen frueh wollen wir ihn in ein Schachtel legen und unter die Linde vergraben." Ilse sah traurig auf den Frosch und die Thraenen traten ihr in die Augen. Sie hatte das Tierchen selbst gefangen, es stets gefuettert und eine grosse Freude daran gehabt, nun hatte sie es getoetet durch eigne Schuld. [Illustration] "Wie schlecht von mir, dass ich so dumm sein konnte!" klagte sie sich an. "Ich dachte gar nicht daran, als ich meine Sachen packte, dass er ersticken muesse. Es ging so schnell -" Einigermassen troestete sie die Aussicht auf das Begraebnis unter der Linde. "Wir machen eine kleiner Huegel," sagte Nellie, "und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er musste sein junge Leben lassen, weil ihm der Luft ausging." Dieser komische Einfall trocknete Ilses Thraenen, sie musste darueber lachen. Als sie den ausgestopften Kanarienvogel ansah, fand sie, dass er sehr gelitten hatte. Das Koepfchen war ganz breit gedrueckt und der eine Fluegel hing herunter. Nellie gab ihm wieder einige Facon. Sie drueckte den Kopf rund und versprach auch, den Fluegel wieder gut zu machen. Sie wollte ihn am andern Tage anleimen. "Lass mir nur machen," sagte sie, "ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen." "Was ist denn das?" fragte sie ploetzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Hoehe, "warum hast du diese schmacklose Robe eingepackt, - und die alte schmutzige Stiefel, - was soll damit?" Warum? Darueber hatte Ilse selbst noch nicht nachgedacht, aber sie war aergerlich, ihr Lieblingskostuem so verachtet zu sehen. "Du verstehst nichts davon," sagte sie und nahm es Nellie fort. "Es ist mein liebster und schoenster Anzug! Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus." "O lass mir ihn probieren," bat Nellie, "ich will ihn anziehen." Dagegen hatte Ilse nichts einzuwenden. Sie half Nellie ankleiden und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz wunderbaren Aufzuge da. Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas groesser als Ilse war, unter demselben sah das lange, weisse Nachtgewand hervor, die Bluse war stellenweise zerrissen und Nellie hatte den Aermel verfehlt und war durch ein grosses Loch dicht daneben herausgefahren, so dass der Aermel auf dem Ruecken hing. Nachdem sie auch noch den schaebigen Lederguertel um ihre zierliche Taille geschnallt hatte, stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren. "Bequem ist diese Kostuem, das ist wahr," sagte sie und fing an, allerhand lustige Spruenge auszufuehren und sich im Kreise zu drehen. "Man ist so luftig - so leicht!" Ilse brach ploetzlich in ein so herzhaftes Gelaechter aus, dass Nellie auf sie zueilte und ihr den Mund mit der Hand verschloss. "Du darfst nicht so toll lachen," sagte sie, "du wirst uns verraten!" "Ich kann nicht anders, du siehst ja zum totlachen aus." Nellie trat mit dem Wachsstocke vor den kleinen Spiegel und betrachtete sich. "O wie abscheulich!" sagte sie und riss die Sachen herunter, "wie kannst du so ein haesslicher Anzug schoen finden!" Ilse verschloss ihre Herrlichkeiten wieder in den Koffer, dann wurde das Licht geloescht und in wenigen Augenblicken schliefen die beiden Maedchen fest und tief. * * * Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme in der Pension vergangen. Manche bittre Thraene hatte sie in der kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, geweint, und oft, recht oft hatte sie die Feder angesetzt, um dem Vater zu schreiben, dass er sie zurueckholen moege. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, that sie es nicht. Erst zweimal hatte sie die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhalten, beantwortet, nur ganz kurz und mit der Entschuldigung, dass ihr die Zeit zu laengeren Briefen fehle. Endlich, eines Sonntag Nachmittags, den fast alle Pensionaerinnen zum Briefschreiben benutzten, setzte auch sie sich dazu nieder. Grosse Lust hatte sie indessen nicht. Sie wusste gar nicht recht, was sie schreiben sollte; wie es ihr eigentlich um das Herz war, mochte sie ja doch nicht sagen. Sie schlug die neue Schreibmappe auf, waehlte nach langem Suchen einen rosa Bogen mit einer Schwalbe darauf, tauchte eine Feder in das Tintenfass und - malte allerhand Schnoerkeleien auf ein Stueckchen Papier. Nachdem sie diese Unterhaltung ein Weilchen getrieben, begann sie endlich den Brief. Nach wenigen Zeilen hoerte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Schwalbenbogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glueck. Sie beschrieb denselben von Anfang bis zu Ende, ja, sie nahm noch einen fuenften Bogen dazu. Sie war nun einmal in das Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen musste. Als sie zu Ende war, durchlas sie noch einmal ihre lange Epistel und wir blicken ihr ueber die Schulter und lesen mit. "Mein liebes Engelspapachen! Es ist heute Sonntag. Das Wetter ist so schoen und im Garten bluehen die Rosen (da faellt mir eben ein, hat meine gelbe Rose, _marechal Niel_, die der Gaertner im Fruehjahre verpflanzte, schon Knospen angesetzt? bitte, vergiss nicht, mir Antwort zu geben) - und die Voegel singen so lustig - ach! und deine arme Ilse sitzt im Zimmer und kann sich nicht im Freien umhertummeln. Mein liebes Pa'chen, das ist recht traurig, nicht wahr? Ich komme mir oft vor wie unser Mopsel, wenn er genascht hatte und zur Strafe dafuer eingesperrt wurde. Ich moechte auch manchmal, wie er es that, an der Thuere kratzen und rufen: macht auf! Ich will hinaus! Es ist gar nicht huebsch, immer eingesperrt zu sein. Zu Haus konnte ich doch immer thun und treiben, was ich wollte, im Garten, auf dem Felde, in den Staellen, ueberall durfte ich sein und meine reizenden Hunde waren bei mir und liefen mir nach, wohin ich ging. Ach, das war zu himmlisch nett! Was macht Bob, Papachen, und Diana und Mopsel und die andern? O, wenn ich sie gleich hier haette! Es ist in der Pension alles so furchtbar streng, man muss jede Sache nach Vorschrift thun. Aufstehen, Fruehstuecken, Lernen, Essen, - immer zu bestimmten Stunden. Und das ist graesslich! Ich bin oft noch so muede des Morgens, aber ich muss heraus, wenn es sechs geschlagen hat. Ach, und wie manchmal moechte ich in den Garten laufen und muss auf den abscheulichen Schulbaenken sitzen! Die furchtbare Schule! Ich lerne doch nichts, Herzenspa'chen, ich bin zu dumm. Nellie und die andern Maedchen wissen viel mehr, sie sind auch alle klueger als ich. Nellie zeichnet zu schoen! Einen grossen Hundekopf in Kreide hat sie jetzt fertig, als wenn er lebte, sieht er aus. Und Klavier spielt sie, dass sie Konzerte geben koennte - und ich kann gar nichts! Wenn ich doch lieber zu Hause geblieben waere, dann wuesste ich doch gar nicht, wie einfaeltig ich bin. Nellie troestet mich oft und sagt: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Es ist keiner Meister von der Himmel gefallen, fang' nur an, du wirst schon lernen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Aber ich habe angefangen und doch nichts gelernt. Ich weiss nur, dass ich sehr, sehr dumm bin. Am fuerchterlichsten sind die Mittwoch Nachmittage. Da sitzen wir alle von drei bis fuenf in dem Speisesaale. Die Fenster nach dem Garten sind weit offen und ich blicke sehnsuechtig hinaus. Es zuckt mir foermlich in Haenden und Fuessen, dass ich aufspringen moechte, um in den Garten zu eilen - ich darf es nicht, ganz still muss ich dasitzen und muss meine Sachen ausbessern, - Struempfe stopfen und was ich sonst noch zerrissen habe, wieder flicken. Denke Dir das einmal, mein kleines Papachen! Deine arme Ilse muss solche fuerchterliche Arbeiten thun! - Und Fraeulein Guessow sagt, das waer' notwendig, Maedchen muessen alles lernen. Sie war ganz erstaunt, dass ich nicht stricken konnte. Man kauft doch jetzt die Struempfe, das ist ja viel netter, warum muss ich mich unnuetz quaelen? Es wird mir so schwer, die Maschen abzustricken, und ich mache es auch sehr schlecht. Melanie Schwarz, sie ist sehr huebsch, ziert sich aber und stoesst mit der Zunge an, und dann sagt sie immer zu allem: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Furchtbar nett, furchtbar reizend, oder furchtbar scheusslich{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - sie meinte neulich: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du strickst aber furchtbar scheusslich, Ilse.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Du siehst, Pa'chen, ich kann nichts! In den Arbeitsstunden wird einmal franzoesisch, einmal englisch die Unterhaltung gefuehrt. Franzoesisch kann ich mich allenfalls verstaendlich machen, aber englisch geht es sehr schlecht, so schlecht, dass ich mich schaeme, den Mund aufzuthun. Nellie ist gut, sie hilft mir nach und will oft mit mir sprechen, wenn wir allein sind. Du fragst mich, lieber Papa, ob ich schon Freundinnen habe, - ja - Nellie und noch sechs andre Maedchen sind meine Freundinnen, Nellie aber habe ich am liebsten. Wie sie alle heissen, will ich Dir das naechstemal schreiben, auch Dir erzaehlen, wie sie aussehen, heute kann ich mich nicht dabei aufhalten, sonst nimmt mein Brief kein Ende. Eine Schriftstellerin ist auch dabei, das muss ich Dir noch mitteilen. Wenn wir spazieren gehen, naemlich jeden Mittag von zwoelf bis eins und jeden Nachmittag von fuenf bis sieben, gehe ich fast immer mit Nellie in einer Reihe. Wir muessen naemlich wie die Soldaten zwei und zwei nebeneinander marschieren. Eine Lehrerin geht voran, eine hinterher mit einer kleinen Pensionaerin an der Hand. Nicht rechts, nicht links duerfen wir gehen, immer in Reih' und Glied bleiben. Ach! und ich habe so oft Lust, einmal recht toll davonzulaufen, auf die Berge hinauf - immer weiter! - aber dann wuerde ich nicht wieder in mein Gefaengnis zurueckkehren - - In die Kirche gehen wir einen Sonntag um den andern, dort gefaellt es mir aber gar nicht. Ich sitze zwischen so viel fremden Leuten, und der Prediger, ein ganz alter Mann, spricht so undeutlich, dass ich Muehe habe, ihn zu verstehen. In Moosdorf ist es viel, viel huebscher! Da sitzen wir eben in unsrem Kirchstuhle und wenn ich hinunter sehe, kenne ich alle Menschen. Und wenn unser Herr Kantor die Orgel spielt und die Bauernjungen so laut und kraeftig anfangen zu singen - und mein lieber Herr Prediger besteigt die Kanzel und predigt so schoen zu Herzen, dann ist es mir so feierlich, so ganz anders als hier! - ach, und manchmal, wenn die Sonnenstrahlen durch das bunte Kirchenfenster fallen und so schoene Farben auf den Fussboden malen, dann ist es so herrlich, so herrlich, wie nirgendwo auf der ganzen Welt!" [Illustration] Hier musste Ilse mitten im Lesen innehalten und eine Pause machen. Der Gedanke an die Heimat und die Sehnsucht dahin ueberwaeltigten sie dermassen, dass sie weinen musste. Erst als ihre Thraenen wieder getrocknet waren, las sie zu Ende. "Gruesse nur alle, du einziger Herzenspapa, auch die Mama; das Tagebuch, das sie mir mit eingepackt hat, kann ich nicht gebrauchen, ich habe keine Zeit, etwas hineinzuschreiben. Aber ich bedanke mich dafuer. Nun leb' wohl, mein lieber, suesser, furchtbar netter Papa. Ich kuesse Dich hunderttausendmal. Bitte, gieb auch Bob einen Kuss und gruesse Johann von Deiner Dich unbeschreiblich liebenden Tochter _Ilse_. _N. S._ Ich will gern Zeichenunterricht nehmen bei dem Herrn Professor Schneider, ich darf doch? Morgen fange ich an. _N. S._ Beinah haette ich vergessen, Dir zu schreiben, dass Du mir doch eine Kiste mit Kuchen und Wurst schickst. Nellie ist immer so hungrig, wenn wir des Abends im Bette liegen und ich auch. _N. S._ Lieber Papa, ich kriege immer so viel Schelte, dass ich so ungeschickt esse, schreibe mir doch, ob das nicht sehr unrecht ist. Der Mama sage nichts hiervon. Deine Hand drauf! - Fraeulein Guessow habe ich sehr lieb." - Gerade sassen Ilses Eltern mit dem Prediger zusammen auf der Veranda am Kaffeetische, als ihr langer Brief eintraf. Der Oberamtmann las ihn vor und wurde bei einigen Stellen so geruehrt, dass er kaum weiter zu lesen vermochte. "Ich moechte das arme Kind zurueckhaben," sagte er, nachdem er zu Ende gelesen, "es fuehlt sich ungluecklich, und ich sehe nicht ein, warum wir unsrer einzigen Tochter das Leben so verbittern sollen. Was meinst du, Annchen, und Sie, lieber Vollert, waer' es nicht besser?" Der Prediger durchlas noch einmal den Brief, faltete ihn wieder zusammen und machte ein hoechst zufriedenes Gesicht. "Ich bin nicht Ihrer Meinung," entgegnete er, "ja ich wuerde das fuer eine Suende halten. Ilse ist bereits auf dem Wege einzusehen, dass sie noch vieles lernen muss, sie vergleicht sich mit den Genossinnen und erkennt ihre Fehler, die Luecken in ihrem Wissen. Wir haben schon mehr erreicht in dieser kurzen Zeit, als ich mir gedacht habe." "Das Heimweh ist ja natuerlich," fiel Frau Anne ein, "bedenke nur, wie schwer es einem an die Freiheit gewoehnten Wesen werden muss, sich ploetzlich in den Schulzwang zu fuegen! Die Regelmaessigkeit des Instituts ist ihrer ungebaendigten Natur zuwider; zu Ilses Glueck, sie wird sich fuegen lernen, ihre Wildheit abstreifen und ein liebes, herziges Maedchen sein." Der Oberamtmann war verstimmt, dass man ihn nicht verstand. Weder der Prediger noch Frau Anne ueberzeugten ihn mit ihren Vernunftgruenden. Er urteilte eben nur mit seinem weichen Herzen, und das litt sehr bei dem Gedanken an sein heimwehkrankes Kind. Ilses Wuensche wurden natuerlich alle erfuellt und zwar umgehend: Es musste Kuchen gebacken und die schoenste Wurst, nebst einem Stueck Schinken aus der Rauchkammer geholt werden. Der Oberamtmann packte selbst die kleine Kiste und legte noch allerhand Leckereien mit hinein. "Not soll sie wenigstens nicht leiden," sagte er zu seiner Frau, die ihm laechelnd zusah. "Junge Menschen, die noch wachsen, haben immer Hunger. Wenn der Magen knurrt, muss er sein Teil haben; der beruhigt sich nicht, wenn man zu ihm sagt: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Warte nur bis es zwoelf schlaegt oder Morgen oder Abend ist, dann bekommst du etwas.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" Frau Anne haette gern erwidert, dass es viel besser sei, den Magen an regelmaessige Mahlzeiten zu gewoehnen, als zu jeder Tageszeit zu essen, aber sie schwieg. Sie dachte mit Recht, dass mit der Zeit Ilse von selbst von dieser Untugend zurueckkommen werde. * * * Es war an einem Mittwoch Nachmittag im Monat August. Die erwachsenen Maedchen der Pension sassen im Speisezimmer beisammen, stopfend, flickend oder mit anderen Arbeiten dieser Art beschaeftigt. Es war sehr heiss und gewitterschwuel, und durch die geoeffneten Fenster drang kein erfrischender Luftzug. Ilse hielt ihren Strickstrumpf in der Hand und quaelte sich, Masche auf Masche abzuheben. Es machte ihr Muehe mit den heissen, feuchten Fingern. Die Nadeln sassen so fest in den Maschen, dass sie kaum zu schieben waren. Sie gluehte wie eine Rose bei ihrer sauren Arbeit, und der graue Strumpf, der eigentlich weiss sein sollte, wurde oefters aus der Hand gelegt. Nun fielen auch noch einige Maschen herunter, und Fraeulein Guessow, die anwesend war, forderte Ilse auf, einmal zu versuchen, ob sie dieselben nicht allein wieder aufnehmen koenne. "Ich kann das nicht," sagte Ilse, "die Nadeln kleben so, ich mag sie nicht mehr anfassen." "Wasche dir die Haende," riet Fraeulein Guessow, "dann wird es besser gehen." "Das hilft nicht," erwiderte Ilse unmutig und legte das Strickzeug vor sich hin. Die Maedchen lachten, und Grete, die ihr gegenuebersass, nahm es vorwitzig in die Hand, um den Fehler zu verbessern. Ilse nahm es ihr fort. "Lass liegen," sagte sie, "es ist mein Strumpf!" Ehe noch Fraeulein Guessow sie wegen ihres unpassenden Wesens zurechtweisen konnte, trat Fraeulein Raimar in das Zimmer. Sie ging von einer Schuelerin zur andern und pruefte deren Arbeiten, sie that dies zuweilen, um sich an den Fortschritten zu erfreuen, oder auch zu tadeln, wenn es noetig war. "Nun, wie steht es mit dir, Ilse?" fragte sie. "Hast du deinen Strumpf bald fertig? Zeige ihn einmal her." Ilse that, als habe sie die Aufforderung nicht verstanden, sie schaemte sich ihrer schmutzigen Arbeit. "Ich will dein Strickzeug sehen, Ilse, hast du mich nicht verstanden?" Etwas streng und hart klangen die Worte der Vorsteherin, und nun war es Trotz, weshalb sie den Gehorsam versagte. Aufgebracht ueber diesen Widerstand nahm Fraeulein Raimar ihr den Strumpf unsanft aus der Hand. "Ich bin gewoehnt, dass meine Schuelerinnen mir gehorchen und du wagst es, dich zu widersetzen? - Seht einmal Kinder," fuhr sie fort und hielt mit spitzen Fingern das Strickzeug in die Hoehe, "was sagt ihr zu dieser Arbeit? Sieht sie wohl aus, als ob sie einem erwachsenen Maedchen angehoere? Schaeme dich! Niemals wieder will ich ein so unsauberes Strickzeug sehen." Aller Augen waren auf dasselbe gerichtet, und einige Pensionaerinnen glaubten sich durch die Frage der Vorsteherin berechtigt, ein Wort mitzureden. Die vorlaute Grete meinte, dass ihre kleine fuenfjaehrige Schwester daheim weit besser und sauberer stricke, ihr Strumpf saehe wie Schnee gegen Ilses aus, sie duerfe aber auch niemals mit schmutzigen Haenden stricken. Die aesthetische Flora verglich das faconlose Ding mit einem Kaffeebeutel, ein Vergleich, der Annemie so in das Lachen brachte, dass sie sich gar nicht wieder beruhigen konnte. Was in diesem Augenblicke in Ilses Innerem vorging, ist schwer zu beschreiben. Sie sah sich verlacht und verspottet von allen Seiten und durfte sich nicht dagegen verteidigen. Ihr heisses Blut, ihre unbaendige Natur baeumten sich mit aller Macht auf gegen die, wie sie glaubte, ihr oeffentlich angethane Schmach. Sie geriet in eine so blinde Wut, wie sie bis jetzt noch niemals empfunden hatte, sie ballte die Haende und biss hinein, ihre Augen fuellten sich mit heissen, trotzigen Thraenen. Fraeulein Raimar hatte bereits das Zimmer verlassen, doch die Thuer desselben hinter sich offen gelassen, sie hielt sich noch auf dem Korridor auf. Welchen Aufruhr sie in Ilse heraufbeschworen, ahnte sie nicht, sie wuerde ihn auch schwerlich begriffen haben, glaubte sie doch fest, durch eine oeffentliche Beschaemung Ilses Widerstand ein fuer allemal geheilt zu haben. Wie wenig verstand sie ein leidenschaftliches Gemuet! Gerade das Gegenteil hatte sie hervorgerufen. Ilses wilder Trotz stand in lichterlohen Flammen. "Neckt sie nicht!" gebot Fraeulein Guessow, die Ilse besser verstand. "Ich will nicht, dass ihr sie auslacht!" Und Nellie, die einzige, welche mitleidig dem ganzen Auftritt zugesehen, nahm gutmuetig den verachteten Strumpf in die Hand, um ihn wieder in Ordnung zu bringen. "Lass!" rief Ilse und ihr ganzer Grimm entlud sich auf Nellies unschuldiges Haupt, "lass! Was kuemmern dich meine Sachen?" "Gieb doch her," bat diese sanft, "ich mach' dich alles wieder gut." Aber Ilse hoerte nicht darauf und riss es Nellie aus der Hand, und ehe noch diese sie zurueckhalten konnte, warf sie im hoechsten Zorne das unglueckselige Strickzeug gegen die Wand. Die Nadeln schlugen klirrend aneinander und das Knaeuel kollerte weit fort, zur offnen Thuer hinaus, bis zu den Fuessen der Vorsteherin. Vielleicht haette dieselbe kein Arg an diesem kleinen Zufall gefunden, wenn nicht zu gleicher Zeit laute Ausrufe wie "Ah!" und "o!" ihr Ohr getroffen und ihr verkuendet haetten, dass etwas Unerhoertes passiert sein muesse. "Was giebt es?" fragte sie hastig eintretend. Sie erhielt keine Antwort; aber ihr Blick fiel auf das Strickzeug am Fussboden und sie erriet das Ganze. "Warfst du es absichtlich hierher?" richtete sie an Ilse die Frage, und ihre Stimme bebte vor Aufregung, in ihren stets so ruhig blickenden Augen blitzte es unheimlich auf. - "Antworte - ich will es wissen!" "Ja," sagte Ilse. "Komm hierher und nimm es wieder auf!" Die Heftigkeit der Vorsteherin machte Ilse nur verstockter, sie ruehrte sich nicht. "Hast du verstanden, was ich dir befahl? Glaubst du mir trotzen zu koennen? Ich verlange, dass du mir gehorchst!" "Nein," entgegnete Ilse zum Entsetzen der anwesenden Pensionaerinnen, "ich thue es nicht!" Fraeulein Guessow sah die Widerspenstige traurig und bekuemmert an. Nicht Zorn, nur Mitleid empfand sie mit derselben. "Wenn ich dich aendern koennte! Wenn es mir gelaenge, dich auf einen andern Weg zu bringen, armes, verblendetes Kind!" dachte sie und beschloss, nichts unversucht zu lassen, um Ilse von ihrem boesen Fehler zu heilen. Solange sie Vorsteherin des Pensionats war, hatte Fraeulein Raimar niemals Aehnliches erlebt. Trotz ihrer stets so massvollen Ruhe war sie fuer den Augenblick fassungslos und ungewiss, was mit Ilse geschehen solle. "Geh auf dein Zimmer," befahl sie kurz, "und bleibe dort! Das andre wird sich finden." Ilse erhob sich und ging hinauf. Nachdem sie in ihrem Zimmer angelangt, brach der furchtbare Sturm, den sie muehsam zurueckgehalten hatte, los. Sie warf sich auf einen Stuhl und weinte laut. Stuermisch rief sie nach ihrem Papa, dass er komme und sie holen moege - klagte die Mama an, die sie in diese fuerchterliche Anstalt gebracht - kurz fuehlte sich verzweifelt und verlassen, wie nie im Leben. Allerhand Gedanken jagten durch ihren Kopf, der zum Zerspringen brannte, kindisch und unausfuehrbar. Zuerst wollte sie davonlaufen, - wohin war ihr gleich, nur fort, damit sie die boese Vorsteherin, die stets einen Aerger auf sie gehabt, und die abscheulichen Maedchen, die sie verhoehnt hatten, von denen keine sie lieb hatte, nicht wieder sehe - niemals! Kein Mensch mochte sie leiden, nur der Papa. O, wenn sie gleich bei ihm waere! Der Gedanke, dass sie zurueck muesse nach Moosdorf, behielt die Oberhand. Sie fing an, ihre Sachen aus der Kommode zu raeumen und war eben im Begriff, das Maedchen zu beauftragen, ihr den Koffer vom Boden herabzuholen, als Nellie und gleich darauf Fraeulein Guessow in das Zimmer traten. Erstaunt blickte letztere auf die umherliegenden Sachen. "Nun, Ilse, was soll denn das bedeuten?" fragte sie. Anstatt zu antworten vergrub Ilse das Gesicht in beiden Haenden und schluchzte laut. Fraeulein Guessow liess sie einige Augenblicke gewaehren, dann zog sie ihr leise die Haende vom Gesicht. "Beruhige dich, Kind," sprach sie in sanftem Tone, "dann will ich mit dir reden." "Ich kann nicht! Ich will fort!" stiess Ilse leidenschaftlich heraus. "Du musst dich beherrschen, Herz. Ich glaube gern, dass es dir schwer wird, dein trotziges Ich zu zaehmen, aber du musst es thun, es ist notwendig. Siehst du nicht ein, Ilse, wie unrecht, wie ungezogen du gehandelt hast?" Diese schuettelte den Kopf. "Sie haben mich alle gereizt," entgegnete sie abgebrochen schluchzend - "Fraeulein Raimar hat mich so furchtbar blamiert - alle haben mich ausgelacht!" Fraeulein Guessow hatte das Gefuehl, als sei es besser gewesen, wenn die Vorsteherin ihren berechtigten Tadel in einer andern Weise ausgesprochen haette, - doch das war nun einmal geschehen und nicht zu aendern. "Du irrst," entgegnete sie, "nicht Fraeulein Raimar, sondern du selbst hast dich laecherlich gemacht. Denke einmal zurueck, wie du dich benommen hast. - Uebrigens," fuhr sie fort, "du darfst nicht so trostlos sein und dir nicht allzuschwere Gedanken darueber machen. Wenn du morgen verstaendig bist, ist alles vergessen. Die Maedchen haben dich alle lieb." "Nein, nein," rief Ilse, "mich hat niemand lieb! Ich weiss es wohl! - Ich bin dumm und ungeschickt und ich will fort - zu meinem Papa!" "Wenn du so sprechen willst, Ilse, dann verlasse ich dich. Du weisst, wie sehr ich dich lieb habe, dergleichen kindische Reden aber will ich nicht von dir anhoeren. Soll ich gehen? - willst du vernuenftig sein?" - Ilse schwieg und die junge Lehrerin wandte sich der Thuer zu. Als sie im Begriffe war dieselbe zu oeffnen, eilte Ilse auf sie zu. "Bitte, bleiben Sie," bat sie und hielt sie an der Hand fest. "Von Herzen gern, wenn du mich ruhig anhoeren willst." Sie setzte sich auf einen Stuhl am Fenster und nahm Ilse in den Arm. "Wie heiss du bist, du boeser Trotzkopf," sagte sie und streichelte ihr liebevoll die erhitzten Wangen. "Nellie, gieb Ilse ein Glas Wasser." Die Angeredete hatte stumm und still am andern Fenster gelehnt und der Freundin lautes Schluchzen mit heimlichen Thraenen begleitet, jetzt sprang sie hinzu und reichte das Gewuenschte. "Trink einer kuehle Schluck, er wird dir ruhig machen," redete sie herzlich zu. "Du musst nie wieder sagen, dass wir dir nicht liebten, du boese, boese Ilse! - Nicht mehr weinen darfst du, komm, ich mache deine Gesicht kalt." Und sie tauchte einen Schwamm in das Wasser und kuehlte damit Ilses brennende Augen und Wangen. "Nun, mein Kind," fragte Fraeulein Guessow, als Ilse sich etwas beruhigt hatte, "was gedenkst du zu thun?" "Ich muss heute noch abreisen," entgegnete sie, "hier bleiben kann ich nicht." "Also noch immer moechtest du mit deinem Kopfe die Wand einstossen. Der Gedanke, dass du nachgeben musst, dass es an dir ist, um Verzeihung zu bitten, kommt dir gar nicht in den Sinn! Du hast Fraeulein Raimar bitter gekraenkt, denkst du nicht daran, sie wieder zu versoehnen? Sprich!" "Nein," rief Ilse und warf den Kopf zurueck, "Fraeulein Raimar hat mich beleidigt und furchtbar gekraenkt! Ich bitte sie nicht um Verzeihung! Noch niemals habe ich jemand um Verzeihung gebeten - und ich thue es auch jetzt nicht! Nein!" Das war wieder ein trotziger, boeser Ausfall von ihr, dennoch verlor Fraeulein Guessow nicht die Geduld, sie blieb ruhig und sanft. "Du batest niemals um Verzeihung, Ilse? Das wundert mich; aber du hast deinem Papa ein gutes Wort gegeben, wenn du unartig warst und er dir zuernte." "Meinem Papa!" wiederholte Ilse und sah hoechst erstaunt die junge Lehrerin an. "Niemals hat er mir gezuernt, er war immer, immer gut, ich konnte machen, was ich wollte." "So," sprach Fraeulein Guessow und meinte jetzt den Schluessel zu Ilses Eigensinn in des Vaters zu grosser Nachgiebigkeit gefunden zu haben. "Und die Mama, war auch sie stets damit zufrieden, was du thatest, - kraenktest du sie niemals? Sage einmal aufrichtig." Ilse blickte nachdenklich vor sich hin. Sie konnte nicht leugnen, sie hatte dieselbe oftmals durch ihren Widerstand gekraenkt. "Ich glaube, dass ich es that," sagte sie zoegernd. "Und dann sagtest du: vergieb mir, liebe Mama, nicht wahr?" Ilse schuettelte den Kopf. "Nein," sagte sie, "niemals habe ich das gethan. Mama hat es auch gar nicht von mir verlangt, sie weiss, dass ich einmal nicht bitten kann." "Ein Kind muss bitten koennen! Und ein Maedchen vor allem. O Ilse! Auch du musst es lernen, noch ist es nicht zu spaet!" sprach Fraeulein Guessow sehr erregt. "O Ilse, wenn doch meine Worte es vermoechten, dich so recht aus deiner Verblendung aufzuruetteln! Lerne nachgeben, mein Kind, lerne vor allem dich beherrschen! Thust du es nicht, so nimmt das Leben dich in seine harte Schule und bereitet dir viel Herzeleid und Kummer. Glaube mir, Trotz und Widerstand sind boeses Unkraut in einem Maedchenherzen, und oftmals ueberwuchern sie die besten, heiligsten Gefuehle! Geh' hinunter, Kind, bitte Fraeulein Raimar um Vergebung. Ueberwindest du heute deinen harten Sinn, so hast du gewonnen fuer alle Zeit!" Sie hatte warm und eindringlich gesprochen, und in ihren braunen Augen standen Thraenen. Ilse war auch seltsam ergriffen von ihren Worten, aber Abbitte thun, - das konnte sie trotzdem nicht. "Ich kann es nicht," sagte sie zoegernd, aber bestimmt. "Du willst nicht, aber du musst," entgegnete Fraeulein Guessow im hoechsten Grade erregt. "Gott! giebt es denn kein Mittel, dass ich dich von deinem Starrsinn heilen kann!" - "Komm, setze dich zu mir," fuhr sie ruhiger fort, "ich will dir eine wahre Geschichte von einem trotzigen, widerspenstigen Maedchenherzen erzaehlen, das sein Lebensglueck einer kindischen Laune opferte, und wenn du dann noch sagen wirst: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich kann nicht,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} dann gehe hin und folge deinem harten Kopfe, - ich werde nie wieder den Versuch machen, ihn zu beugen ..." Noch niemals hatte jemand in einem so ueberzeugenden Tone zu Ilse gesprochen, derselbe verfehlte seine Wirkung nicht. Willig und gehorsam setzte sie sich der jungen Lehrerin gegenueber und sah erwartungsvoll und gespannt auf sie. Der haessliche, trotzige Ausdruck schwand aus ihrem Gesichte und wer sie jetzt sah, wuerde nicht geglaubt haben, dass diese Ilse und die andre, die sich vor kaum einer Stunde so wild und unbaendig betragen, ein und dieselbe sei. Fraeulein Guessow hatte den Kopf auf das Fensterbrett gestuetzt und blickte gedankenvoll hinaus in den Garten. Ihr blasses Gesicht hatte sich leicht geroetet und um den Mund lag ein schmerzlicher Zug. Es schien fast, als ob ein heftiger Kampf in ihr arbeite, als ob es ihr schwer werde, mit dem ersten Worte zu beginnen. Ploetzlich erhob sie sich. "Es ist hier so drueckend und schwuel," sagte sie und oeffnete die Fensterfluegel. Ein erquickender Luftzug stroemte ihr entgegen, ein Gewitter war im Anzuge. Sausend fuhr der Wind durch die Wipfel der Baeume, in der Ferne grollte der Donner. "Wie das wohl thut," fuhr sie mit einem tiefen Atemzuge fort, "die Hitze lag mir schwer wie Blei auf der Brust. - Wie alt bist du, Ilse?" unterbrach sie sich ploetzlich wie in halber Zerstreuung. "Im naechsten Monat werde ich sechzehn Jahre." "Sechzehn Jahre!" wiederholte die Lehrerin, "dann bist du alt und auch verstaendig genug, denke ich, die traurige Geschichte meiner Jugendfreundin zu begreifen. Hoer' zu. "Es war einmal ein junges, froehliches Menschenkind, das mit seinen sechzehn Jahren die Welt zu erstuermen meinte. Vater und Mutter waren ihm frueh gestorben und so kam es, dass die kleine Waise zu der Grossmutter gegeben wurde, die sie erzog und von Grund auf verzog. Lucie, so wollen wir das Maedchen nennen, hatte nie gelernt zu gehorchen oder sich zu fuegen, sie erkannte nur einen Willen an, und das war der eigene. Das war sehr schlimm fuer sie, denn bei manchen guten Eigenschaften des Herzens besass Lucie einen haesslichen Fehler, den Trotz. "Anstatt denselben durch unerbittliche Strenge schon in der Kindheit zu zuegeln, pflegte ihn die Grossmama durch allzugrosse Nachsicht. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Warum soll ich dem Kinde nicht seinen Willen thun?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} fragte sie, wenn man sie zuweilen auf ihre Schwaeche aufmerksam machte, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ist es nicht schlimm genug, dass es keine Eltern hat? Ich kann es nun einmal nicht traurig sehen.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" "War Lucie huebsch?" fragte Nellie, die sich hinter Ilses Stuhl gestellt und den Arm um deren Schulter gelegt hatte. "Ich glaube wohl," entgegnete die Angeredete und erroetete leicht, "wenigstens hat man es dem erwachsenen Maedchen oftmals gesagt. Doch das ist Nebensache - hoert mich weiter an. "Die Grossmutter besass ein herrliches Landhaus, dessen Park sich an einen bewaldeten Bergesabhang lehnte. Man durfte nur eine kleine Pforte, die sich am Ausgange des Grundstueckes befand, durchschreiten und befand sich im schoensten Walde, den ihr euch denken koennt. "Selten kamen Spaziergaenger aus dem nahen Staedtchen dorthin, desto oefter benutzte Lucie die kleine Ausgangspforte, durchstreifte den Wald bis an die Spitze des Berges, oder was sie noch haeufiger that, sie lagerte sich an irgend einem versteckten Platze. So im weichen, schwellenden Moose zu liegen, ein gutes Buch zu lesen und darueber die Welt zu vergessen, - das war die hoechste Wonne ihres Lebens. "Eines Tages hatte sie wieder ihren Lieblingsplatz am Fusse einer Eiche aufgesucht. Die Luft war heiss und schwuel und doppelt wohlthuend empfand sie die Waldeskuehle. Sie streckte die schlaffen Glieder im Moose aus und blickte hinauf in das gruene Blaetterdach. Nicht lange, dann oeffnete sie das mitgebrachte Buch und las. So vertieft war sie bald in den Inhalt desselben, dass sie der Gegenwart ganz entrueckt war. - "Eine maennliche Stimme schreckte sie ploetzlich auf. Aergerlich ueber die Stoerung blickte sie auf und sah in das laechelnde Antlitz eines jungen Mannes, der mit Pinsel und Palette in der Hand vor ihr stand. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ein wunderbares Bild!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief er aus. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wahrlich, ich haette Lust, dasselbe zu malen! Bleiben Sie in der Stellung,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} bat er, als Lucie sich schnell erheben wollte, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}nur wenige Augenblicke! Aber so boese duerfen Sie nicht aussehen, - nein, ich bitte, wieder derselbe Zug von Spannung um den Mund, - dasselbe erwartungsvolle Laecheln - bitte!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Was faellt Ihnen ein?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief Lucie aufgebracht und erhob sich mit einem Sprunge. Dabei fiel ihr das Buch aus der Hand. "Er kam ihr zuvor, als sie sich schnell darnach buecken wollte; doch ehe er es ihr ueberreichte, las er das Titelblatt. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Werthers Leiden{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, bemerkte er und lachte lustig. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Dacht' ich es doch! Natuerlich verbotene Lektuere, die in der Waldeinsamkeit verschlungen wird! Oder hat der Herr Papa vielleicht Ihnen diese gefaehrliche Geschichte erlaubt?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Lucie entriss ihm das Buch, aber sie wurde ueber und ueber rot. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich verbitte mir Ihre Bemerkungen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} entgegnete sie zornig. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wer hat Ihnen erlaubt, mich zu beobachten?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich nahm mir selbst die Freiheit,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte er sich verbeugend, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}und bitte dafuer um Verzeihung. Ein Zufall brachte mich in Ihre Naehe, dort jene Buchengruppe war ich im Begriffe zu malen, - da erblickte ich Sie, und koennen Sie mir verdenken, dass ich dem Zauber nicht widerstehen konnte, Sie zu betrachten?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Sie gab keine Antwort, ja sie gruesste nicht einmal, als sie eilig davon ging. Sie empfand Unwillen und Aerger ueber den Aufdringlichen und doch - gefiel er ihr." - "War er ein schoen Mann?" fragte Nellie. "Ja, er war schoen und klug und gut. Von den letzteren Eigenschaften konnte Lucie sich bald ueberzeugen, denn der Maler machte unter irgend einem Vorwande einen Besuch in der Grossmutter Hause. "Wie bald er der Liebling derselben, wie er nach und nach taeglicher Gast bei ihr wurde und wie er endlich der trotzigen Lucie Herz gewann, das kann ich euch nicht erzaehlen, nur so viel, dass sie eines Tages seine Braut war. "Es war ihm nicht leicht geworden, ihr Jawort zu erringen, denn wenn er heute glaubte, dass sie ihn gern moege, war er morgen vom Gegenteil ueberzeugt. Wenn er im Begriffe war, sie zu fragen: hast du mich lieb? reizte sie ihn gerade durch Trotz und Widerstand, und das Wort erstarb ihm auf den Lippen. "Endlich trug er den Sieg davon. An ihrem achtzehnten Geburtstage war es, als sie mit ihm vor die Grossmama trat und jubelnd ausrief: "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich bin Braut!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Nun, glaubt ihr, Lucie ist eine andre geworden? Das Glueck und die Liebe haben sie nachsichtiger gestimmt, nicht wahr, ihr glaubt, das koenne nicht anders sein? - Wie seid ihr im Irrtum! Das Gegenteil war der Fall. Ihr Widerstand trat gegen den Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, oftmals heftiger hervor, als je vorher. "Welche Muehe gab er sich, sie von diesem Fehler zu heilen, wie eindringlich und liebevoll stellte er ihr die Folgen desselben vor; sie hoerte ihn an und versprach sich zu bessern, - aber ihr Wort hielt sie nicht, - - leider! - Haette sie es gethan, wie viel Kummer und Herzeleid haette sie sich erspart!" Einen Augenblick hielt die junge Lehrerin inne, ein scharfer Beobachter haette ihr ansehen koennen, wie schwer es ihr wurde, die Geschichte weiter zu erzaehlen, - die jungen Maedchen indessen merkten nichts davon. Sie glaubten, die Heftigkeit des Gewitters habe die Pause hervorgerufen. "O bitte, fahren Sie fort," bat Nellie, deren Augen vor Entzuecken glaenzten; niemals bis jetzt hatte das Fraeulein aehnliches erzaehlt, "bitte, weiter! O, ich bin zu gierig, weiter zu wissen!" Ilse sass still und sinnend da. Was sie da hoerte, beruehrte eine verwandte Saite in ihr, oftmals hatte sie das Gefuehl, als ob das junge Maedchen nicht Lucie, sondern Ilse geheissen habe. - "Lucies Brautzeit neigte sich zu Ende," fuhr Fraeulein Guessow fort, "in vier Wochen sollte die Hochzeit sein. An dem Morgen eines herrlichen Maitages sass das Brautpaar auf der Veranda vor dem Hause und traeumte sich in die Zukunft hinein. Es wurde eine Reise nach der Schweiz und Italien geplant, - den ganzen Sommer wollten sie umherschweifen, und wo es ihnen am schoensten gefiel, dort wollten sie fuer den Winter ihr Nest bauen. "Der Himmel woelbte sich hoch und blau ueber ihnen, die Fruehlingssonne lachte sie freundlich an, - ringsum bluehte, duftete und zwitscherte es, kein Misston stoerte das wunderbare Lenzesleben. "Lucie machte Plaene und malte sich aus, wie sie leben und wie sie sich einrichten wollten. Sie hing am Aeusseren und hatte eine lebhafte Phantasie, da war es denn am Ende ganz natuerlich, dass ihre Wuensche und Hoffnungen bis an den Himmel reichten. "Er hatte ihrem Geplauder laechelnd gelauscht, ohne sie zu unterbrechen. Da gab ihm ein ungluecklicher Zufall die Frage ein: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wie wuerdest du es ertragen, Lucie, wenn wir uns ganz einfach einrichten muessten, wenn wir nicht reisen koennten - wenn wir wenig Mittel haetten, - mit einem Worte, wenn die Not an uns herantreten wuerde?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Die Not?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} fragte sie erstaunt und sah ihn beinahe entsetzt an. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Das waere furchtbar!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du giebst mir keine Antwort auf meine Frage, liebes Herz. Ich meine, ob deine Liebe zu mir so stark sein wuerde, dass du ohne Klage auch ein armseliges Los mit mir teilen wuerdest?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - "Es verdross sie, dass Curt, so hiess der Maler, durch unnuetze Fragen einen Missklang in ihre frohe Stimmung brachte. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Lass doch den Unsinn!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} wehrte sie ab, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}wir werden nie in solche Lage kommen. Ich bin reich und deine Bilder werden hoch bezahlt.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Man kann nicht wissen, was in den Sternen fuer uns geschrieben steht,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} entgegnete er ernst. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du koenntest zum Beispiel dein Vermoegen verlieren, - und ich - nun wenn ich krank wuerde und nicht malen koennte?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Warum quaelst du mich mit allerhand dummen Moeglichkeiten, Curt,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte sie ungeduldig. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich antworte dir nicht auf solche Fragen.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Und sie wandte sich halb von ihm ab. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du sprichst jetzt gegen deine bessere Ueberzeugung, du kleine Widerspenstige,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte er halb ernst, halb scherzhaft. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich weiss, du wirst mir ganz bestimmt meine Gewissensfrage beantworten, ich weiss auch, meine Lucie wuerde den Mut haben, ein sorgenvolles Leben mit mir zu teilen, wie sie meine Gefaehrtin in Glueck und Wohlstand werden wollte. Nicht wahr? Du siehst ein, Liebling, dass ich von meiner zukuenftigen Frau das verlangen kann?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Das sehe ich nicht ein!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief Lucie sehr entruestet und entzog ihm ihre Hand, die er liebevoll ergriffen hatte. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Armselige Verhaeltnisse wuerden mich ungluecklich machen - ja, ungluecklich machen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} wiederholte sie, als er sie zweifelnd ansah, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}lieber wuerde ich gar nicht heiraten!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Er wurde blass bei ihren Worten, aber noch wollte er nicht an den Ernst derselben glauben. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Hast du mich lieb, Lucie?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} fragte er sie. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ja, aber in einer Huette bei Salz und Brot mag ich nicht mit dir wohnen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Kein {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Aber{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, Lucie. Hast du mich lieb? Sage ja und nimm zurueck, was du gesagt hast.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nein!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief sie entschieden und sprang von ihrem Platze auf. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nichts nehme ich zurueck! Was ich gesagt habe, ist meine wahre Meinung!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Lucie!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief er erregt, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}besinne dich! Es ist nicht wahr, du denkst nicht wie du sprichst! Dein Widerspruch gab dir die Worte ein ....! Nimm sie zurueck, Herz!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} und flehend blickte er ihr in das Auge. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du irrst,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} entgegnete sie mit scheinbarer Kaelte, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}nicht aus Widerspruch, sondern mit voller Ueberzeugung sagte ich dir meine Ansicht.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nein, nein! Ich kann's, ich will's nicht glauben! - Komm her, sieh' mich an. Deine Augen sollen mir die Antwort geben, ich weiss, dass sie nicht luegen koennen. - Du liebst mich? Ja? Nicht wahr, du hast mich lieb?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} wiederholte er noch einmal dringend - {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}und du nimmst zurueck, was du gesagt?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ungluecklicherweise hatte die Grossmama auf der entgegengesetzten Seite der Veranda gesessen und war so eine stumme Zeugin dieser Scene geworden. Aengstlich erhob sie sich und trat dem jungen Paare naeher. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Sie duerfen Lucie nicht so uebel nehmen, was sie sagt, lieber Curt,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sprach sie beruhigend, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}es kommt ihr nicht vom Herzen, glauben Sie mir.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Die alte Frau hatte es gut gemeint, aber sie stiftete Unheil an. Haette sie sich nicht in den Streit gemischt, vielleicht war es besser. Ihre guetigen Worte stachelten Lucies Trotz noch mehr an. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Es kommt mir wohl aus dem Herzen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief dieselbe aufgebracht, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}und ich wiederhole noch einmal: Lieber heirate ich gar nicht, als dass ich Not und Mangel leide!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" - "O, wie hart ist sie!" warf Nellie ein, als Fraeulein Guessow wie erschoepft einen Augenblick innehielt. "Sie war nicht hart, nur verblendet," fuhr diese fort. "Niemals hatte sie gelernt, sich einem andern Willen zu beugen, niemals war sie im stande gewesen nachzugeben. Jetzt, wo das ernste Verlangen ihres Verlobten in aller Entschiedenheit an sie herantrat, ihren Widerstand zu zaehmen, da baeumte derselbe sich dagegen auf und sie unterlag seiner Macht. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ist das dein letztes Wort, - Lucie!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - Wie ein Schrecken kam es ueber seine Lippen. Sie blieb ungeruehrt, wandte sich von ihm und eilte aus dem Zimmer. "Besorgt folgte ihr die Grossmama, aber sie klopfte vergeblich an der verschlossenen Thuere, dieselbe wurde nicht geoeffnet. - "Lucie befand sich in keiner beneidenswerten Stimmung. Es kochte und tobte in ihr und verworrene Gedanken durchzuckten ihr Hirn. War es recht, wie sie gehandelt hatte? {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ja,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} antwortete sie sich darauf, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ich bin im Rechte. Warum schreckt er mich mit den Gespenstern Sorge und Not, warum peinigt er mich damit? Ich will in eine glueckliche Zukunft sehen und er will mir das Herz schwer machen mit Unmoeglichkeiten. Und welch eine wichtige Sache er daraus macht? - Ich soll zuruecknehmen, was ich gesagt habe! Solch ein Verlangen! Abbitte soll ich thun - Abbitte! Und er hat mich doch erst herausgefordert. Er ist an allem schuld.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Aus einem Winkel ihres Herzens meldete sich auch eine Stimme, die ihr zurief: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Gieb nach! Reich' ihm die Hand, oder du hast ihn verloren!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Sie wurde nicht beachtet, und als eine Stunde vergangen war, hatte sie sich so voellig in den Gedanken an ihre Schuldlosigkeit eingelebt, dass sie erwartete, Curt muesse kommen und sie um Verzeihung bitten. "Er kam auch und begehrte Einlass. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Oeffne mir, Lucie,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief er stuermisch, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}es haengt unser Glueck davon ab! Ich muss dich sprechen! - Ich will dich sprechen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Das klang wie ein Befehl, sie schwieg und gab keine Antwort. Wohl klopfte ein guter Engel an ihr Herz und rief ihr warnend zu: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Erhoere ihn und es wird alles gut{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - sie war taub gegen seine Stimme. Ein boeser Geist hielt sie fuer den Augenblick gefangen und trauernd floh ihr guter Engel von dannen. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich will nicht mit dir reden!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} rief sie zurueck, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ich wuesste auch nicht, was du mir noch sagen koenntest!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}So treibst du mich fort von dir, Lucie!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - rief er ausser sich. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Bedenke was du thust! Ich gehe und nicht eher kehre ich zu dir zurueck, bis du mich zurueckrufst: Lebe wohl!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - - "Es waren die letzten Worte, die sie von ihm gehoert hat. "Nach einer in Aufregung durchwachten Nacht brach der naechste Tag an. Der trotzige Aufruhr in Lucies Innern hatte sich gelegt und einer unzufriedenen Stimmung Raum gemacht. Nachzugeben fuehlte sie sich auch heute nicht geneigt, aber sie wollte ihn heute anhoeren, wenn er kam, - und dass er kommen werde, darauf hoffte sie fest. "Aber sie hoffte vergebens. Die Grossmama ueberhaeufte ihre Enkelin mit bitteren Vorwuerfen und forderte sie unter Thraenen auf, sie moege nachgeben. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wird es dir denn so schwer,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte sie, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}dem Manne, dem du in vier Wochen die Hand fuer das Leben geben willst, ein bittendes Wort zu sagen? Ueberwinde dich, Lucie, nimm deine boesen Worte zurueck, oder es giebt ein Unglueck.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich kann nicht, Grossmama. Ich muesste ja abbitten, so verlangt er, und du weisst, ich that es nie! Er kehrt auch ohne meinen Ruf zurueck, du wirst es sehen.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Aber auch der naechste Tag verging und er blieb aus. Lucie befand sich in einer fieberhaften Aufregung und schrak zusammen, sobald sich die Thuer oeffnete. - Am dritten Tage, - es war gegen Abend, sie hatte wieder vergeblich ihn erwartet, da brachte Curts Diener ihr einen Brief. Sie eilte auf ihr Zimmer, um ihn allein und ungestoert zu lesen - es war doch endlich - endlich ein Zeichen von ihm! "Hastig oeffnet sie und in zwei Teile gebrochen fiel ihr Curts Verlobungsring entgegen. Wenige Zeilen nur schrieb er dazu. - Ich will versuchen euch dieselben zu wiederholen," unterbrach sich Fraeulein Guessow, "Lucie hat sie mir oftmals zu lesen gegeben. "Du hast mich nicht zurueckgerufen, - - so sehnsuechtig ich auch darauf gehofft habe. Liebtest Du mich, wie ich Dich, waere es Dir nicht schwer geworden, ein versoehnendes Wort zu sagen. Lebe wohl denn, ich muss von Dir scheiden, Lucie, weil ich Dir nicht versprechen kann, Dir stets Wohlstand und Glueck zu bieten. - - Mit welchem Rechte koennte ich vom Schicksal verlangen, dass mein Leben nur von der Sonne beschienen werde? Leb' wohl, - ich habe Dich sehr geliebt." - "Wie gebrochen sank sie zur Erde nieder und haette vor Schmerz vergehen moegen. Das hatte sie nicht gedacht, - so weit hatte sie es nicht treiben wollen. - Nun war es zu spaet, alle Reue, alle Selbstanklage, brachten ihr den Geliebten nicht zurueck. "Die Grossmama fand Lucie in einem verzweiflungsvollen Zustande, und heimlich, ohne ihr Wissen, schickte sie einen Boten in Curts Wohnung. Er kehrte zurueck mit der Meldung: der Herr sei seit zwei Stunden abgereist. - Sie hatte ihn auf ewig verloren!" - "O, die arm' Lucie! Der schlechter Mensch, warum konnt' er ihr verlassen!" rief Nellie unter Weinen. "Er hat ihr gar nix lieb gehabt." "Er hat sie sehr geliebt," entgegnete die Lehrerin und sah hinaus auf den stroemenden Regen; "aber er war ein ganzer Mann, der Lucies trotzigen Widerstand nicht laenger ertragen konnte." "Und wo ist Lucie geblieben?" "Lucie?" wiederholte Fraeulein Guessow zoegernd, - "ein trauriges Geschick hat sie getroffen. Ein Jahr nach dem Geschehenen verlor die Grossmutter fast ihr ganzes Vermoegen. Die Villa musste verkauft werden und Lucie, das verwoehnte und verzogene Maedchen, war gezwungen, fuer die Zukunft ihr eignes Brot zu verdienen." Ilse sah entsetzt die Lehrerin an. "Ja, ihr Brot zu verdienen," betonte dieselbe. "Das erschreckt dich, nicht wahr? Aber es wurde ihr nicht so schwer, als sie einstmals geglaubt. Seit jenem Tage, da sie das Schwerste erfahren, war eine Aenderung in ihrem Wesen vorgegangen. Still und ernst ging sie einher und ihr uebermuetiges Lachen war verschwunden. - Sie bereitete sich vor, Gouvernante zu werden, und als sie ihr Examen bestanden hatte, ging sie, nachdem sie die Grossmama durch den Tod verloren, nach London. Sie wirkt dort als Lehrerin in einem Institute." "Und der Maler? Hat die arm' Lucie nie gehoert davon?" "Seine Werke hat sie oft in den Galerien bewundert - er selbst blieb verschollen." "Oh wie ein furchtbar trauriges Geschicht' ist das!" rief Nellie. "Es thut mich sehr weh." Und Ilse? Sie sass da, die Haende gefaltet, mit gesenktem Blick. Sie war bis in das Innerste getroffen. Wie Lucie haette auch sie gehandelt, auch sie wuerde es bis zum Aeussersten getrieben, auch sie wuerde ihr Lebensglueck im trotzigen Uebermute geopfert haben. - Noch schwankte sie einen Augenblick, wie im Kampf mit sich selber, dann aber erhob sie sich schnell und ergriff Fraeulein Guessows Hand. "Ich will um Verzeihung bitten," sagte sie in leisem Tone, es war, als ob sie sich scheue, ihre eigenen Worte zu hoeren. Ueber der Lehrerin Gesicht glitt ein Freudenschimmer. Sie nahm die Reuige in den Arm und kuesste sie zaertlich. "Geh' - geh'," sagte sie geruehrt, "und wenn je ein boeser Geist wieder ueber dich kommen will, denk' an Lucies traurige Geschichte." Zoegernd und beklommen stieg Ilse die Treppe hinunter. Vor der Vorsteherin Zimmer blieb sie stehen. Sie konnte sich nicht entschliessen, die Thuer zu oeffnen. Zweimal hatte sie schon die Hand nach dem Druecker ausgestreckt und wieder zurueckgezogen. Es war so furchtbar schwer, die erste Abbitte zu thun. Ob sie umkehre? Einen Augenblick war sie es willens, ja, schon machte sie eine leichte Wendung zurueck, da hoerte sie Fraeulein Guessow die Treppe herabkommen. Sollte dieselbe sie unverrichteter Sache hier finden? Sie haette sich vor ihr schaemen muessen. Mit einem tiefen Atemzuge oeffnete sie die Thuer. [Illustration] Die Vorsteherin sass an ihrem Schreibtische; als sie Ilse eintreten sah, erhob sie sich. Ilses Herz klopfte zum Zerspringen. Als sie das strenge, zuernende Auge Fraeulein Raimars auf sich gerichtet sah, entsank ihr der Mut. Sie versuchte zu sprechen, aber es war ihr unmoeglich, ein Wort hervorzubringen, die Kehle erschien ihr wie zugeschnuert. Es war eine Folterqual, die sie ausstand, und wenn jetzt der Boden unter ihren Fuessen sich ploetzlich geoeffnet und sie haette verschwinden lassen, sie wuerde es fuer eine Wohlthat des Himmels angesehen haben. Aber diese Wohlthat blieb aus, und Ilse stand noch immer wortlos vor der Vorsteherin. Schon regte sich wieder der alte Trotz, der ihr eingab, es ruhig darauf ankommen zu lassen und sich nicht zu beugen - da war es, als ob Lucie sie traurig anblicke, als ob sie ihr mahnend zurief: "Nicht zurueck! Geh' mutig vorwaerts!" "Nun Ilse?" unterbrach Fraeulein Raimar das minutenlange Schweigen. "Was ist dein Begehr?" Ilse machte eine vergebliche Anstrengung zu sprechen und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Abgebrochen und unverstaendlich kam es von ihren Lippen: "Ver-zeih-ung!" Fraeulein Raimar war sehr aufgebracht ueber Ilses Betragen gewesen und sie hatte die Absicht gehabt, ihr eine derbe Lektion dafuer zu geben, als sie indes dieselbe so zerknirscht und reuevoll vor sich stehen sah, wurde sie milder gestimmt. "Fuer diesmal," sagte sie, "will ich dir vergeben, ich sehe, dass du dich selbst mit Vorwuerfen strafst, und dass du zur vollen Erkenntnis deines Ungehorsams gekommen bist. Bessre dich! Betraegst du dich ein zweites Mal in aehnlicher Weise, wuerde ich die strengsten Massregeln ergreifen, das heisst: ich wuerde dich zu deinen Eltern zurueckschicken! - Ich hoffe, du vergisst dich niemals wieder, versprich mir das!" Beinah haette sie sich sofort gegen dieses Versprechen aufgelehnt und geantwortet: "Schicken lasse ich mich nicht! Dann gehe ich lieber gleich zu meinen Eltern," - da war es wieder Lucies warnendes Beispiel, das diese boese Antwort von ihren Lippen scheuchte. Zoegernd und noch immer schluchzend ergriff sie des Fraeuleins Hand. "Nie - wieder!" stammelte sie. Und Fraeulein Raimar war von der Wahrheit ihres Versprechens ueberzeugt und hatte beinah Mitleid mit der Reumuetigen. "Nun geh' und beruhige dich," sagte sie in mildem Tone, "und sehe ich, dass du dich besserst, wird der heutige Tag von mir vergessen sein. -" Als Ilse die Treppe zu ihrem Zimmer wieder hinaufstieg, fuehlte sie sich leicht wie nie im Leben, es war ihr so frei und froh in der Brust, niemals hatte sie eine aehnliche Empfindung gekannt. Es war das Bewusstsein, sich selbst ueberwunden zu haben. - Der Juli und August waren vorueber und man befand sich in den ersten Tagen des September. Ilse hatte sich mehr und mehr in das Pensionsleben eingelebt und fuehlte sich laengst keine Fremde mehr. An vieles, das ihr anfangs unmoeglich erschien, hatte sie sich gewoehnt, ja gewoehnen muessen. Wie haette sie auch vermocht, sich gegen das einmal Bestehende aufzulehnen! Das fruehe Aufstehen, das regelmaessige Arbeiten, die Ordnung und Puenktlichkeit, die streng innegehalten wurden, - schwer genug hatte sie sich in all diese Dinge gefunden, und wer weiss, ob sie es ueberhaupt je gethan haette, wenn Nellie nicht wie ein guter Geist ihr stets zur Seite gestanden haette. Mit ihrer froehlichen Laune half sie der Freundin ueber manche Schwierigkeit hinweg und oft verstand sie es, durch ein Wort, ja durch einen Blick dieselbe zu zuegeln, wenn sich die alte Heftigkeit melden wollte. Eine heftige Szene hatte sie uebrigens nicht wieder herbeigefuehrt. Fraeulein Guessows Erzaehlung war auf fruchtbaren Boden gefallen und hatte ihren trotzigen Sinn etwas nachgiebiger gemacht. Ueber ihre Fortschritte und Faehigkeiten herrschte unter ihren Lehrern und Lehrerinnen eine sehr verschiedene Ansicht, wie dieses in der letzten Konferenz recht deutlich zu Tage trat. Der Rechenlehrer und der Lehrer der Naturgeschichte behaupteten, dass Ilse ohne jede Begabung sei, dass sie weder Gedaechtnis, noch Lust am Lernen besitze. Andre waren vom Gegenteile ueberzeugt. Fraeulein Guessow, die in der Litteratur und Doktor Althoff, der Deutsch, Geschichte und in der franzoesischen Litteratur unterrichtete, waren in jeder Beziehung mit Ilses Kenntnissen und ihren Fortschritten zufrieden. Professor Schneider lobte ganz besonders ihren Fleiss und ihre Ausdauer, die sie bei ihm entwickle, und erklaerte mit aller Entschiedenheit, wenn Ilse so fortfahre, wuerde sie es mit ihrem Talente weit bringen, sie habe in den acht Wochen, in denen sie seine Schuelerin sei, so grosse Fortschritte im Zeichnen gemacht, wie nie eine andre zuvor. Ueber dieses Lob geriet Monsieur Michael in Entzuecken. Ja er vergass sich in seiner lebhaften Freude so weit, dass er ausrief; "Bravo, Monsieur Schneider! So spreche auch ich, sie ist eine hochbegabte, eine entzueckende, junge Mademoiselle." Fraeulein Raimar laechelte ueber diese Ekstase und erkundigte sich nach Ilses Betragen. Da kam denn leider manches bedenkliche Kopfschuetteln an den Tag. Besonders wurde von einigen sehr geruegt, dass sie bei dem geringsten Tadel eine trotzige Miene mache, dass sie sogar mehrmals gewagt habe, zu widersprechen. "Leider, leider ist dem so," bestaetigte die Vorsteherin, "und ich habe nicht den Mut, zu glauben, dass wir sie aendern koennen. Ich fuerchte sogar, dass ihr zuegelloser Sinn uns eines Tages eine aehnliche Szene, wie die bereits erlebte, machen wird, und was geschieht dann?" "Dann geben wir sie den Eltern zurueck," fiel Miss Lead lebhaft ein. "Ich glaube, dass es dahin kommen wird. Ilse ist nicht nur verzogen, sie ist - wie soll ich sagen - sehr baeurisch, sehr brutal, sie passt nicht in unsre Pension." Doktor Althoff warf der Englaenderin einen etwas ironisch laechelnden Blick zu, als wollte er sagen: Du freilich mit deinen uebertriebenen, strengen Formen hast kein Verstaendnis fuer das junge, frische Wesen mit seinem natuerlichen Sinn - "Ich glaube, Sie irren, meine Damen," wandte er ein, "in unsrer kleinen Ilse steckt ein tuechtiger Kern. Lassen Sie nur erst die etwas rauhe Schale sich von demselben abgestossen haben und Sie werden sehen, in welch ein liebenswuerdiges, natuerliches, echt weibliches Wesen sich die baeurische, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}brutale Ilse{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}," er betonte die letzten Worte etwas stark, "verwandeln wird. Von der Natur ist sie dazu beanlagt, glauben Sie mir. Man muss nur nicht von der kurzen Zeit, die sie bei uns verweilt, gar zu viel verlangen." Miss Lead zuckte die Achseln und machte eine abweisende Miene. Fraeulein Guessow dagegen sah Doktor Althoff dankbar an. "Das sage ich mit Ihnen, Herr Doktor!" stimmte sie bei. "Wir muessen Geduld haben mit unsrem wilden Vogel, der bis jetzt nur die Freiheit kannte. Fehler, die durch jahrelange, allzunachsichtige Erziehung in dem Kinde gross gezogen wurden, koennen unmoeglich in wenigen Wochen vollstaendig abgestreift sein. Mir scheint, dass wir schon viel erreicht haben, wenn wir daran denken, wie wenig Arbeitstrieb Ilse mit in die Pension brachte und wie sie jetzt gewissenhaft und sogar in manchen Faechern ihre Aufgaben sehr trefflich anfertigt." Fraeulein Guessows Behauptung war vollstaendig berechtigt. Ilse war weit strebsamer geworden, das gute Beispiel der uebrigen Maedchen spornte sie maechtig an. Anfangs war es ihr gleichgueltig gewesen, ob man sie in die erste oder zweite Klasse brachte, als sie indes die Bemerkung machte, dass alle ihre Mitschuelerinnen juenger waren, als sie, da erwachte der Ehrgeiz und zugleich ein Eifer in ihr, der sie antrieb, das Versaeumte nachzuholen, zu lernen und zu arbeiten, damit sie bald in die erste Klasse komme. Ihre Aufsaetze besserten sich mit jedem Mal, auch nahm sie sich sehr zusammen, keine orthographischen Schnitzer mehr zu machen. Sie hatte allen Respekt vor Doktor Althoff, der stets mit einem leichten Spott dergleichen Fehler zu ruegen wusste. Ihr letzter Aufsatz war der beste in der Klasse gewesen. "Ein Spaziergang durch den Wald" hiess das gegebene Thema und sie hatte ihre Aufgabe in anmutiger und lebendiger Weise geloest. Sie wurde dafuer gelobt, und Doktor Althoff las ihren Aufsatz der Klasse vor, was stets als eine besondere Auszeichnung galt. Mitten im Lesen unterbrach er sich lachend. "Da ist Ihnen ein ganz abscheulicher Irrtum passiert, Ilse," sagte er, "denn ich kann mir kaum denken, dass Sie wirklich dachten, was Sie hier niederschreiben." Und er trat zu ihr und zeigte ihr die verhaengnisvolle Stelle, die also lautete: "Ich war eine gans, tuechtige Strecke allein gegangen." - Sie erroetete, nahm schnell eine Feder und machte aus dem s ein z. "Ein andres Mal sehen Sie sich besser vor, solche Verwechselungen koennen hoechst komisch wirken. Auch mit den Kommas, Punkten u. s. w., rate ich Ihnen weniger verschwenderisch umzugehen, oder haben Sie die Absicht, es wie jene junge Dame zu machen, die, sobald sie eine Seite zu Ende geschrieben hatte, ganz willkuerlich die Zeichen hineinsetzte. Etwa zehn Kommas, sieben Ausrufungszeichen, fuenf Fragezeichen und neun Punkte, wie sie gerade Lust hatte, manchmal mehr, manchmal weniger. Das gab dann zuweilen einen tollen Sinn, Sie koennen es sich denken." Die Maedchen lachten und Ilse mit. Ohne jede Empfindlichkeit nahm sie eine Ruege von diesem Lehrer auf, der es verstand, stets die richtige Art und Weise zu treffen. Mit liebenswuerdigem Humor, in welchen er einen ernsten Tadel oftmals kleidete, richtete er weit mehr aus, wie mancher andre, der in der Aufregung sich zu zornigen Worten hinreissen liess. Aber wie schwaermten auch seine Schuelerinnen fuer ihn! In jeder Maedchenschule giebt es gewiss einen Lehrer, der zum allgemeinen Liebling erkoren wird, in dem Institute des Fraeulein Raimar hatte Doktor Althoff das Los getroffen. "Er ist furchtbar reizend!" beteuerte Melanie und schlug den Blick schwaermerisch gen Himmel. "Das bezaubernde Laecheln um seinen Mund, das blitzende, geistvolle Auge, das schmale, vornehme Gesicht, das dunkle, lockige Haar! Wirklich furchtbar nett!" Die neugierige Grete hatte sogar entdeckt, dass Schwester Melanie in einem Medaillon, welches sie an der Uhr befestigt trug, ein Stueckchen Papier mit seinem Namen geborgen hatte. Es war eine Unterschrift von seiner Hand, die sie unter einem frueheren Aufsatze fortgeschnitten hatte. Flora Hopfstange besang den Gegenstand ihrer Verehrung in den ueberschwenglichsten Gedichten, auch war er der Held ihrer saemtlichen Novellen und Romane. Wie zufaellig verlor sie zuweilen eines ihrer schwaermerischen Gedichte, natuerlich nur in der Litteraturstunde, indessen vergeblich. Doktor Althoff hatte noch niemals eine ihrer kostbaren Dichterblueten gefunden. [Illustration] Selbst Orla teilte diese allgemeine Schwaeche, trotzdem sie dieselbe stets verspottete. Laengst aber hatte sie sich verraten und das ging so zu. Doktor Althoff trug eine Nelke in der Hand, als er die Klasse betrat und liess dieselbe auf dem Katheder liegen. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als fast saemtliche Schuelerinnen, wie die Stossvoegel auf die rote Blume zustuerzten, um sie fuer sich zu gewinnen. Orla eroberte sie gluecklich. Hoch hielt sie ihre Siegestrophaee in die Luft und eilte damit auf ihr Zimmer. Vom Juwelier liess sie sich dann ein goldenes Medaillon anfertigen mit einer russischen Inschrift darauf. Grete hatte das bald genug herausgewittert, aber leider stand sie vor einem unloesbaren Raetsel, denn Orla wuerde ihr nimmermehr vertraut haben, dass die beiden Worte ins Deutsche uebertragen hiessen: "Vom Angebeteten." - In diese kostbare, goldene Huelle legte sie die Nelke und trug sie immer. Nellie machte es am aergsten. Eines Abends, als sie mit Ilse allein auf ihrem Zimmer war, nahm sie ein Federmesser und ritzte damit den Anfangsbuchstaben seines Vornamens in ihren Oberarm. Mit spartanischem Mute ertrug sie laechelnd diese schmerzhafte Operation. "Aber Nellie, wie albern bist du!" rief Ilse. "Warum machst du denn den Unsinn? Wenn Herr Doktor Althoff all' eure Dummheiten erfaehrt, muesst ihr euch doch schaemen." "Schweig!" gebot Nellie scherzhaft, "du bist noch ein klein' gruener Schnabel. Du verstehst nix von heimliche Anbetung. Komm erst in der Jahre und lerne ihr begreifen. Dein Herz lauft noch in der Kinderschuhe." Ilse wollte sich totlachen. Ihr gesunder, urwuechsiger Sinn verstand und begriff dergleichen krankhafte Dinge nicht. "Ach Nellie!" rief sie froehlich, "du sprichst so weise, wie eine alte Grossmama, und bist doch nur zwei Jahr aelter als ich." Nellie war aber keineswegs wie eine Grossmama, oft sogar konnte sie recht kindlich denken und handeln, wenn es darauf ankam, irgend etwas fuer ihren Schnabel zu gewinnen. Eines Sonntags, es war gegen Abend, stand sie am offnen Fenster in ihrem Zimmer und blickte sehnsuechtig auf den Apfelbaum, dessen Fruechte goldgelb und rotwangig, hoechst verlockend zwischen dem dunklen Laube hindurch lachten. "Die schoene Aepfel!" rief sie aus, "o, hatte ich doch gleich einer davon! Er ist reif, Ilse, ich weiss, ich kenne dieser Baum genau. Ich habe jetzt so gross' Lust, Apfel zu speisen, und darf ihn doch nur ansehen! Sehen - und nicht essen - es ist hart!" Ilse, die nach Nellies Muster und Angabe einen grauen Waeschbeutel mit roten Arabesken benaehte, legte die Arbeit beiseite und trat zu der Freundin. "Ja, die sind reif," sagte sie und betrachtete mit Kennermiene die Aepfel, "wir haben dieselbe Sorte daheim, das sind Augustaepfel. Wenn ich doch gleich in Moosdorf waere, dann stieg' ich in den Baum und holte welche herunter, aber hier - - ach!" Nellie horchte auf und blickte Ilse an, die mit wehmuetigem Verlangen hinauf in den Baum sah. Ploetzlich kam ihr ein guter Gedanke. "Du bist in der Baum gestiegen?" fragte sie. "O, Ilse, ich habe ein' furchtbar nette Idee! - Du steigst in der Baum und holst uns von der Apfel!" Die letzten Worte sprach sie fluesternd, damit ja kein unberechtigtes Ohr etwas erlauschte. Ilses braune Augen leuchteten auf. "Wie gern wuerde ich das thun! Aber ich darf ja nicht! Denk' nur, Nellie, wenn Fraeulein Raimar oder irgend jemand anderes mich sehen wuerde!" "Lass mir nur machen," meinte Nellie und machte ein hoechst listiges Gesicht. "Heut' abend, wenn Fraeulein Raimar und alles andre auf seines Ohr liegt, dann erheben wir uns wieder von unsrem Lager und die mutige Ilse wird wie eine Katz' leise aus die Fenster steigen und in der Baum klettern. Der lieber Mond steckt sein' Latern' dazu an und leuchtet sie, dass sie die besten und grossesten Apfel finden kann. Und ich geb' acht, dass nix kommt, - ich werde eine gute Spion sein." Ilse strahlte vor Wonne. Der Gedanke war auch zu verlockend, als dass sie noch laenger Bedenken tragen sollte. "Das ist zu himmlisch!" rief sie so laut, dass Nellie ihr die Finger auf den Mund legte. "Ich ziehe meine Blouse und den blauen Rock dazu an und steige hinauf in das gruene Blaetterdach. Es ist himmlisch, Nellie!" Und sie ergriff die Freundin am Arme und tanzte mit ihr durch das Zimmer. "O, du bist einer Engel! du kluge Ilse! Wenn wir nur erst Nacht haetten!" Ilse stand schon wieder am Fenster und warf pruefende Blicke in den Baum. "Siehst du, auf diesen Zweig steige ich zuerst," sagte sie ganz erregt, "und dann auf den dort, - es haengen drei herrliche Aepfel daran, - die pfluecke ich zuerst und werfe sie dir zu, - dann geht es hoeher hinauf bis an Melanies und Orlas Stubenfenster, - sie lassen es immer offen stehen des Nachts - dann stecke ich den Kopf hinein und rufe: Gute Nacht!" "Ilse!" rief Nellie entsetzt, "du darfst der Unsinn nicht thun! Gieb dein' Hand darauf!" "Es war nur Scherz," entgegnete Ilse. "Sei ohne Sorge, Nellie, ich werde ganz artig und still sein, niemand soll von unsrem entzueckenden Abenteuer erfahren!" - Die Zeit verging den beiden Maedchen wie mit Schneckenpost. Ilse, die sich wenig verstellen konnte, war waehrend des Abendessens ganz besonders lustig und aufgeregt. "Du siehst so unternehmend und froehlich aus," bemerkte Fraeulein Guessow, "hast du eine gute Nachricht aus der Heimat erhalten?" Ilse wurde rot und fuehlte sich wie ertappt. Ein Glueck fuer sie, dass die Lehrerin ganz arglos die Bemerkung machte und gar nicht weiter auf sie achtete, vielleicht waere ihr doch die verraeterische Roete aufgefallen. Endlich, endlich, war alles still im Hause. Die Runde durch saemtliche Schlafgemaecher war gemacht, und Fraeulein Guessow war bereits in ihr Zimmer zurueckgekehrt. Nellie sass in ihrem Bett und lauschte. Sie hatte unten die Thuer sich schliessen hoeren, wartete noch eine kleine Weile, dann erhob sie sich und glitt wie ein Geist durch das Zimmer und lehnte sich weit zum Fenster hinaus. "Was machst du?" fragte Ilse. "Ich will sehen, ob Fraeulein Guessow noch Licht in sein' Schlafstube hat -" fluesterte sie. "Noch ist hell unten, - immer noch - -" "Soll ich aufstehen?" fragte Ilse. "Nein, du sollst dir ganz ruhig halten und nicht so laut sprechen. Sie hat noch immer hell. Wie langweilig! Was sie nur anfangt! Warum geht sie nicht in ihr Bett und macht die Auge zu." Sie beugte sich weit zum Fenster hinaus und sah unverwandt auf die seitwaerts liegenden, noch immer erleuchteten Fenster. Im Fluestertone rief sie Ilse ihre Bemerkungen zu. Ploetzlich fuhr sie schnell mit dem Kopfe zurueck und legte den Finger auf den Mund. "Sei ganz still, Ilse, ruehr' dir nicht," sagte sie dann, sich auf den Zehen zu derselben heranschleichend, "sie hat eben der Kopf zum Fenster ausgesteckt und sieht in der Mond. Beinah' hat sie mir erblickt." Nach einem kleinen Weilchen hoerte sie das Fenster schliessen und als Nellie vorsichtig hinunter blickte, war das Licht geloescht. "Jetzt ist die grosse Augenblick gekommen," wandte sie sich in pathetischem Tone an Ilse und streckte die Hand aus, "erheben Sie sich, mein Fraeulein, und gehen Sie an das grosses Werk!" Ilse war so aufgeregt durch den Gedanken an das naechtliche Abenteuer, dass sie gar nicht bemerkte, wie urkomisch Nellie aussah, als sie in ihrem langen Nachtgewande, den Arm weit ausgestreckt, so vor ihr stand. Eilig erhob sie sich und begann sich anzukleiden. Das war bald geschehen, da das Blousenkleid, und was sie sonst noch noetig hatte, schon bereit lag. Gegen die Stiefel erhob Nellie Einsprache. "Sie sind zu unschicklich, zu plump, du machst eine so laute Schritt, dass alles aufwacht." Ilse hoerte nicht darauf. Sie hatte dieselben bereits angezogen und schlich auf den Zehen zum Fenster hin. "Gieb mir das Koerbchen," bat sie. Nellie hing ihr ein solches um den Hals, damit sie den Arm frei behalte. "So, nun bist du reisefertig, mach' deine Sach' brav, mein Kind," sagte sie und kuesste Ilse auf die Wange. Die hoerte nichts. Mit leichtem Sprunge schwang sie sich auf das Fensterbrett und von dort stieg sie in den Baum. Aengstlich blickte ihr Nellie nach. Aber sie hatte nicht Ursache, besorgt zu sein. Ilse kletterte leicht und gewandt wie ein Eichkaetzchen trotz ihrer schweren Stiefel. Als sie die drei bewussten Aepfel erreichen konnte, brach sie dieselben und warf sie Nellie zu. "Da hast du eine Probe!" rief sie uebermuetig in halblautem Tone, "damit dir die Zeit nicht lang werde, bis ich wiederkomme!" Die Fruechte kollerten bis an das Ende des Zimmers zu Nellies Entsetzen. "O, was thust du!" fluesterte sie und erhob drohend die Finger. "Die Koechin schlaeft unter dieser Zimmer, soll sie von der Spektakel aufwachen?" "Baerbchen schlaeft fest, ich hoere sie draussen schnarchen," gab Ilse zurueck. - "Wir koennen ganz ohne Sorge sein - alles schlaeft - alles ist still und dunkel. - Nun lebe wohl, Nellie, jetzt trete ich meine Reise an. Ach, es ist koestlich hier!" Ploetzlich bekam es Nellie mit der Angst. "Ich zittre fuer dir," sprach sie mit bebenden Lippen, - "komm wieder her, - es koennte ein Unglueck sein." Ilse lachte in sich hinein und stieg keck hoeher und hoeher. Sie war so recht in ihrem Elemente und frei wie der Vogel in der Luft regte sie ihre Schwingen. Bald hatte sie die Spitze erreicht. Der Mond schien voll und klar und zeigte ihr jeden Schritt, den sie zu machen hatte. Als sie in gleicher Hoehe mit dem Schlafgemache Orlas und der Schwestern war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in das Fenster zu thun. Vorsichtig und behende balancierte sie auf dem Ast, der sie trug und dessen gruene Spitzen beinahe das eine Fenster beruehrten, und sah hinein. Ruhig, nichts ahnend lagen die Schlaeferinnen da, hell vom Mondlicht beschienen. Einen Augenblick regte sich der Uebermut in ihr. Ob sie den Maedchen einen Schabernak spielte? "Nur einmal gegen die Fensterscheibe klopfen," dachte sie, und schon streckte sie den Finger aus dazu, - da bewegte sich Orla im Schlafe. Unwillkuerlich fuhr Ilse zurueck und ihre tolle Idee blieb unausgefuehrt. Es hingen so viel schoene Aepfel rechts und links und ueberall, mit kleiner Muehe haette sie in wenigen Augenblicken ihr Koerbchen damit fuellen koennen, aber dazu hatte sie keine Lust, immer hoeher hinauf strebte ihr Verlangen, sie hatte nun einmal die Freiheit gekostet, so schnell wollte sie dieselbe nicht wieder aufgeben. Die Krone des Baumes war ihr Ziel, wohl eine beschwerliche Fahrt, aber sie schreckte nicht davor zurueck. Wie ein Bube erklomm sie die manchmal schwer zu erreichenden Zweige, - ein einziger Fehltritt und sie lag unten mit zerbrochenen Gliedern, - dieser Gedanke kam ihr nicht in den Sinn, sie hatte daheim ganz andre tollkuehne Kletterpartien ausgefuehrt und jede Furcht vor Gefahr verlernt. Mutig ging es vorwaerts. Die lauschende Nellie vernahm dann und wann ein Knacken der Aeste, oder das Herabfallen eines Apfels. Einmal schrak sie heftig zusammen, ein Vogel flog auf. Ilse mochte ihn in seiner Nachtruhe gestoert haben. - Es wurde ihr recht aengstlich auf ihrem Lauscherposten, eine Ewigkeit duenkte es ihr, dass Ilse sie verlassen hatte. "Ilse!" rief sie leise. Keine Antwort erfolgte. Wie war es auch moeglich, dass ihr Ruf zu derselben emporgetragen wurde, die oben in der Krone stand und die erfrischende Nachtluft mit vollen Zuegen einsog. Wie fuehlte sie sich glueckselig, wie frei, wie heimatlich wurde es ihr zu Mute! Keine Fesseln drueckten sie mehr, Schulzwang, Pension, Vorsteherin - alles entschwand ihr wie in nebelweite Ferne - der Garten da unten gehoerte dem Papa, der Baum, auf dem sie war, stand vor seinem Fenster, es war der alte Nussbaum, in dessen gruenem Laubwerk sie so manchmal neckend Versteck gespielt hatte mit dem Papa, wenn er sie ueberall suchte, von dessen oberster Spitze sie dann ploetzlich mit einem schlichen "Juchhe!" ihm antwortete. "Juchhe!" Ganz in Erinnerung versunken, brach es ploetzlich laut und kraeftig aus ihrer Kehle hervor, dass es weithin durch den Garten schallte. Im selben Augenblicke erwachte sie aus ihrem Traume und ganz erschrocken fuhr sie mit der Hand nach dem Mund. Was hatte sie gethan! Aber die Reue kam jetzt zu spaet, vor allem musste sie an den schnellsten Rueckzug denken, denn wie sie vermutete, so war es, ihr unvorsichtiger Ruf war im Hause vernommen worden. Melanie war davon erwacht und richtete sich entsetzt in ihrem Bette auf. "Grete!" rief sie mit bebenden Lippen, "hast du gehoert?" "Ja," toente es gedaempft zurueck. "Melanie, ich fuerchte mich tot!" Sie hatte sich die Decke ueber den Kopf gezogen und erwartete mit zitternder Angst ihr Schicksal. Auch Orla war erwacht. "Was war das?" fragte sie, "wo kam der laute Schrei her? Mir war es, als ob er dicht vor meinem Bette ausgestossen wurde." "Allmaechtiger Gott!" schrie Melanie auf, "siehst du nichts? O, ich habe etwas furchtbar Schreckliches gesehen! Eben dort! - dicht am Fenster flog es vorueber! Ein Gespenst war es, mit fliegenden Haaren und grossen, gluehenden Augen! Hu, wie es mich ansah, als ob es mich verschlingen wollte! O, Orla - ein Gespenst - ein Gespenst!" Sie klapperte mit den Zaehnen vor Furcht und Schrecken, und Orla, die nichts gesehen hatte, sondern nur ein lautes Brechen und Knacken im Baume vernommen, sprang mutig aus ihrem Bette, schlug ihre Steppdecke ueber die Schultern und sah zum Fenster hinaus. Grade hatte Ilse ihre tolle Fahrt beendet. In rasender Hast und Angst hatte sie dieselbe von der Hoehe des Baumes bis zu ihrem Zimmerfenster gemacht, und Nellie, sie erwartend, streckte ihr beide Arme, soweit sie konnte, hilfreich entgegen. Sie war leichenblass und ausser sich ueber Ilses Tollkuehnheit. "Was hast du gemacht?" fluesterte sie, "du hast uns verraten! - hast du gehoert? Ueber uns sind sie aufgeweckt! - Orla spricht ... Wir sind verloren!" Eilig nahm sie der am ganzen Koerper zitternden Ilse, deren Haende blutig geritzt waren, das Koerbchen ab, warf die wenigen Aepfel, die nicht herausgefallen waren, in ihr Bett, das Koerbchen hinter den Schrank, und legte sich nieder, alles in der groessten Hast. Ilse hatte ein gleiches gethan. Ohne sich zu entkleiden, mit Stiefel und Blousenkleid, sprang sie in ihr Bett und deckte sich bis an das Kinn zu. Sie schloss die Augen und erwartete in Todesangst das furchtbare Strafgericht, das ihrer wartete. - Bei dem truegerischen Lichte des Mondes konnte Orla nicht erkennen, was eigentlich vorging. Sie sah wohl eine Gestalt - sah ein Paar weisse Arme, die ihr fabelhaft lang erschienen, aber nur einen fluechtigen Moment, dann war die ganze Erscheinung lautlos und still wie im Nebel verschwunden. Sie lauschte noch einige Augenblicke atemlos, aber der Spuk war vorbei - nichts ruehrte sich. Trotz ihres Mutes wurde es ihr unheimlich zu Mute. Sie zog den Kopf zurueck. "Nun?" fragte Melanie, "sahst du etwas?" "Ja," entgegnete Orla, "deutlich habe ich eine Gestalt gesehen, und ich koennte darauf schwoeren, dass sie von zwei langen, weissen Armen in Nellies Zimmer gezogen wurde." "Liebe, liebe Orla!" bat Melanie klaeglich und mit gerungenen Haenden, "wecke die Leute! Wenn das Gespenst noch einmal erscheint, sterbe ich vor Angst!" [Illustration] Orla ergriff die Klingelschnur, die sich dicht neben ihrem Bette befand, und laeutete. In jedem Zimmer war eine solche angebracht, fuer den Fall, dass ein ploetzliches Unwohlsein eine Pensionaerin des Nachts befiel. Saemtliche Schnuere fuehrten zu einer Hauptglocke, die unten, dicht neben Fraeulein Raimars Schlafzimmer angebracht war. Laut und schrill, wie eine Sturmglocke, toente ihr Klang, der noch niemals die Ruhe gestoert, durch die Stille der Nacht. Nellie und Ilse erzitterten, als ob sie ihr Sterbegloecklein hoerten. Wie mit einem Zauberschlage wurde es lebendig im Hause. Die Fenster, die eben noch dunkel und wie traeumend in den Garten geblickt hatten, erhellten sich. Thueren wurden geoeffnet, Stimmen laut. Die Vorsteherin, im tiefen Negligee, ein Licht in der Hand, trat zuerst aus ihrem Zimmer. Fast gleichzeitig erschien Fraeulein Guessow. Als beide den Korridor passierten, schoss Miss Lead aus ihrer Zimmerthuer, aengstlich fragend blickte sie die Damen an. Sie war nicht gerade eine Heldin, die gute Miss, der Glockenschall war ihr in alle Glieder gefahren. Zitternd war sie aus dem Bette gesprungen und hatte nach ihren Kleidungsstuecken gesucht. Im Dunkeln tappte sie vergeblich darnach. Sie hatte Licht anzuenden wollen, aber die Schachtel mit Streichhoelzern war ihr in der Aufregung entfallen. In nervoeser Hast ergriff sie einen schottischen Plaid und drapierte sich denselben wie einen Mantel um ihre Gestalt. Ihr spaerliches Haar, das sie jeden Abend eine gute Viertelstunde kaemmte und buerstete, hing geloest auf ihre Schulter herab. Sie machte einen hoechst komischen Eindruck in diesem abenteuerlichen Kostueme und die Vorsteherin gab ihr den ernstlichen Rat, sie moege sich wieder niederlegen, aber Miss Lead wehrte dieses Ansinnen lebhaft ab. "Nein, nein!" Und sie hing sich an Fraeulein Guessows Arm so fest, als ob sie bei ihr Schutz und Beistand suche. Auch mehrere Pensionaerinnen waren von dem ungewohnten Laerm erwacht und aufgestanden. Angstvoll stuerzten sie aus ihren Zimmern und folgten den Lehrerinnen dicht auf dem Fusse, Flora hatte sogar einen Rockzipfel der Vorsteherin erfasst. Orla hoerte Stimmen auf der Treppe und oeffnete die Thuer. "Ist dir oder den Schwestern etwas passiert?" fragte Fraeulein Raimar schnell in das Zimmer tretend. Statt Orla antwortete Melanie: "Etwas furchtbar Schreckliches haben wir erlebt!" rief sie. "Ein Gespenst, ein furchtbares Gespenst haben wir gesehen!" "Du hast getraeumt," sagte die Vorsteherin, "es giebt keine Gespenster!" "Ich sah es mit offenen Augen, Fraeulein!" entgegnete Melanie mit voller Ueberzeugung. "Erst erwachten wir alle drei von einem furchtbar lauten Schrei, nicht wahr, Orla! gleich darauf sauste das Gespenst hier ganz dicht am Fenster vorbei." "Es war vielleicht ein Spitzbube, der sich Aepfel holen wollte," beruhigte die Vorsteherin. "Hast du auch etwas gesehen, Orla?" "Ja," sagte sie. "Ich sah zum Fenster hinaus und da schien es mir, als ob etwas in Nellies Zimmer verschwand -" Die Pensionaerinnen, sogar Miss Lead, draengten sich im dichten Knaeuel aengstlich um Fraeulein Raimar. Gespenster - Spitzbuben! das war ja um sich tot zu fuerchten. So schauerliche Dinge hatte man noch niemals in der Pension erlebt. Flora zitterte zwar vor Furcht und Erregung, trotzdem fand sie dieses Erlebnis hoechst romantisch. Sie nahm sich vor, in ihrem naechsten Romane dasselbe zu verwerten. Fraeulein Guessow hatte kaum vernommen, dass der Spuk in Nellies Zimmer verschwunden sein solle, als sie still die Treppe hinunterstieg und sich zu den beiden Maedchen begab. Sie oeffnete die Thuer und leuchtete in das Zimmer. Ihr Blick glitt pruefend durch dasselbe, es war nichts Verdaechtiges zu sehen. Die Fenster waren geschlossen und Ilse schien fest zu schlafen. Nellie hatte sich im Bett erhoben und that ganz erstaunt beim Anblick der Lehrerin. "O, was giebt es?" fragte sie. "Warum ist der Glocke gezogen? Ich habe mir so erschreckt." "Es soll hier jemand in das Fenster bei euch gestiegen sein," antwortete Fraeulein Raimar, die mit den uebrigen Fraeulein Guessow gefolgt war. Nellie stockte der Atem vor Angst. Was sollte sie beginnen? Die Wahrheit gestehen? Unmoeglich! Es waere zugleich Ilses und ihre Entlassung aus der Pension gewesen. Und luegen? Sie waere nicht dazu im stande gewesen. Entsetzt blickte sie die Vorsteherin an und gab keine Antwort. Dieselbe deutete Nellies stummes Entsetzen anders und sah es fuer eine Folge des ploetzlichen Schreckens an. "Nun, nun," beruhigte sie, "du darfst dicht nicht weiter aengstigen. Orla und die Schwestern wollen durchaus einen lauten Schrei gehoert haben und Orla behauptet fest, es sei ein Gespenst vor ihrem Fenster vorbeigeflogen und hier in eurem Zimmer verschwunden." "O, eine Gespenst! Wie furchtbar!" wiederholten Nellies zitternde Lippen und ihr blasses Gesicht - die Angst, die sich in ihren Zuegen malte, erweckten Mitleid in Fraeulein Raimars Herzen. "Beruhige dich nur," sagte sie, "die Maedchen werden getraeumt haben. Das ganze Haus haben sie in Aufruhr gebracht. - Ich denke, wir legen uns wieder nieder," wandte sie sich zu Fraeulein Guessow, "es ist das beste Mittel, die aufgeregten Gemueter zur Ruhe zu bringen." Schon im Herausgehen begriffen, fiel ihr die schlafende Ilse ein. Sie trat an das Bett derselben und beugte sich leicht darueber. "Ist denn Ilse gar nicht erwacht von dem Spektakel?" fragte sie erstaunt. Mit Todesangst verfolgte Nellie jede Bewegung der Vorsteherin. Wenn sie sich ein wenig zur Seite wandte, wenn ihr Blick das Fussende des Bettes streifte - dann waren sie verloren. Unter dem Deckbette - o Entsetzen! sah eine Spitze von Ilses fuerchterlichem Stiefel vor. "Sie hat immer ein so fester Schlaf," brachte Nellie muehsam hervor und ploetzlich - im Augenblicke der hoechsten Not kehrte ihre Geistesgegenwart zurueck. "Bitte, bitte, Fraeulein Guessow," sagte sie und erhob flehend die Haende, "sehen Sie unter meines Bett, ob keine Gespenst daliegt." Sofort lenkte sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf Nellie und die Angeredete nahm wirklich das Licht und leuchtete unter das Bett. Fraeulein Raimar schuettelte unwillig den Kopf. "Sei nicht kindisch, Nellie," verwies sie dieselbe, "du wirst in deinem Alter doch wahrlich nicht mehr an Spukgeschichten glauben!" Und Miss Lead, die bis dahin mit den Pensionaerinnen vor der aeusseren Thuer gestanden, trat zu ihrer Landsmaennin und schalt sie wegen ihrer Furchtsamkeit. Kaum hatte Nellie die sonderbar Gekleidete erblickt, als sie in ein lautes Gelaechter ausbrach. "O, Miss Lead!" rief sie aus. "Sie haben die Aussicht wie eine Raeuberhauptmann! Seien Sie nicht boese, aber ich muss lachen!" Und die uebrigen Maedchen stimmten froehlich ein in das Gelaechter, sie hatten bis jetzt nicht auf die englische Lehrerin geachtet. Miss Lead wurde hochrot vor Aerger, und die Vorsteherin gab Nellie einen ernsten Verweis ueber ihr unartiges Benehmen. Es wurde darueber die Gespenstergeschichte vergessen und Ilse nicht weiter beachtet. Oder doch? Fraeulein Guessow entfernte sich, mit dem Lichte in der Hand, sehr schnell aus der Thuer - hatte sie vielleicht die unselige Stiefelspitze entdeckt? "Wir wollen Ilses Ruhe nicht stoeren," sagte sie, "warum soll die Aermste auch noch ermuntert werden?" "Sie haben recht, wir wollen sie nicht stoeren. Aber sie hat einen wunderbar festen Schlaf. Nun geht zur Ruhe, Kinder. Melanies Gespenst war sicherlich nichts weiter, als eine Katze, die sich im Baume einen Vogel gefangen hat. Ihr koennt ganz ohne Sorge sein, zum zweitenmal wird es nicht wiederkehren." Damit hatte der naechtliche Spuk sein Ende erreicht. In kurzer Zeit lag alles wieder im tiefen Schlafe. Melanie hatte die Lampe brennen lassen, um keinen Preis wuerde sie im Dunklen geblieben sein. Als Nellie sich vollkommen ueberzeugt hatte, dass alles wieder still im Hause war, da kehrte mit dem Gefuehle der Sicherheit auch ihre frohe Laune wieder. Sie suchte die Aepfel unter der Bettdecke hervor und fing an, gemuetlich zu essen, als ob nichts vorgefallen waere. "Was machst du denn?" fragte Ilse, als sie das knirschende Geraeusch hoerte. Sie hatte bis jetzt noch nicht gewagt, sich zu ruehren, und lag wie im Schweisse gebadet da. "Ich speise Aepfel," entgegnete Nellie sorglos. "Aber, Nellie, wie kannst du das nur!" rief Ilse ganz entruestet. "Ich zittre noch an allen Gliedern, mein Herz schlaegt wie ein Hammer - und du kannst essen! Wirf die Aepfel fort - sie gehoeren ja gar nicht uns. Ach, Nellie, ich aergere mich ueber meinen dummen Streich!" "O was!" sagte Nellie ruhig weiter essend, "man muss thun, als ob man zu Haus ist! Graem' dir nicht mit unnuetze Gedanke, zieh' dir lieber aus und pack' deine Sache fort in deine Koffer. Du kannst ruhig schlafen, mein Darling, morgen weiss kein' Seel' von unser lustiges Abenteuer und du wirst sehr klug sein, liebe Ilschen, und schweigen." Ilse ging heute nicht auf Nellies scherzenden Ton ein; der Gedanke, die Vorsteherin hintergangen zu haben, drueckte sie schwer. Schweigend entkleidete sie sich und verschloss ihre Sachen sorgfaeltig in den Koffer. Dann legte sie sich nieder. Der Schlaf aber wollte nicht kommen. Nellies regelmaessige Atemzuege verrieten laengst, dass dieselbe sanft und suess eingeschlummert war, als sie noch immer wachend im Bette lag. Der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, entdeckt zu werden, schreckte sie immer von neuem auf. Sobald sie im Begriffe war, einzuschlafen, fuhr sie angstvoll in die Hoehe. Endlich schlief sie ein, aber selbst im Traum quaelten sie die schrecklichsten Bilder. Bald wurde sie verfolgt, bald fiel sie vom Baume und zuletzt hatte sie sich in einen Vogel verwandelt und eine grosse Eule wollte sie fressen. - Frueh am andern Morgen, als Fraeulein Raimar ihren Spaziergang durch den Garten machte, blieb sie vor dem Apfelbaume stehen. Sie schuettelte den Kopf und rief den Gaertner. "Es muessen Diebe in diesem Baume gewesen sein, Lange," sagte sie, "sehen Sie nur das viele Laub und sogar einige abgebrochene Zweige darunter. Da liegen auch mehrere Aepfel, die sie verloren haben moegen. Machen Sie doch, solange das Obst noch nicht abgenommen ist, oefters des Nachts eine Runde durch den Garten." "Es ist mir ein Raetsel, wie sie hereingekommen sind," bemerkte der Gaertner kopfschuettelnd, "die Gartenpforte war fest verschlossen. Sie muessen geradezu ueber die Mauer geklettert sein." "Wohl moeglich," stimmte Fraeulein Raimar ihm bei, und im Weitergehen dachte sie, dass Melanie doch im Rechte gewesen sei. Freilich ein Gespenst hatte sie nicht gesehen, wohl aber einen Spitzbuben. Oben, am offnen Fenster, standen die beiden Maedchen und hatten jedes Wort vernommen. Ilse war es heiss und kalt dabei geworden und sie hatte sich wie eine arme Suenderin ertappt und beschaemt gefuehlt. Nellie dagegen lachte so recht vergnuegt in sich hinein und nahm alles wie einen koestlichen Scherz hin. "Das ist eine spassige Sach'," sagte sie uebermuetig, "ich kann mir totlachen! Wenn sie wuesste, dass die boese Spitzbuben mit sie unter eine Dach wohnen. - Wie wuerde sie sich staunen!" Ilse hielt ihr den Mund zu. "Du darfst nicht darueber lachen, Nellie," gebot sie entschieden, "ich schaeme mich so sehr! Spitzbuben hat uns Fraeulein Raimar genannt, und das sind wir auch. Ich hatte gar nicht daran gedacht, und das war recht dumm von mir." "Wer wird so strenge richten, kleine Weisheit," troestete Nellie. "Was man in der Mund steckt, ist kein Diebstahl, merken Sie sich das! Fraeulein Raimar bekommt auch so grosse Kostgeld, da bezahlen wir die paar lumpige Apfel alle mit. - Komm, gieb mir ein Kuss und sieh nicht so truebe aus, du klein Spitzbube!" Mit Nellie war schwer streiten. Sie widerlegte so harmlos und sah so schelmisch dabei aus, dass Ilse, wenn sie auch nicht ueberzeugt wurde, sich wenigstens nicht mehr so hart anklagte. Aber auf einem bestand sie. Nellie musste ihr die Hand darauf geben, dass niemals wieder ein aehnlicher Streich von ihnen ausgefuehrt werden solle. - - * * * Die Tage wurden kuerzer und kuerzer. Der Oktoberwind fuhr sausend durch die Baeume und trieb sein lustiges Spiel mit den trocknen, gelben Blaettern. Oede und verlassen lag der Garten des Instituts, denn der schoene Aufenthalt im Freien hatte so ziemlich ein Ende, die Maedchen waren mehr und mehr auf die Zimmer angewiesen. In den Wochentagen empfanden sie das kaum, aber an den Sonntagnachmittagen, die sie gewohnt waren, im Garten zu verleben, da fuehlten sie sich doppelt eingeengt. In den Zimmern war es so dumpf, so langweilig; so war Ilses Ansicht. Man konnte doch nicht immer Briefe schreiben, oder naehen. Sich die Zeit verkuerzen mit Romanschreiben, das konnte nur Flora, die denn auch den innigen Wunsch hatte, die Sonntagnachmittage moechten ewig dauern. [Illustration] "Ich komme heute auf euer Zimmer," sagte sie eines Sonntagmorgens zu den Freundinnen. "Ich werde euch meine neueste Novelle vorlesen, natuerlich nur den Anfang und den Schluss, das andre habe ich noch nicht geschrieben, ich mache es immer so. Ich sage euch, ihr werdet entzueckt sein, Kinder! Ich selbst fuehle, wie entzueckend mein neuestes Werk mir gelungen ist!" Nellie laechelte. "Wie ich mir auf dieser neue Werk freue!" sprach sie neckend. "Immer nur die Anfangs und die Endes macht Flora. Die langweilige Mitte lasst sie aus! O, sie ist ein grosser Dichter!" Flora war heute gar nicht empfindlich, sie that, als hoere sie Nellies Neckereien nicht. "Also auf heute nachmittag!" sagte sie und drueckte Ilse die Hand. Nach der Kaffeestunde begleitete sie denn auch die beiden Maedchen auf ihr Zimmer, und nachdem alle drei am Fenster Platz genommen hatten, zog sie mit wichtiger Miene mehrere lose Blaetter aus ihrer Kleidertasche hervor. "Fang doch an dein' Novelle, warum besinnst du dir?" fragte Nellie, als Flora ein Blatt nach dem andern ansah und wieder beiseite legte. "Entschuldigt einen Augenblick," entgegnete Flora, "das ist mir alles so durcheinandergekommen. - Seite 5-10-11-3-" zaehlte sie. "Halt! hier ist Blatt I. So, nun will ich beginnen! - Und Nellie, thue mir den einzigen Gefallen, unterbrich mich nicht fortwaehrend mit deinen witzigen Einfaellen, du schwaechst wirklich den ganzen Eindruck damit. - Nun hoert zu. Meine Novelle heisst: _Ein Schmerzensopfer._ Das Meer brauste und der Sturm tobte. - Weisse Moewen flogen kraechzend darueber hinweg. - Der Mond lugte dann und wann zwischen zerrissenen Wolken hervor - traurig - einsam. - - Da schaukelt ein kleines Schiff auf den hohen Wogen und naehert sich dem Strande. Ein junges Maedchen sitzt allein darin. Leichtfuessig schwingt sie sich aus dem Schiff und setzt sich auf ein Felsstueck, das von den Wellen des Meeres umspuelt wird und hart am Strande liegt. Tief seufzt sie auf und ihre grossen Vergissmeinnichtaugen fuellen sich mit Thraenen. [Illustration] {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Was soll ich beginnen?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} floeten ihre Lippen und in ihrem suessen Blumenangesichte drueckt sich ein schmerzliches Entsagen aus. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Er liebt mich - und ich ihn! Aber Aurora liebt ihn auch und sie ist meine geliebte Schwester! Kann ich sie leiden sehen? - Nein - nimmermehr! Und sollte ich darueber an gebrochenem Herzen sterben!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Sie seufzte tief. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}O sterben! Aber ich fuehl's, ich werde nicht sterben - mein Herz wird nicht brechen, - es wird weiter schlagen, - - wenn es auch besser waere, das zaehe Ding staende zur rechten Zeit fuer ewig still!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - -" Hier machte Flora eine kleine Pause und Nellie konnte es nicht unterlassen, sie zu unterbrechen. "O wie furchtbar traurig!" rief sie aus, "das arme Blumenangesicht mit die Vergissmeinnichtsauge und das zaehe Herz! Wo ist sie denn hergekommen auf ihres kleines Schiff, - so allein auf die brausende Meer?" Und sie lachte mit ihren Schelmengruebchen so herzlich ueber Floras Unsinn, dass ihr die Thraenen in die Augen traten. "Wie abscheulich von dir, Nellie," fuhr Flora sehr erzuernt auf, "dass du mich so unterbrichst! Wenn nur ein Funken Poesie in deinem Busen schlummerte, wuerdest du meine Werke verstehen. Aber du bist nuechtern vom Scheitel bis zur Sohle!" "O, o!" lachte Nellie ausgelassen, "o, wie komisch bist du, Flora! Lies nur weiter dein {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Schmerzensopfer{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, ich will nun artig hoeren und kein Laut mehr lachen." Aber Flora nahm schmollend ihre Blaetter zusammen. Das heisst, es war ihr nicht so recht Ernst damit, denn als auch Ilse sich aufs Bitten legte, sie moege doch nun auch den Schluss ihrer Novelle vorlesen, da liess sie sich erweichen. Schon hatte sie die Lippen geoeffnet, um fortzufahren, da wurde sie unterbrochen durch Melanies hastigen Eintritt. "Kinder!" rief diese aufgeregt, "es ist etwas furchtbar Interessantes passiert! Denkt euch, eben ist eine hoechst elegante Dame vorgefahren mit einem reizend netten, kleinen Maedchen. Fraeulein Raimar empfing sie schon an der Thuer und Orla hat deutlich gehoert wie sie sagte: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Sie bringen das Kind selbst, gnaedige Frau!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - Es bleibt also hier in der Pension, und wir haben nichts davon gewusst! Warum wird nun die ganze Geschichte so furchtbar geheimnisvoll gemacht? Wir haben doch stets gewusst, wenn eine neue Pensionaerin ankam! Ich finde das, aufrichtig gesagt, klassisch!" - Die Maedchen horchten erstaunt auf und selbst Flora vergass das Weiterlesen. Welch eine Bewandtnis hatte es mit dem kleinen Maedchen, das so ploetzlich hereingeschneit kam? "O, welch eine klassische Geschichte!" rief Nellie. "Kommt, wir wollen gleich die fremde Dame mit ihres Kind uns ansehen!" Und sie eilten die Treppe hinunter mit einer Hast und Neugierde, als ob ein neues Wunder aufgegangen sei, Nellie den andern immer voran, sie musste die erste sein, die dasselbe in Augenschein nahm. Es war aber gar nichts zu sehen, denn vorlaeufig verweilten die Fremden in Fraeulein Raimars Zimmer. Indessen der Wagen hielt noch auf der Strasse und Nellie schloss daraus, dass die Dame sich nicht allzulange aufhalten werde. "Sehen muessen wir ihr," sagte Nellie, "kommt, wir stellen uns an der grossen Glasthuer im Speisesalon und warten, bis sie kommt." Als sie dort eintraten, fanden sie bereits die Thuer belagert. Es gab noch andre Neugierige in der Pension. "Ihr kommt zu spaet!" rief Grete, die natuerlich den besten Platz hatte. "Dahinten koennt ihr nichts sehen!" Nellie aber wusste sich zu helfen. Sie zog einen Stuhl heran und stellte sich darauf. Ilse natuerlich kletterte ihr nach. Die Geduld der Maedchen wurde auf eine harte Probe gestellt, wohl eine gute halbe Stunde mussten sie noch warten, bevor die Erwartete erschien. - Langsam und lebhaft sprechend ging sie mit der Vorsteherin an den Lauschenden vorueber. Zum Glueck war es bereits daemmerig und die Damen waren so in der Unterhaltung begriffen, dass sie nicht auf die vielen Maedchenkoepfe hinter der Glasthuer achteten, Fraeulein Raimar wuerde die kindische Neugierde ernstlich geruegt haben. "O, wie sie huebsch ist!" bemerkte Nellie halblaut. "Sei doch still, Nellie," gebot Orla, die das Ohr dicht an der Thuer hielt, um einige Worte zu erlauschen. "Was sagt sie?" fragte Flora, "ich glaube, sie spricht franzoesisch." "Nein, italienisch," behauptete Melanie, die naemlich seit einigen Tagen angefangen hatte, diese Sprache zu treiben. "Sie spricht deutsch," erklaerte Grete. "Eben hat sie gesagt: Meine kleine Lilli." "Gott bewahre, was du gehoert hast!" widerstritt Orla, "sie spricht englisch." "O, eine Landsmann von mir!" rief Nellie laut und erfreut. Ueber diese drollige Bemerkung kam Annemie in das Lachen. Orla wurde ganz boese darueber und hielt ihr den Mund zu. "Fraeulein Raimar ist ja noch im Korridor mit der Dame," fluesterte sie, "wenn sie sich umsieht, sind wir blamiert." In diesem Augenblicke kam von der andern Seite des Korridors Rosi Mueller. Erstaunt sah sie auf die Belagerung der Glasthuer. Die Maedchen mussten zuruecktreten, um sie einzulassen. "Wie koennt ihr euch nur so kindisch benehmen," sagte sie sanft und vorwurfsvoll. "Ich begreife eure Neugierde nicht." "Du bist auch unsre {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Artige{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}," meinte Grete. Rosi ueberhoerte diese vorlaute Bemerkung. "Kommt, setzen wir uns an die Tafel mit unsren Handarbeiten," fuhr sie fort, als das Gas angezuendet war, "wir haben die Erzaehlung von Ottilie Wildermuth noch nicht zu Ende gehoert. Willst du heute vorlesen, Orla?" Aber es kam nicht dazu. Gerade als Orla beginnen wollte, trat Fraeulein Guessow mit der kleinen Lilli an der Hand ein. Sofort sprangen die Maedchen von ihren Plaetzen auf und umringten dieselbe. "Sieh', Lilli," sagte die junge Lehrerin, "nun kannst du gleich deine zukuenftigen Freundinnen kennen lernen." Die Kleine schuettelte den Kopf. "Die Madel sind schon so gross," antwortete sie im sueddeutschen Dialekt und ohne Befangenheit, "die koennen doch nit meine Freundinnen sein!" Nellie fand gleich einen Ausweg, sie kniete sich zu dem Kinde nieder und sagte: "Jetzt bin ich ein klein Madel wie du und du kannst mit mich spielen." Lilli lachte. "Nein, du bist gross," sagte sie, "aber du gefallst mir. Und du auch," wandte sie sich zu Ilse, die neben Nellie stand. "Du hast halt so schoene Lockerl wie ich. Weisst, du sollst meine Freundin sein, mit dir will ich spielen." Sie ergriff Ilses Hand und sah dieselbe mit ihren grossen Augen treuherzig an. Das junge Maedchen war ganz entzueckt von der Zutraulichkeit der Kleinen und kuesste und liebkoste sie. Natuerlich waren saemtliche Pensionaerinnen ganz hingerissen von dem Kinde, das wie eine zarte Elfe in ihrer Mitte stand. Lange blonde Locken fielen ihm ueber die Schulter herab und die schwarzen Augen mit den feingeschnittenen, dunklen Augenbrauen darueber bildeten einen wunderbaren Kontrast zu denselben. Das gestickte, sehr kurze weisse Kleidchen liess Hals und Arme frei. Eine hochrote, seidene Schaerpe vervollstaendigte den hoechst eleganten Anzug. "O du suesses, entzueckendes Geschoepfchen!" "Du Engelsbild! Kleine Fee!" und mit aehnlichen ueberschwenglichen Ausdruecken ueberschuetteten die Pensionaerinnen das Kind. Fraeulein Raimar war unbemerkt eingetreten und hoerte diese Ausrufe kopfschuettelnd an. Sie trat in den Kreis und nahm Lilli bei der Hand. "Komm," sagte sie zu ihr, "du sollst erst umgekleidet werden. Du moechtest dich erkaelten in dem leichten Anzuge." "Bitt' schoen, lass mich hier, Fraeulein," bat das Kind. "Ich hab' gar nit kalt. Schau, ich geh' halt immer so. Die Madel sind so gut, es gefallt mir hier!" Fraeulein Raimar liess sich nicht erbitten. "Komm nur, Kind," sagte sie guetig, "du wirst die Maedchen alle wiedersehen zum Abendessen." Die abgeschlagene Bitte verstimmte Lilli nicht. "Lass Ilse mit mir gehen, Fraeulein," bat sie. Dieser Wunsch wurde ihr erfuellt. Als Ilse mit dem Kinde das Zimmer verlassen hatte, wandte sich die Vorsteherin mit ernsten, ermahnenden Worten an ihre Zoeglinge. "Ich bitte euch, in Zukunft Lilli nicht wieder so grosse Schmeicheleien in das Gesicht zu sagen. Wollt ihr sie eitel und oberflaechlich machen? Sie ist ein sehr schoenes Kind und wird bereits manche Aeusserung hierueber gehoert haben, es giebt ja unvernuenftige Leute genug. Wir wollen nicht in diesen Fehler verfallen, und ich denke, ihr werdet mir beistehen und in Zukunft vorsichtiger sein. - Lilli bleibt bei uns. Ich hatte noch nichts davon zu euch gesprochen, weil ihr Eintritt in die Pension noch nicht fest beschlossen war." "Wo wohnen Lillis Eltern?" fragte Flora. "In Wien," entgegnete das Fraeulein. "Der Vater ist tot und die Mutter ist eine bedeutende Schauspielerin. Weil sie sich in ihrem Berufe wenig um die Erziehung ihres Kindes kuemmern kann, hat sie es in eine Pension gegeben." "Lillis Mutter ist ein schoenes Frau," bemerkte Nellie. "Wo hast du sie gesehen?" fragte die Vorsteherin etwas erstaunt. "O, ich habe ihr vorbeigehen sehen," entgegnete Nellie leicht erroetend. "Sie konnte leider nicht laenger verweilen," wandte sich Fraeulein Raimar an die junge Lehrerin, "mit dem Schnellzuge faehrt sie heute abend wieder fort." Die jungen Maedchen hatten die Damen dicht umringt und horchten auf jedes Wort. Sie haetten so "furchtbar" gern recht Ausfuehrliches ueber Lillis Mutter erfahren, die als "bedeutende Schauspielerin" ihre Gemueter lebhaft erregte und interessierte. Aber sie erfuhren nichts. Das Gespraech wurde abgebrochen und Fraeulein Raimar fuehrte die Wissbegierigen recht unsanft in die Wirklichkeit zurueck. "Wer hat den Tisch zu besorgen?" fragte sie. "Es ist Zeit, dass wir den Thee einnehmen." Ilse und Flora hatten heute dieses Amt. Letztere verliess sofort das Zimmer, um kurze Zeit darauf mit Ilse zurueckzukehren. Jede trug einen Stoss Teller, welchen sie auf einen Seitentisch stellten. Sie legten die Tischtuecher auf und fingen an, die Tafel zu decken. Vor wenigen Monaten hatte Ilse es fuer eine Unmoeglichkeit gehalten, dass sie je eine solche Beschaeftigung thun wuerde, - heute stand sie da in ihrer rosa Latzschuerze und besorgte alles so geschickt und manierlich wie irgend eine andre Pensionaerin. Manierlich und geschickt war sie freilich nicht immer gewesen und es hatte manche Muehe gekostet, ehe sie es so weit gebracht, bis sie ueberhaupt sich ueberwunden hatte, "Dienstbotenarbeiten" zu verrichten. Die gutmuetige Wirtschafterin konnte manches Lied ueber Ilses Widerspenstigkeit singen, manche unartige Antwort hatte sie derselben zu verzeihen. Einmal, als sie einen Teller mit Butterschnitten fallen liess und auch noch den Milchtopf umgestossen hatte, ermahnte sie die Wirtschafterin, vorsichtiger zu sein. "Nein," hatte sie trotzig geantwortet, "ich will nicht vorsichtiger sein, solche Arbeit brauche ich nicht zu thun." Aber sie nahm sich das naechste Mal doch mehr in acht, es war am Ende kein sehr angenehmes Gefuehl, von allen ausgelacht zu werden. Auch bemerkte sie, dass keine der Pensionaerinnen, selbst die ungrazioese Grete nicht, sich so einfaeltig benahm wie sie, die meisten verrichteten die kleinen haeuslichen Geschaefte mit Anmut und besonders mit einem freundlichen Gesichte, - sollte sie die einzig Dumme unter allen sein? Lilli erhielt ihren Tischplatz zwischen der Vorsteherin und Ilse. Waehrend der Mahlzeit belustigte sie die ganze Gesellschaft. Sie plauderte ganz unbefangen, gar nicht schuechtern und bloede. "Das macht," bemerkte Flora, "weil sie unter Kuenstlern gross geworden ist." "Du, Fraeulein, gieb mir noch a Gipferl, bitt' schoen. Ich hab' halt so grossen Hunger," rief sie ungeniert. Und als Fraeulein Guessow fragte, welches ihre Lieblingsgerichte seien, meinte sie: "Wianer Wuerstl und Sauerkraut." "Aber eine Mehlspeise wirst du doch lieber essen," meinte Fraeulein Raimar. "O nein! Mehlspeis' ess i gar nit gern - aber a gross Stueckerl Rindfleisch mit Gemues - das mag i!" Alles lachte. Selbst die Vorsteherin stimmte ein. Wer haette auch nicht mit Vergnuegen dem Geplauder der Kleinen zuhoeren sollen! Mit Lilli war ein andres Leben in die Pension gekommen. Alles drehte sich um sie, jeder wollte ihr Freude machen. Und wenn die Maedchen auch vermieden, ihr Schmeicheleien in das Gesicht zu sagen, so waren doch alle bemueht, ihr den Hof zu machen. Am gluecklichsten waren sie, wenn Lilli sich herabliess, ein kleines Volkslied zu singen. Ich sage herabliess, denn wenn sie nicht aufgelegt war, liess sie sich durch keine Bitten dazu bewegen. - Flora geriet jedesmal in Verzueckung, prophezeite Lilli eine grosse Zukunft und schwur darauf, dass sie einst mit ihrer vollen, weichen Stimme ein Stern erster Groesse am Theaterhimmel sein werde. Voll und weich war die Stimme nicht, Flora blickte einmal wieder durch ihre romantische Brille, aber es klang weh und traurig, wenn das Kind mit so ernsthafter Miene dastand und sang. "Sie ist furchtbar suess!" lispelte Melanie, als Lilli zum erstenmal {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Kommt a Vogerl geflogen{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} vortrug. "Sieh nur, Flora, wie melancholisch sie die Augen in die Ferne richtet." "Ja, melancholisch," wiederholte Flora langsam und pathetisch, "du hast recht. Weisst du, Melanie, es liegt so etwas Geheimnisvolles - Traumverlorenes in ihren samtnen, dunklen Mignonaugen, so etwas, das sagen moechte: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du fade Welt, ich passe nicht fuer dich.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" "Denn es kuemmert sich ka Katzerl - ka Hunderl um mi," schloss Lilli ihr Liedchen. "O wie reizend!" rief Nellie und klatschte in die Haende. "Wie kann man diese Worte reizend finden!" rief Flora entruestet. "Traurig - duester - das ist der rechte Ausdruck dafuer. Ein einsames, verlassenes Herz hat sie empfunden und welche Folterqualen mag es dabei erlitten haben." "O, das Herz ist eine sehr zaehe Ding, und doch waer' es manchmal besser," deklamierte Nellie mit komischem Pathos, aber sie kam nicht weiter. Flora hielt ihr den Mund zu. "Du bist schaendlich - ganz abscheulich!" rief sie, "nie, nie wieder weihe ich dich in meine geheimsten Gedanken ein! Wie kannst du mein Vertrauen so missbrauchen?" * * * Weihnachten rueckte heran und fleissig ruehrten sich aller Haende. Da wurde genaeht, gestickt, gezeichnet, Klavierstuecke wurden eingeuebt, um die Eltern oder die Angehoerigen liebevoll zu ueberraschen. Ilse hatte noch niemals den Vater oder die Mutter mit einer Arbeit erfreut. Zuweilen hatte sie eine kleine Arbeit angefangen, auf dringendes Zureden ihrer Gouvernanten, aber sie war nicht weit damit gekommen. Sie habe einmal kein Geschick dazu, behauptete sie, und dachte nicht daran, dass es ihr nur einfach an Geduld und Ausdauer mangele. "Was willst du deine Eltern geben?" fragte Nellie, die eifrig dabei war, einen sterbenden Hirsch in Kreide zu zeichnen, er sollte ein Geschenk fuer den Onkel in London werden, der sie im Institute ausbilden liess. "Ich habe noch nicht daran gedacht," entgegnete Ilse. "Meinst du, Nellie," fuegte sie nach einigem Besinnen hinzu, "dass die Rose, die ich jetzt zeichne, dem Papa Freude machen wuerde?" "O sicher! Aber du musst sehr fleissig sein, mein klein' Ilschen, sonst wird die liebe Christfest kommen und du bist noch lang nicht fertig. Und was willst du deine Mutter geben?" fragte Nellie. "Meiner Mama?" Sie dehnte ihre Frage etwas in die Laenge. "Ich werde ihr etwas kaufen," sagte sie dann so obenhin. Nellie war nicht damit zufrieden. "Kaufen, das macht keine Freude!" tadelte sie. "Warum wollen deine Finger faul sein?" "Nellie hat recht," mischte sich Rosi in das Gespraech, die neben Ilse sass und an einer altdeutschen Decke arbeitete. "Deine Mama wird wenig Freude an einem gekauften Gegenstand haben." "Ich bin zu ungeschickt," gestand Ilse offen. "Wir werden dir helfen und dir alles gern zeigen," versprach Rosi. Und Fraeulein Guessow, die grade hinzutrat, benahm Ilse den letzten Zweifel. "Du kannst ein gleiches Naehkoerbchen, wie Annemie anfertigt, arbeiten, ich weiss bestimmt, es wird dir gelingen." Und es gelang wirklich, ja weit besser, als Ilse sich selbst zugetraut. Sie hatte eine kindliche Freude, als das Koerbchen so wohlgelungen in acht Tagen fix und fertig vor ihr stand. "Es sind noch vierzehn Tage bis Weihnachten," sagte sie zu Rosi, "und ich moechte noch etwas arbeiten, fuer Fraeulein Guessow und Fraeulein Raimar." "Und fuer meine Lori, bitt' schoen, meine gute Ilse!" bettelte Lilli, die gewoehnlich an den Mittwochnachmittagen im Arbeitssaale zugegen war und dann ihren Platz dicht bei Ilse waehlte, die sie, wie sie sich ausdrueckte, zum aufessen liebte. "Mein' Lori muss halt a neues Kleiderl haben," fuhr sie fort und hielt ihre Puppe in die Hoehe, "bescher' ihr eins zum heil'gen Christ. Schau, das alte da ist ja schlecht!" Natuerlich versprach Ilse, ihr diesen Herzenswunsch zu erfuellen, und zur Besiegelung drueckte sie dem kleinen Liebling einen Kuss auf die roten Lippen. "Ich habe eine famose Idee!" (famos war seit kurzer Zeit Modewort im Institute) rief Ilse am Abend desselben Tages aus, als sie mit Nellie allein war. "Ich kaufe fuer Lilli eine neue Puppe und kleide sie selbst an. Was meinst du dazu?" "O, das ist wirklich ein famos Gedanke," entgegnete Nellie, "aber lieb Kind, hast du auch an der viele Geld gedacht, die so ein' Puppe mit ihrer Siebensachen kostet? Wie steht's mit dein' Kasse?" "O, das hat keine Not, ich habe sehr viel Geld!" versicherte Ilse sehr bestimmt. Und sie nahm ihr Portemonnaie aus der Kommode und zaehlte ihre Schaetze. "Zwoelf Mark," sagte sie, "das ist mehr, als ich brauche, nicht?" "Sie sind ein sehr schlecht' Rechenmeister, mein Fraeulein," riss Nellie sie unbarmherzig aus ihrer Illusion, "ich mein', Sie reichen lang' nicht aus." Ilse sah die Freundin zweifelnd an. "Du scherzest," meinte sie, "zwoelf Mark ist doch furchtbar viel Geld?" "Reicht lang nicht!" wiederholte Nellie unerbittlich, "hoer zu, ich will dir vorrechnen: 1) Ein Naehtischdecken fuer Fraeulein Raimar macht vier Mark, 2) ein Arbeitstaschen fuer Fraeulein Guessow macht drei Mark, 3) eine schoene Geschenk fuer die liebe Nellie und all die andren junge Fraeulein - macht - sehr viele Mark. Wo willst du Geld zu der Puppen nehmen?" "Ach," fiel Ilse ihr ins Wort, "und unser Kutscher daheim und seine drei Kinder! - daran habe ich noch gar nicht gedacht!" Sie machte ein recht betruebtes Gesicht, denn sie hatte es sich gar zu reizend ausgedacht, wie sie Lilli ueberraschen wollte. Nun konnte es nichts werden. Nachdenklich sass sie einige Augenblicke, dann leuchteten ploetzlich ihre Augen freudig auf. "Halt!" rief sie aus, "ich weiss etwas! Heute abend schreibe ich an Papa und bitte ihn, mir Geld zu schicken. Er thut es, ich weiss es ganz bestimmt. Mein Papa ist ja ein zu reizender Papa!" "Und dein' Mutter?" fragte Nellie, "ist sie nicht auch ein' sehr guetiger Frau? Wie macht sie dich immer Freude mit die viel' schoene Sachen, die sie an dir schickt. Freust du dir sehr auf Weihnachten? Ja? Es ist doch schoen, die lieben Eltern wieder sehen." Ilse zoegerte mit der Antwort. Es fiel ihr ein, wie sie im Sommer ihrem Vater entschieden erklaert hatte, zum Christfest nicht in die Heimat zu reisen. Ihr Sinn hatte sich nicht geaendert. Noch hatte sie den Groll gegen die Mutter nicht ueberwunden. Trotzdem sie sich sagen musste und zuweilen auch ganz heimlich eingestand, wie noetig fuer ihr Wissen und ihre Ausbildung der Aufenthalt in einer tuechtigen Pension war, so hielt sie immer noch an dem Gedanken fest: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Sie hat mich fortgeschickt.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ich werde hier bleiben," sagte sie, "ich will das Weihnachtsfest mit euch verleben." "Das ist famos!" rief Nellie entzueckt, "ich freue mir furchtbar, dass du nicht fortreisen willst! All unsre Freunde reisen auch nicht, und es ist so schoen hier, die heilige Christ. - Alles bekommt eine grosse Kiste von Haus, mit allen Bescherung und Schokolad' und Marzipan! - und die Christabend wird jede Kiste aufgenagelt, und ich helfe auspacken bald der eine, bald der andre." "Erhaeltst du keine Kiste?" fragte Ilse. "Du weisst ja - ich hab' kein' Eltern - wer sollte mir beschenken?" "Gar, gar nichts bekommst du?" Ilse konnte es nicht fassen. "Zu Neujahr schenkt mein Onkel fuer mir Geld, da kaufe ich mir, was ich notwendig habe." Ilse sah die Freundin schweigend an. Am Abend aber schrieb sie einen langen Brief in die Heimat, worin sie zuerst ihren Entschluss mitteilte, dass sie die Weihnachtstage mit den Freundinnen feiern moechte. Dann ging sie zu dem Geldmangel ueber und schilderte dem Papa mit vielen zaertlichen Schmeichelnamen ihre Not, und zuletzt gedachte sie mit warmen Worten Nellies. - "Noch eine dringende Bitte habe ich zum Schlusse," fuhr sie in ihrem Briefe fort, "an Dich, Mama," wollte sie schreiben, aber sie besann sich und schrieb: "an Euch, liebe Eltern. Meine Freundin Nellie ist naemlich die einzige in der Pension, die keine Weihnachtskiste erhalten wird. Sie ist eine Waise und steht ganz allein in der Welt. Ihr Onkel in London laesst sie zu einer Gouvernante ausbilden. Ist das nicht furchtbar traurig? Ach! und die arme Nellie ist noch so jung und immer so froehlich, ich kann mir gar nicht denken, dass sie eine Gouvernante wird! Es ist doch schrecklich, wenn man kein liebes Vaterhaus hat! - Nun wollt' ich Euch recht von Herzen bitten, Ihr moechtet die Geschenke, die Ihr mir zugedacht habt, zwischen mir und meiner Nellie teilen und zwei Kisten daraus machen. Bitte, bitte! Ihr schenkt mir stets so viel, dass ich doch immer noch genug habe, wenn es auch nur die Haelfte ist. Ich wuerde gewiss keine rechte Freude am heiligen Abend haben, wenn Nellie gar nichts auszupacken haette. Ihr hattet mir Erlaubnis gegeben, an den Tanzstunden nach Weihnachten teilnehmen zu duerfen, und du, liebe Mama, versprachst mir ein neues Kleid dazu, kaufe mir keins, mein blaues ist noch sehr gut und ich komme damit aus. Schenkt Nellie dafuer etwas - bitte, bitte! [Illustration] Mit diesem _heissen_ Wunsche umarmt Euch Eure dankbare Ilse. _N. S._ Das Geld schicke nur recht bald, einziges Papachen, ich habe es furchtbar noetig." Umgehend erhielt denn auch Ilse das Gewuenschte. Der zaertliche Papa hatte in seiner Freude ueber die Herzensguete seines Kindes eine grosse Summe schicken wollen, Frau Anne hielt ihn davon zurueck. Sie stellte ihm vor, dass es fuer Ilse weit besser sei, wenn sie mit geringen Mitteln sich einrichten lerne und stets genuegsam bleibe. Ihr Wunsch, Weihnachten nicht in die Heimat zu kommen, wurde gern erfuellt, der Papa schrieb sogar, er lobe ihren verstaendigen Entschluss. Die weite Reise war im Winter nicht ratsam. Freilich werde er seinen Wildfang schmerzlich vermissen und es werde der Mama und ihm recht einsam sein, aber er wolle sich mit dem Gedanken troesten, dass das naechste Christfest desto schoener ausfallen werde. - Beinah kraenkte sie diese bereitwillige Zustimmung, indes sie kam zu keinem Nachdenken darueber, der Brieftraeger kam und brachte ihr dreissig Mark. "Dreissig Mark!" jubelte Ilse. "Nellie, nun sind wir reich! - Komm, lass uns gleich gehen und unsre Einkaeufe machen, ich kann die Zeit nicht erwarten." "O nein, Kind," entgegnete Nellie bedaechtig, "erst muessen wir ein langer Zettel aufschreiben mit alle Sachen, die wir kaufen werden. Wir muessen doch rechnen, was sie kosten." Daran hatte die lebhafte Ilse gar nicht gedacht. Ohne zu ueberlegen, wuerde sie blind drauf los gekauft und am Ende wieder nicht gereicht haben. Die beiden Maedchen machten sich nun daran, eine Liste aufzusetzen. Die noetigen Geschenke wurden aufgeschrieben und von der praktischen Nellie der ungefaehre Preis dahinter gesetzt. Als Ilse fuer die Kinder des Kutscher Johann ebenfalls Sachen zu kaufen aufschrieb, rief Nellie: "Halt! Du kannst von deine alte Sachen die Kutschermaedchen schenken, dann sparen wir Geld." "Ich habe nichts," meinte Ilse, "kaufen geht schneller." Nellie hatte sich bereits daran gemacht, in Ilses Kommode und auch im Schranke nachzusehen, um sich zu ueberzeugen, ob sie nichts faende. "Man muss sparen und nicht seine Geld aus die Fenster schmeissen." Und siehe da, es fand sich allerhand unter Ilses alten Sachen. Schuerzen, die sie nicht mehr trug, ein Kleid, das ihr zu eng und zu kurz geworden war, und zuletzt noch das vorjaehrige Pelzzeug, welches die guetigen Eltern durch neues, weit kostbareres ersetzt hatten. "Siehst du, Verschwender!" triumphierte Nellie. "Du weisst nicht deine grosse Schatze. Nun kaufen wir fuer dein' Kutscher ein Paar warme Handschuh und fertig ist die ganze Kutschergesellschaft." Die wenigen Wochen bis zum heiligen Abend vergingen in rasender Schnelle. Nellie und Ilse hatten neben so mancherlei andern Arbeiten auch noch die neue Puppe anzukleiden. Das war fuer Ilse eine schwere Aufgabe, und ohne ihre geschickte Freundin waere sie niemals damit zu stande gekommen. "Wie geschickt du bist, Nellie," sagte Ilse, als diese der Puppe das schottische Kleid anprobierte, "das hast du doch geradezu klassisch gemacht. Ich haette es wirklich nicht fertig gebracht." "Aber hast du niemals ein Kleid fuer dein' Puppen genaeht - oder eine Hut - oder ein Mantel?" "Nein," antwortete Ilse aufrichtig, "niemals! Ich habe an den toten Dingern mein Lebtag keine Freude gehabt. Viel lieber habe ich mit den Hunden gespielt." "Da ist kein Wunder, wenn du ein klein', dumm' Ding geblieben bist! Deine Hunde brauchen kein Kleid," lachte Nellie. "Nun musst du auf dein' alt' Tage naehen lernen, siehst du." Ilse lachte froehlich mit und bemuehte sich, das weisse Batistschuerzchen fuer die Puppe, an welchem sie rings herum Spitzen setzte, recht sauber und nett fertig zu bringen. - Einen Tag vor der Bescherung erhielten die erwachsenen Maedchen, denen es Vergnuegen machte, die Erlaubnis, die schoene, grosse Tanne auszuputzen. Das war ein Fest und fuer Ilse ganz und gar neu. Niemals hatte sie sich bis dahin selbst damit befasst, und sie kannte es nicht anders, als dass am Weihnachtsabend ein mit vielem kostbaren Zuckerwerk behangener Baum ihr hell entgegengestrahlt hatte, - hier lernte sie kennen, dass auch ohne Zuckerwerk derselbe herrlich zu schmuecken war. Nach dem Abendbrot, als die juengeren Maedchen und auch die Englaenderinnen, die kein Verstaendnis fuer das harmlose Vergnuegen hatten, zu Bett gegangen waren, begann das Werk. Orla brachte einen grossen Korb mit Tannenzapfen, selbst gesucht auf den Spaziergaengen im Walde, und setzte denselben auf die Tafel. Annemie stellte zwei Schaelchen mit Gummiarabikum daneben, in das eine schuettete sie Silber-, in das andre Goldpuder und ruehrte es mit einem Staebchen um. "Wer will mir helfen," rief Orla. "Ich! ich!" antwortete es von allen Seiten; nur Ilse schwieg, sie hatte keine Ahnung, was eigentlich mit den vielen grossen und kleinen Tannenzaepfchen geschehen solle. - Daheim verkamen dieselben unbeachtet im Walde. - Es sollte ihr bald kein Geheimnis mehr sein. Melanie und Rosi hatten die Pinsel ergriffen und fingen an, den unansehnlichen braunen Dingern ein goldenes oder silbernes Gewand zu geben. Und wie schnell das ging. Kaum hatten sie ein paarmal darueber gepinselt, so waren sie fertig. "Sieh nur, Rosi," rief Melanie aus und hielt einen vergoldeten Zapfen unter die Gaslampe, "ist der nicht furchtbar reizend? Wundervoll, nicht? Gleichmaessig, wirklich kuenstlerisch ist er vergoldet, kein dunkles Puenktchen ist an ihm zu sehen!" Und sie betrachtete das Prachtexemplar hoechst wohlgefaellig nach allen Seiten. Orla und Rosi hatten fleissig weitergepinselt und stillschweigend einen Tannenzapfen nach dem andern beiseite gelegt. "Du bist im hoechsten Grade langweilig mit deinem ewigen Selbstlobe," tadelte Orla, "ich habe noch nie jemand kennen gelernt, der sich so vergoettert wie du. Pinsle lieber weiter und halte dich nicht bei unnuetzen Lobhudeleien auf." Melanie fuehlte sich sehr getroffen und erroetete. "Wie grob du bist, Orla!" sagte sie gereizt, "du hast freilich keinen Sinn fuer harmlose Vergnuegen." "Kinder!" unterbrach Fraeulein Guessow, die am andern Ende der Tafel sass und Aepfel und Nuesse vergoldete, "keinen Streit! Melanie, komm zu mir, du kannst mir helfen, und du Ilse, versuche einmal, ob du Melanies Stelle ersetzen kannst." Ilse liess sich das nicht zweimal sagen. Eilig griff sie zum Pinsel und flink und gesandt that sie ihre Arbeit. Orla war sehr zufrieden damit. "Nur nicht ganz so dick aufstreichen," mahnte sie, "sonst reichen wir nicht mit unsrem Gold- und Silbervorrat." Flora und Annemie fertigten Netze aus Goldpapier an. "Eine geisttoetende Arbeit," fluesterte Flora Annemie zu, "und ausserdem ohne jede Poesie. Warum die Tanne mit allerhand Tand aufputzen? Ist sie nicht am herrlichsten in ihrem duftigen, gruenen Waldkleide? - Lichter vom gelben Wachsstocke in ihr dunkles Nadelhaar gesteckt, - ein goldener Stern hoch oben auf ihrer schlanken Spitze, - schwebend - strahlend! - das nenn' ich Poesie!" - Hier hielt sich Annemie nicht mehr, sie bekam einen solchen Lachreiz, dass sie aufsprang und hinauslief, um sich draussen erst auszulachen. Dicht unter dem Baume standen Grete und Nellie. Letztere hoch auf einer Trittleiter, eine grosse Duete Salz in der Hand haltend. Die andre mit einem Leimtiegel in der Hand war ihr Handlanger. Das heisst, sie reichte Nellie den Pinsel zu, damit diese die Zweige mit dem Leim bestrich, bevor sie Salz darauf warf. "Jetzt bin ich eine grosse Sturmwind und mache der Baum voller Schnee," scherzte Nellie. "Wirklich! - die Zweige werden weiss!" rief Ilse und verliess einen Augenblick ihre Arbeit, um sich das Schneetreiben genau anzusehen. "Das ist aber klassisch! Das gefaellt mir! Nein, das sieht zu reizend aus!" Freilich fiel ein grosser Teil Salz unter den Baum, indes Nellie liess sich die Muehe nicht verdriessen, immer wieder kehrte sie dasselbe zusammen und strich es mit der Hand dick auf den Leim. "Du alt' Baum wirfst sonst alles Schnee auf die Erde," meinte sie. "Aber das ist schlechte Arbeit, alle meiner Finger kleben." Rosi trat jetzt auch an den Baum heran, um ihn mit den glaenzenden Tannenzapfen zu schmuecken. Sie sah heute ganz anders aus als sonst. Ihre sonst so gleichmaessigen Zuege trugen den Ausdruck froher Erwartung, ihre milden Augen strahlten und rosig waren ihre Wangen angehaucht. "O du selige, o du froehliche Weihnachtszeit," summte sie mit ihrer frischen Stimme leise vor sich hin, und Fraeulein Guessow rief ihr zu: "Singe nur laut heraus, Rosi, das bringt uns bei unsrer Arbeit so recht in die echte Weihnachtsstimmung." "Wir wollen alle singen!" riefen Grete und Annemie, "bitte, Fraeulein Guessow!" "Meinetwegen, aber huebsch gedaempft, Kinder, damit die Kleinen nicht davon erwachen." Und nun erklang aus den jugendlichen Kehlen das schoene Lied vierstimmig. - - Die junge Lehrerin senkte den Kopf herab, - der Gesang stimmte sie traurig. Ihre Kindheit - ihre erste Jugendzeit stand mit einemmal lebendig vor ihrer Seele. - - Was hatte sie gehofft - - und wie hatten sich ihre Traeume erfuellt! - - Durch ihre eigne Schuld! - Mitten im Gesange wurde ploetzlich die Thuer geoeffnet und Fraeulein Raimar, begleitet von Herrn Doktor Althoff, trat herein. Sie hatten soeben eine notwendige Besprechung in der Vorsteherin Zimmer beendet. Das war eine Ueberraschung, die niemand vermutet hatte. Der Gesang verstummte und die Maedchen wurden mehr oder weniger verlegen, als der Gegenstand ihrer stillen Verehrung so unerwartet vor ihnen stand. Flora erroetete bis an die Haarwurzeln. "Nun, warum singt ihr nicht weiter, Kinder?" fragte die Vorsteherin. "Lasst euch nicht stoeren durch unsre Gegenwart." Aber es wollte nicht wieder so recht in Zug kommen. Orla setzte zwar ein, aber falsch, sie war sehr wenig musikalisch. - Annemie musste ueber den Misston lachen, und da Lachen ansteckt, - stimmten die uebrigen ein. [Illustration] "Was machen Sie denn, Miss Nellie?" fragte Doktor Althoff und trat auf sie zu. "Warum verstecken Sie Ihre Haende so aengstlich?" Er laechelte sie an. Flora warf einen verstohlenen Blick auf ihn, und bevor sie sich zur Ruhe legte, schrieb sie in ihr Tagebuch: "Er hat sie angelaechelt! Beneidenswerte Nellie! - Bezaubernd - hinreissend - sah er in diesem Augenblicke aus! Die geistvollen, dunklen Augen spruehten Feuer - um die schmalen Lippen zuckte es sarkastisch - wunderbare Perlenzaehne schimmerten durch den dunkelblonden Bart. - Aber Nellie ist kokett! Leider! - Dieser Augenaufschlag!" - "O," entgegnete Nellie hoechst verlegen, "ich habe die Finger verklebt mit der haessliche Leim!" und schnell lief sie hinaus, um sich gruendlich zu reinigen. Doktor Althoff sah ihr wohlgefaellig nach. "Nellie spricht doch sehr schlecht deutsch," bemerkte Flora etwas spoettisch, "ich begreife das eigentlich nicht. Ein Jahr ist sie bereits in der Pension und wie falsch drueckt sie sich noch immer aus." Sie hatte ihre Bemerkung so laut gemacht, dass der junge Lehrer sie hoeren musste. "Die deutsche Sprache ist schwer zu erlernen, Flora," entgegnete er, "und ich muss gestehen, Nellie hat in dem einen Jahre schon sehr gute Fortschritte gemacht. Uebrigens klingen die kleinen Schnitzer, die sie zuweilen macht, ganz allerliebst und naiv, - wir wollen sie nicht deshalb verdammen." Fraeulein Raimar blickte etwas erstaunt auf den Sprechenden, der sich so warm Nellies annahm. Vielleicht fand sie seine Entschuldigung in Gegenwart der uebrigen Maedchen nicht ganz passend. "Es ist sehr spaet, Kinder," unterbrach sie das Thema, "wollt ihr nicht fuer heute aufhoeren und morgen in eurer Arbeit fortfahren?" Aber die Maedchen baten so sehr, heute schon ihr Werk vollenden zu duerfen, dass sie die Erlaubnis erhielten. Zu Floras Aerger, welche die Zeit nicht abwarten konnte, bis sie die vielen grossartigen Gedanken, die in ihrem Kopfe spukten, erst schwarz auf weiss vor sich hatte. Fraeulein Raimar und Doktor Althoff entfernten sich und Nellie trat gleich darauf wieder in das Zimmer. Flora konnte nicht umhin, ihr einen kleinen Seitenhieb zu versetzen. "Warum verstecktest du deine Haende auf dem Ruecken?" fragte sie. "Ich fand das furchtbar komisch von dir. Du dachtest wohl, Doktor Althoff wolle dir die Hand geben?" Die arme Nellie war ueber diesen Angriff so erschrocken, dass sie nicht darauf antworten konnte. Aber Ilse half ihrer Freundin aus der Verlegenheit. "Ich finde nichts Komisches darin, Flora," sagte sie lustig, "wenn Nellie nicht gern beschmutzte Finger sehen lassen will; aber dass du ihr deine eignen Gedanken zutraust, das finde ich komisch! - Ja, ja, Florchen, du bist erkannt!" Flora erroetete, aber sie war klug und antwortete nur mit einem wegwerfenden Achselzucken. - Alle Vorbereitungen waren zu Ende. Die Maedchen trugen Ketten, Netze, kurz allen Schmuck herbei, um den Baum zu behaengen. Wie er sich fuellte! Wie festlich geschmueckt er bald dastand! Ilse bewunderte hauptsaechlich die glaenzenden Tannenzapfen, die sich zwischen den dunklen Nadeln ganz herrlich ausnahmen. "Wie ein Maerchenbaum!" rief sie froehlich, und "Baeumchen ruettle dich und schuettle dich!" setzte sie uebermuetig hinzu. "O, nein!" rief Nellie in komischem Ernste, "nicht schuettle und ruettle dir, Baumchen, es fallt sonst all der Salz von deiner Nadel und ich muss mir noch einmal die Finger zerkleben." "Nie in meinem Leben sah ich einen so schoenen Christbaum!" erklaerte Ilse. "Wir sind noch nicht fertig, Ilse," entgegnete Fraeulein Guessow, "bald haette ich das Gold- und Silberhaar vergessen." - Und nun begann sie feine Faeden rings um den Baum zu spinnen. "Wie schoen! wie schoen!" jubelte Ilse und schlug wie ein Kind vor Freude in die Haende. Dann nahm sie Nellie in den Arm und tanzte mit ihr um den Baum. "Du wirst mit deiner lauten Freude die Schlafenden aufwecken," ermahnte Fraeulein Guessow; aber sie sah Ilse mit inniger Teilnahme an. - Es gab eine Zeit, wo auch sie so froehlich hinausgejubelt hatte in die Welt, - bis der Sturm kam und ihr die Bluete des Frohsinns abstreifte und verwehte. - "Geht nun zu Bett, Kinder," bat sie, "aber leise, hoert ihr? Gute Nacht!" "Gute Nacht, gute Nacht!" rief es zurueck und Ilse setzte hinzu: "Ach, Fraeulein! Wenn es doch erst morgen waere!" - Das war ein Leben am andern Tage! Die Maedchen waren ganz ausser Rand und Band. Ilse war ausgelassen froehlich und Nellie stand ihr darin bei. Annemie lachte ueber jede Kleinigkeit, ja selbst Rosi, die stets Vernuenftige, machte heute eine Ausnahme und schloss sich der allgemeinen Stimmung an. Als Flora ein selbstgedichtetes Weihnachtslied zum besten gab, und die ganze uebermuetige Schar sie dabei auslachte, lachte Rosi mit, - nur als Nellie an zu necken fing, bat sie sanft: "Bitte, Nellie, nicht spotten! Wir haben die arme Flora schon genug gekraenkt, als wir sie auslachten." Melanie und Grete waren die einzigen, die eine leise Verstimmung nicht unterdruecken konnten. Sie hatten gehofft, Weihnachten zu Hause verleben zu koennen, und waren enttaeuscht, als die Eltern ihnen nicht die Erlaubnis gaben, weil sie es nicht passend fanden, dass junge Maedchen allein eine so weite Reise machten. Melanie fand diesen Grund geradezu furchtbar kraenkend. "Als ob ich noch ein Kind waere!" sprach sie aergerlich zu Orla. "Ich bin siebzehn Jahre alt! Und doch wahrhaftig alt und verstaendig genug, uns beide zu schuetzen!" "Aber du bist huebsch," entgegnete die Angeredete mit leichter Ironie, "und das ist gefaehrlich. Denk' einmal, wenn dir unterwegs ein Abenteuer begegnete! Das waere doch furchtbar schrecklich!" "Ich bitte dich, Orla, verschone mich mit deinen albernen Spoettereien!" wehrte Melanie entruestet ab. Aber sie fuehlte sich doch in ihrem Inneren geschmeichelt, die kleine Eitelkeit. "Du hoerst es ja doch gern, Herzchen," lachte Orla. "Warum auch nicht? Huebsch zu sein ist ja keine Schande, - besonders wenn man so wenig eitel ist wie du! Uebrigens troeste dich mit uns, wir sind ja fast alle zurueckgeblieben, bis auf die wenigen Pensionaerinnen, die in der Nachbarschaft wohnen, und die vier Englaenderinnen, die Miss Lead wieder zurueck in ihre Heimat bringt. - Stoere nicht unsre froehliche Laune durch ein verstimmtes Gesicht. Sieh doch nur Lilli an, - kannst du bei dem Anblicke so seliger Freude noch missmutig sein?" Das Kind lief naemlich von einer zur andern, treppauf, treppab und fragte jede Viertelstunde, ob es noch nicht dunkel wuerde, und ob das liebe Christkindl noch nit bald kaem. - Endlich, endlich brach der Abend herein. Die Vorsteherin und Fraeulein Guessow verweilten schon seit zwei Uhr in dem grossen Saale, und in einer Klasse, die dicht daneben lag, sassen erwartungsvoll die Pensionaerinnen. Natuerlich im Dunkeln, denn Licht durfte vor der Bescherung nicht angesteckt werden. Lilli fuehlte sich etwas unheimlich in der Finsternis. Sie kletterte auf Ilses Schoss und schlang den Arm um ihren Hals. "Kommt denn das Christkindl noch nit bald?" fragte sie wieder. "Schau, es ist halt schon stockfinster." "Nun bald," troestete Ilse und drueckte Lilli zaertlich an sich. Das Anschmiegen des Kindes that ihr so wohl und seine Liebe machte sie so gluecklich. "Bald kommt das Christkind, ach, und wie schoen wird das sein! - Soll ich dir ein Maerchen erzaehlen, damit dir die Zeit schneller vergeht?" "Bitt schoen! Vom Hansel und Gretel!" Ilse hatte indes kaum begonnen "es war einmal", als Lilli ihr den Mund zuhielt. "Nit weiter!" unterbrach sie, "ich mag das heut nit hoeren! Ich muss immer an das Christkindl denken. Kennst du das liebe Christkindl, Ilse? Hast du's schon g'schaut?" "Nein," sagte Ilse, "gesehen habe ich es noch niemals. Niemand kann es sehen, es wohnt nicht auf der Erde." "Wohnt es im Himmel?" fragte Lilli. "Schau, da moecht' ich halt auch wohnen, da ist's schoen, nit? Da singen die lieben Englein, und die lieben Englein, die wohnten frueher auf der Erde, das waren die artigen Kinder, nit? - Der liebe Gott hat sie in sein Himmelreich geholt, nit wahr, Ilse?" Die Worte des Kindes riefen sentimentale Ahnungen in Flora hervor, sie war auch im Begriff, dieselben auszusprechen, als Nellie ihr das Wort abschnitt. "Was schwatzt der kleine Kind fuer Zeug?" sagte sie und streichelte liebkosend Lillis Hand. "Wo hast du dies gehoert? Keiner Mensch hat noch in der Himmel geschaut." "Aber die Mama hat's gesagt, - sie weiss es, nit wahr, Ilse?" rief Lilli heftig. Die gab ihr keine Antwort darauf, sie versuchte, das Kind auf andre Gedanken zu bringen. "Moechtest du wieder zu deiner Mama?" fragte sie. "Nein," entgegnete Lilli, "ich bleib' lieber bei euch. Die Mama kuemmert sich halt so wenig um mich, sie hat kein' Zeit. Sie muss immer studieren," setzte sie altklug hinzu. "Alle Abend geht sie ins Theater." "Denn es kuemmert sich ka Katzerl - ka Hunderl um mi!" recitierte Flora schwaermerisch. "Komm zu mir, Lilli," bat Melanie, "ich will dir eine herrliche Weihnachtsgeschichte erzaehlen." "Bitt', bitt', lass mich bei Ilse bleiben, Melanie, ich will ganz gewiss recht genau zuhoeren auf dein G'schicht." Und waehrend Melanie ihre Erzaehlung zum besten giebt, wollen wir einen Blick in den Weihnachtssaal werfen. Die beiden Damen waren so ziemlich fertig mit ihrer grossen Arbeit. Fraeulein Guessow war dabei, noch einige versiegelte Pakete auf verschiedene Plaetze zu verteilen. Es waren in denselben die Geschenke enthalten, welche die junge Welt sich untereinander bescherte. Der Name der Empfaengerin war darauf geschrieben, die Geberin musste erraten werden. Fraeulein Raimar stand neben dem Gaertner, der eifrig beschaeftigt war, die angekommenen Kisten zu oeffnen, die Deckel wurden lose wieder darauf gelegt, denn das Auspacken besorgten die Empfaengerinnen selbst. Nur mit Lilli wurde eine Ausnahme gemacht, Fraeulein Raimar packte deren Kiste aus und schuettelte den Kopf, als sie damit beschaeftigt war. "Sehen Sie nur den Tand, liebe Freundin," sagte sie. "Nicht ein vernuenftiges Stueck finde ich dabei. Zwei weisse Kleider, so kurz, dass sie dem Kinde kaum bis an die Knie reichen, aber schoen gestickt, hier eine breite rosa Atlasschaerpe, ein kleiner Hermelinmuff, ein Paar feine Saffianstiefel und eine Puppe im Ballstaat. Und vieles Zuckerwerk - das ist alles! Warme Struempfe und eine warme Decke, um die ich so sehr gebeten, und die dem Kinde so noetig sind, - sie fehlen ganz." "Hier scheint ein Brief fuer Sie zu sein," sagte Fraeulein Guessow und nahm ein duftiges rosa Billet von der Erde auf. Wahrscheinlich war dasselbe aus dem Muff gefallen, den die Vorsteherin noch in der Hand hielt. Sie erbrach das an sie gerichtete Schreiben und las wie folgt: "Ich ersuche Sie freundlich, meiner Lilli die Kleinigkeiten unter den Baum zu legen. Hoffentlich ist das liebe Herzl recht gesund. Nun ich hab halt nit noetig, mich zu sorgen, weiss ich doch das goldene Fischel in so gute Haend! - Wollne Struempf und a Jackerl hab i halt nit mitgeschickt, i wuensch das Kind nit zu verwoehnen. Es soll immer a weiss Kleiderl anziehn, - Hals frei und Arme frei, - so ist sie's gewohnt, und dabei moecht ich's halt lassen. Geben Sie mein Herzblatterl tausend Schmazerl, und dass es die Mama nit vergisst! Mit dankbaren Gruessen verbleib ich Ihre ergebene _Toni Lubauer_." "Weisse Kleider und duenne Struempfe!" wiederholte Fraeulein Raimar kopfschuettelnd. "Es ist gut, dass wir fuer einiges gesorgt haben, ich koennte es nicht vor mir selbst verantworten, das kleine Ding so durchsichtig und wenig bekleidet zu sehen." Die junge Lehrerin stimmte bei und warf einen recht befriedigten Blick auf all die schoenen und nuetzlichen Sachen, die auf Lillis Tischchen aufgebaut lagen. Der Gaertner war mit seiner Arbeit fertig und hatte das Zimmer verlassen - die Damen zuendeten die Lichter des Baumes an, und als auch das geschehen war, ergriff die Vorsteherin eine silberne Klingel und laeutete. Wie mit einem Zauberschlage flogen die Fluegelthueren auf und die junge Schar stuermte herein. Einen Augenblick standen sie wie geblendet da. So ploetzlich aus der Dunkelheit in das helle Licht, - der Kontrast war fast zu grell. Lilli besonders stand wie gebannt da und hielt Ilses Hand krampfhaft fest. "Komm," redete Fraeulein Raimar sie an, "ich will dich an deinen Tisch fuehren, du bist ja ganz stumm geworden." Als das Kind vor seiner Bescherung stand, kehrte seine Lebhaftigkeit zurueck. "Die schoene Puppe!" rief es entzueckt und schlug die Haendchen zusammen. "Die ist aber halt zu schoen! Meine alte Lori ist lang nit so suess! - Und ein Strohhueterl hat sie auf - ach Gotterl! und die langen Zopferl! Und ein Schultascherl tragt sie am Arm! Bitt schoen, Fraeulein, darf ich sie in die Hand nehmen? Ich moecht sie ganz nah anschaun! Bitt schoen, erlaube mir's!" Fraeulein Raimar erfuellte gern die Bitte des Kindes, das behutsam sein Pueppchen in den Arm nahm. "Sie kann die Augerl schliessen!" fuhr dasselbe fort. "Schau, Fraeulein, sie will schlafen!" Das Kind war ganz ausser sich vor Entzuecken bei dieser Entdeckung und hielt sein Plappermaeulchen nicht einen Augenblick still. "Meine Lori hat die Aeugerl immer auf, sie kann nit schlafen, nit wahr, Fraeulein? Die ist dumm, lang nit so gescheit wie diese. - Hast du mir die Puppe geschenkt, Fraeulein?" "Nein," entgegnete diese, die sich an Lillis jubelnder Freude erquickte. "Ilse und Nellie haben sie dir angezogen. Aber sieh einmal, hier hast du noch eine Puppe, die hat dir deine Mama geschenkt." Kaum einen Blick hatte sie fuer die kostbare Balldame. "Die ist mir zu geputzt," sagte sie, "die kann ich doch nit in das Bett legen! Die kann mein Kind nit sein!" - Und mit der Puppe im Arme lief sie zu Ilse, um sich zu bedanken. Diese aber war sehr beschaeftigt. Sie packte ihre Kiste aus und hatte nicht Zeit, an etwas anderes zu denken. "Spaeter, Liebling," sagte sie, und fertigte die Kleine mit einem fluechtigen Kuss ab. - Soeben hielt sie einen praechtigen rosa Wollstoff in der Hand und Nellie stand neben ihr und bewunderte denselben lebhaft. "O wie suess!" rief sie. "Wie von Spinnweb so fein! Und wie er dir kleidet," fuhr sie fort und hielt den Stoff der Freundin an, "das wird ein schoen' Tanzstundenkleid! Du wirst dir wie eine Fee darin machen!" Ilse aber war gar nicht recht vergnuegt ueber das kostbare Geschenk, es malte sich sogar etwas wie Enttaeuschung in ihren Zuegen. Warum mochten die Eltern ihre Bitte nicht beruecksichtigt, ja nicht einmal eine Antwort darauf gegeben haben? Und Nellie war so gut - so neidlos teilte sie ihre Freude. So mochte auch Fraeulein Guessow denken, die naeher getreten war. Sie legte den Arm um Nellies Schulter und fragte: "Warum packst du nicht deine eigene Kiste aus?" "Meine Kiste?" wiederholte Nellie. "O Fraeulein, Sie spassen! Fuer mir giebt es das nicht!" Ilse horchte auf. Einen schnellen, fragenden Blick warf sie der jungen Lehrerin zu und diese antwortete mit einem geheimnisvollen Laecheln. "Wer weiss!" fuhr sie fort, "sieh einmal nach, vielleicht hat eine guetige Fee dir etwas beschert." Ilse erhob sich schnell aus ihrer knieenden Stellung und nahm die Freundin unter den Arm. "Komm," sagte sie, "wir wollen suchen." Kiste an Kiste stand da in der Reihe, jede indes war bereits in Besitz genommen, Ilses Auge aber flog voraus. Sie hatte am Ende des Saales eine herrenlose Kiste entdeckt, dorthin zog sie Nellie. Und richtig, da stand mit grossen Buchstaben auf dem Deckel: "An Miss Nellie Grey." - Es war kein Zweifel, die Adresse lautete an sie. "O, was ist dies!" rief Nellie ueberrascht und ihre Wangen roeteten sich, "wer hat an mir gedacht? Ist es gewiss fuer mir?" "Ja, sie ist wirklich fuer dich," versicherte Ilse strahlend, denn nun hatte sie erst die echte Weihnachtsfreude, "nimm nur den Deckel hoch." Immer noch etwas zoegernd folgte Nellie dieser Aufforderung. Welche Ueberraschung! Da lag obenauf ein gleicher Stoff in blassblau, wie sie soeben denselben in rosa bei Ilse bewundert. Und wie sie nun weiter auspackten, jetzt eine jede ihre eigene Kiste, da hielten sie sich jubelnd stets die gleichen Herrlichkeiten entgegen. Bald war es eine gestickte Schuerze, dann kamen farbige Struempfe an die Reihe, Handschuhe, sogar die Korallenkette, die schon lange ein sehnlicher Wunsch Ilses war, fehlte bei Nellies Bescherung nicht. Auch die vielen Leckereien waren gleichmaessig verteilt. Ilse hatte in einem Karton mit Briefpapier einen langen zaertlichen Brief der Eltern gefunden und als Nellie den ihrigen oeffnete, lag auch fuer sie ein kleines Briefchen darin. "Meine liebe Nellie," schrieb Ilses Mama, "ich darf Sie doch so nennen als meiner Ilse liebste Freundin? Mein Mann und ich moechten Ihnen so gern einen kleinen Beweis geben, wie dankbar wir Ihnen sind fuer die Liebe und Freundschaft, die Sie stets unsrem Kinde zu teil werden liessen. Zwei Freundinnen aber muessen auch gleiche Freuden haben - und mit diesem Gedanken bitten wir Sie herzlich, den Inhalt der Kiste freundlich anzunehmen. Mit dem aufrichtigen Wunsche, dass Sie auch fernerhin unsrer Ilse eine treue Freundin bleiben moegen, gruesst Sie herzlich _Anne Macket_." Nellie fiel Ilse um den Hals und vermochte kein Wort hervorzubringen. Die Ruehrung schnuerte ihr die Kehle zu - Thraenen waren seltene Gaeste bei unsrer Nellie. Das fruehverwaiste Maedchen, das sich von klein auf stets bei Verwandten herumdruecken musste, dem das Sonnenlicht der elterlichen Liebe fehlte, hatte das Weinen beinah verlernt. Wer haette auch auf seine Thraenen achten sollen? "Dein Mutter ist ein Engel!" brachte sie endlich, so halb unterdrueckt, heraus. "Wie soll ich sie fuer alles danken?" "Ja, meine Mama ist sehr gut!" bestaetigte Ilse, und zum erstenmal stieg ein warmes, zaertliches Gefuehl fuer dieselbe in ihrem Herzen auf. Fuer sentimentale Stimmungen waren Ilse und Nellie indes nicht angethan, und als erstere ein Stueck Marzipan der Freundin in den Mund steckte, war die Ruehrung zu Ende. Thraenenden Auges verzehrte es Nellie, und dieser Anblick kam Ilse so possierlich vor, dass sie lachen musste, - natuerlich stimmte Nellie ein. "Seid ihr fertig, Kinder? Habt ihr alle eure Kisten ausgepackt!" rief Fraeulein Raimar und unterbrach das Gewirr von Stimmen, das laut und lebhaft durcheinander klang. "Ja, ja!" rief es zurueck und nun beeiferte sich eine jede, die heimatliche Bescherung vorzuzeigen, und die Vorsteherin blickte in lauter freudig erregte und zufriedene Gesichter. Nur Flora sah etwas enttaeuscht aus. Sie hatte anstatt "Jean Pauls Werke", die sie sich so gluehend gewuenscht, "Schlossers Weltgeschichte" erhalten mit dem Versprechen vom Papa, dass, wenn sie erst reifer fuer solche Lektuere sei, sie dieses Werk erhalten werde. Reifer! Es klang ihr wie bittrer Hohn. Sie fuehlte sich mit ihren sechzehn Jahren schon so ueberreif, dass sie selbst poetische Werke in das Leben rief - und sie - sie sollte nicht "Jean Paul" lesen! Nachdem die Geschenke der Eltern auf eine leer gelassene Tafel aufgebaut waren, und nachdem die Maedchen auch diejenigen der Lehrerinnen in Empfang genommen hatten, kamen endlich die versiegelten und verpackten Ueberraschungen an die Reihe. Da kamen denn allerhand drollige Dinge zum Vorschein und der Jubel und das Lachen wollten kein Ende nehmen. Flora hatte soeben einen langen, blauen Strumpf aus zahllosen Papieren herausgewickelt und hielt ihn hoch in der Hand. Etwas verwundert drehte sie diese wunderbare Gabe nach allen Seiten, die ironische Anspielung fiel ihr nicht sogleich ein. "Ein Strumpf?" fragte sie, "was soll ich damit?" "Er ist dein Wappen, lieber Blaustrumpf," belehrte sie Orla. "Die Idee ist wirklich famos!" "Er ist von dir!" beschuldigte sie Flora. "Leider nein," entgegnete Orla. Annemie lachte so laut und herzhaft, dass sie sich als die Geberin verriet. "Bist du mir boese, Flora?" fragte sie gutmuetig. [Illustration] Sonderbare Frage! Ganz im Gegenteil, Flora fuehlte sich hoechst geschmeichelt, dass man sie zu den Blaustruempfen zaehlte. Der gestickte Schlips, den Annemie in den Strumpf versteckt hatte, erfreute sie nicht halb so wie die dichterische Anerkennung. - In bester Stimmung loeste sie jetzt den Bindfaden von einem Pappkasten. Derselbe war eng damit umschnuert. Auf dem Deckel war ein Weinglas gemalt und mit grossen Buchstaben stand "Vorsicht" daneben geschrieben. Ganz behutsam nahm sie denn auch den Deckel ab, warf die Papierschnitzel heraus und fand in feines Seidenpapier eingeschlagen ein zerbrochenes Herz von Bisquit! "Wie abscheulich von dir, Nellie!" rief sie gekraenkt und wandte sich sofort an die richtige Adresse. Das Herz warf sie achtlos beiseite. "Nicht so hitzig, Flora," riet Grete, "sieh doch das zerbrochene Herz erst naeher an." Zoegernd entschloss sie sich dazu, und als sie ein reizendes, kleines Toilettekissen hoechst kuenstlich verborgen entdeckte, soehnte sie sich einigermassen mit der boesen Nellie aus. Aber nicht Flora allein, auch all die uebrigen mussten manche kleine Neckerei in den Kauf nehmen, so manche schwache Seite wurde an das Tageslicht gefoerdert und schonungslos gegeisselt. Die Vorsteherin wachte darueber, dass diese Reibereien stets in den Grenzen des Scherzes blieben; im allgemeinen hielt sie dieselben fuer ein gutes Mittel, sich gegenseitig auf die Fehler aufmerksam zu machen, es half oft mehr als alle ernsten Ermahnungen. Nellie stand vor einem grossen Berg Esswaren, die sie aus ihren Paketen, in welchen sie ausser einem kleinen Geschenke immer noch nebenbei allerhand Suessigkeiten fand, herausgewickelt hatte. Schokolade, Marzipan, Apfelsinen, Rosinen und Mandeln, Lebkuchen, und in einem reizenden Kasten von Porzellan zwei saure Gurken. Diese waren eine besondere Lieblingsspeise von ihr. Sie lachte und fragte, ob sie ein so hungrig Maedchen sei. "O, da ist ja noch ein Paket," fuhr sie fort, "was fuer ein leckerer Bissen wird wohl darin sein?" Aber sie irrte sich, diesmal kam ein Buch zum Vorschein und wie sie es aufschlug, las sie auf dem Titelblatte: "Deutsche Grammatik." Ein Blatt Papier mit einem kleinen Gedichte lag dabei. Nellie las es vor. "Lerne fleissig die deutsche Sprache - Willst du begreifen holde Poesie. Dies Buch ist einer Verkannten Rache, Die du verstanden hast noch nie!" "Flora!" rief Nellie. "Du hast mir mit deine edle Rache sehr beschaemt! Ich werde lernen aus dieser Buch und dir verstehen! - Komm, gieb dein' Hand, ich verspreche dich, dass ich nie wieder dein' holde Poesie auslachen will, und wenn sie voll lauter zerbrochene Herzen ist." - Orla hatte unter anderm einen Klemmer erhalten und - o Schrecken! auch ein Etui mit Cigaretten. Fraeulein Raimar stand neben ihr und sah das verraeterische Ding. "Was ist denn das?" fragte sie. "Ich will nicht hoffen, Orla, dass du wie eine Emanzipierte rauchst! Du wuerdest mich sehr erzuernen, wenn das der Fall waere. Doch," unterbrach sie sich, "wie komme ich dazu, einen Scherz fuer Ernst zu nehmen, am Weihnachtsabend sind dergleichen Witze erlaubt." Leiser und nur fuer die Russin vernehmbar setzte sie hinzu: "Ich habe das feste Vertrauen zu dir, dass du niemals rauchen wirst!" Die Angeredete schwieg und senkte die Augen. Der Tadel traf die Wahrheit, sie hatte wirklich manchmal im Verborgenen eine Cigarette geraucht. War es doch in ihrer Heimat nichts Auffallendes, wenn eine Dame sich ein kleines Rauchvergnuegen machte. Innerlich schalt sie die Pedanterie der Deutschen, der sie eine so harmlose Freude zum Opfer bringen musste, denn niemals wuerde es ihre Wahrheitsliebe gestattet haben, gegen das Verbot der Vorsteherin zu suendigen, - mit einiger Ueberwindung reichte sie derselben die Cigaretten. "Bitte, bewahren Sie mir dieselben," bat sie und laechelnd fuegte sie hinzu: "Damit ich nicht in Versuchung komme ..." Melanie liebaeugelte mit einem zierlichen Handspiegel. Sie freute sich sehr ueber denselben, noch mehr aber ueber ihr eignes Bild, das ihr entgegenlachte. Grete blickte ihr ueber die Schulter. "Das ist eine Anspielung auf deine Eitelkeit, Melanie! Ich habe nichts bekommen, was mich aergern oder wodurch ich mich getroffen fuehlen koennte!" "Nun glaubst du dich wohl fehlerfrei, liebe Grete!" spottete Melanie. "Bilde dir das ja nicht ein, liebes Kind, du bist noch laengst kein vollkommnes Wesen. Es giebt sehr vieles an dir auszusetzen!" Und als ob ihre Worte sofort in Erfuellung gehen sollten, rief Fraeulein Guessow: "Grete, da steht noch eine vergessene Schachtel auf deinem Platze! Du hattest Papier darauf geworfen und wirst sie deshalb uebersehen haben!" Vergnuegt und erwartungsvoll oeffnete Gretchen die Schachtel. O weh! als sie den Deckel abhob, lachte ein glaenzendes, zierlich gearbeitetes Vorlegeschloss sie boshaft an. "Das ist eine Anspielung fuer dich, teures Plappermaeulchen!" rief Melanie mit schwesterlicher Schadenfreude, und hielt das Schloss an Gretes Lippen. "So, damit du in Zukunft huebsch schweigst und nicht so vorlaut bist." Unwillig wandte Grete sich ab, sie war gar wenig erbaut von der Ueberraschung. Sie warf das Schloss wieder in die Schachtel, schloss den Deckel und verriet durch ihre Empfindlichkeit, wie sehr sie sich getroffen fuehlte .... Ilse hatte aus einer maechtigen Kiste, die bis obenhin mit Heu gefuellt war, einen Hund herausgeholt. Keinen lebendigen, o nein! es war nur einer aus Pappe. Braun sah er aus und hatte weisse Pfoetchen. Um den Hals trug er einen Zettel am roten Bande, auf welchem mit grossen Buchstaben "Bob" geschrieben stand. "Orla!" erriet Ilse sofort. Dieselbe hatte sie oft genug mit ihrem Hunde aufgezogen. Es kam ihr jetzt selbst recht laecherlich vor, wenn sie sich ihren Einzug in der Pension mit Bob auf dem Arme ausmalte. Wie einfaeltig war sie gewesen - wie unnuetz hatte sie den armen Papa gequaelt! - Ilse hatte noch eine Ueberraschung, bei der sie fast erschrak. In einem reizenden Arbeitskorbe fand sie mehrere Aepfel von Marzipan. Nellie stand neben Ilse und fluesterte ihr zu: "Diese sind Aepfel von der Baum - weisst du noch?" Als die Angeredete aengstlich zur Seite blickte, fuhr sie beruhigend fort: "Du darfst nicht Angst haben, niemand hoert uns." Sie hatte recht. Die Aufmerksamkeit aller war auf einen Vogelbauer gerichtet, in welchem eine lebendige Lachtaube sass. Annemie hielt denselben hoechst angenehm ueberrascht in der Hand. "Nun koennt ihr um die Wette lachen," scherzte die Vorsteherin, "denn das Taeubchen darfst du behalten und in deinem Zimmer aufhaengen. Aber vergiss niemals, Annemie, dass du das Tierchen regelmaessig fuettern musst, hoerst du?" So erhielt eine jede ihre scherzhafte Ruege, nur Rosi nicht. Sie zerbrachen sich den Kopf, um einen Tadel an ihr zu entdecken, aber zu ihrem Bedauern fanden sie keinen. "Ganz ohne Scherz darf sie nicht sein," erklaerte Nellie, ging hin und kaufte ein Bilderbuch, auf dessen Titelblatt in goldenen Buchstaben drei Worte glaenzten: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Fuer artige Kinder{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}. - "Dies passt sehr fuer ihr," sagte sie, und die uebrigen Maedchen stimmten ein. Rosi nahm das Buch, laechelte und legte es beiseite. Sie konnte nicht so recht begreifen, was es bedeuten sollte .... Nachdem die Bescherung zu Ende und nachdem auch fuer die beiden Damen ein Tisch mit allerhand selbstgearbeiteten Sachen ausgebaut war, wurde der Thee eingenommen und kurze Zeit darauf zur Ruhe gegangen. Lilli wurde es schwer, sich von ihren schoenen Sachen zu trennen, sie wollte nicht zu Bett gehen, aber der Sandmann kam und streute ihr den Schlaf in die Augen. Schlafend wurde sie entkleidet und in ihr Bett, das in Fraeulein Guessows Zimmer stand, getragen. Und nun wurde es still und dunkel im Hause. Der schoene Christabend war zu Ende mit seiner frohen Erwartung, seinem Lichterglanze .... Ob wohl der Baum im naechsten Jahre fuer alle wieder angezuendet wird, die heute unter ihm versammelt waren? - * * * Nun war alles wieder im alten Geleise! Der Unterricht hatte begonnen und Miss Lead war wenige Tage nach Neujahr von ihrer ueberseeischen Reise zurueckgekehrt. Sie hatte sechs junge Englaenderinnen mitgebracht, die kein Wort Deutsch verstanden und sehr viel Heimweh hatten. Nellie versuchte es, sie zu troesten, aber sie verschlossen sich starr gegen jedes Trosteswort, sie fuehlten sich ungluecklich im fremden Lande. Sie wollten nicht Deutsch lernen, sie hassten diese Sprache und die Menschen, erklaerten sie. Lange Jammerbriefe sandten sie in die Heimat, in denen sie die Angehoerigen himmelhoch baten, sie wieder zurueckkehren zu lassen. Es war diese Art und Weise nichts Auffallendes und nichts Neues. Fraeulein Raimar legte keinen Wert darauf, aehnliche Erfahrungen machte sie stets mit den Englaenderinnen. Es war schon vorgekommen, dass diese oder jene sich vornahm, zu verhungern, und Speise und Trank hartnaeckig verweigerte. Vor Hunger gestorben war indes noch keine, wenn der Magen zu energisch sein Recht verlangte, entsagten sie dem Hungertode. "Ich mag meine Landsmaenner gar nicht sehr!" bemerkte Nellie eines Tages zu Ilse. "Die Deutsche liebe ich mehr. Ich will nicht zurueck in meine Heimat." "Landsmaenner!" wiederholte Ilse. "Gleich sage einmal, wie es richtig heisst. Neulich habe ich es dir erst gesagt." "O ja, ich weiss, Landsfrauen heisst es," verbesserte sich Nellie. "Du bist klassisch!" lachte Ilse laut. "Lands-maenn-innen heisst es. Sag einmal nach - so - und nun vergiss dieses Wort nicht wieder, du liebe, englische Deutsche! Du bist auch ganz anders wie deine Landsmaenninnen, lange nicht so steif, so zurueckhaltend und so hochmuetig wie die! Sie sehen immer auf uns herab, als ob sie sagen wollten: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Gott sei Dank, dass ich keine Deutsche bin!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" "O nein!" wehrte sich Nellie, in der ploetzlich der Nationalstolz wach wurde, "so schlimm darfst du nicht sagen! Es hat den Schein, dass sie hochmuetig sind, weil sie dir nicht verstehen, sie macht ein fremdes Gesicht, weiter nix!" "Sie sind hochmuetig, Nellie!" neckte Ilse. "Entschuldige deine langweiligen Englaenderinnen nicht. Eben sagtest du selbst, dass du sie nicht leiden moechtest." Das gestand Nellie zu. Sie meinte aber, sie selbst koenne so sprechen, ein gleiches Urteil aus einem andern Munde koenne und duerfe sie nicht anhoeren. Sie wolle es auch nicht. "Du bist doch aber ganz wunderlich, Nellie," lachte Ilse, "Doktor Althoff wuerde sagen: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Sie haben verdrehte Ansichten, Miss Nellie.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}" "O nein," entgegnete Nellie eifrig und leicht erroetend, "Doktor Althoff wuerde mir verstehn. Er weiss, wie es in mein Herz aussieht!" Das kam Ilse aeusserst komisch vor und sie neckte die Freundin damit sehr. "Er haette viel zu thun, wenn er in alle eure Herzen blicken wollte!" rief sie lachend, "und wenn er sich wirklich einmal die Muehe gaebe, so wuerde er euch schoen verhoehnen, dich und alle die andern, die ihr fuer ihn schwaermt." - Ilse lernte jetzt mit rechtem Eifer und schon laengst war ihr das Arbeiten keine Last mehr. Das Zeichnen machte ihr besondre Freude, und seitdem der Papa so glueckselig ueber die ihm geschenkte Rose geschrieben, strebte sie darnach, auch das zu erreichen, was derselbe in seiner blinden Liebe zu ihr schon erreicht sah. Er hielt sie bereits fuer eine Kuenstlerin und mit Stolz hatte er ihr geschrieben, dass er die Rose habe einrahmen lassen und dass sie nun ueber seinem Schreibtisch haenge. Ilse war gar nicht damit einverstanden, sie wusste ja genau, wie der zaertliche Papa jeden Besuch, der zu ihm kam, zu ihrem schwachen Erstlingswerk fuehren werde. Auch die Mama war hocherfreut ueber Ilses Weihnachtsgeschenke gewesen. Sie gaben ihr ein glaenzendes Zeugnis von deren Fortschritten und der Ausdauer, die der Wildfang bis dahin nicht gekannt hatte. Die groesste Freude indes hatte sie an Ilses Dankesbrief gehabt. Es war das erste Mal, dass sie in so herzlich warmer Weise das Wort an sie richtete und Frau Annes Augen fuellten sich mit Thraenen freudiger Ruehrung. Sie fuehlte jetzt bestimmt, dass die Zukunft ihr Ilses volle Liebe bringen werde. - Die laengst ersehnten Tanzstunden hatten bereits seit vierzehn Tagen begonnen und brachten etwas Abwechselung in das gleichmaessige Pensionsleben. Zweimal in der Woche kam von sechs bis acht Uhr abends der Tanzlehrer mit einer Geige und unterrichtete im grossen Saale. Nicht alle Zoeglinge nahmen teil daran. Die kleineren Maedchen nicht und auch die Englaenderinnen schlossen sich aus, sie verstanden noch zu wenig Deutsch, auch konnten sie vorlaeufig keinen Geschmack an den einfoermigen Pas finden. Melanie konnte das freilich auch nicht und fand bis jetzt die Tanzstunde {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}furchtbar oede{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}. "Es ist ein furchtbar langweiliges Vergnuegen, diese Huepferei," aeusserte sie auf einem Spaziergange zu Flora, "wozu diese Pas - diese Verbeugungen? Wir koennen doch alle schon tanzen, und wie wir uns zu verbeugen haben - und gruessen muessen, das wissen wir doch erst recht. Wir sind doch erwachsene Maedchen!" "Ach!" seufzte Flora und ein schwaermerischer Blick glitt seitwaerts ueber den spiegelglatten Teich - zu den schlittschuhlaufenden Gymnasiasten hinueber - "ach! das moechte noch alles gehen. Das Fuerchterlichste ist doch, dass wir zwei volle Monate ohne Herren tanzen muessen!" "Wie furchtbar oede!" Melanie rief es ordentlich entruestet. "Man behandelt uns wahrhaftig mit puritanischer Strenge! Ohne - Herren! Es ist kaum zu glauben!" "Ja, mit puritanischer Strenge!" wiederholte Flora, der dies Wort ausserordentlich gefiel. "Ich begreife nicht, warum uns der Verkehr mit den Herren so lange entzogen wird. Man behandelt uns eben wie Kinder!" Die {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}furchtbar oeden{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Monate gingen indessen auch zu Ende und Fraeulein Raimar schickte Einladungen aus an junge, wohlerzogene Herren, die das Gymnasium besuchten, und ersuchte sie, die letzten vier Wochen an dem Tanzunterrichte teilzunehmen. Mit welcher Freude diese Einladungen begruesst wurden, brauche ich nicht zu sagen. Die jungen Leute schaetzten es sich zur besonderen Ehre, zu den Tanzabenden in der Pension zugezogen zu werden. Diesmal brannten sie besonders darauf, weil sie behaupteten, dass noch niemals so huebsche Maedchen in dem Institute gewesen seien. Sie kannten dieselben von Ansehen sehr genau, denn, wenn irgend moeglich, suchten sie ihnen auf den Spaziergaengen zu begegnen. Nun sollten sie mit ihnen tanzen, sich mit ihnen unterhalten duerfen, es war zu famos! "Ihr werdet heute abend zum ersten Male mit Herren tanzen, Kinder," kuendigte Fraeulein Raimar eines Mittwochs bei der Mittagstafel an. Und als sie bemerkte, wie vergnuegt die meisten diese frohe Botschaft entgegennahmen, fuegte sie hinzu: "Ich hoffe, dass ihr euch nicht zu lebhaft mit den jungen Leuten unterhalten werdet! Vergesst nicht, dass dieselben nur des Tanzes, nicht der Unterhaltung wegen da sind!" Annemie kamen diese Ermahnungen so komisch vor, dass sie zu kichern anfing. Ein strafender Blick traf sie dafuer. "Fuer dich sind meine Worte besonders gesprochen, Annemie," nahm die Vorsteherin wieder das Wort, "ich fuerchte, du wirst dich durch dein albernes Lachen auffallend machen, huete dich davor. Und dich, Grete, ermahne ich ernstlich, nicht so viel zu schwatzen. Ueberlege erst, was du sagen willst, damit kein Unsinn herauskommt." So und in aehnlicher Weise warnte und ermahnte sie ihre jungen Zoeglinge, die in ihrer erwartungsvollen Aufregung heute nur mit halbem Ohre hoerten, was ihnen so eindringlich vorgestellt wurde. Viel wichtiger erschien ihnen die Frage: "Was werdet ihr heute abend anziehen? Womit werdet ihr euch schmuecken?" Sie hatten auch kaum das Speisezimmer verlassen, als sie die Treppen hinaufstuermten, um in Orlas und der Schwestern Zimmer eine grosse Beratung zu halten. Melanie holte einen grossen Pappkasten hervor und fing an, Blumen und Baender herauszukramen. Sie hatte sich vor den Spiegel gestellt und hielt eine Rose in ihr schoenes aschblondes Haar. "Wie findet ihr diese Rose?" fragte sie. "Bitte, seht doch einmal! Kuemmert sich denn kein Mensch um mich?" rief sie laut und ungeduldig den Durcheinanderschwatzenden zu und stampfte sogar etwas mit dem Fusse auf. "Sie steht dir gut, Melanie," antwortete Rosi, die eben erst eingetreten war und die letzten Worte hoerte, an ihre eigene Toilette dachte sie nicht. "Das dunkle Rot in deinem blonden Haar sieht praechtig aus!" "Du hast nicht viel Geschmack, liebste Rosi. Nimm mir nicht uebel, dass ich es dir frei heraussage," fertigte Melanie die Aermste ab. "Orla, bitte, gieb du dein Urteil ab." Die Russin galt als die eleganteste, deren Toilette stets am geschmackvollsten war. Mit Kennermiene musterte sie denn auch Melanie. "Die dunkle Rose ist zu grell," entschied sie, "fuer dein Haar passt eine blassrote besser. Uebrigens, was willst du denn anziehen? Das ist doch am Ende die Hauptsache und darnach musst du die Blumen waehlen." "Mein blaues Batistkleid, denke ich." "Dein bestes Kleid!" rief die vorlaute Grete erstaunt. "Gut, dann ziehe ich mein gebluemtes an!" Gerade wie die Verhandlungen am lautesten waren, oeffnete sich die Thuer und Fraeulein Guessow trat ein. "Fraeulein Raimar laesst euch sagen, ihr moechtet heute abend eure Sonntagskleider tragen," verkuendete sie. "O! ..." Langgedehnt und unzufrieden kam es ueber Melanies Lippen. "O, Fraeulein Guessow, die alten, dunklen Kleider! Die hellen sind so viel besser!" Aber es blieb bei den Wollkleidern. Gegen das Machtgebot der Vorsteherin galt kein Widerstreben. Bevor sie in den Tanzsaal hinuntergingen, fanden sich die Maedchen noch einmal bei Orla ein. Diese hielt erst eine allgemeine Musterung ueber die Toiletten, besserte hier und dort und verstand es, durch eine Kleinigkeit dem einfachsten Anzuge einen netten Anstrich zu geben. Melanie hatte sich nach besten Kraeften elegant herausgeputzt. Ein weisses Spitzenfichu schmiegte sich in weichen Falten um ihren Hals, und eine blassrote Rose, seitwaerts an demselben befestigt, kleidete sie ganz allerliebst. Sie war tadellos und sah trotz des einfachen braunen Kleides sehr geputzt aus. An Gretes ungeschickter Figur war nicht viel zu aendern. Lange Arme, grosse Fuesse, schlechte Haltung und dicke Taille, das waren Dinge, die leider nicht zu verbergen waren, auch trugen die ungrazioesen Bewegungen durchaus nicht zur Verschoenerung bei. "Fuer dich ist die dunkle Tracht ganz vorteilhaft," meinte Orla, indem sie eine dicke Korallenkette aus ihrem Schmuckkasten nahm und sie dem darueber hocherfreuten Gretchen um den Hals schlang. "So, die will ich dir leihen, damit du nicht zu einfach aussiehst." Flora unterwarf sich keiner Musterung, sie fand es unnuetz, da ihr Geschmack weit eigenartiger sei als Orlas. Sie hatte mit endloser Muehe eine griechische Haartour zurechtgebracht. Im Nacken trug sie ihr Haar im Knoten, mit einigen herausfallenden Locken, vorn hatte sie dasselbe mit einem schwarzen Sammetbande, das mit weissen Perlen benaeht war, dreimal abgebunden. In die Stirn fielen gekraeuselte Fransen. Sie fand sich entzueckend, diese Haartour soehnte sie sogar mit dem gruenen Wollkleide aus, in dem sie lang und schlank wie eine wirkliche Hopfenstange aussah. Rosi hatte sich nicht besonders geschmueckt. Ihr schwarzes Kaschmirkleid war unveraendert geblieben. Eine weisse Spitze am Halsausschnitt, zusammengehalten von einer Spitzenschleife, die einen silbernen Pfeil trug. So ging sie Sonntags gekleidet und Fraeulein Raimars Vorschrift lautete, dass sie sich heute sonntaeglich kleiden sollten. "O Gott, wie hausbacken siehst du aus, Rosi! Als ob du in die Kirche gehen wolltest, so ernst und feierlich!" rief Orla. "Hast du denn nicht ein farbiges Band anstatt der weissen Schleife?" Sie hatte keins und jetzt half Melanie aus. Bereitwillig lieh sie Rosi eine ganz neue rosa Atlasschleife und freute sich herzlich, wie furchtbar nett sie derselben stand. "Betrachte dich nur einmal," sagte sie und hielt ihr den Handspiegel vor die Augen. "Nun, was meinst du dazu? Nicht wahr, jetzt siehst du nicht mehr aus wie {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Gottesfurcht vom Lande{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}!" "Die Schleife gefaellt mir wohl gut," meinte Rosi, "aber es ist mir ein peinliches Gefuehl, geliehene Sachen zu tragen." "_O sancta simplicitas!_" rief die geniale Flora. "Kind, du gehst in deiner Pedanterie wirklich zu weit! Unter Freundinnen herrscht Gleichheit, da kann von geliehenen Sachen keine Rede sein!" Und um dies Wort gleichsam zur That zu machen, griff sie in Melanies offenstehenden Blumenkasten, nahm eine feuerfarbene Nelke heraus und befestigte dieselbe an ihrem Guertel. "Du erlaubst doch, Melanie?" fragte sie so nebenhin, "die rote Farbe steht mir wirklich brillant!" und mit einem wohlgefaelligen Blick betrachtete sie sich in dem Spiegel. "Nellie und Ilse, wo bleiben sie nur?" fragte Orla. Eben traten sie ein. Beide waren geschmackvoll gekleidet. Nellie im schottischen Kleide, am Hals und den Aermeln mit echten Spitzen garniert, sah grazioes und vorteilhaft aus, ebenfalls Ilse, die ueber ihr blaues Kleid einen breiten Spitzenkragen gelegt hatte. Darueber trug sie die Korallenkette, mit welcher auch Nellie sich geschmueckt hatte. "Schnell noch diese Margueriten in dein Haar!" rief Melanie und machte Miene, dieselbe Ilse in ihren Locken zu befestigen. Aber die wehrte es ab. "Geh mit deinen Blumen!" entgegnete sie abwehrend, "ich mag die toten, nachgemachten Dinger nicht leiden!" "Wie du willst," sagte Melanie etwas schnippisch und warf die verschmaehten Gaensebluemchen wieder in den Kasten. Die Maedchen verliessen das Zimmer und stiegen die Treppe hinunter. "Orla ist doch die eleganteste von uns," bemerkte Melanie nicht ohne einen Anflug von Neid zu Nellie, und musterte die vor ihr Gehende, die allerdings in der blauen Samttaille und einem gleichfarbig seidenen Rocke hoechst vornehm erschien. "Freilich in Samt und Seide kleiden mich meine Eltern nicht, so reich sind wir nicht." "Thut nix!" erwiderte Nellie, "man muss mit weniges auch zufrieden sein!" "Bitte, bitte - wartet einen Augenblick!" rief es ploetzlich hinter ihnen. Annemie war es, die in voller Eile allen nachgelaufen kam. "Ich bin noch nicht ganz fertig," fuhr sie atemlos fort, "ich kann aber nichts dafuer! Als ich mein Kleid ueberzog, riss ein Band irgendwo, - nun haengt der eine Zipfel vom Ueberwurfe bis auf die Erde. Bitte, seht einmal nach!" Alle waren stehen geblieben und betrachteten Annemie. Nellie, praktisch wie immer, untersuchte gleich, wo der Schaden sass. "Komm her," sagte sie, "ich werde dir ausbessern. Aber ein Nadel und Faden muss ich haben, dann naehe ich dir gleich mit weniger Stich in Ordnung." "Sei nicht umstaendlich," meinte Flora. "Hier hast du eine Stecknadel, damit wirst du es ebenso gut machen koennen. Wie manchmal habe ich mir schon ein Band oder einen kleinen Riss schnell mit der Nadel gesteckt." Aber davon wollte die Englaenderin nichts wissen. Sie nahm Annemie mit in ihr Zimmer und naehte die wenigen Stiche. "Bitte, liebe, gute Nellie, mir ist hier am Aermel ein Endchen Spitze abgerissen, willst du mir nicht die gleich annaehen? Du bist auch ein Engel!" Nellie brachte auch diesen Schaden in Ordnung, und als sie fertig war, zupfte sie an Annemie hier und dort zurecht, nichts sass an der kleinen, runden Lachtaube, wie es sitzen musste. Die Handschuhe waren nicht zugeknoepft, die Halskrause sass schief und an dem halbhohen Lackschuh fehlte ein Knoepfchen. "Du bist aber ein sehr unordentlich' Maedchen, liebes Lachtaube," schalt Nellie, "aber ich kann dich nicht helfen, du musst mit deiner abgerissener Knopf gehen. Es schlaegt sechs, wir muessen puenktlich erscheinen." Die uebrigen Maedchen hatten an der Treppe gewartet, jetzt gingen alle zusammen hinunter und an der Thuer des Saales blieben sie stehen, sie hatten mit einem Male keinen Mut, hineinzugehen. "Ich hoere sprechen," sagte Orla gedaempft, "ich glaube, die Herren sind schon da." Sie legte das Ohr an die Thuer und horchte. "Wirklich, sie sind da!" bestaetigte sie. "Lass' mich durchs Schluesselloch sehen, Orla," bat die neugierige Flora und schob die erstere leicht beiseite. Sie beugte den Kopf, als sie das Auge an die Thuer legen wollte, packte Grete der Uebermut, so dass sie Flora einen Stoss gab und diese mit dem Haupte gegen die Thuer flog. Das war ein Schreck! Wie der Wind flogen alle bis an das andre Ende des Vorsaals, - wenn Fraeulein Raimar das Geraeusch gehoert haette! "Dann sind wir einfach furchtbar blamiert," erklaerte Melanie und schalt Grete albern und ungezogen. "Du bist ein Tollpatsch, Grete, im hoechsten Grade ungebildet!" sagte Flora entruestet, und Annemie lachte, dass ihr die hellen Thraenen ueber die Wangen liefen. "Sei mir nicht boese, dass ich dich auslache, Flora," sagte diese, "aber ich kann nicht anders. Du sahest zu komisch aus und machtest ein so entsetztes Gesicht, als du mit deinem griechisch frisierten Kopf gegen die Thuer flogst." Fraeulein Raimar hatte wirklich ein Klopfen an der Thuer vernommen, sie oeffnete dieselbe, und als sie die Maedchen stehen sah, rief sie ihnen zu, sich zu beeilen. Das war ein kritischer Moment. Unbemerkt stiessen sie sich untereinander an und stritten sich leise, wer die erste sein solle. "Du musst vorangehen, Orla, du bist die aelteste," fluesterte Ilse. "Ich bin die juengste, ich komme zuletzt!" rief Grete, die sonst immer mit ihrem Munde die erste war. "Lass mich die letzte sein, Grete," bat Annemie, "ich habe mich noch nicht ausgelacht." Rosi war die verstaendige, wie immer. "Komm, Orla," sagte sie, "wir duerfen Fraeulein Raimar nicht warten lassen. Wir benehmen uns ueberhaupt hoechst kindisch, finde ich. An allem ist Gretes Albernheit schuld." Das gute Beispiel der beiden Aeltesten wirkte wohlthuend auf die uebrigen. Sie nahmen sich zusammen und gingen ruhig und ernst in den Saal. "Meine Damen, erlauben Sie, dass ich Ihnen die Herren vorstelle," mit diesen Worten empfing sie der Tanzlehrer. Es folgten Verbeugungen von beiden Seiten. Flora schwamm in Seligkeit, sie hatte unter den Herren einen Primaner erkannt, fuer den sie bereits laengst im Geheimen schwaermte. Erst kuerzlich hatte sie ihn als Apoll in Jamben besungen. Fraeulein Guessow stand neben der Vorsteherin und hatte ihre Freude an den jungen Maedchenblueten. An Ilse hing ihr Auge am zaertlichsten. Wie reizend hatte sich ihr Liebling entfaltet! Koerperlich und seelisch. Wie viel gleichmaessiger war das stuermische Kind geworden. Wo war der boese Trotz geblieben? Sie verglich Ilse mit den uebrigen und fand, dass sie nicht allein die huebscheste, sondern auch weit natuerlicher und unbefangener war, als die meisten andern. Keine Spur von Koketterie aeusserte sich in ihrem Wesen, frei und froehlich blickte sie mit den grossen Kinderaugen in die Welt und schien die glueckliche Frage auszusprechen: "Liebe Welt, bist du immer so schoen?" Melanies Zuege waren regelmaessiger, aber laengst nicht so unbewusst lieblich, man merkte dem huebschen Maedchen an, dass sie schon gar zu oft den Spiegel um seine Meinung befragte. Flora und Melanie standen beisammen und machten ihre Bemerkungen ueber die Herren, zu denen sie verstohlen hinueber schielten. Natuerlich gaben sie sich den Schein, als ob sie sich gar nicht um dieselben kuemmerten. Orla war aufrichtiger. Sie hatte den Klemmer auf die Nase gesetzt und betrachtete die Juenglinge ganz ungeniert. Spaeter erhielt sie einen Tadel deswegen von der Vorsteherin. Grete und Annemie hatten sich in eine Fensternische gesetzt und kicherten und schwatzten das dummste Zeug. Sogar Nellie war nicht ganz frei von einer harmlosen Gefallsucht. Sie hatte sich so zu setzen gewusst, dass ihr kleiner, schmaler Fuss im Goldkaeferstiefel wie absichtslos unter ihrem Kleide hervorsah. Rosi war natuerlich weder kokett, noch empfand sie die geringste Erregung. Ruhig und freundlich, wie immer, sass sie da, und so tadellos gerade hielt sie sich, dass sie auch in der Tanzstunde das Musterkind fuer die andern war. "Anfangen!" rief der Tanzlehrer und klatschte in die Haende. Und das Orchester, das aus einem Klavier und einer Geige bestand, begann. Wie herrlich klang die Musik den jungen, unverwoehnten Ohren, wie "furchtbar entzueckend" fanden sie die Walzerklaenge. - "Bitte die Herren, sich zu engagieren!" kommandierte der Tanzlehrer, und wie von einem Zauberstabe beruehrt stuerzten die tanzlustigen Juenglinge auf die Dame zu, die sich ein jeder bereits still und verschwiegen als Ziel seiner Wuensche ausgesucht hatte. Vor der blendenden Melanie verbeugten sich zugleich drei Herren. Welch ein Triumph fuer ihr eitles Herz! - Leider konnte sie nicht mit allen dreien auf einmal tanzen und musste sich mit der Genugthuung begnuegen, dass alle Anwesende doch sicher diese Auszeichnung bemerkt hatten. - Alle wohl nicht, aber Flora und Grete hatten sie bemerkt und mussten die schmerzliche Erfahrung machen, dass die Verschmaehten zu ihnen kamen, um sie zu erloesen. Sie waren von all den jungen Damen die allein Uebriggebliebenen. Flora fuehlte sich besonders tief gekraenkt und mit neidischen Blicken folgte sie Ilse, die eben mit "Apoll" an ihr vorueberwalzte. Recht lebhaft war die Unterhaltung am ersten Herrenabend nicht. Die Gegenwart der Vorsteherin, ihre beobachtenden Blicke legten einigen Zwang auf. Nellie, die sich sehr zusammennahm, um ja keinen Sprachfehler zu machen, war ganz besonders schweigsam, und einige Male, als sie angeredet wurde und sich recht gewaehlt ausdruecken wollte, brachte sie die drolligsten Dinge zum Vorschein. Ein junger Mann erzaehlte ihr, dass er in einigen Jahren, wenn er ausstudiert habe, nach England gehen werde. "Werden Sie dort verstaendig (bestaendig, meinte sie) sein?" fragte sie. - Ein andrer fragte, ob sie gern in Deutschland weile. "O ja, ich bin ganz verliebt in der Deutsche!" gab sie freudig zur Antwort. Aber Nellie konnte nie missverstanden werden. Ihre kindliche Naivetaet nahm sofort alle Herzen fuer sie ein. Die jungen Herren waren denn auch saemtlich entzueckt von der jungen Englaenderin, und da sie obenein sehr gut tanzte, wurde sie bald zum allgemeinen Liebling erkoren. Grete wurde ihre schweigsame Zurueckhaltung aeusserst sauer, verschiedene Male fiel sie aus der Rolle. Einmal ertappte sie Orla, die gerade hinter ihr stand, auf einer argen Indiskretion. "Wie heisst die junge Dame mit den Locken?" wurde sie von ihrem Tanzherrn gefragt. "Das ist Ilse Macket," gab Grete schnell zur Antwort. Und nun fing sie an, ausfuehrlich ueber dieselbe zu berichten. "Sie ist erst seit Juli hier," fuhr sie fort und der Mund ging ihr wie eine Plappermuehle, "ihr Vater brachte sie hierher. Sie ist naemlich weit her, aus Pommern, und, denken Sie sich, sie hatte ihren Hund mitgebracht und wollte ihn durchaus mit in die Pension nehmen! Natuerlich Fraeulein Raimar erlaubte es ihr nicht. Ach, und ungeschickt war sie! Kein Mensch kann sich davon einen Begriff machen. Einmal hat sie einen ganzen Stoss Teller -" "Grete," unterbrach Orla ihren Redefluss, "du verlierst eine Nadel. Tritt einen Augenblick mit mir zur Seite, damit ich sie wieder befestige." "Wie ungezogen, wie abscheulich von dir!" schalt Orla, indem sie sich scheinbar an Gretes Kragen zu schassen machte. "Warum blamierst du Ilse so? - Du siehst den Herrn heute zum ersten Male und machst ihn sofort zum Mitwisser unsrer Pensionsgeheimnisse! Moechtest du denn, dass die arme Ilse verspottet wuerde?" Grete erschrak. Daran hatte sie gar nicht gedacht! Die Schwatzhaftigkeit war wieder einmal mit ihr durchgegangen und hatte ihr einen boesen Streich gespielt. Hoechst betruebt und niedergeschlagen trat sie wieder in die Reihe der Tanzenden. Sie fasste auch den festen Entschluss, in Zukunft vorsichtiger zu sein, aber wie lange! Es ist so schwer, eine lebhafte Zunge zu zuegeln! Doch es liegt nicht in meiner Absicht, die Tanzstundenereignisse genau und ausfuehrlich zu schildern. Ich nehme an, meine Backfischchen, denen ich meine Erzaehlung widme, haben die Leiden und Freuden derselben aus eigener Erfahrung bereits kennen gelernt. Es ist immer dasselbe. Harmlose Koketterien, kleine Eifersuechteleien, ein wenig Neid, schwaermerische Verehrung, etwas Courschneiderei, zuweilen auch Klatscherei - u. s. w. Dazu noch die kleinen Aufmerksamkeiten, die hinter den Kulissen spielen, z. B. Fensterparaden, duftige Blumenspenden, manchmal sogar eine gemeinsame Schlittschuhpartie auf dem Eise. Die letztgenannten Aufmerksamkeiten waren natuerlich vollstaendig ausgeschlossen in der Pension. Fraeulein Raimar wuerde dieselben nicht geduldet haben. Streng hielt sie darauf, dass ausser den Tanzstunden nicht die geringste Annaeherung mit den Herren stattfand. In diesem Punkte kannte sie keine Nachsicht. Schon in hoechstem Grade unangenehm war es ihr, dass die jungen Leute sich herausnahmen, ihre taeglichen Spaziergaenge mit den Zoeglingen zu durchkreuzen und gruessend an ihnen vorueberzuschreiten. Es war ihr geradezu unbegreiflich, wie sie es herausbrachten, welchen Weg sie waehlte. Denn wenn sie ihre junge Schar heute durch den Park - morgen in dieses Thal - uebermorgen ueber jenen Berg fuehrte, immer konnte sie ueberzeugt sein, die roten Primanermuetzen auftauchen zu sehen - sie konnte ihnen nicht entgehen. Die Loesung dieses Raetsels war einfach genug, der Verrat wurde durch die Tagesschuelerinnen ausgefuehrt. Sie waren die Vermittlerinnen zwischen ihren Bruedern, Vettern oder Bekannten und den Pensionaerinnen. Sie schmuggelten Gruesse, Gedichte, sogar Photographien ein und Flora benutzte diesen Weg, ihr Album den Herren zuzusenden mit der Bitte, ein selbstverfasstes Gedicht hineinzuschreiben. Eines Tages, es war so ziemlich gegen den Schluss der Tanzstunden, erhielt Nellie nach dem Schulunterricht ein kleines Billet zugesteckt. Sie ging auf ihr Zimmer, wo Ilse anwesend war, und oeffnete dasselbe. "Wie albern!" rief sie hocherroetend aus, als sie die wenigen Zeilen gelesen hatte. "Wie kann der einfaeltige Mensch sich so dreist gegen mir benehmen! Ich habe ihm nie Ursach' zu so grosse Dreistigkeit gegeben!" Und sie zerriss die Zeilen. Ehe noch Ilse ihre Meinung aussprechen konnte, kam Melanie hereingestuerzt, strahlend vor Eitelkeit und Freude. "Kinder!" rief sie mit ihrer lispelnden Stimme, "ich muss euch etwas mitteilen! Aber verratet mich nicht! Schwoert, dass ihr niemand etwas sagen werdet! Du auch, Grete," wandte sie sich an die eintretende Schwester. Natuerlich wartete sie in ihrer Erregung den Schwur gar nicht ab, sondern geheimnisvoll die Thuer verriegelnd zog sie ein kleines Briefchen aus ihrer Kleidertasche und begann vorzulesen. "Mein gnaediges Fraeulein! Sie wuerden mich zu dem gluecklichsten aller Sterblichen machen, wenn Sie mir Ihre Photographie verehrten! - Meine Bitte ist kuehn, ich weiss es, aber Sie werden mir diese Kuehnheit grossmuetig verzeihen, wenn ich Ihnen gestehe, dass es mein gluehendster Wunsch ist, Ihre wunderbar klassischen Zuege taeglich, stuendlich sehen und anbeten zu koennen. Darf ich auf Ihre Gnade hoffen? _Georg Breitner_." Nellie hatte die Papierstueckchen von der Erde aufgenommen und dieselben so ziemlich wieder zusammengesetzt auf ihrer Kommode. Nun las sie die Zeilen vor. Sie waren von demselben Verfasser und enthielten die gleiche Bitte, nur waren die Worte ein wenig anders gesetzt, auch nannte er Nellies Zuege {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}liebreizend{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} anstatt {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}klassisch{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}. Sie wurde doch etwas herabgestimmt bei dieser Entdeckung, die siegesstrahlende Melanie! Einen Augenblick schwieg sie und sah Nellie an. "Was thun wir, Nellie?" fragte sie dann, "wir koennen doch Herrn Breitner die Bitte nicht abschlagen!" "Du darfst dein Bild nicht geben!" platzte Grete, die nebenbei etwas Neid gegen die weit huebschere Schwester empfand, heraus. "Auf keinen Fall, oder ich schreibe es dem Papa!" "Dich habe ich nicht um deine Meinung gefragt!" gab Melanie kurz zur Antwort. "Nellie, was sagst du?" "Aber, Melanie!" rief Ilse ganz erregt, "wie kannst du nur einen Augenblick im Zweifel sein! Du wirst doch wahrhaftig dein Bild nicht an einen Herrn verschenken, der dir eigentlich ganz fremd und noch kein ordentlicher Herr ist! Er will dich zum Narren halten, weiter nichts!" "Du schwatzest geradezu Unsinn, liebe Einfalt vom Lande!" entgegnete Melanie gereizt. "Was verstehst du denn unter {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ordentliche Herren{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}?" "Solche, die nicht mehr in die Schule gehen und auf Schulbaenken sitzen!" erklaerte Ilse. "Herr Georg Breitner wird dein Bild mit in die Klasse nehmen und die {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Herren{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Schueler werden es bewundern. Dann bist du furchtbar blamiert!" "Nellie, du bist ja so still!" wandte sich Melanie etwas kleinlauter als vorhin an diese, "sage doch, was wir thun sollen!" "O gar nix!" entgegnete dieselbe trocken, "wir werden thun, als ob wir der dumm' Brief nicht bekommen haben." "Und wenn er fragt? Was sagen wir dann, Nellie?" "O, auch nix. Wir zucken mit die Schulter und schweigen. Das nennt man in Deutsch: Mit Nichtachtung verstrafen!" Einverstanden war Melanie durchaus nicht mit dieser Entscheidung, sie haette so gern ihr "klassisches Konterfei" vergeben, trotzdem musste sie sich der Notwendigkeit fuegen. Warum musste er auch noch um Nellies {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}liebreizendes Bild{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} bitten? "Ihr habt furchtbar oede Ansichten!" sagte sie spottend und verliess das Zimmer. * * * Die Tanzstunde nahte ihrem Ende. "Leider!" seufzten die jungen Leute. Fraeulein Raimar indes atmete auf, denn wenn sie auch der Jugend gern froehliche Stunden bereitete, so sehnte sie doch wieder Ruhe und Gleichmaessigkeit zurueck, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, dass durch die Zerstreuung stets der rechte Ernst zum Lernen etwas abhanden kam. Den Schluss und Glanzpunkt bildete alljaehrlich ein kleiner Ball, und morgen, am Sonnabend, sollte derselbe stattfinden. Die Benennung "Ball" klingt eigentlich zu hoch fuer das kleine Fest. Es wurden noch einige Gaeste geladen, das Orchester schwang sich zu einer zweiten Geige auf, dem Thee nebst belegten Butterbroten folgte eine leichte Bowle mit Pfannkuchen, und die jungen Maedchen zogen ihre besten Kleider an. Das war alles! Aber der grosse Saal erhielt ein festliches Ansehen, dafuer trug stets Fraeulein Raimar Sorge. Sie liebte es, den Schoenheitssinn ihrer jungen Zoeglinge zu wecken, damit dieselben spaeterhin imstande seien, mit wenigen Mitteln auch dem einfachsten Feste ein kuenstlerisches Ansehen zu geben. Soeben stand sie neben dem Gaertner und ordnete an, wie er die Tannen, die er am Morgen aus dem Walde geholt, mit bluehenden Topfgewaechsen zu lauschigen Ecken und Plaetzen gruppieren solle. Als das geschehen war, musste er Konsolen von rotem Thone zwischen verschiedenen Wandleuchtern befestigen, - ueppige Schlingpflanzen wurden darauf gestellt und fielen anmutig herab. Auch der altmodische Kronleuchter, geformt wie eine bronzene Schale mit Lichterarmen, erhielt seinen gruenen Schmuck. Es wurde eine Schlingpflanze in die Schale gestellt, so dass die gruenen Ranken zwischen den Armen herabfielen. Am Abend, wenn die Kerzen brannten, machte dieser einfache Schmuck einen reizend malerischen Eindruck. Als alles fertig war, uebersah die Vorsteherin noch einmal den Saal, und recht befriedigt verliess sie denselben. Die jungen Maedchen waren natuerlich in grosser Aufregung. Es war der erste Ball, der ihnen bevorstand, und dieses wichtige Ereignis nahm all ihre Gedanken in Anspruch. Einige betrachteten wieder und wieder die duftigen Kleider, andre versuchten besondere Haartrachten, so Flora, die eine Passion dafuer hatte, wieder andre probierten die Kleider an, der Sicherheit wegen, wie Nellie meinte, die soeben mit Ilse die Weihnachtskleider von der Schneiderin erhalten hatte. Gerade als beide angekleidet dastanden, kam Lilli hereingejubelt. "Ich geh mit auf euren Ball!" rief sie, "das Fraeulein hat es mir erlaubt. Und mein neues, weisses Kleiderl zieh ich an und die rote Atlasschaerpe bind' ich um, - und ich darf halt mittanzen! Ich freu mich halt zu sehr auf morgen!" Und sie fasste mit beiden Haendchen an ihre Schuerze und tanzte zierlich und grazioes durch das Zimmer. Es war schon ziemlich dunkel, und die Kleine hatte nicht bemerkt, wie geputzt Nellie und Ilse waren. Als die erstere Licht anzuendete, blieb sie ploetzlich ueberrascht stehen und sah erstaunt von einer zur andern. "Wie schoen schaut ihr aus!" rief sie bewundernd und mit gefaltenen Haenden, und fast andaechtig sah sie die beiden Maedchen an. "Weisst, Ilse," fuhr sie lebhaft fort, "du schaust aus gerad wie des Kaisers Tochter! Ich fuehr' dich morgen in den Saal - bitt' schoen!" Ilse nahm ihren Liebling zaertlich in den Arm und kuesste ihn herzhaft auf den Mund. "Du bist ja so heiss, Lilli," sagte sie und befuehlte Stirn und Wange des Kindes. "Fehlt dir etwas?" "Der Kopf thut mir halt a bissel weh," entgegnete Lilli, "aber gar nit viel, - gewiss nit," beteuerte sie, als Ilse sie besorgt ansah. "Morgen thut er nit mehr weh, - morgen geh ich ganz gewiss auf den Ball! Du gehst auch mit," sagte sie zu ihrer Puppe, die nach ihrer Geberin, Ilse, getauft war. "Aber artig musst halt sein, sonst wirst in dein Bett gesteckt!" - "Doch mit des Geschickes Maechten Ist kein ew'ger Bund zu flechten Und das Unglueck schreitet schnell." Acht Tage spaeter schrieb Flora diese inhaltschweren Worte in ihr Tagebuch. - Am andern Morgen lag Lilli heftig fiebernd in ihrem Bette. Der herbeigerufene Arzt machte ein ernstes Gesicht. "Sie hat starkes Fieber," sagte er und verordnete Eisumschlaege auf den Kopf, die jede halbe Stunde gewechselt werden mussten. Das lebhafte Kind lag still und teilnahmlos da. Fraeulein Guessow sass recht sorgenvoll an Lillis Bett, die eben etwas eingeschlummert war. Die Vorsteherin beruhigte sie und meinte, dass Lillis ganze Krankheit ein heftiges Schnupfenfieber sein werde, sie habe bei Kindern oftmals aehnliche Faelle erlebt. Die junge Lehrerin schuettelte unglaeubig den Kopf. "Wenn nur der Ball heute abend nicht waere!" sprach sie seufzend. "Der Laerm im Hause und das kranke Kind - es will mir nicht in den Kopf! - Wenn wir ihn hinausschoeben, Fraeulein?" "Sie sehen zu schwarz, liebe Freundin," entgegnete die Vorsteherin. "Der Laerm wird Lilli nicht stoeren, wie sollte er aus dem Vorderhause bis hierher in Ihr stilles Zimmer dringen? Bedenken Sie, wie sehr sich die Kinder auf den heutigen Abend gefreut haben; wie grausam waere es, wollten wir ihre Freude zerstoeren! Noch sehe ich keine Gefahr und wir koennen unbesorgt den Ball stattfinden lassen." "Ball!" wiederholte Lilli, die erwacht war und das Wort gehoert hatte; "ich will tanzen! Zieh mich an, Fraeulein! Bitt schoen, lass mich tanzen!" Fraeulein Guessow warf der Vorsteherin einen verstaendnisvollen Blick zu, jetzt musste dieselbe sich doch ueberzeugen, wie krank die Kleine war, - sie phantasierte. Aber Fraeulein Raimar war nicht ueberzeugt und auch nicht erschrocken. Sie trat zu Lilli an das Bett und ergriff deren Hand. "Es ist ja noch heller Tag, Lilli," sagte sie freundlich; "siehst du nicht, wie die Sonne scheint? Heute abend sollst du tanzen, jetzt ist es noch viel zu frueh. Lege dich nieder und schlafe noch etwas; wenn du aufwachst, bist du gesund und ziehst dein gesticktes Kleid an." "Die liebe Sonn scheint," wiederholte das Kind, wie aus einem Traume erwachend, und sah mit mueden Augen zum Fenster hinaus. Dann legte sie die Hand gegen die Stirn und sagte leise: "Ach Gotterl, Fraeulein, mir thut der Kopf halt so weh!" "Das wird sich geben, mein Herz. Nimm nur recht artig deine Medizin ein." Sie kuesste Lilli und versicherte der sehr geaengstigten Lehrerin, das Phantasieren der kleinen Kranken habe nichts zu bedeuten, bei lebhaften Kindern stelle sich dasselbe bei einem harmlosen Schnupfenfieber ein. Und mit diesem aufrichtig gemeinten Troste verliess sie das Zimmer. Es schien, als habe sie wahr gesprochen. Gegen Mittag schlief Lilli ein. Das Fieber hatte etwas nachgelassen und Fraeulein Guessow atmete erleichtert auf. Als Ilse kam und teilnehmend mit trauriger Miene nach Lillis Befinden fragte, winkte sie derselben freudig zu und fluesterte: "Sie schlaeft, - es scheint eine Besserung eingetreten zu sein." Ilse teilte sofort diese gute Nachricht den Freundinnen, die schon in aengstlicher Sorge um den kleinen Liebling waren, mit, und brachte sie alle wieder in froehliche Stimmung. Nur Flora blieb bei ihren duesteren Prophezeiungen. "Meine ahnungsvolle Stimme taeuscht mich nicht, ich fuehle es, der Tod wird diese zarte Knospe brechen," sagte sie in tragischem Tone und probierte dabei ihre neuen Ballschuhe an, streckte den Fuss weit von sich und bewunderte mit sehr befriedigter Miene die zierliche, elegante Form des Schuhes. Es war ihr wenig ernst mit ihren duestern Ahnungen! Lillis Besserung war leider nur truegerisch gewesen. Waehrend die jungen Maedchen heiter und gluecklich Toilette zum froehlichen Feste machten, lag sie im heftigsten Fieber. Fraeulein Guessow wich nicht von ihrem Bette und erklaerte mit aller Bestimmtheit, dass sie diesen Platz nicht verlassen werde. Auf Fraeulein Raimars Wunsch wurde die Verschlimmerung der Krankheit vorlaeufig geheim gehalten; sie mochte keinen Missklang in die unbefangene Freude ihrer Zoeglinge bringen, musste sie sich doch bei ruhiger Ueberzeugung sagen, dass nichts damit gebessert werde. - So blieb denn die junge Lehrerin allein im Krankenzimmer. Sie hoerte das unruhige Getappel im Vorderhause; dann und wann schlug wohl ein froehliches Lachen an ihr Ohr - und endlich vernahm sie die gedaempften Toene der Polonaise. "Ilse, komm!" rief Lilli ploetzlich und Fraeulein Guessow fuhr erschreckt zusammen. "Ilse, bitt, bitt schoen, komm! Ich fuehr dich in den Saal, komm!" - Hoch hatte sie sich im Bett aufgestellt und machte alle Anstrengungen, aus demselben zu springen. Fraeulein Guessow legte den Arm um das fiebernde Kind und versuchte es niederzulegen, aber Lilli stiess sie von sich. "Geh fort!" rief sie; "du bist nit des Kaisers Tochter, du hast kein schoenes Kleiderl an! - Ilse! Ilse komm!" Angstvoll und gellend stiess sie ihre Worte heraus und mit starren Augen blickte sie ihre Pflegerin an. "Wenn du ruhig bist, wird Ilse kommen," sagte dieselbe mit zitternder Stimme, die Angst schnuerte ihr fast die Kehle zu. "Sei ruhig, mein Liebling, willst du? Lege dich nieder - ganz still - so." Und sie bettete mit sanfter Gewalt die immer noch aufrechtstehende Lilli in die Kissen. "Ganz still," wiederholte das Kind mechanisch; "Ilse komm, - ganz still!" Fraeulein Guessow zog an der Klingelschnur, und nach einiger Zeit aengstlichen Harrens erschien die Koechin. Sie war die einzige, welche die Glocke vernommen hatte, die beiden andern Dienstboten waren im Vorderhause beschaeftigt. "Rufe sofort Fraeulein Ilse," gebot sie mit halblauter Stimme, "und dann hole den Arzt. Das Kind ist sehr krank. Aber still und ohne Aufsehen, Baerbchen, niemand darf es wissen." "Aber wenn mich Fraeulein Raimar fragen sollte," wandte die etwas schwerfaellige Koechin ein, "dann muss ich es ihr sagen, nicht?" "Sie wird dich nicht fragen, wenn du deine Sache klug machst. Eile dich nur, ich bitte dich!" Der Zufall kam Baerbchen zu Hilfe. Gerade als sie sich dem Saale naeherte, traten Ilse und Nellie lachend und plaudernd, mit ganz erhitzten Wangen, Arm in Arm, aus der Thuer desselben. Geheimnisvoll winkte ihnen die Koechin zu. "Fraeulein Ilschen," sagte sie, "Sie moechten gleich zu Fraeulein Guessow kommen!" "Es ist doch nichts passiert, Baerbchen?" fragten beide Maedchen fast zugleich. "O nein, passiert gerade nichts, aber das Kind ist kraenker geworden, ich soll gleich den Doktor holen. Es soll aber niemand etwas wissen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Fraeuleinchens," beruhigte sie, als sie die erschrockenen Gesichter vor sich sah, "so schnell geht das nicht mit so kleinen Kindern. Krank - tot - gesund - man weiss nicht, woher es kommt! Aber nun will ich laufen!" Und wie der Wind war sie die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. "Ich gehe mit dich," sagte Nellie, aber Ilse wehrte ihr ab. "Du musst in den Saal zurueckkehren, Nellie," erklaerte Ilse entschieden, "es wuerde Aufsehen erregen, wenn wir beide fehlten. Ich gehe allein und bringe dir bald Bescheid." Traurig sah Nellie der Freundin nach, dann kehrte sie zurueck in den hellerleuchteten Saal. Schwer legte es sich auf ihr Herz, als sie ringsum nur glueckliche, froehliche Menschen sah - unwillkuerlich fuellte sich ihr Auge mit Thraenen. Aber ihr betruebtes Gesicht durfte niemand sehen, sie trat deshalb unbeachtet hinter eine Tannengruppe. Einer indes hatte sie doch beachtet und das war Doktor Althoff. Als er sie mit so ernstem Gesicht eintreten und gleich darauf verschwinden sah, naeherte er sich ihr langsam. "Weshalb suchen Sie die Einsamkeit, Miss Nellie?" fragte er herzlich. "Haben Sie Kummer?" "O Herr Doktor, ich aengstige mir so um das Kind! Baerbchen hat Ilse gerufen und holt jetzt der Arzt!" Und Nellies sonst so froehliche Augen blickten in Angst und Trauer den jungen Mann an. Doktor Althoff hatte sie nie so lieblich gesehen als in diesem Augenblicke. Die schelmische, lustige Nellie in dem duftigen, hellblauen Kleide, den Kranz von Tausendschoen im goldblonden Haar, hatte ihn schon den ganzen Abend erfreut, die trauernde Nellie, die ein so warmes Mitgefuehl verriet, entzueckte ihn geradezu. "Beruhigen Sie sich," troestete er, "ich werde sofort in das Krankenzimmer gehen und verspreche Ihnen, Sie zu benachrichtigen, wie es dort steht." Als er die Thuer desselben nach leisem Anklopfen oeffnete, bot sich ihm ein ruehrender Anblick dar. Ilse kniete an dem Bett und hatte ihr Haupt dicht neben Lillis Koepfchen gelegt, so dass ihre braunen Locken sich mit den lichtblonden des Kindes mischten. Eine frische, rote Rose, der einzige Schmuck, den sie heute abend getragen, hatte sich aus ihrem Haar geloest und lag halb entblaettert auf dem Boden. Fraeulein Guessow legte soeben einen neuen Eisumschlag auf der Kranken gluehende Stirn. Doktor Althoff fragte nicht, - ein Blick auf die kleine Kranke sagte ihm alles. Gross und fremd sah sie ihn an, ihre Haendchen zuckten und griffen unruhig in die leere Luft. Als Ilse sich erheben wollte, klammerte sie sich fest an sie. "Du sollst nit fortgehn, du bist des Kaisers Tochter!" stiess sie in abgerissenen Saetzen heraus, "du bist die Schoenste! - Tanz mit mir - komm!" Ploetzlich sprangen ihre Phantasien davon ab, und sie sah Ilse fuer das Christkind an. "Du liebes Christkindl hast ein goldenes Kleiderl an, - und ein Kronerl tragst auf dem Kopf - ah, wie das strahlt! Du willst mit mir spielen," fuhr sie geheimnisvoll laechelnd fort, "wart nur, ich komm zu dir, zu den lieben Engelein! - Ich komm - nimm mich mit!" Ermattet sank sie nach diesem Anfall in die Kissen zurueck. Ilse war wie gelaehmt vor Schreck. Niemals zuvor hatte sie an dem Lager eines Schwererkrankten gestanden, es war daher natuerlich, dass sie ganz fassungslos war. Sie umklammerte Fraeulein Guessow und wurde totenblass, ohne ein Wort ueber die bebenden Lippen zu bringen. "Kehren Sie in den Saal zurueck, Ilse," riet Doktor Althoff und ergriff ihre Hand. "Kommen Sie, ich werde Sie fuehren." Aber sie schuettelte den Kopf. "Ich bleibe hier," sagte sie leise aber fest, "ich verlasse Lilli nicht." Und wie auch die Strauss'schen Klaenge der blauen Donau schmeichelnd und verlockend durch die Nacht in das stille Krankenzimmer drangen, Ilse dachte nicht daran, zur Lust und Freude zurueckzukehren. Ihre ganze Seele war von den Leiden ihres Lieblings erfuellt. Nur wenige Augenblicke lag Lilli still und mit geschlossenen Augen da, dann fing sie von neuem weit heftiger an zu phantasieren. Bald rief sie nach Ilse, um mit ihr zu tanzen, bald wollte sie mit dem Christkindl spielen, zuletzt fing sie an, mit leiser, matter Stimme zu singen: "Kommt a Vogerl geflogen -" Wie klang heute des Kindes Lied so weh und traurig! Ilse musste sich abwenden, heisse Thraenen rannen ueber ihre Wangen, es war, als muesse ihr das Herz zerspringen. "Ich befuerchte das Schlimmste!" sprach Fraeulein Guessow tief ergriffen. "Wenn nur der Arzt kaeme!" Nach kurzer Zeit, die den Wartenden eine Ewigkeit duenkte, trat derselbe ein. Sein Blick fiel auf das Kind, und er erschrak. Wie hatte es sich veraendert, seitdem er es verlassen, was war seit gestern aus dem bluehenden, lebensfrohen Wesen geworden! Die runden Wangen waren eingefallen und die grossen, schwarzen Augen starrten wie abwesend in die leere Luft. Er nahm ihre Hand und fuehlte nach ihrem Puls, - sie merkte nichts davon, leise fing sie wieder an zu singen: "Und es kuemmert sich ka Hunderl -" "Au, au!" schrie sie ploetzlich auf und griff nach ihrem Kopfe. "Das Katzerl beisst mich! Nimm es weg, Fraeulein! Au weh!" Der Arzt ruehrte ein Pulver in ein Glas Wasser und reichte es ihr. Nur muehsam war ihr dasselbe beizubringen und erst auf Ilses sanftes Zureden oeffnete sie die Lippen. Nachdem sie getrunken, wurde sie ruhiger und verfiel in einen Halbschlummer. "Wo wohnen die Eltern der Kleinen?" wandte der Arzt sich an Fraeulein Guessow. "Ich rate, dieselben unverzueglich von der Krankheit zu benachrichtigen. Ich kann fuer den Ausgang nicht stehen. - Wir haben es mit einer boesartigen Gehirnentzuendung zu thun." "Nur die Mutter lebt," nahm Doktor Althoff das Wort und erbot sich, sofort ein Telegramm an dieselbe abgehen zu lassen. Nach seiner Berechnung konnte sie schon am Abend des naechsten Tages eintreffen. Bevor er das Haus verliess, kehrte er noch einmal in den Saal zurueck, um die Vorsteherin mit dem Ausspruch des Arztes bekannt zu machen. Nellie, die gerade mit Georg Brenner Francaise tanzte und nicht aus der Reihe treten konnte, warf einen aengstlich fragenden Blick auf ihn, fluechtig nur streifte sie sein Auge, und doch erriet sie, dass er nichts Gutes zu melden habe. O, waere nur der Tanz erst zu Ende, dass sie ihn fragen koennte! Aber er wartete nicht darauf, nach wenigen Minuten verliess er schon wieder den Saal und liess Nellie in den peinlichsten Zweifeln zurueck. War es schlimmer geworden? Der Vorsteherin ruhiges Gesicht gab ihr keine Antwort auf ihre Frage. Es lag dasselbe wohlwollende Laecheln auf demselben wie zuvor. Sie unterhielt sich mit einigen Gaesten ohne jede sichtbare Erregung. Und doch war sie bis in das Innerste erregt. Aber sie verstand die seltene Kunst, sich meisterhaft zu beherrschen. Warum sollte sie ploetzlich Schreck und Aufregung in die Freude bringen? In einer Viertelstunde war der Tanz vorueber, dann sollten die jungen Maedchen sich niederlegen, ohne zu erfahren, wie es mit der Kranken stand. Die Jugend bedarf des Schlafes, sagte sie sich, besonders nach einer halb durchtanzten Nacht. Verschlimmerte sich Lillis Zustand, so erfuhren sie diese traurige Botschaft am Morgen noch frueh genug. Ilses Verschwinden, das allgemein bemerkt wurde, hatte Nellie auf ihre Art entschuldigt, sie hatte jedem Fragenden geantwortet: "O ja, sie wird gleich wieder da sein, sie hat nur auf ein Augenblick Kopfschmerzen." Der Vorsteherin hatte sie so halb und halb die Wahrheit gesagt. Aber der Ball ging zu Ende und Ilse war nicht wiedergekehrt. - Miss Lead hatte von der Vorsteherin den Auftrag erhalten, dafuer Sorge zu tragen, dass die Maedchen still und geraeuschlos ihre Gemaecher aufsuchten, das wurde befolgt, aber als sie sich sicher glaubten, als die englische Lehrerin sich in ihr Zimmer zurueckgezogen hatte, da huschten sie alle noch auf eine kurze Zeit zu Rosi hinueber, deren Stuebchen ganz am Ende des Korridors lag. Sie mussten noch einen kurzen Austausch haben, ihre jungen Herzen waren zu voll von dem herrlichen Feste. Melanie brachte ihre duftigen Straeusse, die sie im Cotillon erhalten hatte, mit und breitete sie auf dem Tische aus. Mit wehmuetiger Freude betrachtete sie den reichen Segen. "Ach!" rief sie aus, "wie schade, dass alles vorbei ist!" "Alles Schoene ist vergaenglich, nur die Erinnerung bleibt!" entgegnete Flora weise. Und sie betrachtete bei ihren Worten die Photographie eines jungen Mannes, die sie vorsichtig und geschickt in ihrem Taschentuche verborgen hielt. - Es war Georg Breitners Bild. Er hatte dafuer das ihrige eingetauscht. "Ach, Kinder, es war doch zu schoen!" brach Annemie in ploetzlicher Begeisterung aus. "O, was ich euch alles erzaehlen koennte!" "Und ich! Und ich!" klang es durcheinander. "Ihr wuerdet staunen, wenn ich sprechen wollte!" rief Melanie stolz und schlug ihr Auge kokett gen Himmel, "ich habe viel erlebt!" - In ihrem Eifer vergass sie ganz, ihre Stimme zu daempfen. "Nicht so laut, Melanie," ermahnte Rosi und Orla stimmte ihr bei. "Wir wollen zu Bett gehen," riet sie ernstlich, "denn wenn ihr erst anfangt, eure Erlebnisse zu erzaehlen, dann koennen wir bis zum hellen Morgen hier sitzen." "Morgen ist Sonntag, da koennen wir ausschlafen!" meinte Grete, die darauf brannte, die geheimnisvoll angedeuteten Geschichten zu hoeren. "Wo sind denn aber Ilse und Nellie?" unterbrach sie sich ploetzlich und sah sich um; "ich habe Ilse den ganzen Abend nicht gesehen. Hatte sie wirklich Kopfschmerzen? Kommt, wir wollen uns zu ihnen schleichen und nachsehen!" Doch dieser allgemein Beifall findende Vorschlag kam nicht zur Ausfuehrung. Eben als sie auf den Zehen einige Schritte gethan, stand Miss Lead wie ein Nachtgespenst vor ihnen. "Wo wollt ihr hin?" fragte sie erzuernt. "Habe ich euch nicht Ruhe geboten? Sofort legt euch nieder, - und morgen werde ich euren Ungehorsam der Vorsteherin melden!" So wurde es denn still in den oberen Raeumen. Die plaudernden Lippen verstummten nach und nach - die Augen schlossen sich zu suessem Schlummer und ein guetiger Traumgott fuehrte die Schlafenden zurueck in den festlichen Saal. Noch einmal liess er die Musik erklingen und die junge Schar im lustigen Tanze dahinfliegen. - "O wie oede ist die Wirklichkeit!" war Melanies erstes Wort, als sie erwachte. * * * In dem Krankenzimmer dachte man nicht an Schlaf, noch weniger an glueckliche Traeume. Traurig sah es dort aus. Lilli tobte zwar nicht mehr, aber sie lag ohne Teilnahme da. Das Fieber war noch immer im Zunehmen begriffen. Als die Vorsteherin eintrat, erhob sich der Arzt und teilte ihr seine Befuerchtung mit. Ilse schluchzte leise in sich hinein; es wurde ihr so schwer, sich zu beherrschen. "Geh zu Bett, Ilse," sprach Fraeulein Raimar sanft zu ihr, "du darfst nicht laenger hier verweilen." Der Arzt stimmte energisch bei, und so schmerzlich bittend das junge Maedchen auch die Vorsteherin ansah, dieselbe beharrte bei ihrem Willen. "Du bist ein gutes Kind," sagte sie weich und ihre Stimme klang wie verhaltene Thraenen, "aber ich darf deinen Wunsch nicht erfuellen. Ein laengerer Aufenthalt hier koennte deiner Gesundheit schaden. Du kannst dem Kinde auch nicht helfen, - sieh hin - es kennt dich - uns alle nicht mehr!" [Illustration] Bevor sie das Zimmer verliess, trat Ilse noch einmal zoegernd und leise an Lillis Bett. Zitternd ergriff sie die kleine, fieberheisse Hand, beugte sich nieder und drueckte einen Kuss darauf. "Gute Nacht, Liebling," hauchte sie leise, "gute Nacht!" Und mit einem langen, thraenenschweren Blick auf das blasse Gesichtchen nahm sie Abschied, ach, sie fuehlte es, es war ein Lebewohl fuer immer. Dann eilte sie hinaus, das Taschentuch fest vor den Mund gepresst, damit sie vor Herzeleid nicht laut aufschreie. Draussen, dicht vor der Thuer, stand Nellie. Unbemerkt war sie der Vorsteherin gefolgt und hatte die Freundin erwartet. Ilse fiel ihr um den Hals und Nellie fuehrte die Trostlose hinauf in ihr Zimmer. Dort angelangt warf Ilse sich verzweifelnd auf ihr Bett und begrub ihr Gesicht laut weinend in die Kissen. "Ist sie so sehr krank?" fragte Nellie. "Sie stirbt, Nellie!" schluchzte Ilse ausser sich, "unser suesser, kleiner Liebling stirbt!" Nellie wurde blass und ein heftiges Zittern ueberfiel ihren Koerper, aber sagen konnte sie nichts. Sie vermochte niemals ihren Schmerz laut herauszujammern, die ungestueme Art Ilses war ihr fremd. War das zu verwundern? Ilse hatte Kummer und Leid noch niemals Aug in Auge gesehen, ihre frohe Jugendzeit war bis dahin einem sonnigen Maientag zu vergleichen, der wolkenlos mit blauem Himmel auf die Erde niederlacht, - wie anders Nellie! So mancher truebe Schatten hatte bereits ihr junges Dasein verdunkelt! Sie musste an den Tod des geliebten Vaters denken, der sie so jung als Waise zurueckliess! Still setzte sie sich neben die Freundin auf den Bettrand und ergriff deren Hand. "Komm," sagte sie mit unsichrer Stimme, "setze dir hoch. Du machst dir auch krank, wenn du so hitzig bist! Und wenn wir uns tot weinen, wir machen doch der arm' klein' Herz nicht gesund. Wenn der liebe Gott sagt: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich will der klein' Engel zu mich nehmen,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} was koennen wir da machen? - O Ilse! es ist gar nicht so schrecklich, als ein jung Kind zu sterben! Wer weiss, welch' traurig Schicksal unsre Lilli aufwartete: Ist es nicht besser, da tot zu sein? - Ich waer' sehr gluecklich, wenn mich der liebe Gott als klein' Kind zu sich genommen haette!" Wie traurig das klang! Sofort wendete sich Ilses ganzes Mitleid ihrer einzigen Nellie zu. Sie antwortete nichts, aber sie erhob sich und umschlang dieselbe fest und innig. Und die beiden jungen Maedchengestalten in ihren duftigen Ballgewaendern, die sie nur zur Freude zu tragen gehofft hatten, schlossen in diesem ernsten Augenblick einen innigen Freundschaftsbund fuer das ganze Leben. Der Mond trat ploetzlich hinter dem dunklen Gewoelk hervor und verklaerte mit seinem blassen Schimmer die lieblichen, thraenenvollen Gesichter der Freundinnen wie zwei betaute Rosen, die an einem Stengel erblueht sind. - * * * Es war ein truebseliger Sonntag, der dem Ballfeste folgte. Als die junge Schar, noch ganz erfuellt von der Erinnerung an dasselbe, beim Morgenkaffee sass, trat Fraeulein Guessow ein. Bei ihrem Anblick verstummte das froehliche Geplauder, ihr blasses und verweintes Gesicht verkuendete nichts Gutes. Ilse und Nellie waren sofort an ihrer Seite, sie hatten bis dahin seitwaerts gestanden; es war ihnen unmoeglich, an der Froehlichkeit der andern teilzunehmen. "Ist es besser?" fragte Ilse hoffend und bangend zugleich. Traurig schuettelte die Angeredete den Kopf und ihre Augen fuellten sich mit Thraenen. "Nein," sagte sie, "es ist nicht besser. Die Krankheit hat sich gesteigert und ihr muesst euch auf das Schlimmste gefasst machen. Ich teile euch dies mit, Kinder, damit ihr nicht allzusehr erschreckt, wenn -" Sie konnte den Satz nicht vollenden, Thraenen erstickten ihre Stimme. Eine augenblickliche Todesstille trat bei dieser Eroeffnung ein. Als aber Ilse laut zu schluchzen anfing, da erhob sich ein allgemeines Jammern und Wehklagen. Kein Auge blieb trocken bei dem Gedanken, den herzigen Liebling fuer immer hergeben zu muessen. Die junge Lehrerin entfernte sich und Ilse eilte ihr nach. "Lassen Sie mich zu ihr," bat sie dringend und erhob die Haende. "Bitte!" Sie konnte ihr diesen Wunsch nicht erfuellen. "Du darfst sie nicht wiedersehn, Ilse," sagte sie fest und entschieden. "Sie hat sich so veraendert, dass deine lebhafte Phantasie ihr trauriges Bild fuer lange Zeit nicht vergessen wuerde. Sie ist nur noch ein Schatten des schoenen, froehlichen Kindes." Und sie kuesste die trostlose Ilse und kehrte in das Krankenzimmer zurueck, das Fraeulein Raimar seit Mitternacht nicht wieder verlassen hatte. Als Ilse wieder in den Speisesaal eintrat, stand Miss Lead fertig zum Kirchgang angekleidet mit dem Gesangbuch in der Hand da. Sie trieb zur Eile an, da es hohe Zeit sei, zur Kirche zu gehen. "Ich kann Sie heute nicht begleiten, Miss Lead," entgegnete Orla, die ganz gegen ihre Gewohnheit sich vom Gefuehle uebermannen liess und heftig weinte; "ich kann es nicht!" "Ich auch nicht! - Ich auch nicht!" erklaerten die uebrigen. Selbst Rosi, die stets Sanfte und Gefuegige, bat um Verzeihung, wenn sie ebenfalls zurueckbleibe. "Ich bin so aufgeregt und koennte nicht andaechtig auf die Predigt hoeren," fuegte sie hinzu. "Ich begreife euch nicht," sprach die Englaenderin hoechst erstaunt von einer zur andern sehend. "Ist das Gotteshaus nicht der beste Ort fuer ein gequaeltes Herz? Sagt nicht der Herr: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Kommt her zu mir alle, die ihr muehselig und beladen seid, ich will euch erquicken!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Ich gehe und will fuer die Kranke beten, vielleicht erhoert mich der Herr." Und sie ging, und die englischen Pensionaerinnen schlossen sich ihr an. Sie teilten in ihrem strengglaeubigen Herzen die Ansicht der Lehrerin. Nur Nellie blieb zurueck. Nicht weil sie weniger glaeubig war - o nein! Sie hatte ein kindlich frommes Gemuet, aber sie hatte auch ein tiefempfindendes, warmes Herz; es waere ihr unmoeglich gewesen, das Haus, das ihr eine liebe Heimat geworden war, in einem Augenblicke zu verlassen, wo der Todesengel seinen Einzug halten konnte. "Ich will auch beten," sagte sie leise wie fuer sich. Und sie trat in den Hintergrund des Zimmers, kniete nieder, legte die gefalteten Haende auf einen Stuhl und beugte den Kopf darueber. In dieser andaechtigen Stellung verbrachte sie lange Zeit und betete heiss und innig zu Gott, dass er Lilli am Leben erhalten moege. - Aber es stand anders in den Sternen geschrieben. Gegen Abend oeffnete die Vorsteherin ploetzlich weit die Fensterfluegel im Krankenzimmer - Lilli war tot. Sanft hatte der Todesengel sie auf die Stirn gekuesst und sie hinweggetragen in sein dunkles Schattenreich. Wie ein sorglos schlummerndes Kind lag sie da, der krampfhaft entstellende Zug war geschwunden und ein friedliches Laecheln lag ueber den leise geoeffneten Lippen. Die beiden Lehrerinnen standen stumm und mit gefalteten Haenden am Bette der kleinen Verstorbenen und konnten den Blick nicht von ihr trennen. Die Abendsonne verklaerte mit rosigem Schimmer das zarte Gesicht und in dem knospenden Apfelbaume vor dem Fenster sang ein Star sein melodisches Abendlied - draussen erwachendes Fruehlingsleben - hier die junge Menschenknospe - gebrochen, ehe sie sich zur Bluete entfalten konnte. "So frueh und in der Fremde musstest du sterben, armes Kind!" unterbrach Fraeulein Guessow die feierliche Stille. "Sie fuehlte sich gluecklich und heimisch bei uns," entgegnete Fraeulein Raimar tief ergriffen. "Die eigentliche Heimat war ihr fremd geworden. - Sie hat nicht einmal nach der Mutter verlangt." "Wie sanft sie schlummert, als ob sie leben und atmen muesste. O, sie ist gluecklich!" Und in einem ploetzlich ueberwallenden Gefuehle beugte sich die junge Lehrerin laut weinend ueber Lilli und kuesste ihr die kalte Stirn. "Schlaf wohl, schlaf wohl, teures Kind! Gott hatte dich lieb, darum nahm er dich zu sich!" "Fassen Sie sich, liebe Freundin," ermahnte Fraeulein Raimar, indem sie die Hand auf der Erregten Schulter legte, "uns bleibt jetzt die schwere Aufgabe, die Kinder mit dem traurigen Ausgang bekannt zu machen. So ruhig als moeglich muessen wir ihnen diese Mitteilung machen, damit die ohnehin erregten Gemueter nicht ganz ausser Fassung kommen." Aber sie kamen doch ausser Fassung, besonders Ilse, deren lebhafte Natur sich dem Schmerze zuegellos hingab. Sie glaubte vergehen zu muessen. Noch nie hatte sie sich so ungluecklich gefuehlt, als in der ersten Nacht nach Lillis Tode, selbst damals nicht, als sie den Wagen fortfahren sah, der den geliebten Vater entfuehrte, und sie fremd und verlassen an der Pforte dieses Hauses stand. * * * Lilli war in die Erde gebettet. Unter Schneegloeckchen und Veilchen schlummerte sie. Der kleine Sarg war mit den holden Fruehlingskindern ueber und ueber bedeckt gewesen. Tief betrauert wurde das kleine Wesen von allen, die mit ihm in naehere Beruehrung gekommen, und es hatte allgemein schmerzliche Verwunderung erregt, dass die Mutter fern geblieben war. Am Todestage Lillis war ein Telegramm angekommen, worin sie meldete, dass sie erst am Dienstag abend eintreffen koenne. Es sei ihr unmoeglich, frueher zu kommen, da sie am Montag in einem neuen Stuecke die Hauptrolle zu spielen habe. Als ihr an diesem Tage der Tod ihres Kindes gemeldet wurde, kam umgehend ein Brief voll ueberschwenglicher Klagen, aber sie blieb fern. Kostbare Blumen hatte sie gesandt, auch der Vorsteherin den Auftrag gegeben, ein Marmormonument, einen knieenden Engel darstellend, fuer des Kindes Grab anfertigen zu lassen, mit goldenen Buchstaben solle auf dem Sockel eingegraben werden: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Teures Kind, bete fuer mich.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Aeusserlich war somit alles geschehen, aber das Herz blieb kalt bei diesen pomphaften Kundgebungen. "Meine Mama waere gekommen, wenn sie mich sterbenskrank gewusst haette," bemerkte Ilse, als sie Nellie den Brief vorlas, den ihr die Mutter so herzlich und troestend geschrieben hatte. "O sicher, sie waer von der Welten Ende zu dich gereist," beteuerte Nellie lebhaft. "Und sie ist nicht einmal meine rechte Mutter," fuhr Ilse nachdenklich fort. "Ach Nellie, ich habe sie oft recht sehr gekraenkt! Glaubst du wohl, dass sie mir vergeben wird?" Ilses Herz war so weich und empfaenglich durch den Schmerz geworden und eine ernste, weihevolle Stimmung durchdrang ihr ganzes Wesen. Nie waren ihr bis dahin aehnliche Gedanken gekommen, und waere es der Fall gewesen, haetten sie frueher einmal bei ihr angeklopft, sie wuerden keinen Einlass gefunden haben. Heute war es anders, sie hatte das Beduerfnis, sich gegen ihre Herzensfreundin auszusprechen und sich anzuklagen. "O mach dich kein Kummer darum, Kind. Deine Mutter hat ein so liebesreiche Herz, kein Titelchen Bosheit fuer dir ist darin. Sie vergebt dir alles. Du warst ja auch noch ein ungezogen, dumm' Baby, als du bei sie warst, jetzt aber bist du eine sehr anstaendige (sie meinte verstaendige) junge Dame." "Ist das dein Ernst, Nellie?" fragte Ilse und sah mit ihren Kinderaugen Nellie zweifelnd an. "Es ist mein Ernst, und ich gebe dir den guter Rat, schreibe an deiner Mutter ein lang' Brief und bitte ihr um Verzeihung." Ilse ueberlegte einen Augenblick. "Du hast recht, Nellie," sagte sie dann entschlossen, "ich werde ihr schreiben, ich bin es ihr schuldig. Heute noch will ich es thun! Wenn sie mir nur bald darauf antwortet, ich werde nicht eher ruhig sein!" Als sie sich eben niedergesetzt hatte, ihr Vorhaben auszufuehren, trat Flora mit strahlenden Augen ein. "Ich muss euch meine neuesten Gedichte vorlesen," sagte sie erregt, "sie sind das beste, was ich bis jetzt geschrieben habe! Ihr muesst mich anhoeren!" Und sie entfaltete ein starkes Heft, in welchem sie Lillis Tod in den verschiedensten Dichtungsarten besungen hatte. _Elegie auf den Tod einer vom Sturm geknickten Rosenknospe!_ begann sie zu lesen. Nellie hielt sich die Ohren zu. "Schweig still! Ich mag dir nicht anhoeren mit dein dumm Zeug! Aergere mir nicht damit!" Ilse stimmte ihr bei. "Lass uns zufrieden, Flora," sagte sie, "wir sind noch zu traurig, als dass wir lachen moechten! Und du weisst doch, dass alle deine Gedichte uns lustig machen." Tief verletzt schloss Flora ihr Heft, auf dessen Umschlag mit grossen Buchstaben zu lesen stand: "Floras Klagelieder!" - "Ihr habt keinen Sinn fuer erhabene Dichtkunst, und ich will Gott danken, wenn es Ostern ist und ich diesen prosaischen Aufenthalt verlassen kann!" Sie verliess die Undankbaren und suchte Rosi auf. Wenn niemand ihre Dichtkunst bewundern wollte, fand sie an ihr stets eine geduldige Zuhoererin. "Das rechte Verstaendnis freilich fehle ihr," meinte Flora mit einem ergebungsvollen Seufzer. Der Brief an die Mutter war abgeschickt. Acht Tage waren seitdem vergangen und noch war keine Antwort eingetroffen. Ilse war unruhig und aufgeregt darueber. Nellie, ihre einzige Vertraute, troestete sie. "Es ist ja noch kein' Ewigkeit vorbei, seit du schriebst," sagte sie. "Es scheint dich nur so, weil du immer daran denkst. Ich wette, heute wirst du ein schoen, lang Brief haben. Mich ahnt das!" Und richtig, Nellies Ahnung, die eigentlich gar nicht so ernst gemeint war, ging in Erfuellung. Es kam ein Brief an Ilse. "Komm sogleich in mein Zimmer, Ilse, ich habe dir etwas mitzuteilen!" Mit diesen Worten empfing Fraeulein Raimar dieselbe, als sie eben aus der Kirche kam. Klopfenden Herzens folgte ihr das junge Maedchen, sich den Kopf zerbrechend, welch eine geheimnisvolle Mitteilung ihrer wartete. - "Ich habe soeben einen Brief von deinem Papa erhalten, liebes Kind, worin er mich bittet, dir etwas recht Erfreuliches zu verkuenden. Ahnst du nicht, was es sein koennte?" "Nein," entgegnete Ilse und blickte die Vorsteherin erwartungsvoll fragend an. "Dir ist ein Bruederchen beschert worden! Da, hier lies selbst, der Papa hat fuer dich einen Brief eingelegt." Aber Ilse vermochte nicht zu lesen in diesem Augenblick. Die Nachricht hatte sie bis in das Innerste erfreut und durchzittert. Das Blut schoss ihr heiss in die Wangen, und ehe sie noch ein Wort ueber die Lippen bringen konnte, flog sie dem Fraeulein an den Hals und kuesste dieselbe. Sie musste an jemand ihre jubelnde Freude auslassen. Als sie zur Besinnung kam, schaemte sie sich ihrer Uebereilung. Wie konnte sie allen Respekt ausser acht lassen und so ungeniert die Vorsteherin umarmen! "Verzeihen Sie," sagte sie befangen und trat bescheiden zurueck. Aber Fraeulein Raimar schnitt ihr das Wort ab und nahm sie noch einmal herzlich in den Arm. "Komm her, mein Kind," sagte sie warm, "und lass mich die erste sein, die dir von ganzem Herzen Glueck wuenscht." - Spaeter aeusserte sie gegen Fraeulein Guessow, dass Ilses strahlende Freude ihr so recht den Beweis fuer deren kindlich unbefangenes Herz gegeben habe. Anfangs habe sie nicht geglaubt, dass Ilses trotzige Natur sich jemals zuegeln lassen werde. Der Brief an Ilse war nur kurz und von der Mutter schon vor mehreren Tagen an sie geschrieben. Der Papa trug an der Verzoegerung schuld, er hatte noch einige Zeilen hinzufuegen wollen und war nicht gleich dazu gekommen. "Lies erst, was sie schreibt!" bat Nellie, zu der Ilse jubelnd in das Zimmer gestuerzt war, "lies erst, nachher sprechen wir von die Baby." Und Ilse las: "Mein teures Kind! Dein letzter Brief hat mich sehr gluecklich gemacht! Ich kann den Augenblick kaum erwarten, wo ich Dich an mein Herz nehmen darf, um Dir mit einem herzlichen Kuss zu sagen, dass ich Dir niemals boese war. Ich wusste immer, dass mein Trotzkoepfchen schon den Weg zu mir finden werde. Mache Dir nur keine Sorgen um vergangene kleine Suenden, sie sind laengst in alle Winde verweht, denke lieber an die zukuenftige Zeit, in der wir wieder beisammen sind, und male sie Dir so rosig aus, wie Deine junge Phantasie es nur zu thun vermag. Ich habe Dich sehr, sehr lieb! Mit zaertlichen Kuessen _Deine Mama_." Und der Papa hatte gestern fluechtig dazu geschrieben: "Hurra! Wir haben einen praechtigen Jungen! Ich habe nur den einen Wunsch, ihn Dir, mein Kleines, gleich zeigen zu koennen. Er sieht Dir aehnlich, hat gerade so lustige, braune Augen wie Du! Morgen schreibe ich Dir mehr." [Illustration] "O!" jammerte Ilse unter Lachen und Weinen, "wenn ich doch gleich dort sein koennte! Ich habe so grosse Sehnsucht, die Mama, den Papa und das kleine Bruederchen zu sehen!" Dabei umarmte und herzte sie Nellie, und als Fraeulein Guessow hinzutrat, fiel sie auch dieser um den Hals. Sie haette in ihrer Seligkeit am liebsten die ganze Welt umarmt! - Am Nachmittag, als der erste Freudenrausch sich gelegt hatte, kehrten Ilses Gedanken zu der verstorbenen Lilli zurueck. Sie machte sich Vorwuerfe, dass sie deren Andenken heute so ganz vergessen konnte! "Komm, Nellie," sagte sie, "lass uns im Garten Veilchen pfluecken zu einem Kranz auf Lillis Grab." Fraeulein Guessow stimmte diesem Vorschlage bei und begleitete gegen Abend die Freundinnen hinaus auf den stillen Friedhof. Ilse beugte sich nieder und legte den Kranz auf den frischen Grabhuegel. Noch lagen die vielen andern Kraenze von dem Begraebnisse darauf, aber sie waren verwelkt und trocken, und in den langen, weissen Atlasbaendern spielte der Abendwind. - Die Tage kamen und gingen, und das Osterfest war vor der Thuer. Die Pruefungen waren bereits vorueber, und die ausgeteilten Zeugnisse hatten Freude oder Kummer hervorgerufen, je nachdem sie fuer die Betreffenden ausgefallen waren. Ilse konnte zufrieden sein. Mit Ausnahme einzelner Faecher, bei denen obenan das Rechnen stand, hatte sie sehr gute Fortschritte gemacht. Ihr ernstes Streben, ihr Betragen, das besonders seit dem Tode Lillis tadellos geworden war, wurde von ihren Lehrern und Lehrerinnen ruehmend hervorgehoben, nur die englische Lehrerin schloss sich dieser Ansicht nicht an. Sie blieb bei ihrem Vorurteile und fand, dass Ilse nach wie vor ohne jede Manier und Grazie sei, auch tadelte sie sehr ihre englische Aussprache. "Lass dir nix vormachen, Ilse," sagte Nellie, als sie allein waren. "Du sprichst schon ganz nett englisch und drueckst dir stets sehr fein aus. Uebrigens troeste dir mit mir, sieh, was sie hier geschrieben haben," - und sie reichte betruebt der Freundin ihr Zeugnis, und Ilse las: Besondere Bemerkung: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nellie macht sehr langsame Fortschritte in der deutschen Sprache.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - "Ist das nicht unrecht?" fragte sie. "Ich gebe mich so furchtbar grosse Muehe mit eure schwere Sprache." Nun war die Reihe zu troesten an Ilse. Dieselbe versprach ihr von jetzt an, keinen Schnitzer mehr durchgehen zu lassen, Nellie dagegen wollte taeglich eine volle Stunde nur englisch mit der Freundin plaudern. Flora war in hoechster Aufregung. Sie fand es geradezu grossartig, dass Doktor Althoff ihr eine II in der Litteratur geben konnte. "Mir das!" rief sie aus, sobald er sich entfernt hatte, "mir das! die ich selbst schon so lange litterarisch thaetig bin! Aber Sie werden sich wundern, Herr Doktor, Sie werden sich wundern!" Diese geheimnisvolle Anspielung bezog sich auf ihr juengstes Werk. Sie hatte gestern den letzten Federstrich daran gethan und es dann sogleich mit einem Briefe auf rosa Papier dem Lehrer zur Durchsicht gegeben. Mit bescheidenem Selbstbewusstsein hatte sie hinzugefuegt, sie rechne darauf, dass ihr Zauberspiel am Geburtstage der Vorsteherin aufgefuehrt werde. Sollte Herr Doktor einige kleine Aenderungen fuer notwendig finden, so wuerde sie sich gern seinem Rate fuegen. - Es waren einige Tage darueber vergangen und noch hatte sie keine Antwort erhalten. Warum mochte er zoegern? Gefallen musste ihm "Thea, die Blumenfee", darueber war sie nicht im Zweifel. Sie hatte sich so hineingelebt in ihre Zauberposse, und ihre Phantasie fluesterte ihr einen grossartigen Erfolg in das Ohr. Sie hoerte den stuermischen Beifall der Anwesenden, - die Dichterin wurde gerufen! - Sie traeumte wachend, langsam - gesenkten Auges trete sie aus den Kulissen hervor. - "Flora!" ruft es von allen Seiten, und voller Staunen richten sich aller Augen auf sie. - Ja, staunt nur, ihr Unglaeubigen, die ihr die arme Flora so oft verkannt habt! Jetzt hat sie euch ueberzeugt, dass ihre Dichtkunst kein leerer Wahn ist! - Bescheiden und demuetig verneigt sie sich nach rechts und links - ohne den Blick zu erheben - sie war vor den Spiegel getreten, um Blick und Verbeugung einzustudieren. - "Die Blumenfee werde ich vorstellen," traeumte sie weiter, "natuerlich! Wer anders koennte sich so in den Geist der Rolle versetzen, als ich! Wie herrlich wird mir das Kostuem stehen! Ein Kleid von Silbergaze mit Rosen durchwebt, eine goldene Krone auf dem Haupte, ein langer, duftiger Schleier und offnes, wallendes Haar!" Ganz in Gedanken versunken loeste sie die aufgesteckten Flechten und drapierte das Haar malerisch um ihre Schultern. Unwillkuerlich kamen ihr dabei die ersten Verse ihres grossen Werkes auf die Lippen und laut, mit pathetischer Stimme, fing sie an zu deklamieren: "Heraus, ihr Blumen, aus euren Kelchen, Ich will mit euch spielen! Eilt euch, ihr lieben Tulpen und Nelken, Lasst mich nicht warten, ihr vielen, vielen, Heraus, heraus!" Ein lautes Pochen an der Thuer und ungestuemes Auf- und Niederdruecken des Griffes unterbrach sie hoechst unangenehm. Zugleich wurde Gretes Stimme laut. "Warum schliesst du dich denn ein? Mach' schnell auf, ich bringe dir etwas!" In aller Eile befestigte Flora ihr Haar, schob dann den Riegel zurueck und fragte aergerlich: "Was willst du denn?" Grete war in das Zimmer getreten und sah sich verwundert um. "Du sprachst doch eben laut," sagte sie, "mit wem hast du dich denn unterhalten?" Flora blieb ihr die Antwort schuldig; sie sah ihr Manuskript in Gretes Hand, ungestuem nahm sie es an sich. "Gieb her! Wie kommst du zu meinem Hefte?" "Nur nicht so heftig," entgegnete Grete, "was faellt dir denn ein? Es ist die reine Gefaelligkeit, dass ich es dir bringe. Doktor Althoff hat es mir fuer dich uebergeben." "Warum liess er mich nicht selbst rufen? Du wirst dich wohl wieder vorwitzig aufgedraengt haben, es ist so deine gewoehnliche Art. Uebrigens jetzt kannst du wieder gehen, ich moechte allein sein!" Aber Grete verspuerte keine Lust, sie zu verlassen, sie witterte ein Geheimnis, das musste sie erst heraus haben! "Ich habe aber keine Lust, dich zu verlassen," sagte sie und setzte sich mit aller Gemuetlichkeit nieder. "Du bist wirklich unausstehlich!" stiess Flora aergerlich heraus und drehte Grete den Ruecken. Ploetzlich kam ihr ein Gedanke. "Wenn du durchaus hier bleiben willst, so thue es meinetwegen," fuhr sie fort und naeherte sich der Thuer, "mich geniert es nicht." Und sie hatte die Thuer geoeffnet und war hinaus, noch ehe Grete sich erhoben hatte. Schnell drehte sie den Schluessel im Schloss um und - das neugierige Gretchen war eine Gefangene. Gefluegelten Schrittes eilte sie in den Garten, der Traueresche zu. Sie huschte zwischen den bis auf den Boden herabhaengenden Zweigen hindurch und sank auf einem Baenkchen von Birkenstaemmen nieder. Hier war sie vor jedem Lauscherblicke sicher. Sie presste die Hand auf das hochklopfende Herz und ein Zittern ueberlief sie vor der Entscheidung! Wie wird sein Urteil ausgefallen sein? Nicht lange hielt die zagende Schwaeche an und ihre Zuversicht kehrte zurueck. Mutig und siegesbewusst schlug sie das Heft auf. Natuerlich suchte sie zuerst nach einigen Zeilen von seiner Hand. Aber sie blaetterte und fand nichts. Sie breitete das Heft auseinander, hielt es hoch, schuettelte es tuechtig, der erwartete Brief fiel nicht heraus. Sie war hoechst betroffen, da sie bei einer fluechtigen Durchsicht des Manuskripts auch nicht die kleinste Notiz entdecken konnte. Schon wollte sie es unwillig beiseite legen, als ihre Augen zwei Worte entdeckten, die Doktor Althoff mit seiner zierlichen und doch festen Handschrift mit roter Tinte gerade in den Schnoerkel hineingeschrieben, den sie dem Schlussworte "Ende" malerisch angehaengt hatte. Sie las und fiel wie gebrochen hintenueber. "Abscheulich!" riefen ihre bebenden Lippen, "empoerend!" Floras Entruestung war wohl natuerlich, zertruemmerten doch die beiden kleinen Woertchen den ganzen Prachtbau ihres Luftschlosses. "Konfuses Zeug!" stand da deutlich geschrieben und erbarmungslos war hiemit das Todesurteil ihrer Dichtung besiegelt. Sie ballte die Haende in ohnmaechtiger Wut und hasste den Mann, den sie bis dahin so schwaermerisch angebetet hatte. Warum verkannte er ihr Genie, oder vielmehr, warum wollte er dasselbe nicht anerkennen? Sie wollte zu ihm eilen ... sogleich ... er sollte ihr Rechenschaft ueber sein vernichtendes Urteil geben! Aber sie verwarf diesen Entschluss, weil sie befuerchtete, vor Aufregung ohnmaechtig zu werden. Und schwach sollte er sie nicht sehen ... nimmermehr! Sie wollte ihm schreiben und zwar sofort! Sie zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und begann einen stuermischen Brief aufzusetzen. Kaum hatte sie indes einige Saetze niedergeschrieben, als sie durch den gruenen Blaettervorhang Grete gerade auf die Esche losstuermen sah, es blieb ihr eben noch Zeit genug, das Notizbuch zu verbergen, als dieselbe bereits vor ihr stand. Floras Gedanken waren nur mit dem Briefe beschaeftigt gewesen, sie hatte darueber ihr Manuskript, das sie neben sich auf die Bank gelegt hatte, vergessen. Grete hatte es indes mit ihren Spueraugen sofort entdeckt. Wie ein Vogel schoss sie darauf los, ergriff es und eilte mit ihrer Beute davon. "Etsch, Fraeulein Flora!" rief sie noch triumphierend, "nun werde ich doch hinter deine Geheimnisse kommen! Jetzt bist du meine Gefangene!" "Grete, gieb her!" rief Flora angstvoll und eilte derselben nach, "bitte, bitte! Ich will dir auch schenken, was du haben willst!" Grete aber blieb taub bei ihren Bitten. Lachend eilte sie weiter. "Du musst mir mein Eigentum zurueckgeben, ich will es!" drohte Flora, als sie einsah, dass Guete nicht half, "ich befehle es dir!" Darueber brach Grete in ein lautes Gelaechter aus. "Du befiehlst es mir? Das ist reizend!" rief sie, "du bist wirklich furchtbar naiv!" Und sie hatte das Haus erreicht, waehrend Flora weit hinter ihr zurueckblieb. Trotz ihrer schwerfaelligen, plumpen Figur war sie doch weit schneller als letztere, die etwas steif und ungelenk war. Als Flora einsah, dass ihre Verfolgung nutzlos war, blieb sie weinend stehen. Einen wahrhaft verzweiflungsvollen Blick warf sie der Raeuberin ihres Schatzes nach, denn nun war sie verloren, das heisst preisgegeben dem Hohn und Spott der Mitschuelerinnen, an die sie Grete verraten wuerde. Aber es kam anders. Gerade als Grete die paar Stufen zum Korridor hinaus sprang, lief sie beinahe Doktor Althoff in die Arme. Sie hatte ihn nicht gesehen, weil sie den Kopf nach rueckwaerts gewandt hielt. Das Heft hoch in der Luft schwenkend, hatte sie der armen Flora zugerufen: "Jetzt lese ich deine Geheimnisse!" Mit einem Blick hatte der Lehrer erkannt, um was es sich handelte; er waere darueber nicht im Zweifel gewesen, selbst wenn ihn Grete weniger erschrocken angesehen haette. "Sie sollten ja dies Heft an Flora abgeben," sagte er vorwurfsvoll, "wie kommt es, dass Sie es noch mit sich herumtragen?" Sie antwortete nicht und sah ziemlich betreten und beschaemt aus, auch war sie rot bis ueber die Ohren geworden. "Ich werde Ihnen nie wieder einen Auftrag geben," fuhr er fort, "da ich sehe, wie wenig ich mich auf Sie verlassen kann. Geben Sie mir das Heft, ich werde es selbst an Flora abliefern." Grete reichte ihm das Verlangte. "Sie ist selbst schuld daran," stiess sie zu ihrer Entschuldigung hervor und warf den ohnehin grossen Mund noch mehr auf; "sie hat ... sie hat mich eingeschlossen! Zur Strafe habe ich ihr das Buch fortgenommen!" "Zur Strafe!" wiederholte Doktor Althoff mit einem zweifelnden Laecheln, "und was wollten Sie jetzt damit machen?" "Ach," verriet sie sich, "hineingesehen haette ich ganz gewiss nicht! Floras Dichtungen sind viel zu ueberspannt und langweilig! Ich wollte sie nur necken." "Grete, Grete!" drohte der junge Lehrer laechelnd mit dem Finger, "wenn dies Wort eine Bruecke waere, ich ginge nicht hinueber. Seien Sie in Zukunft nicht wieder so indiskret und neugierig, Neugierde ist kein schoener Schmuck fuer ein junges Maedchen." Er wandte sich von der Beschaemten ab und ging auf Flora zu, die langsam heran kam. Noch zitterten Thraenen in ihren Augen, die sie wie in Verklaerung auf ihren Erretter richtete. Wo war der Hass geblieben, der soeben noch in ihrem Innern getobt hatte? Verschwunden und verweht! Die alte Liebe und Begeisterung fuer Doktor Althoff hatten ihn zurueckgedraengt und waren wieder eingezogen in ihr grossmuetiges Herz. So maechtig wallte die Begeisterung in ihr ueber, dass sie ploetzlich, hingerissen von Dankbarkeit, sich niederbeugte, seine Hand ergriff und einen heissen Kuss darauf drueckte. "Ich danke Ihnen," hauchte sie leise, dann eilte sie fort, zurueck zu ihrer Friedensstaette, ihrem Musentempel, und anstatt den angefangenen Brief zu vollenden, dichtete sie ein Sonett, das die Aufschrift trug: "An ihn." Doktor Althoff blickte der Davoneilenden kopfschuettelnd nach. "Ein ueberspanntes, verdrehtes Wesen!" musste er unwillkuerlich sagen, "und das schlimmste ist, sie wird niemals zu heilen sein." - Der Geburtstag des Fraeulein Raimar, der in den Mai fiel, war stets ein grossartiges Fest. Tagesschuelerinnen und Pensionaerinnen wetteiferten mit einander, dasselbe durch musikalische und theatralische Auffuehrungen, durch lebende Bilder u. s. w. so bunt und unterhaltend zu gestalten als moeglich. Auch in diesem Jahre wurde keine Ausnahme gemacht, trotzdem Lilli kaum vier Wochen in der Erde ruhte. "Ich wuerde gern auf eine groessere Feier verzichten," sprach eines Tages die Vorsteherin zu der englischen Lehrerin und Fraeulein Guessow, "aber ich darf es unsrer Zoeglinge wegen nicht thun. Mehr oder weniger hat sie Lillis Tod sehr ergriffen und sie haengen die Koepfe; da ist das beste Mittel, sie wieder aufzumuntern, dass wir ihnen eine Zerstreuung schaffen. Mit aller Trauer koennen wir ja den Tod des lieben Kindes nicht ungeschehen machen." Die beiden Damen stimmten ein und beschlossen untereinander, mit den Vorbereitungen zu dem Feste zu beginnen. Miss Lead uebernahm es, ein englisches Stueck, Fraeulein Guessow, ein franzoesisches Lustspiel einzustudieren. Erstere waehlte nur Tagesschuelerinnen zu ihren Mitwirkenden, waehrend letztere ihre Rollen nur mit Pensionaerinnen besetzte. Sie hatte aber erst einen kleinen Kampf mit den Maedchen, bevor dieselben die ihnen zugedachten Rollen annahmen. Flora, die eine alte Dame vorstellen sollte, war durchaus nicht damit einverstanden, sie behauptete, Rosi passe weit besser zu dieser Rolle, diese aber hatte nicht einen Funken schauspielerischen Talentes und wuerde sich niemals dazu verstanden haben, Theater zu spielen. Sie sprach auch weniger fliessend franzoesisch als Flora. Fraeulein Guessow machte nicht viel Umstaende. "Wie du willst, Flora," sagte sie, "macht es dir kein Vergnuegen, diese allerliebste Rolle zu uebernehmen, so waehle ich eine Tagesschuelerin dafuer und du kannst diesmal nur Zuschauerin sein." Das behagte Flora noch weniger. Nach einigem Zoegern entschloss sie sich, freilich wie sie sagte, mit grosser Selbstueberwindung, die Alte zu spielen. Ilse und Melanie stellten deren Toechter dar und passten in ihren Charaktereigentuemlichkeiten praechtig dazu. Melanie putzsuechtig, elegant und eitel, Ilse das Gegenteil. Wild und unbaendig, trotzig und widerspenstig, natuerlich nichts weniger als elegant fuehrt sie die uebermuetigsten Streiche aus und die schwache Mutter ist nicht im stande, sie zu zuegeln. Da erscheint ein junger, entfernter Verwandter, interessiert sich fuer den Wildfang und versteht es, durch Guete und Festigkeit die Tugenden in demselben zu wecken und die Widerspenstige zu zaehmen. Zum Schlusse wird sie seine Braut. "Orla, du kannst die Rolle des Vetters uebernehmen," bestimmte die Lehrerin. "Orla?" fragte Ilse verwundert, "sie kann doch keinen Mann darstellen?" Es erhob sich ein wahrer Sturm unter den jungen Maedchen bei Ilses unschuldiger Frage. Die Stimmen schwirrten durcheinander, denn jede war bemueht, Ilse ueber ihre Unwissenheit aufzuklaeren. "Weisst du denn nicht, wie es bei uns Sitte ist?" fragte Orla. "Mit Herren duerfen wir nicht Theater spielen," bemerkte Flora spottend, "sie sind verpoent in der Pension!" "Du bist naiv, Ilse!" rief Melanie. "Das ist ja eben so ledern und furchtbar oede, dass wir Maedchen auch Maennerrollen geben muessen!" "Herren, Herren!" wiederholte Annemie unter lautem Lachen, "es ist zum totlachen!" "Ja, wenn Herren mitspielten, dann moechte ich Ilses Rolle spielen," ueberschrie Grete mit ihrer kraeftigen Stimme alle uebrigen, "so aber -" "So aber wirst du den Bauernjungen uebernehmen, Grete," fuhr Fraeulein Guessow dazwischen. Die Aufgeregten hatten ganz deren Gegenwart vergessen. "Und jetzt bitte ich mir Ruhe aus, ihr unbaendigen Kinder! Fraeulein Raimar hat ihre triftigen Gruende zu ihren Bestimmungen, wie koennt ihr euch dagegen auflehnen? Dass ihr noch zu kindisch seid, dieselben zu verstehen, habe ich in diesem Augenblicke klar und deutlich gesehen! Schaemt euch! ... Jetzt macht euch daran, eure Rollen auszuschreiben, morgen werden wir eine Leseprobe halten." Mit diesen Worten verliess sie die aufruehrerische Gesellschaft. Alle schwiegen bis auf Grete, sie konnte nicht unterlassen, noch einmal zu sagen: "Langweilig ist es doch ohne Herren! Und den dummen Bauernjungen spiel' ich nicht!" Aber sie spielte ihn doch und es zeigte sich bald, dass sie ganz vortrefflich dazu passte. Die taeglichen Proben brachten die gewuenschte Zerstreuung. Ilse besonders fand viel Freude an einem Vergnuegen, das ihr bis dahin unbekannt gewesen war. Die anfaengliche Befangenheit ueberwand sie bald und sie spielte ihre Rolle zur vollen Zufriedenheit Fraeulein Guessows, die zuweilen ein Laecheln ueber die hoechst natuerliche Darstellung nicht unterdruecken konnte. Zur Hauptprobe mussten alle in ihren Kostuemen erscheinen, damit sie sich gegenseitig an den veraenderten Anblick gewoehnten. Diese Bestimmung war sehr gut, denn als sie sich in ihren komischen Anzuegen betrachteten, konnten sie das Lachen nicht zurueckhalten. Flora mit langen Scheitellocken und einer Spitzenhaube, mit einem Lorgnon, das sie vor die Augen hielt, war kaum zu erkennen. Das elegante, schwarze Schleppkleid liess sie weit groesser erscheinen, als sie war. Sie war uebrigens ganz ausgesoehnt mit ihrer {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}alten{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Partie und das Lob, welches Fraeulein Guessow ihr einige Male erteilte, hatte sie zu der Idee gebracht, dass ihr eigentlicher Beruf der einer Schauspielerin sei, und sie traeumte Tag und Nacht {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}von der Welt, welche die Bretter bedeuten{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Dichterin - Schauspielerin{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}. Eine grosse Zukunft stand ihr bevor! Orla sah in ihrem Jaegeranzuge, den gruenen Hut keck auf das eine Ohr gesetzt, wirklich gut aus, und der kleine Stutzbart, mit dem sie die Oberlippe geziert hatte, gab ihr ein keckes Ansehen und stand ihr allerliebst. "Famos siehst du aus, Orla!" meinte Melanie und betrachtete mit besonderem Entzuecken deren Stulpenstiefel. "Du solltest immer so gehen," setzte Flora ganz ernsthaft hinzu. Natuerlich wurde sie ausgelacht. [Illustration] Grete war ein Bauernjunge, wie er sein muss. Plump und ungeschickt, dreist und laut. Melanie fuehlte sich himmlisch wohl in dem koketten und eleganten Kostuem, das sie sich gewaehlt hatte. Sie stand vor dem Spiegel und putzte noch hie und da an sich herum. Und Ilse? Sie trat als letzte herein und bei ihrem Anblick erhob sich ein so stuermisches Gelaechter, dass Fraeulein Guessow Muehe hatte, es zu daemmen. "Wie siehst du aus, Maedchen?" sprach sie lachend, "komm naeher, ich muss dich genau betrachten. Willst du wirklich in diesem Aufzuge spielen? Nein, Ilse, so geht es wirklich nicht. Wir muessen an deinem Kleide durchaus Verschoenerungen anbringen! Du bist auch gar zu wenig eitel, sonst wuerdest du wohl selbst darauf gekommen sein." "Lassen Sie mich so!" bat Ilse instaendigst, sie war ja so gluecklich, ihr geliebtes Blusenkleid bei dieser Gelegenheit tragen zu duerfen. Sie war aus demselben herausgewachsen, zu eng und zu kurz war es geworden, natuerlich erhoehte dieser Mangel noch den komischen Eindruck. "Nein, Kind, unmoeglich! Du siehst wie eine Bettlerin aus. Der Aermel darf nicht ausgerissen sein, der schlechte Guertel muss durch einen neuen ersetzt werden, um den Hals wirst du einen Matrosenkragen legen und die fuerchterlichen Stiefel lass vor allen Dingen blank putzen. Dann wird es gehen. Man darf nicht uebertreiben," fuegte sie hinzu, als Ilse ein etwas betruebtes Gesicht machte, "stets muss das richtige Mass inne gehalten werden. Auch die Locken duerfen dir nicht so wirr ueber die Augen fallen, du kannst ja kaum sehen. Vergiss nicht, dass du die Tochter einer Baronin bist, dein Anzug darf verwildert, aber nicht zerrissen sein." "Wollen wir nicht anfangen?" trieb Miss Lead, die sich mit ihren Kuenstlerinnen ebenfalls zur Hauptprobe eingestellt hatte. Sie war schon etwas ungeduldig bei der genauen Musterung der Kostueme geworden und fand es hoechst ueberfluessig, dass Fraeulein Guessow ueberhaupt Wert darauf legte. Die Hauptsache war nach ihrer Meinung die vollstaendige Beherrschung der fremden Sprache, und dass die Maedchen ihre Rollen gut gelernt hatten, alles andre war Nebensache. Viel Gesten litt sie um keinen Preis, wollte ja eine Mitspielende es wagen, sich frei und natuerlich zu bewegen, geriet sie foermlich ausser sich und rief: "Ruhe! Ruhe! Wo bleibt die Plastik?" Wie es fast immer der Fall ist, so war es auch hier; die Hauptprobe fiel herzlich schlecht aus. Die Maedchen waren schon aufgeregt in Erwartung des naechsten Tages und wurden es noch mehr durch die Ungeduld von Miss Lead, die heftig erklaerte, dass sie es fuer das beste halte, wenn die ganze Theateridee aufgegeben werde. Das franzoesische Stueck fand sie entsetzlich und sie gab Fraeulein Guessow den guten Rat, es nicht auffuehren zu lassen. "Ich bitte Sie," rief sie aus, "es handelt sich um eine Liebesgeschichte! Das wird den groessten Anstoss erregen!" Fraeulein Guessow setzte der Englaenderin laechelnd auseinander, dass nicht Kinder, sondern erwachsene Maedchen das Stueck auffuehrten. "Die Liebesgeschichte," wandte sie ein, "ist nur eine harmlose Nebensache, es handelt sich hauptsaechlich um die Heilung eines widerspenstigen Maedchens." Miss Lead schuettelte missbilligend den Kopf, sie wollte sich nicht davon ueberzeugen. "Ilse wird Ihnen, wenn Sie wirklich auf Ihrem Vorsatz bestehen, alles verderben. Wie sieht sie aus, und wie spielt sie? Plump, ohne jeden Anstand! Das Podium der kleinen Buehne erdroehnt foermlich bei ihren furchtbaren Schritten, ihre Bewegungen sind frei und keck." Fraeulein Guessow schwieg zu diesem harten, ungerechten Urteil. Sie hatte es laengst aufgegeben, die Englaenderin von ihrem Vorurteile zu heilen. Starr hielt dieselbe daran fest. Ilse war und blieb ihr ein Dorn im Auge. Miss Lead hatte sich geirrt. Am naechsten Abend ging alles ueber Erwarten gut. Der glaenzend erhellte Saal, die festlich versammelte Gesellschaft brachten eine belebende Stimmung unter das junge Volk. Die ganze Festlichkeit leitete ein Prolog ein, den eine Schuelerin der ersten Klasse gedichtet hatte. Sie trug ihn selbst recht huebsch vor und erntete wohlverdienten Beifall. Nur Flora, die hinter den Kulissen stand, zuckte die Achseln. "Kein Schwung, keine Poesie und kein Talent!" lautete ihr kritischer Ausspruch. Die Auffuehrung des englischen Stueckes ging vorueber, glatt, reizlos und langweilig. Und wenn die Anwesenden sich dies in ihrem Innern auch einstimmig eingestanden, so waren sie doch am Ende des Stueckes mit Beifallsspenden nicht sparsam. Die Mitspielenden wurden herausgerufen, und als der rote Vorhang in die Hoehe ging und die Maedchen sich dankend verneigten, strahlte Miss Lead vor Stolz und Seligkeit. "_Very well_," rief sie laut, "ihr habt eure Sache gut gemacht!" Nachdem verschiedene lebende Bilder und musikalische Auffuehrungen vorueber waren, bildete das franzoesische Lustspiel den Schluss. "Wollen Sie es wirklich wagen?" wandte sich die englische Lehrerin in wohlwollendem, etwas herablassendem Tone zu Fraeulein Guessow. "Schreckt Sie der grosse Erfolg, den wir erzielten, nicht ab? Folgen Sie meinem Rate, treten Sie zurueck! Wir werden eine Entschuldigung finden. Der franzoesische Flattersinn muss abfallen gegen die englische Gediegenheit." Trotz Miss Lead's Bedenken begann das franzoesische Stueck, und sie musste die niederschlagende Erfahrung machen, dass es weit beifaelliger aufgenommen wurde, als das englische. Die Gesellschaft amuesierte sich koestlich und kam aus dem Lachen nicht heraus. Zweimal wurde Ilse bei offener Szene gerufen, so drollig und natuerlich spielte sie. "Sie ist _charmante, charmante_!" rief Monsieur Michael feurig, "ich habe Ursache, stolz auf sie zu sein. Leicht und elegant wie eine Pariserin spricht und spielt sie!" "Sie spielt sich selbst!" entgegnete Doktor Althoff lachend, "aber ich haette dem Wildfang kaum so viel Anmut zugetraut." Einen kleinen Triumph sollte Miss Lead doch noch feiern, - Ilse verdarb die Liebesszene am Schluss. In dem Augenblick, als Orla sie umarmen wollte, kam ihr das so komisch vor, dass sie in ein lautes Gelaechter ausbrach. "Wie schade!" rief Nellie halblaut. "Warum muss sie lachen? Sie war zu nett, nun verderbt sie die Schluss." Doktor Althoff, der zufaellig in Nellies Naehe stand, hoerte ihren Ausruf. "Trotzdem, Miss Nellie," entgegnete er, auf einem leeren Stuhl neben ihr Platz nehmend, "ist ihre Freundin die Siegerin des Abends; aber warum wirkten Sie nicht mit, warum sind Sie nur Zuschauerin? Sie wuerden gewiss eine gute Schauspielerin sein." Nellie senkte die Augenlider. "O, Sie sind sehr guetig," sagte sie befangen, "aber ich weiss nicht zu spielen, Herr Doktor, ich hab' nicht Talent." "Das kaeme auf einen Versuch an! Sehen Sie Ilse an, wer haette geglaubt, dass sie eine so allerliebste Schauspielerin sein koenne!" "Nicht wahr?" stimmte Nellie lebhaft und mit aufrichtiger Freude bei, "sie ist reizend und ich bin entzueckend ueber ihr!" Der junge Lehrer schwieg und sah sie teilnahmvoll an. Wie neidlos kamen ihr die Worte aus dem Herzen, wie leuchteten ihre Augen freudig auf, als sie die Freundin lobte! Und im Vergleich zu Ilse, wie wenig hatte sie doch von der Zukunft zu hoffen! Jene ein Kind des Glueckes - und diese? Ein armes Wesen, das den muehevollen Pfad einer Lehrerin pilgern sollte! "Nicht wahr, ist sie nicht reizend?" wiederholte Nellie und blickte fragend auf. "Gewiss, gewiss!" gab der Lehrer zerstreut zur Antwort, und von dem Gegenstand ploetzlich abspringend, fragte er: "Woher haben Sie die herrlichen Veilchen?" und deutete dabei auf einen Strauss, den sie in der Hand hielt. "Sie duften wundervoll! Ich liebe die Veilchen sehr." Sie hoerte nur, dass er die Veilchen liebe, bedurfte es da einer grossen Ueberlegung? "O nehmen Sie," sagte sie naiv und erroetete dabei, "bitte, es macht mich grosser Freude!" "Nicht alle," entgegnete er laechelnd und zog einige Blumen aus dem Strauss, den sie ihm gereicht, "so, nun habe ich genug. Haben Sie Dank dafuer." Er erhob sich und verliess sie. Mit glaenzenden Augen sah sie ihm nach, sie hatte bemerkt, wie er ihre Veilchen im Knopfloch befestigte. "Wie taktlos von dir!" redete Miss Lead, die ihren Platz dicht hinter Nellie hatte, dieselbe an und riss sie mit ihrer scharfen Stimme aus allen Himmeln. "Welch ein Betragen! Ich habe jedes Wort mit angehoert. Schaemst du dich nicht, einem Herrn Blumen anzubieten?" Als ob ein eisiger Wind ploetzlich in eine kaum erschlossene Bluetenknospe gefahren waere, so wurde Nellies kurze Freude zerstoert. "Habe ich ein Unrecht gemacht?" fragte sie geaengstigt. "O bitte, Miss, sagen Sie, war ich ungeschickt? Wird Herr Doktor mich fuer unbescheiden halten?" Dieser Gedanke peinigte sie sehr und uebergoss sie mit heisser Glut. Mit wahrer Angst wartete sie auf ein beruhigendes Wort und sah in der Lehrerin Gesicht, das indes nicht aussah, als ob sie zur Milde geneigt sei. "Jedenfalls wird er dich fuer sehr einfaeltig halten," erwiderte sie unbarmherzig, "wenn er nicht vielleicht deine Handlungsweise zudringlich nennt." "O nein, nein!" rief Nellie beinahe entsetzt, "er wird nicht so hart von sein Schueler denken!" "So, weisst du das so bestimmt?" quaelte Miss Lead sie weiter, "du bist kein Kind mehr, dem man allenfalls dergleichen Taktlosigkeiten vergiebt, ein erwachsenes Maedchen darf niemals blindlings seinem Gefuehle folgen!" "Ich will bitten, dass er mir die Blumen wiedergiebt," sagte Nellie tief beschaemt. "Das darfst du nicht, wenn du dich nicht noch mehr blossstellen willst. Du wirst schweigen und dich niemals wieder vergessen! Eine zukuenftige Gouvernante muss jedes Wort, jeden Blick, und vor allem jede Handlung reiflich ueberlegen. Das merke dir!" Traurig sah Nellie nach diesem harten Verweise zu Boden. Dahin war ihre froehliche Laune, sie hatte keine Lust mehr an dem Feste. Eine heisse Thraene tropfte ihr aus dem Auge und fiel auf die Veilchen, die Urheber ihres Kummers. Sie brannten ihr foermlich in der Hand und am liebsten haette sie dieselben weit von sich geschleudert. Still und einsilbig blieb sie den ganzen Abend, und sobald Doktor Althoff in ihre Naehe kam, wich sie ihm aengstlich aus. Es war ihr unmoeglich, ihm in das Auge zu blicken. Miss Lead hatte ihre frohe Unbefangenheit zerstoert. Als die Freundinnen sich nach dem Feste zur Ruhe begaben, sass Nellie ganz gegen ihre Gewohnheit noch einige Zeit sinnend da. "Du bist so still," fragte Ilse, "was hast du?" "O nichts, nichts!" erwiderte Nellie schnell und erhob sich aus ihrer traeumenden Stellung, "es ist gar nix!" Zum ersten Male verschwieg sie der geliebten Freundin die Wahrheit, sie vermochte es nicht, ueber ihren Kummer zu reden, und doch - was war es, das trotz allen Kummers ihr Herz schneller klopfen liess und wie ein Fruehlingswehen durch ihre Seele zog? * * * Holunder und Maiblumen hatten ausgeblueht und die Rosen oeffneten ihre duftigen Kelche. Nellie und Ilse wandelten nach dem Abendessen durch den Garten, und als sie im Gebuesch die Nachtigall schlagen hoerten, blieben sie stehen und lauschten. "Wie suess!" rief Nellie, "komm, lass uns auf der Bank setzen und lauschen." Sie hielten sich beide umschlungen und sprachen kein Wort. Der herrliche, duftende Abend, der Mond, der silbern am Abendhimmel aufstieg, der schmelzende Gesang der Nachtigall weckten eine ahnungsvolle, nie gekannte Stimmung in ihren jungen Herzen. "O Ilse," unterbrach Nellie mit einem Seufzer die feierliche Stille, "wie bald gehst du fort und laesst mir allein zurueck! Ich bin sehr traurig, wenn ich daran denke!" Auch Ilse war wehmuetig und der Gedanke, von Nellie scheiden zu muessen, machte ihr das Auge feucht. Aber sie unterdrueckte mutig die weiche Stimmung und versuchte, die Freundin zu troesten. "Es ist noch lange hin, bis ich die Pension verlasse," sagte sie, "du weisst ja, dass meine Eltern meinen Aufenthalt bis zum ersten September verlaengerten. Noch acht Wochen sind wir beisammen, Nellie, das ist noch eine sehr lange Zeit, denk' einmal, acht volle Wochen!" Nellie schuettelte traurig den Kopf. "O nein, es ist nur sehr kurze Zeit," erwiderte sie, "es sind auch nicht acht Wochen voll, du musst ordentlich rechnen. Heute haben wir schon der siebente Juli, - macht bis zu der erste September vierundfuenfzig Tage - fehlt also zwei volle Tag an der achte Woch -" Trotz ihres Kummers musste Ilse lachen. "Du liebe, suesse Nellie," rief sie und kuesste diese herzlich auf den Mund, "du bist doch immer komisch, selbst wenn du traurig bist! Weisst du, wir wollen uns das Herz nicht heute schon schwer machen mit dem Gedanken an unsre Trennung, wir gehen ja nicht fuer immer auseinander! Du besuchst mich bald, - ja?" Aber Nellie war einmal weich gestimmt heute abend und der Freundin Trost fand keinen Eingang in ihrem Herzen. Sie versuchte zwar die Thraenen zu unterdruecken, aber sie brachen immer neu hervor. Ilse lehnte den Kopf an ihre Schulter und schwieg. In ihrem Innern kaempften der Schmerz und die Freude. Sie haette so gern sich auf das Wiedersehen ihrer Lieben, besonders des kleinen Bruederchens, gefreut, sie vermochte es nicht ungetruebt, weil der Abschied von Nellie dazwischen stand. - "Hier sind sie! Kommt, hierher! Sie sitzen beide unter dem Holunderbusch!" Keine andre als Grete war es, die durch ihren lauten Ruf die Traeumenden aufschreckte. Unbemerkt war sie aus einem Seitenweg hervorgetreten und stand nun wie aus der Erde gewachsen vor ihnen. Ilse sprang auf und trat den andern Maedchen, die herbeigeeilt kamen, entgegen. Nellie trocknete verstohlen ihre Thraenen und machte wieder ein heitres Gesicht. "Wir haben euch ueberall gesucht," sagte Orla, "was macht ihr denn hier?" "Ich glaube wahrhaftig, ihr schwaermt im Mondenschein, Kinder," lispelte Melanie, "ihr macht so furchtbar schmachtende Augen alle beide, habt ihr geweint?" Grete musste sich hiervon genau ueberzeugen, sie trat zu Nellie und sah sie neugierig pruefend an. "Du hast geweint, Nellie - und du auch Ilse -" behauptete sie entschieden. "Was habt ihr denn? Warum weint ihr?" "Um nix!" entgegnete Nellie aergerlich ueber die unzarte Grete. "Um nichts weint man doch nicht," fuhr dieselbe unbeirrt fort, "bitte, sagt es doch, warum ihr geweint habt." "Lass deine zudringlichen Fragen," verwies sie Flora, "und wenn sie dir sagen wuerden: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Der silberne Mond, die duftenden Rosen, der entzueckende Sommerabend, so recht zur Liebe und Traurigkeit geschaffen, haben unsern Herzen Wehmut und Thraenen entlockt,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - wuerdest du das verstehen? Niemals! Denn du hast keinen Sinn fuer die hoehere Sphaere - du bist zu prosaisch!" Sie begleitete ihre Worte mit einem schwaermerischen Aufschlag ihrer wasserblauen Augen. Floras hochtrabende Aeusserung stellte sofort die froehlichste Stimmung her. Nellie vergass ihr Herzeleid darueber und sagte lachend: "O Flora, was fuer ein zarter Seel' du hast! Sei bedankt du hoher Dichterin, du hast uns verstanden!" "Kinder!" unterbrach Orla die Sprechenden, "nun hoert auf mit euren Albernheiten, ich habe euch eine hoechst wichtige Mitteilung zu machen!" Wichtige Mitteilung! Grete sperrte Mund und Nase auf und sah gespannt auf Orla, zu der sie sich ganz dicht herangedraengt hatte. "Nicht hier!" fuhr diese fort, "folgt mir unter die Linde!" "Unter die Linde?" fragte Annemie aengstlich. "Lass uns doch hier, es ist ja schon dunkel unter dem alten, grossen Baum!" "Ja, und es ist schon spaet, wir muessen uns eilen," fiel die ebenfalls furchtsame Flora ein. "Mache dir keine Sorge darum, liebste Flora," gab Orla zurueck, "denn hoere und staune: Weil heute mein Geburtstag ist, hat Fraeulein Raimar auf dringendes Bitten die hohe Gnade gehabt, unsern Aufenthalt im Garten heute abend bis um zehn Uhr zu verlaengern!" "Himmlisch! Furchtbar reizend! Zu nett!" u. s. w. rief es durcheinander und Grete machte sogar einen kleinen, ungeschickten Sprung in die Luft. "Also auf zur Linde!" kommandierte Orla und schlug den Weg dorthin ein. Ohne Gegenrede folgten ihr alle, in wenigen Augenblicken waren sie dort. Orla stieg auf eine Bank, die dicht am Stamme lehnte, schlug die Arme untereinander und sah schweigend auf die Maedchen herab, die einen dichten Halbkreis um sie bildeten und mit hoechster Spannung auf sie blickten. "Meine lieben Freundinnen," hub sie an, da raschelte es ueber ihnen in den Zweigen. Die Maedchen schraken zusammen. "Was war das?" fragte Annemie, "Gott, wenn sich im Baume jemand versteckt haette!" "Oder wenn ein Gespenst wieder seinen Spuk triebe!" sprach Melanie mit bebenden Lippen. "Wie unheimlich ist es hier!" fiel Grete ein, "ich fuerchte mich!" "So ein Gespenst mit grosser Feuerauge und fliegender Haar," meinte Nellie und stiess Ilse an, "o, es waere furchtbar!" Orla stand ruhig und unerschrocken da, sie kannte keine Furcht. "Schaemt euch!" rief sie den Zagenden zu, "seid ihr erwachsene Maedchen? Kann euch eine harmlose Fledermaus in die Flucht treiben? Geht zurueck, wenn ihr euch fuerchtet, fuer Kinder passen meine Worte nicht! Wollt ihr vernuenftig sein?" "Ja, ja!" toente es zurueck, zwar etwas zaghaft, aber die Neugierde trug doch den Sieg ueber die Furcht davon. "So hoert mich an! Hier an dieser Staette, unter dem Schutze unsrer geliebten Linde lasst uns einen Bund schliessen, der uns in Freundschaft fuer das ganze Leben vereinen soll. Wie lange wird es dauern und wir verlassen die Pension, und das Schicksal zerstreut uns in alle Winde!" "In alle Winde!" wiederholte Flora halblaut. "Nun frage ich euch, soll uns dasselbe fuer immer trennen? Ich sage: nein! wir werden uns wiedersehen! Wir haben stets treu zusammengehalten, unsre Freundschaft darf nicht wie ein leerer Wahn verrauschen -" "Wie ein leerer Wahn verrauschen -" gab Flora als Echo zurueck. "Ruhig!" geboten die andern, "lass Orla sprechen!" "So frage ich euch denn: wollt ihr mit mir in diesem feierlichen Augenblicke geloben, dass ihr heute in drei Jahren zurueckkehren wollt? Hier unter der Linde, am siebenten Juli, morgens elf Uhr, soll uns ein frohes Wiedersehen vereinen. Seid ihr mit meinem Vorschlage einverstanden?" "Ja!" rief es einstimmig und begeistert, "wir kommen!" "Schwoert einen Eid darauf!" Sie erhob drei Finger der rechten Hand und alle uebrigen folgten ihrem Beispiele. Nur Rosi zoegerte. "Es koennten doch Hindernisse eintreten, die eine Reise hierher unmoeglich machten," warf sie mit ihrer sanften Stimme ein. "Hindernisse, das heisst, nur wichtige Hindernisse heben den Eid auf!" erklaerte Orla. "In diesem Falle ist die Ausbleibende verpflichtet, durch einen ausfuehrlichen Brief den Grund ihres Eidbruches anzugeben. Beschwoert auch das!" Wieder erhoben sich die Haende und diesmal zoegerte Rosi nicht, sich dem Schwure anzuschliessen. "Nun haben wir uns fuer ewig verbunden!" nahm Orla wieder das Wort, "und jede von uns wird ihren Eid halten, damit wir indes stets desselben gedenken, mache ich euch einen Vorschlag. Wir wollen zur Erinnerung an diese heilige Stunde einfache, silberne Ringe anfertigen lassen, die wir an dem kleinen Finger der linken Hand tragen. Jede von uns erhaelt einen solchen und traegt ihn bis zu ihrer Sterbestunde." "Bis zu ihrer Sterbestunde!" sprach Flora langsam und elegisch nach. Die Ringidee wurde von allen reizend, famos und entzueckend gefunden und mit Begeisterung angenommen. Orla, die von ihrem erhabenen Platze heruntergesprungen war, wurde umringt und mit schmeichelhafter Anerkennung ueberhaeuft. Melanie prophezeite ihr geradezu eine grosse Zukunft als Rednerin, sie habe {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}furchtbar reizend{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} gesprochen. Alle befanden sich uebrigens in einer gehobenen Stimmung, sie fielen sich in die Arme, kuessten sich und versicherten sich gegenseitig der zaertlichsten Freundschaft, die nur mit dem Tode enden koenne. Sie glaubten ganz ernst an ihre Versprechungen, kein Zweifel vergiftete ihre unschuldsvolle Zuversicht. Der Mond lugte wischen den Zweigen hindurch und blickte wie spottend mit einem Auge auf das ruehrende Schauspiel. Vielleicht verstand ihn der alte Baum, vielleicht bedeutete das leise Rauschen in seinem Wipfel die Antwort: Du Zweifler da oben, spotte nicht ueber die glaeubigen Kinder. Weisst du nicht, dass es immer so war und immer so sein wird? Die Traeume der Jugend gehoeren zur jungen Brust, wie der Tau zur Rose. Enttaeuschung und Nuechternheit toeten frueh genug diese Blueten der kurzen Maienzeit. "Orla," sagte Flora, als sie langsam in das Haus zurueckkehrten, "auch ich moechte einen Vorschlag machen. Wenn eine von uns Freundinnen, die wir uns bis in den Tod verbunden haben, in den Bund der heiligen Ehe tritt, so soll es ihre Pflicht sein, ihre Genossinnen zu diesem hohen Feste einzuladen." "Ja," stimmte Orla bei, "das ist ein guter Gedanke, wir wollen denselben mit einem Handschlag besiegeln." Sie schlossen einen Kreis und reichten sich die Haende, verzogen auch keine Miene dabei. Nur Ilse konnte das Lachen nicht lassen, die Hochzeitsgedanken kamen ihr gar zu komisch vor. "Ich trete zwar niemals in den Bund der heiligen Ehe, aber ich gebe doch mein Handschlag zu die Einladung," neckte Nellie. "Spotte nicht ueber so ernste Dinge," sprach Flora zuernend. "Wir sind nicht aufgelegt zu deinen Scherzen." "O, ich scherz' gar nix, aber wie soll ein arm' haesslich Englaenderin mit sehr viel Sommerspross' auf der Nas' ein Mann bekommen?" Diese komische Bemerkung verscheuchte den Ernst von den jugendlichen Stirnen und Scherz und Frohsinn kehrten zurueck. Ehe sich Flora zur Ruhe begab, schrieb sie in ihr Tagebuch: "Welch ein grosser, ereignisvoller Tag! O, ich zittere noch, wenn ich daran denke! Mondschein! Rosenduft! Linde! Sang der Philomele! Orla hinreissend gesprochen (Meine naechste Heldin Orla heissen!) Freundschaftsbuendnis! Schwur! Hochzeitsversprechen! (Meine entzueckende Idee!) Handschlag darauf! Wie heisst die Hochbeglueckte, die zuerst denselben loest? Schicksal, du dunkles, lass mich den Schleier heben! Giebt es Ahnungen, sollt' ich? -" Sie legte die Feder nieder, schloss das Buch und verbarg es tief in ihrem Kommodenkasten. Ihre Hand zitterte und ihre Gedanken verwirrten sich. Sie legte sich nieder und schlief ein. Traeumend sah sie sich im Brautkranz und weissen Atlaskleide. * * * Die acht Wochen, oder wie Nellie sagte: "vierundfuenfzig Tage", waren voruebergegangen. Der erste September brach an. Nellie hatte die ganze Nacht nicht schlafen koennen vor Herzeleid, der Abschied von der geliebten Freundin raubte ihr die Ruhe. Auch Ilse war es gleich ergangen und es war ruehrend, wie beide Maedchen bemueht waren, ihre Schlaflosigkeit und ihre Thraenen sich gegenseitig zu verbergen. Als der Morgen anbrach, hielt Nellie es nicht mehr aus. Sie stand auf, warf ihr Morgenkleid ueber und schlich an Ilses Bett. "Wachst du?" fragte sie, als dieselbe sie mit offenen Augen ansah, "das ist schoen, nun koennen wir noch eine ganze Stunde plaudern, es hat eben Fuenf geschlagen." Sie setzte sich auf Ilses Bettrand und ergriff deren beide Haende, und als sie aufblickte und Thraenen in Ilses Augen schimmern sah, da war es aus mit ihrer kuenstlichen Fassung. Sie beugte sich zu der Freundin nieder und indem sich beide fest umschlungen hielten, vermischten sich ihre heissen Thraenen. "O, Ilse! Wie einsam wird es sein, wenn dein Bett leer ist! Oder wenn ein anderer Gesicht mir daraus ansieht, o, ich bin sehr, sehr traurig!" Ilse hatte sich aufgerichtet und drueckte die Weinende innig an sich. Zu sprechen vermochte sie nicht, es war ihr zu weh. "Wir sehen uns bald wieder," sprach sie endlich mit zitternder Stimme und versuchte Nellie zu troesten. "Du besuchst uns in Moosdorf; den ganzen Winter ueber wirst du bei uns bleiben." Nellie schuettelte unglaeubig den Kopf. "Das wird nix, ich werde nicht Erlaubnis bekommen zu ein so lang' Besuch. Meine Zeit ist Ostern vorbei, dann heisst es: fort aus der Pension! Ich muss ein' Stell' annehmen und Kinder Unterricht geben. Aber ich weiss noch nicht viel und muss sehr fleissig lernen, Fraeulein Raimar sagt es alle Tage." "Aber die Michaelisferien darfst du gewiss bei uns zubringen. Meine Eltern werden selbst an Fraeulein Raimar schreiben und sie dringend darum bitten, sie wird es ihnen nicht abschlagen," entgegnete Ilse. "Es geht nicht, ich muss lernen!" Ilse sah die Freundin traurig und bedauernd an. "Wenn du wirklich eine Gouvernante werden musst, Nellie, so versprich mir fest, dass du all' deine Ferien bei uns in Moosdorf zubringen willst. Meine Heimat soll auch die deinige sein." Mit einem Handschlage wurde dies Versprechen besiegelt. "Du bist sehr gut, Ilse, ich werde nie wieder ein Maedchen lieben wie dir. Vergiss mir nie! Sieh dieser klein' silbern' Ring recht oft an und denk' dabei immer an dein' Nellie, die in Einsamkeit zurueckgeblieben ist." "Nicht einsam," troestete Ilse, "sie haben dich alle so lieb im Institute." "Und wenn ich fort bin, aus der Auge, aus der Sinn, dann bin ich fremd fuer sie." "Nein, Nellie, du wirst Fraeulein Raimar und Fraeulein Guessow nie eine Fremde sein!" entgegnete Ilse mit vollster Ueberzeugung. "Sie haben dich furchtbar lieb!" "O ja, ich weiss; aber sie sind nicht mehr in Jugend und werden mir nie verstehn, wie du. Sie haben vergessen, wie man ein dumm' Streich macht! Denkst du noch an der Apfelbaum?" Die Erinnerung an diese lustige Fahrt trocknete ihre Thraenen und rief ein froehliches Laecheln auf ihre Lippen. Jede geringe Kleinigkeit durchlebten sie in Gedanken noch einmal. Die Spukgeschichte. Miss Lead in ihrem wunderbaren Aufzuge. Die Stiefelspitze, die sie beinahe verriet, ach, und die Angst, die sie ausgestanden! - "Und es war doch schoen!" rief Nellie aus, "ich wuensche, dass wir noch einmal alles machen koennten!" "Wenn du nach Moosdorf kommst," sagte Ilse, "dann wollen wir in die Baeume klettern nach Herzenslust! Du wirst es bald lernen! O, es wird dir bei uns gefallen! Wir haben ein grosses, schoenes Wohnhaus mit Tuermchen und Soellern, fast wie ein Schloss. Du wirst dein Zimmer dicht neben mir haben, das ist doch reizend, nicht wahr? Ich fahre dich alle Tage mit meinen Ponies spazieren, und Hunde haben wir zum Entzuecken!" So plauderte Ilse von der Heimat und schilderte der Freundin lebhaft und feurig die dortigen Herrlichkeiten. Auf diese Weise kamen sie fuer den Augenblick ueber das Weh des Abschieds hinweg, die Aussicht auf ein nicht allzufernes Wiedersehen versuesste ihren herben Trennungsschmerz. - Wenige Stunden spaeter stand Ilse reisefertig vor Fraeulein Raimar und sagte ihr Lebewohl. Die Vorsteherin hielt sie im Arme und redete liebevoll auf sie ein. "Es thut mir leid, dass dein Vater verhindert ist, dich abzuholen," sagte sie, "nun musst du die weite Reise allein machen! Gern haette ich ihn auch noch einmal gesprochen und mancherlei mitgeteilt, was ich nun schriftlich thun musste. Wie erstaunt wird er sein, wenn er dich wiedersieht, er wird die fruehere Ilse gar nicht wieder erkennen! Weisst du wohl noch, wie ungern du damals zu uns kamst?" "Verzeihen Sie mir," bat Ilse unter Thraenen, "und vergessen Sie, wenn ich Sie kraenkte!" "O, rede nicht davon! Du bist uns allen eine liebe Schuelerin geworden und ungern sehen wir dich scheiden. Ich hoffe, du schreibst mir zuweilen, liebe Ilse, und giebst mir Nachricht, ob du gute Fortschritte in der Musik und besonders im Zeichnen machst. Ich habe den Papa gebeten in diesem Briefe," sie uebergab Ilse denselben, "dass er dir noch in einigen Faechern Nachhilfe geben lassen moege, besonders moege er fuer einen tuechtigen Lehrer im Zeichnen sorgen, da du viel Talent dazu habest." Fraeulein Guessow trat ein und meldete, dass der Wagen vor der Thuere stehe, sie und Nellie begleiteten Ilse zur Bahn. "Leb wohl denn, mein Kind," sagte die Vorsteherin, "und wenn du einmal Sehnsucht nach der Pension bekommen solltest, so kehre zu uns zurueck, jederzeit wirst du uns von Herzen willkommen sein." Im Hausflur standen die Freundinnen versammelt. Sie umringten die Scheidende und reichten ihr Blumenstraeusse. Natuerlich kuessten und herzten sie sich unter Thraenen. "Vergiss uns nicht!" "Schreib bald!" "Ich habe dich furchtbar lieb gehabt!" so und aehnlich klang es durcheinander, und ehe Ilse in den Wagen stieg, fluesterte Flora ihr zu: "Gedenke deines Schwurs!" "Die Blumen werden dir laestig sein unterwegs, Ilse," meinte Fraeulein Guessow, die bereits mit Nellie im Wagen Platz genommen hatte, "lass sie zurueck und nimm aus jedem Strausse nur einige Bluemchen mit." Aber welches junge Maedchen wuerde auf diesen vernuenftigen Vorschlag eingegangen sein! Eine Abreise ohne Strauss ist gar keine richtige Abreise nach heutigem Begriffe. Natuerlich schuettelte Ilse den Kopf und sah das Fraeulein bittend an. "Ich moechte sie so gern alle mitnehmen," sagte sie. "Aber wie?" Darauf gab Rosi die Antwort. Sie hatte ein offenes Koerbchen herbeigeholt und legte den ganzen Blumenvorrat vorsichtig hinein. Und nun zogen die Pferde an; noch ein "Lebewohl", ein letzter Abschiedsblick, ein Gruessen mit dem Tuche und hinter ihr lag die Staette, an der sie eine glueckliche und lehrreiche Zeit verlebt. Ilse lehnte sich im Wagen zurueck und weinte laut. Als die Damen am Bahnhofgebaeude anlangten, war der Zug soeben eingefahren. Er hatte fuenfzehn Minuten Aufenthalt und Fraeulein Guessow hatte Zeit, ein passendes Koupee fuer Ilse auszusuchen. "Wo ist ein Damenkoupee? fragte sie den Schaffner, "diese junge Dame faehrt nach W." "Hier! hier!" rief es aus dem Fenster eines Koupees hinter ihr, "hier koennen junge, huebsche Damen Platz nehmen!" Das Fraeulein wandte den Kopf und blickte in ein froehliches Studentenangesicht. Das Cereviskaeppchen sass ihm keck auf einem Ohre und kaum geheilte "Schmisse" schmueckten Kinn und Wange. Hinter ihm standen noch einige andre Studenten und lachten zu dem Scherze ihres Freundes. Laut und ungeniert bewunderten sie die jungen Maedchen. "Entzueckend! Wunderbar! Fortuna mit dem Fuellhorne!" riefen sie den Damen nach, die sich eilig entfernten. - Fraeulein Guessow ergriff unwillkuerlich Ilses Hand, die hocherroetet war. [Illustration] "Wie unverschaemt!" sagte sie entruestet, "wie konnten sie das wagen! Ach Ilse, ich bin in Sorge um dich!" - Und sie liess einen recht besorgten Blick ueber das junge Maedchen hingleiten, das in seinem schottischen Reisekleide, dem passenden Barett mit blau schillerndem Fluegel an der Seite, ueberaus lieblich aussah. - "Du reistest noch niemals allein, und jetzt musst du ohne Schutz die lange Fahrt machen. Wenn doch dein Papa dich abgeholt haette!" "Das war nicht moeglich!" entgegnete Ilse. "Er musste daheim bleiben, um Mamas einzigen Bruder, der zehn Jahr in der Welt umhergereist ist, heute zu begruessen. Ich habe ihn selbst darum gebeten, als er mir schrieb, dass er trotzdem kommen wolle. Ich bin auch gar nicht aengstlich, es ist ja heller Tag. Papa hat mir auch die ganze Reiseroute so genau aufgeschrieben, dass ich mich nicht irren kann." "Lies mir das noch einmal vor," sagte Fraeulein Guessow. "Ich moechte dich gern mit meinen Gedanken begleiten. Du, Nellie, koenntest indessen Ilses Handgepaeck in das Koupee legen." Ilse nahm aus einem roten Ledertaeschchen, das sie an ihrem Guertel befestigt an der Seite trug, einen Brief und las: "Um elf Uhr Abfahrt von dort, um zwei Uhr Ankunft in M. Bis drei Uhr Aufenthalt daselbst. Dann Weiterfahrt _ohne umzusteigen_ bis Lindenhof. Um fuenf Uhr langst du dort an, steigst aus und wirst von meinem alten Freunde, Landrat Gontrau mit seiner Frau, empfangen. Sie nehmen dich mit hinaus nach Lindenhof, wo du, auf ihre dringenden Bitten, uebernachtest. "Am andern Mittag faehrst du weiter und Gontrau hat mir versprochen, dich sicher zur Bahn zu befoerdern und alles Noetige fuer deine Weiterreise zu besorgen. "Vergiss nicht, eine Photographie von mir in die Hand zu nehmen; Gontraus, denen du ja unbekannt bist, werden dich daran erkennen." "Hast du das Bild?" fragte das Fraeulein, und als Ilse bejahte, gab sie derselben noch mancherlei gute Lehren mit auf den Weg. "Ich weiss, du bist verstaendig und wirst auch vorsichtig sein, aber du bist noch unerfahren und kennst die Welt und die Menschen nicht; - es giebt Leute, die gar zu gern unsre ganzen Lebensverhaeltnisse herauslocken moechten und hoechst geschickt zu fragen verstehen; weiche ihnen soviel wie moeglich aus und sei hoechst vorsichtig in deinen Aeusserungen. Fuer alle Faelle warne ich dich aber, in keiner Weise eine Aufmerksamkeit oder eine Gefaelligkeit, wenn sie dir ueberfluessig erscheint, von einem Herrn, sei er jung oder alt, anzunehmen. Folge nur stets deiner zurueckhaltenden Natur, liebes Herz, dann wirst du auch das Rechte thun." "Einsteigen!" rief der Schaffner und unterbrach die liebevollen Ermahnungen der jungen Lehrerin. Weinend umarmte Ilse dieselbe, und alles, was sie an Liebe und Dankbarkeit fuer dieselbe empfand, stammelte sie in zwei Worten muehsam hervor: "Dank - Dank -" "Leb' wohl denn, mein geliebtes Kind!" entgegnete diese und schloss ihr den Mund mit einem innigen Kusse. Und Nellie? Der Abschied von ihr war der schwerste Augenblick fuer Ilse. "Behalt' mir lieb," bat sie kaum hoerbar und sah dabei so ungluecklich aus, als ob das Glueck fuer immer von ihr scheide. Und Ilse hielt sie fest umschlungen und vermochte kein Wort hervorzubringen, - dann riss sie sich los und stieg ein. Im letzten Augenblicke stieg noch eine alte Dame mit weissen Locken ein. Sie war ganz ausser Atem von dem eiligen Gehen und schien etwas aengstlich und unbeholfen zu sein. Fraeulein Guessow war ihr beim Einsteigen behilflich und als der Schaffner ihr Billett koupierte, erfuhr sie zu ihrer grossen Freude, dass die Dame und Ilse die gleiche Reisetour hatten. Sie richtete die herzliche Bitte an dieselbe, dass sie das junge Maedchen unter ihren Schutz nehmen moege. Mit groesster Liebenswuerdigkeit versprach dies die Dame. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Ilse lehnte zum Fenster hinaus und gruesste mit dem Tuch die Zurueckbleibenden. - Schmerzlich bewegt blickte Fraeulein Guessow dem Zuge nach, es war ihr, als ob er ein Stueck von ihrem Herzen mit sich naehme! Noch nie hatte sie mit so vieler Liebe und Hingebung sich der Erziehung einer Schuelerin gewidmet, noch nie hatte sie sich durch den gluecklichen Erfolg so belohnt gefuehlt. - Nun ging sie fort und wer konnte sagen, ob sie das Kind je wiedersehen werde? "Komm," wandte sie sich der laut schluchzenden Nellie zu, "wir wollen gehen!" Und sie zog Nellies Arm durch den ihrigen und sprach troestende Worte zu ihr - und hatte doch selbst ein so tiefbetruebtes Herz. * * * Im Flug entfuehrte der Dampfwagen Ilse dem Orte, den sie unter so verschiedenartigen Gefuehlen betreten und wieder verlassen hatte. Reichlich flossen ihre Thraenen. Sie hielt das Tuch gegen die Augen gedrueckt und die liebliche Gegend, an der sie vorueberfuhr, die Berge, die ihr vertraute Bekannte geworden, erhielten keinen Abschiedsgruss von ihr. Ein Sonnenstrahl stahl sich zum Fenster hinein, fiel auf ihr lockiges Haar und faerbte es golden, aber Trost in ihrem Kummer vermochte er ihr nicht zu bringen. Die Dame sah teilnehmend auf die Weinende, aber sie stoerte sie nicht in ihrem Schmerze. Erst als sie bemerkte, dass Ilse ruhiger wurde, knuepfte sie ein Gespraech mit ihr an. "Ich verstehe Ihren Kummer wohl, liebes Kind," sagte sie herzlich, "und kann Ihnen nachempfinden, wie Ihnen um das Herz ist. So ein Abschied von der Pension ist ein wichtiger Abschnitt, es thut weh, von den Freundinnen scheiden zu muessen, die man lieb gewonnen hat, - aber Kind, so gar trostlos muessen Sie das alles nicht ansehen. Die Trennung ist ja nicht fuer das ganze Leben, die Freundinnen werden Sie in Ihrer Heimat besuchen. Es ist wohl schoen in Ihrer Heimat?" Das war eine Frage zur rechten Zeit. Ilses Kinderaugen lachten noch unter Thraenen die Fragerin an. Sie fing an, lebhaft zu erzaehlen, ihre Gedanken kehrten in das Elternhaus zurueck, und zum erstenmale dachte sie seit laengerer Zeit mit ungetruebter Sehnsucht an dasselbe. "Wie werden Sie sich freuen, die Eltern wiederzusehen!" fuhr die Dame fort, die grosses Wohlgefallen an dem jungen Maedchen fand. "O sehr, sehr!" entgegnete Ilse, "und besonders freue ich mich auf den kleinen Bruder, den ich noch gar nicht kenne! Ich habe sein Bild bei mir, darf ich es Ihnen zeigen?" [Illustration] Sie nahm eine Ledertasche von oben herab, oeffnete dieselbe und nahm ein Album daraus hervor. "Das ist er!" sagte sie und zeigte mit Stolz auf einen kleinen, dicken Buben, der im Hemdchen photographiert war. "Ein schoenes Kind!" bewunderte die Dame, "und ist das Ihre Mama, die den Kleinen auf dem Schosse haelt?" Ilse bejahte. "Hier ist mein Papa," fuhr sie fort und holte sein Bild aus dem Saffiantaeschchen. Was war natuerlicher, als dass sie bei dieser Gelegenheit erzaehlte, dass ihr das Bild zum Erkennungszeichen dienen solle, wenn Gontraus sie empfangen wuerden. "Gontrau?" fragte die alte Dame, "Landrat Gontrau? Das sind ja liebe Bekannte von mir. Mein Mann, Sanitaetsrat Lange, ist seit langen Jahren Arzt in ihrem Hause! Wir wohnen in L., das ist die naechste Station von Lindenhof. Wie sich das wunderbar trifft! Nun stecken Sie das Bild Ihres Papas nur getrost ein, wir haben es nicht mehr noetig; jetzt werde ich Sie meinen Freunden zufuehren! So viel Zeit habe ich bei meinem kurzen Aufenthalte!" Ilse war sehr erfreut ueber diesen wunderbaren Zufall, und im Geplauder mit der liebenswuerdigen, feingebildeten Frau Rat verging ihr die Zeit mit Windesschnelle. Sie war ganz erstaunt, als der Schaffner das Koupee oeffnete und hineinrief: "Station M.! Sie muessen aussteigen, meine Damen!" "Schon!" rief Ilse und griff nach ihren Sachen. Frau Rat hatte sich auch erhoben und suchte ihr Handgepaeck zusammen. Es geschah alles mit aengstlicher Hast, ihre Haende zitterten etwas in nervoeser Aufregung. Eine Ledertasche, die sie von oben herabnahm, entfiel ihrer Hand. Das Schloss an derselben sprang auf und verschiedene kleine Gegenstaende kollerten auf den Boden. "O Gott!" rief sie erschrocken, "was habe ich da gemacht!" - Sie wollte sich buecken und liess eine Schachtel dabei fallen. "Bitte, lassen Sie mich alles besorgen!" beruhigte sie Ilse. Schnell hatte sie alles aufgesucht und wieder in die Tasche gethan. Das Portemonnaie der Frau Rat, das sich ebenfalls unter den herausgefallenen Dingen befand, steckte sie tief hinein in die Tasche, verschloss dieselbe vorsichtig und gab sie der geaengsteten Dame in die Hand. "So," sagte sie, "nehmen Sie das an sich, fuer Ihre uebrigen Sachen werde ich Sorge tragen." Sie legte saemtliches Handgepaeck zusammen auf den Sitz, stieg dann hinaus, liess sich dasselbe von der Dame zureichen, uebergab es einem bereitstehenden Packtraeger und half endlich der Frau Rat vorsichtig die hohen Stufen hinabsteigen. "Danke, danke, liebes Kind," sagte diese. "Wie umsichtig und verstaendig Sie alles besorgen! Ich haette das bei Ihrer Jugend kaum erwartet." Ilse wunderte sich selbst darueber, wer weiss aber, ob ihre Selbstaendigkeit sich so ploetzlich entwickelt haette, wenn die hilflose Art und Weise ihrer Begleiterin dieselbe nicht herausgefordert haette. - Ganz stolz hob sie den Kopf bei diesem Lobe und wuenschte: wenn Fraeulein Guessow doch gleich dasselbe hoeren koennte! Sie hatte so grosse Besorgnisse gehabt, und jetzt war sie Beschuetzerin, anstatt dass sie beschuetzt wurde! - Es war wirklich ein recht erhebendes Gefuehl fuer sie, leider nicht von langer Dauer! Als sie mit Frau Rat langsam dem Stationsgebaeude zuschritt, hoerte sie laute Zurufe aus einem Koupee des noch haltenden Zuges. Ein fluechtiger Blick und sie hatte sofort die Studenten erkannt. Ganz aengstlich ergriff sie den Arm der Dame, denn in diesem Augenblick war all ihre frohe Sicherheit geschwunden und sie fuehlte sich recht eines Schutzes beduerftig. "Leb wohl - leb wohl - du suesse Maid! - Nur einen Abschiedsblick, reizendes Lockenkoepfchen!" riefen die Uebermuetigen, und als der Zug schon im Weiterfahren war, warf einer von ihnen ihr eine herrliche Rose zu, sie fiel gerade zu ihren Fuessen. Ilse wandte sich ab, sie wusste vor Scham und Verlegenheit nicht, wohin sie den Blick wenden sollte. "Kannten Sie die jungen Herren?" fragte Frau Rat. - Ilse verneinte und erzaehlte, dass sie dieselben zum ersten Male bei ihrer Abreise gesehen. "Ja, das ist lustiges Blut!" meinte Frau Rat. "Die ganze Welt gehoert ihnen und man darf es ihnen nicht uebel nehmen, wenn sie sich mehr herausnehmen als andre. - Wollen Sie die Rose nicht aufnehmen, Kind?" Ilse hatte wohl den Wunsch, aber sie schuettelte doch den Kopf. "Ich darf nicht," sagte sie, und Fraeulein Guessows Worte: "keine Aufmerksamkeit von einem Herrn anzunehmen," standen mahnend vor ihrer Seele. - Der Werfer fuhr freilich auf und davon und niemals haette er erfahren, ob sie die Rose nahm oder nicht, - trotzdem schwankte sie nicht, ihre Gewissenhaftigkeit und das eigne Bewusstsein waren die Waechter, die sie zurueckhielten. Frau Rat verstand sofort Ilses Benehmen und freute sich ueber ihr Taktgefuehl. "Sie haben recht, Kind," sagte sie, "und eigentlich beschaemen Sie mich etwas. Aber ich dachte nicht gleich daran, wer die Blume geworfen hat. Ich sah das herrliche Prachtexemplar im Staube liegen und es that mir leid um die unschuldige Rose." Nach einer Stunde Aufenthalt fuhren die Damen weiter. Ilse hatte die Zeit benuetzt, eine Korrespondenzkarte an Fraeulein Guessow zu schreiben. Als sie schrieb, meldete sich der Abschiedsschmerz aufs neue. Es verwischten sogar einige Thraenen die frische Schrift; aber sie meldete, dass ihr die Reise bis jetzt furchtbar schnell vergangen sei, und Frau Rat waere eine zu entzueckende Frau. Die Erwaehnte dachte ungefaehr ebenso von ihrer jungen Reisegefaehrtin. Sie hatte in der kurzen Zeit eine warme Zuneigung zu derselben gefasst. Ilse war so ganz anders als all die jungen Maedchen ihrer Bekanntschaft. Sie verglich sie mit einem sprudelnden Waldquell, dessen Wasserspiegel bis auf den klaren Grund sehen laesst. Wahr und offen und doch nicht geschwaetzig, natuerlich und ohne jede Ziererei. Und doch, wie huebsch war die Kleine! - Frau Rat blickte mit innerer Freude in Ilses rosiges Gesicht, in ihre braunen Augen, die ein so getreuer Spiegel ihrer Seele waren; die sie traurig und thraenengefuellt, froehlich und schelmisch aufleuchten sah, und deren dunkle Wimpern sich sittsam senkten, als uebermuetige Studenten ihr huldigen wollten. "Nun sind wir in wenigen Minuten in Lindenhof und muessen uns trennen," sagte Frau Rat. "Es thut mir von Herzen leid, ich habe Sie sehr lieb gewonnen. Versprechen Sie mir fest, mich zu besuchen, wenn der Zufall Sie in die Naehe von L. fuehren sollte." Ilse versprach das gern und gestand, dass auch ihr das Scheiden schwer werde. Frau Rat haette so {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}himmlisch{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} verstanden, sie zu troesten. "Da sind wir schon!" rief Frau Rat und steckte den Kopf zum Fenster hinaus, um sich nach Gontraus umzusehn. Sie waren nicht zu erblicken. Einige Bauernfrauen standen wartend mit ihren Tragkoerben da, sie wollten mit dem Zuge weiterfahren, das war alles. - Ilse hatte auch hinausgeschaut und als sie niemand anwesend sah, der sie erwartete, wurde es ihr recht bange. "Ach!" seufzte sie, "was fange ich nun an! Ich bin ganz verlassen hier! Lassen Sie mich mit Ihnen weiterfahren, liebe Frau Rat, und nehmen Sie mich fuer die eine Nacht auf. Bitte, bitte!" "Wie gern thaete ich das, mein Kind; aber das waere gegen die Bestimmung Ihrer Eltern. Gontraus werden noch kommen, auf jeden Fall! Sie haben sich etwas verspaetet, Sie koennen es glauben. Was wuerden sie sagen, wenn Fraeulein Ilse davongeflogen waere?" Ilse seufzte schwer und stieg aus. Ihr Gepaeck, auch die Blumen, die trotz des haeufigen Besprengens mit frischem Wasser die Koepfchen traurig haengen liessen, hatte sie aus dem Koupee gehoben, - nun stand sie da und sah sich hilflos nach beiden Seiten um. "Machen Sie nicht ein so trostloses Gesicht, liebes Kind," beruhigte die alte Dame, "es waere ja noch immer kein Unglueck, wenn Gontraus durch irgend ein Missverstaendnis Sie heute nicht erwarteten! In diesem Falle bestellen Sie einen Wagen im Stationsgebaeude und fahren nach Lindenhof hinaus. In einer guten Stunde sind Sie dort, und dass Sie bei den lieben Menschen mit offnen Armen empfangen werden, dafuer stehe ich ein." "Nein, nein! das thue ich nicht! Das wuerde ich nicht wagen!" rief Ilse ganz erschrocken. "Ich weiss ja gar nicht, ob man mich haben will! Ich kann doch nicht unbekannten Leuten in das Haus fallen!" Es leuchtete so etwas vom alten Trotze dabei aus ihren Augen und die Oberlippe kraeuselte sich in verdaechtiger Weise. Frau Rat laechelte ueber den jugendlichen Ungestuem. "Man will Sie haben, und fremde Leute sind es auch nicht, zu denen Sie kommen, kleine Ungeduldige," sprach sie scherzhaft. "Der Landrat ist ein sehr guter Freund Ihres Vaters." Ilse konnte sich nicht dabei beruhigen, sie wurde sogar noch niedergeschlagener. Als Frau Rat bemerkte, dass sie nur noch fuenf Minuten beisammen sein wuerden, fuellten sich ihre Augen mit Thraenen. "Gehen Sie einmal schnell um das Gebaeude, dort koennen Sie die ganze Chaussee ueberblicken, die nach dem Rittergute fuehrt. Vielleicht sehen Sie den Wagen kommen." Sie that, wie ihr geraten wurde. Im vollen Laufen oeffnete sie das Saffiantaeschchen und nahm Papas Bild heraus. "Es ist zwar doch vergeblich," dachte sie, "aber ich will es fuer alle Faelle in die Hand nehmen." [Illustration] Kaum hatte sie sich entfernt, kaum war sie links um das Haus gegangen, als von der andern Seite desselben ein junger, schlanker Mann mit leichtem, elastischen Schritt eilig hervortrat. Sein Auge glitt suchend ueber den Perron, dann ging er dicht an dem Zuge entlang und spaehte forschend in jedes Koupee. Frau Rat hatte ihn sofort entdeckt und ihre Zuege verklaerten sich, - der Suchende war niemand anders als der Sohn des Landrats. "Leo! Leo!" rief sie ihn an, "komm, schnell! Wo sind deine Eltern? Du suchst sie, nicht wahr? Ich bin mit ihr gefahren - sie ist ein reizendes, junges Maedchen! Frisch wie eine Waldblume, sage ich dir. Dort ist sie um das Haus gegangen!" "Was fuer eine Waldblume meinst du, Tante Rat?" fragte der junge Mann etwas erstaunt und sah mit seinen offenen, klugen Augen die Angeredete, die sehr schnell und mit lebhaften Gesten gesprochen hatte, an. "Von wem sprichst du?" "Von ihr - von ihr!" rief sie zurueck. "Von Ilse, die ihr erwartet," wollte sie eigentlich sagen, aber der Name fiel ihr im Augenblick nicht ein; das betaeubende Laeuten der Glocke, die das Zeichen zur Abfahrt gab, machte sie nervoes und verwirrte sie, es kam noch hinzu, dass der junge Mann ihren Worten wenig Aufmerksamkeit schenkte und immer auf dem Sprunge stand, sie zu verlassen. "Ich muss dich verlassen, Tante!" sagte er denn auch, "ich muss mich nach einem Kinde umsehen, das ich mit diesem Zuge erwarte -" "Sie ist es! Sie ist es!" rief sie lebhaft, aber er hoerte ihre Worte nicht mehr, sondern von neuem ging er suchend den Zug entlang. "Haben Sie ein allein reisendes Kind bemerkt - und ist dasselbe vielleicht hier ausgestiegen?" fragte er einen Schaffner. "Nein!" antwortete dieser und schwang sich auf seinen hohen Sitz hinauf, denn der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Als Frau Rat an ihm vorueberfuhr, rief sie ihm einige Worte zu, leider vergeblich, er verstand sie nicht. Assessor Gontrau blieb stehen, etwas ratlos und nachdenklich. Der Oberamtmann Macket hatte seinen Vater gebeten, dass er sofort bei Ilses Ankunft telegraphieren moege, ob sie gluecklich angekommen sei. Was sollte er jetzt thun? Es blieb ihm nichts andres uebrig, als eine Depesche abzusenden mit den Worten: "Nicht angekommen!" Eben im Begriffe, sich zu diesem Zwecke in das Bureau zu begeben, fiel sein Blick auf einen Brief, der auf der Erde dicht vor ihm lag. Er hob ihn auf und las die Aufschrift auf dem geoeffneten Kouvert. Nicht wenig erstaunte er, als er die Adresse las: "Fraeulein Ilse Macket," - sonderbar! Der Schaffner und die Leute hier haben kein Kind aussteigen sehen und doch muss es angekommen sein! "Wissen Sie nicht, wer den Brief verloren hat?" wandte er sich an eine Frau, die einen kleinen Obststand in der Naehe hatte. "Gesehen habe ich es gerade nicht," meinte die, "aber ein junges Fraeulein mit Locken hat ihn gewiss mit aus der Tasche gezogen. Ich sah, dass sie etwas herausnahm. Die dort war es," unterbrach sie sich ploetzlich und zeigte auf Ilse, die um das ganze Haus gegangen war und von der entgegengesetzten Seite gerade hervortrat, als der Zug abfuhr. Ihre alte Freundin gruesste noch einmal zaertlich zum Fenster hinaus, machte auch allerhand bedeutungsvolle Zeichen, winkte nach der andern Seite zu Leo hinueber, - Ilse verstand nichts von allem. Hoechst ungluecklich stand sie da und blickte dem Zuge nach, der ihre einzige Bekannte hier in die Ferne fuehrte. "Nun bin ich verlassen!" sprach sie fuer sich, "was soll ich nun anfangen!" Es war merkwuerdig, wie ihre mutige Sicherheit ein so schnelles Ende genommen hatte. - Wie recht hatte Fraeulein Guessow mit ihrer Besorgnis! Auf diesen Fall war sie gar nicht vorbereitet! Was sollte sie nun beginnen? Am liebsten haette sie wie ein kleines Kind angefangen zu weinen, sie schaemte sich nur vor dem jungen, blonden Postbeamten, der zu einem Parterrefenster hinauslehnte und sie neugierig beobachtete. Aus ihrer peinlichen Ratlosigkeit schreckten sie ploetzlich eilige Schritte auf und gleich darauf erfolgte die Anrede: "Gnaediges Fraeulein, ich bitte um einen Augenblick!" Ilse wandte den Kopf, und als ihr Auge fluechtig die Gestalt eines jungen Mannes streifte, erfasste sie eine unnennbare Angst. Was wollte er von ihr - warum redete er sie an? Sie verlor alle ruhige Fassung und nur der eine Gedanke beherrschte sie: Du darfst ihn nicht anhoeren! - Als ob sie nichts gehoert habe, ging sie weiter, und als sie bemerkte, dass sie verfolgt wurde, beschleunigte sie ihre Schritte. Wie ihr das Herz klopfte vor Angst und Aufregung! "Sie haben etwas verloren, gnaediges Fraeulein, wollen Sie nicht die Guete haben, mir einen Augenblick Gehoer zu schenken!" rief er dringend. Nun stand sie still, aber sie wagte nicht, sich nach ihm umzusehen. Er benuetzte schnell diesen Moment und trat vor sie hin. Mit einem leichten, spoettischen Laecheln betrachtete er den kleinen Backfisch, der so aengstlich und bloede vor ihm davonlief. Schon schwebte ihm eine etwas ironische Bemerkung auf den Lippen, die er indes unterdrueckte, als er in das liebliche, rosige Antlitz sah. Mit niedergeschlagenen Augen und in aengstlicher Verlegenheit stand sie vor ihm. - {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wie eine Waldblume{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} hatte Tante Rat zu ihm gesagt, jetzt wusste er, wen sie damit gemeint. "Ich fand diesen Brief dort," sprach er, "gehoert er vielleicht Ihnen?" Ein fluechtiger Blick belehrte Ilse, dass er den Brief ihres Papas in der Hand hielt. "Ja," sagte sie, ziemlich beschaemt ueber ihr albernes Davonlaufen, "er gehoert mir." - Sie nahm ihn in Empfang, ohne den jungen Mann anzusehen. "Ich danke Ihnen," fuegte sie noch hinzu und wollte mit einer schuechternen Verbeugung weitergehen. "Und war die Adresse an Sie gerichtet?" fragte er weiter, so dass sie zoegernd still stand. Doch bevor er noch ihre Antwort abwartete, rief er ploetzlich erfreut und lachend zugleich: "Sie - Sie sind Fraeulein Ilse Macket! ich sehe die Photographie in Ihrer Hand! Das ist ein wundervoller Spass!" Erstaunt blickte Ilse ihn an, und nun sah sie zum ersten Male in das huebsche, von der Sonne etwas gebraeunte Gesicht des jungen Gontrau. "Verzeihen Sie mein unschickliches Lachen," entschuldigte er sich, "aber Sie werden dasselbe verstehen, wenn ich Ihnen Aufklaerung gegeben habe. - Zuvor erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle, mein Name ist Gontrau." - Er hob den weichen Filzhut ab und begruesste sie in liebenswuerdiger, ehrerbietiger Weise. "Gontrau!" rief Ilse strahlend vor Freude, "ist's wahr, Gontrau? Aber Sie sind doch nicht - doch nicht -" "Der Landrat?" ergaenzte er ihre Frage. "Nein, der bin ich nicht, nur sein Sohn." "Ich war recht einfaeltig, dass ich Ihnen davonlief," sprach sie erroetend, "aber ich wusste nicht, wer Sie waren; ich hielt Sie fuer einen fremden Herrn, der mich ausfragen wollte. Ach, Sie glauben nicht, wie ich mich geaengstigt habe, als ich so ganz allein hier stand! Wie ein verirrtes Kind kam ich mir vor, das nicht weiss woher und wohin. Nun bin ich froh, furchtbar froh! Aber wo sind Ihre Eltern?" ploetzlich fiel es ihr ein, dass dieselben nicht anwesend waren. "Bitte, fuehren Sie mich zu ihnen." "Leider konnten sie nicht die Freude haben, Sie hier zu begruessen," entgegnete Leo, den ihr kindliches Geplauder geradezu entzueckte. "Meinem Vater ist ein kleiner Unfall zugestossen. In dem Augenblick, als er den Wagen besteigen wollte, um hierher zu fahren, vertrat er sich den Fuss und zwar so boese, dass er zurueckbleiben musste. Die Mutter konnte zu ihrem Kummer nun auch nicht fort, sie musste dem Vater behilflich sein. Dieser Unfall ist denn auch an meiner Verspaetung schuld, die ich von ganzem Herzen bedaure, doppelt bedaure, da sie Ihnen Sorge und Kummer bereitet hat. Mama hatte sich so darauf gefreut, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}die Kleine{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} in Empfang nehmen zu koennen! Ja, ja, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}die Kleine{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}," wiederholte er und amuesierte sich ueber ihr verwundertes Gesicht. "Ihr Herr Papa traegt die Schuld an dem Irrtum, in dem wir befangen waren. Er sprach in seinen Briefen nur von seiner {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Kleinen{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, oder von {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}seinem Kinde{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, das er allein und schutzlos die weite Reise machen lassen muesse, er fuerchtete, dass dem {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}kleinen Maedchen{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, das die Pension verliess, etwas zustossen koenne. Natuerlich erwarteten wir nun auch ein Kind, so ein halberwachsenes Maedchen von zwoelf, hoechstens dreizehn Jahren." "Nein, aber der Papa!" rief Ilse und lachte, aber nicht so frisch und frei wie gewoehnlich, es klang etwas gezwungen. Es war ihr nicht ganz angenehm, dass der Papa noch eine so kindliche Meinung von ihr hatte. "Papa ist zu komisch! Er haelt mich noch immer fuer die halberwachsene Ilse! Wie wird er sich wundern, wenn er mich wiedersieht! Mit siebzehn Jahren ist man kein Kind mehr, nicht einmal ein Backfisch!" "Bewahre!" stimmte der Assessor ihr bei, "mit siebzehn Jahren ist ein junges Maedchen eine vollendete Dame." Es kam halb wie leichter Spott heraus, aber er machte ein ganz ernstes Gesicht und verzog keine Miene. So glaubte sie denn mit Stolz an die "vollendete" Dame. Nur ihr Handgepaeck nahm Ilse mit hinaus nach Lindenhof, dasselbe war schon in dem Wagen untergebracht, den Korb mit den Blumen stellte der Kutscher eben hinein. "Die vielen Straeusse!" bemerkte Leo Gontrau und diesmal laechelte er wirklich etwas. "Der Korb muss Ihnen doch eine Last gewesen sein?" "O nein, nein!" sprach sie eifrig dagegen, "es sind ja lauter Abschiedsgruesse von meinen Freundinnen!" "So viele Freundinnen!" meinte er und sah in den Korb. "Es sind sieben Straeusse," belehrte ihn Ilse, die naemlich glaubte, er wolle dieselben zaehlen. "Sie waren schoen," meinte er, "jetzt sind sie schon etwas welk. Nur dieser Rosenstrauss mit der Vergissmeinnichteinfassung ist noch frisch." Ilse ergriff denselben und beugte ihr Antlitz darauf. Eine augenblickliche Ruehrung ueberkam sie, als sie der Geberin gedachte. "Ich habe ihn von meiner liebsten Freundin," sagte sie innig - "von Nellie Grey." "Nellie Grey?" fragte er. "Wohl eine Englaenderin? Ist sie huebsch und liebenswuerdig?" setzte er scherzend hinzu. "Sie ist reizend!" rief Ilse und geriet foermlich in Feuer, als sie von der Freundin erzaehlte. Er hoerte ihr stillschweigend zu und amuesierte sich ueber die Begeisterung, mit der sie lobte, und besonders ueber die ueberschwenglichen Ausdruecke, die dabei ihren Lippen entschluepften. Sie wusste es gar nicht, wie sehr sie sich Melanies Angewohnheit zu eigen gemacht hatte und wie Ausrufe, als: furchtbar reizend! himmlisch! entzueckend! suess! u. s. w. u. s. w. ihr ebenso gelaeufig waren als Melanie und den uebrigen Backfischen. "Wollen Sie nicht erst im Bahnhofsgebaeude eine kleine Erfrischung einnehmen?" fragte Leo und bot ihr den Arm, um sie dorthin zu fuehren. Dankend lehnte sie sein Anerbieten ab, trotzdem sie es eigentlich gern angenommen haette. Sie war naemlich hungrig und ihr Magen trug rechtes Verlangen nach einem kraeftigen Imbiss. Eine vollendete Dame aber durfte den Hunger nicht merken lassen, es waere doch geradezu kindisch gewesen. "Es ist kuehl," bemerkte er, als er ihr in den Wagen geholfen, "und mein Auftrag lautet: Huelle {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}das Kind{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} gut ein, damit es sich nicht erkaeltet in der halboffenen Chaise." Und er nahm ein warmes Tuch, das schon bereit lag, und wickelte sie fest darin ein, auch eine Decke schlug er um ihre Fuesse. Sie liess es gern geschehen, denn der Herbstwind pfiff kalt ueber die leeren Felder; sie lachte sogar ueber seine Fuersorge; aber hinterher kamen die Bedenken. War es recht, dass sie sich von ihm einhuellen liess? War es nicht eine Vertraulichkeit, die sie gestattet hatte? Wuerde Fraeulein Guessow ihr Benehmen schicklich finden? Ob Nellie wohl so gehandelt haben wuerde, wie sie, oder ob sie nicht lieber ihren Regenmantel angezogen haette! Sie konnte es auch thun, er lag im Riemen geschnallt dicht bei ihr. Mitten in ihren peinlichen Zweifeln und Sorgen vernahm sie ein herzliches Lachen ihres Nachbars. Natuerlich brachte sie es sofort mit ihren Gedanken in Verbindung. "Lachen Sie ueber mich?" fragte sie beinahe aengstlich. "Nein, nein!" entgegnete er, "wie kommen Sie zu dieser Frage? Wie wuerde ich mir je erlauben, eine junge Dame auszulachen! Diese Birne ist an meiner Heiterkeit schuld. Sie fiel mir soeben aus der Wagentasche auf die Hand und erinnerte mich an Mamas letztes Wort, das sie mir nachrief, als ich fortfuhr." "Was sagte sie?" fragte Ilse und sah ihn neugierig an. "Vergiss ja nicht, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}dem Kinde{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} die Birnen zu geben, Leo, sprach sie. Die Kleine wird wohl hungrig sein. Ich glaube," unterbrach er sich und griff in die Seitentasche, "sie sprach auch von einem Stueck Kuchen. Richtig!" rief er lachend und zog ein kleines Paketchen hervor, "da ist er! Darf ich es wagen, gnaediges Fraeulein, Ihnen Kuchen und Birnen anzubieten?" Dieser Verlockung konnte sie nicht widerstehen. "Warum nicht?" entgegnete sie unbefangen und griff zu. "Obst ist meine ganze Leidenschaft und Kuchen esse ich furchtbar gern! In der Pension haben wir nicht viel davon zu sehen bekommen, Fraeulein Raimar behauptete, der Magen werde schlecht vom vielen Kuchenessen. Ist das nicht eine furchtbar oede Ansicht?" "Ja, eine furchtbar oede Ansicht!" wiederholte er mit ganz ernsthaftem Gesicht, "ich begreife nicht, wie Sie es aushalten konnten, ohne Kuchen zu leben!" "Manchmal," erzaehlte sie, "liessen wir uns heimlich ein Stueckchen holen, ueber Mittag, wenn das Fraeulein schlief." "So, so!" lachte er, "das sind ja schoene Geschichten, das muss ich sagen!" "Wir thaten es nicht oft," entschuldigte sich Ilse, "nur dann und wann, wenn wir gar zu grossen Appetit darauf hatten. Finden Sie das unrecht?" "Dass Sie den Kuchen assen, finde ich durchaus nicht unrecht," neckte er sie, "aber dass Sie ihn heimlich holen liessen, gefaellt mir nicht. Warum fragten Sie nicht die Vorsteherin um Erlaubnis?" "Sie sind aber klassisch!" rief Ilse, "dann haetten wir es doch nicht gedurft! Es war doch nichts Boeses, was wir thaten, nur ein ganz harmloses Vergnuegen, Fraeulein Raimar hatte nicht den geringsten Schaden davon, ob wir Kuchen assen oder nicht." "Sie sind eine kleine Rechtsverdreherin!" tadelte er sie lachend, "ob Schaden oder nicht, darauf kommt es gar nicht an. Die Dame hatte ihre Gruende, weshalb sie Ihnen den Genuss des Kuchens verbot. Nummer I: Sie handelten gegen ihren Willen - folglich sind Sie strafbar! Nummer II: Sie thaten es heimlich - das erschwert das Vergehen!" Sie lachte hoechst vergnuegt. "Herrgott, sind Sie aber pedantisch!" "Ich bin Jurist, gnaediges Fraeulein, und gehe jeder Sache auf den Grund." "Jurist!" wiederholte Ilse und sah ihren Nachbar etwas misstrauisch an. "Das glaube ich nicht! Sie sehen nicht so aus." "Warum nicht? Haben die Juristen ein besonderes Aussehen?" Diese Frage brachte sie etwas in Verlegenheit. Sie haette ihm keine andre Antwort daraus geben koennen, als dass die Juristen, die oefters auf Moosdorf zu Gaste kamen, ganz anders ausschauten. Es waren lustige Herren, die gerne ein Glas Wein liebten, aber jung und schoen waren sie nicht. Sie sah ihn an und schuettelte unglaeubig den Kopf. "Sie sind nicht Jurist," widerstritt sie. "Nun, ich bin doch neugierig, wofuer Sie mich halten," fragte er hoechst amuesiert, "jetzt legen Sie eine Probe von Ihrer Menschenkenntnis ab!" "Sie sind Kuenstler - vielleicht Musiker - oder Maler?" Er lachte laut. "Musiker!" rief er, "ich ein Musiker! Wenn Sie wuessten, gnaediges Fraeulein, welch ein grosses Wort Sie gelassen aussprachen! Ich verstehe keine Note und bin so unmusikalisch wie ein Stock! Es thut mir leid, dass ich Ihre fuer mich so schmeichelhafte Illusion zerstoeren muss, indes was kann es helfen! Ich muss mich Ihnen leider als ein ganz gewoehnliches Menschenkind vorstellen, das weder Maler noch Musiker ist. Trotz Ihres Zweifels bin ich Jurist und seit vier Wochen Assessor. Sind Sie nun ueberzeugt?" "Also kein Kuenstler, ach, wie schade!" sprach Ilse bedauernd. "Es muessen doch reizende Menschen sein!" "Nicht immer," wollte er sagen, doch that er es nicht. Warum ihre naiven Anschauungen zerstoeren? Sie war noch so jung und sah so glaeubig aus. "Sehen Sie dort die Kirchturmspitze?" brach er das Gespraech ab, "die Wetterfahne darauf glaenzt hell im Mondenscheine, das ist die Kirche von Lindenhof! In zehn Minuten sind wir dort." Als der Wagen vor dem Portale des Hauses hielt, trat Frau Gontrau schnell auf denselben zu, um ihren kleinen Gast in Empfang zu nehmen. Als das erwachsene Maedchen dafuer ausstieg und Leo den Irrtum erklaerte, nahm sie dasselbe lachend in den Arm. "Ob gross, ob klein," sagte sie mit Waerme, "Sie sind mir von Herzen willkommen!" Und sie fuehrte Ilse in das Speisezimmer, in welchem sich der Landrat befand. Er sass in halbliegender Stellung auf dem Sofa und streckte dem jungen Maedchen beide Haende entgegen. "Das ist eine kostbare Ueberraschung!" rief er aus, "eine kostbare Ueberraschung! Anstatt des Kindes kommt eine junge Dame an! Hat uns Freund Macket mit Absicht getaeuscht?" Ilse lachte und zeigte die weissen Zaehne. "Wie Sie dem Papa aehnlich sehen!" fuhr er lebhaft fort, "derselbe Mund, die Zaehne, das Kinn, es ist auffallend!" Er schob die Lampe naeher zu ihr, damit er sie noch besser betrachten koenne. "Das Haar haben Sie von der Mutter geerbt, auch die braunen Augen, das heisst nur in Farbe und Schnitt. Der Ausdruck der Ihrigen ist lebhafter, er verraet nicht das sanfte Taubengemuet der seligen Mama. Koennen Sie zornig blicken?" fragte er scherzend. "Aber lieber Mann," unterbrach ihn Frau Gontrau lachend, "erst stellst du ein peinliches Examen mit dem Aeusseren unsres lieben Gastes an, nun gehst du auch noch auf die Charaktereigenschaften ueber! - Kommen Sie, liebes Kind, ich will Sie erloesen. Ich werde Sie auf Ihr Zimmer fuehren, damit Sie sich von der langen Reise etwas erfrischen koennen. Ich habe Sie dicht neben mein Schlafzimmer einquartiert, die Fremdenzimmer liegen eine Treppe hoeher, und ich dachte, die Kleine fuerchte sich, allein dort zu schlafen." "O wie reizend!" rief Ilse kindlich erfreut und verriet, dass sie im Punkte der Furcht noch ganz wie ein richtiges Kind empfand. "Leo," redete der Amtsrat den Sohn an, als die Damen das Zimmer verlassen hatten, "ist sie nicht ein reizendes Kind?" Der Angeredete schien sehr vertieft in seiner Zeitungslektuere, wenigstens musste der Vater noch einmal die Frage wiederholen, bevor er eine Antwort erhielt. "Ja, ja," gab er gleichgueltig zur Antwort, "sie ist ein ganz netter, kleiner Backfisch!" "Netter Backfisch! Ist das ein Ausdruck fuer ein so liebliches Wesen! Hast du denn gar keine Augen im Kopfe? Ich sage dir, Temperament steckt in dem {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}kleinen Backfisch{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, mehr als du dir traeumen laesst! Ein Blick und ich weiss Bescheid! Du hast kein Urteil, mein Junge, darin ist dein Vater dir ueber!" Leo gab keine Antwort darauf und las andaechtig weiter. Die Abendstunden entschwanden in Frohsinn und Heiterkeit. Ilse plauderte und erzaehlte ganz ohne Scheu. Sie fuehlte sich heimisch bei den lieben Menschen. Der Landrat liebte es, sie zu necken, und sie verstand seinen Scherz. "Bleiben Sie einige Tage hier," redete er ihr zu, "die Zeit ist so kurz bis morgen mittag. Wir telegraphieren den Eltern, dass wir Sie hier behielten, sie werden nicht boese darueber sein." Leo warf einen schnellen Blick zu Ilse hinueber, der fast wie eine Bitte aussah, auch erbot er sich, ganz frueh am andern Morgen nach dem Stationsgebaeude zu reiten, um ein Telegramm aufzugeben. Frau Gontrau unterstuetzte die Bitte ihres Mannes mit grosser Waerme. "Es waere eine grosse Freude fuer uns, wenn Sie blieben," sagte sie, "es fehlt uns ein frisches Element in unsrem Hause. Sie haben die glueckliche Gabe, Leben und Frohsinn um sich zu verbreiten!" "Bitte, bitte, quaelen Sie mich nicht," bat Ilse, "ich kann nicht bleiben! Ich kann es nicht, so reizend es mir auch hier gefaellt! Meine Eltern erwarten mich morgen und ich habe auch grosse Sehnsucht nach ihnen und auf den kleinen Bruder freue ich mich furchtbar! Er weiss noch gar nicht, dass er eine grosse Schwester hat!" Dagegen war nichts einzuwenden. Ilses Antwort war so echt kindlich und natuerlich. Frau Gontrau strich ihr die krausen Locken zurueck und klopfte ihr leicht die Wange. "Sie haben recht, liebe Kleine, Ihren Entschluss nicht zu aendern. Wir wollen auch gar nicht weiter in Sie dringen mit unsren Bitten. Besuchen Sie uns bald auf laengere Zeit, Leo verlaesst uns in einigen Wochen und dann ist es einsam in unsrem grossen Hause." "Daraus wird doch nichts!" erklaerte der Landrat. "Ich kenne meinen Freund Macket und weiss, dass er so bald sein Toechterchen nicht wieder fortgiebt. Halt, da faellt mir ein guter Gedanke ein! In seinem letzten Briefe ladet der Papa uns zum Erntefeste ein, das in vier Wochen etwa stattfinden soll. Ich nehme die Einladung an fuer uns, Punktum! Aber ich knuepfe die Bedingung daran, dass er Sie mit uns zurueckreisen laesst." Ilse jubelte vor Vergnuegen, "das waer' zu - zu himmlisch!" rief sie aus. "Aber Sie muessen auch Wort halten, geben Sie mir die Hand darauf." Mit einem kraeftigen Handschlag besiegelte er sein Versprechen. "Ein Handschlag galt bei uns in der Pension fuer den hoechsten Eid," sagte sie mit einem ernsten Kindergesicht, "dagegen handeln heisst meineidig sein. - Sie werden doch mitkommen?" wandte sie sich an Leo. "Natuerlich," entgegnete er freudig, "der feierliche Eid gilt auch fuer mich. Wollen wir ihn auch mit einem Handschlag besiegeln?" "O nein," entgegnete sie leicht erroetend, "ich glaube Ihnen schon auf Ihr Wort." Als es elf schlug, mahnte Frau Gontrau zur Ruhe. "Sie werden muede und abgespannt sein von der Reise und den vielen fremden Eindruecken, liebe Ilse." "Ich empfinde gar keine Muedigkeit," entgegnete diese, "und koennte noch lange aufbleiben!" Sie haette es auch gethan, wenn sie nur Papier und Feder in ihrem Zimmer gefunden haette! Wie gerne haette sie ihrer Nellie so ganz frisch ihre Reiseerlebnisse erzaehlt! Am andern Morgen gleich nach dem zweiten Fruehstueck ruestete sich Ilse zur Weiterreise. Eben trat sie mit dem Korbe mit den Blumen vor die Thuere, sie hatte sie noch einmal mit Wasser besprengt. "Wollen Sie denn die welken Straeusse wirklich wieder mit sich nehmen?" fragte Assessor Gontrau. Ilse blickte auf den Korb und stand unschluessig da. "Freilich," sagte sie betruebt, "sie sehen traurig aus, meine lieben, schoenen Blumen, nun sind sie alle welk!" "Wissen Sie was, Fraeulein Ilse," riet der Assessor heiter, "wir wollen ein Autodafee anstellen und sie verbrennen! Dann sammeln wir die Asche und Sie bewahren dieselbe in einer kostbaren Urne auf, welche die Inschrift traegt: Diese Urne birgt die Asche der Blumenstraeusse meiner geliebten sieben Freundinnen in der Pension. - Wie gefaellt Ihnen diese Idee?" "O, Sie sind abscheulich!" rief sie. "Sie wollen sich ueber mich lustig machen? Trotzdem," fuegte sie echt logisch hinzu, "gefaellt mir das Verbrennen ganz gut. Errichten Sie schnell einen Scheiterhaufen, so viel Zeit bis zu meiner Abfahrt bleibt mir noch, ich will die Blumen in Flammen aufgehen sehen! Die Asche aber sammeln wir nicht!" Leo trug eilig etwas trockenes Reisig auf dem Kiesplatze vor dem Hause zusammen und in wenigen Sekunden flackerte ein lustiges Feuer auf. Ein Strauss nach dem andern verfiel dem Feuertode, nur als Nellies Rosen an die Reihe kamen, hielt Ilse ihm den Arm fest. "Halten Sie ein!" rief sie, "der darf nicht geopfert werden, die Blumen meiner lieben Nellie bewahre ich bis zu meinem Tode auf!" "Mit in das Grab," fuegte er neckend hinzu. Frau Gontrau, die mit ihrem Sohne Ilse bis zur Bahn begleiten wollte, erschien jetzt fertig angekleidet in der Thuere und mahnte zum Aufbruch. Ilse ging in das Haus und nahm Abschied von dem Landrate. So gerne waere er mitgefahren und musste nun des boesen Fusses wegen zurueckbleiben. Es war eine rechte Geduldsprobe fuer ihn. Noch einmal erinnerte sie ihn dringend an seinen Schwur. "Sie muessen kommen!" war ihr letztes Wort. "Es bleibt dabei!" rief er ihr nach, "der Schwur gilt!" Als sie im Begriffe war, in den Wagen zu steigen, ueberreichte ihr Leo ein kostbares Rosenboukett. "Die Blumen sind aus der Asche erstiegen," sprach er, "Sie werden dieselben nicht verschmaehen," fuegte er hinzu, als sie vor Ueberraschung vergass, dieselben in Empfang zu nehmen. "O, wie reizend! Wie furchtbar liebenswuerdig! Sie glauben nicht, wie ich mich freue!" Mit holdem Erroeten reichte sie ihm die Hand. "Ich danke Ihnen tausendmal! Ich liebe die Rosen so sehr und so schoen wie diese sah ich noch keine. Wie sehr, wie furchtbar haben Sie mich erfreut!" Und sie konnte den Blick nicht von den herrlichen Blumen wenden und wiederholte noch einige Male: "ich freue mich zu sehr!" Leo laechelte seine Mutter an und sie verstand ihn wohl. War doch auch sie entzueckt ueber die kindliche Freude und die Anmut, mit der Ilse zu danken verstand. Die Stunden vergehen schnell, besonders die gluecklichen. Die Fahrt bis zum Bahnhof war geschwunden, Ilse wusste nicht wie. Jetzt sass sie im Dampfwagen und fuhr der Heimat zu. Ihre Gedanken schwirrten bunt durcheinander, sie flogen voraus und traeumten vom Wiedersehen - und sie kehrten zurueck und fuehrten sie wieder nach Lindenhof. Es hatte ihr himmlisch dort gefallen! Der Abschied war ihr beinahe schwer geworden. Leo hatte ihr die Hand gekuesst und sie hatte es sich gefallen lassen. Ob das wohl recht war? Am Ende haette sie ihm die Hand entziehen muessen? - "Ach," seufzte sie laut, zum Glueck war sie allein im Koupee, "ach! Es ist doch zu oede, wenn man gar nicht weiss, wie man sich zu benehmen hat! Am Ende spottet er jetzt ueber mich!" Sie erroetete bei diesem furchtbaren Gedanken. Da fiel ihr Blick auf den Rosenstrauss, und wie sie den suessen Duft desselben einatmete, stand ploetzlich sein Bild lebhaft vor ihr. Ein wunderbares Gefuehl ueberkam sie, aber es war ihr fremd und sie schreckte davor zurueck. Sie legte den Strauss aus der Hand und erhob sich. Sie wollte nicht weiter an ihn denken, sie wollte es nicht! Um sich zu zerstreuen, blickte sie zum Fenster hinaus. Erst auf der einen, dann auf der andern Seite. Aber sie sah nicht viel, nichts als leere Stoppelfelder, das war langweilig. Sie setzte sich wieder und nahm ihre Handtasche vor. Nachdem sie ein Weilchen darin gekramt, fiel ihr ein Buch in die Haende, das Nellie ihr hineingesteckt hatte, damit sie Unterhaltung habe. Sie hatte gar nicht daran gedacht, jetzt griff sie freudig nach Chamissos Gedichten. Im Begriffe, das Buch zu oeffnen, fiel ihr etwas ein. "Halt," sagte sie fuer sich, "jetzt werde ich das Orakel befragen, wie Flora uns gelehrt hat." Sie schlug drei Kreuze ueber das Buch und sah gen Himmel dabei, dann oeffnete sie es schnell und die erste Zeile, auf die ihr Blick fiel, hiess: "Helft mir, ihr Schwestern, Kraenze zu winden -" "Unsinn! Ich will es nicht gelten lassen!" rief sie, "also noch einmal!" Das Buch wurde wieder geschlossen und recht, recht fest zusammengedrueckt, dann wieder die drei ueblichen Kreuze, wieder langsam und feierlich geoeffnet - und siehe da, dieselben Worte gaben ihr Antwort auf ihre Frage. "Sonderbar! furchtbar sonderbar!" dachte sie sinnend und einen Augenblick war sie in Versuchung, der prophetischen Stimme zu glauben, dann aber siegte ihre gesunde Vernunft. "Es ist doch nur ein Zufall und die ganze Geschichte dummes Zeug!" Mit diesem vernuenftigen Gedanken gab sie alle Schicksalsfragen auf und vertiefte sich in Chamissos herrliche Gedichte. Einige Male freilich ertappte sie sich auf dem Wege nach Lindenhof und Leos Bild neckte sie aus den Zeilen, aber sie wehrte sich tapfer gegen diese Traumbilder. Sie schwanden von selbst, je naeher sie der Heimat kam. Sie legte das Buch beiseite und blickte zum Fenster hinaus. Schon erkannte sie verschiedene Ortschaften, die in der Naehe von Moosdorf lagen, schon konnte sie den Bahnhof erkennen! Ihr Herz schlug vor Erwartung und Freude, ihre Augen flogen voraus und jetzt erkannte sie die Eltern, die auf dem Perron standen, um sie in Empfang zu nehmen. Welche Seligkeit ein Kind empfindet, wenn es nach langer Trennung zu den geliebten Eltern zurueckkehrt, das, meine jungen Leserinnen, kann nicht geschildert, sondern muss empfunden werden. Ilse lag in den Armen ihres Vaters und dachte an nichts weiter, als an das Glueck, wieder daheim zu sein. [Illustration] "Bist du gross geworden!" rief der Oberamtmann und betrachtete sie mit stolzer Freude; "ich haette dich kaum wiedererkannt! Als halbes Kind gingst du von uns und jetzt kehrst du heim als junge Dame!" Er hielt sie noch immer in seinen Armen und konnte sich nicht satt sehen an ihr. Sanft entwand sie sich ihm, noch hatte sie die Mutter nicht begruesst, die mit Thraenen im Auge daneben stand und ihr die Arme entgegenstreckte. Ilse flog an ihr Herz und umschlang sie innig. "Meine liebe Mama!" das war alles, was sie sagen konnte. Und Frau Macket verstand sie, innig drueckte sie ihr Kind an sich, sie wusste, dass sie jetzt sein Herz fuer immer gewonnen hatte. "Hier ist noch jemand, der dich begruessen will, Kleines," unterbrach der Oberamtmann die kleine ruehrende Szene, die ihn selbst schon ganz weichmuetig machte, "sieh, Onkel Curt, beruehmter Maler und Afrikareisender, moechte gern deine Bekanntschaft machen!" Ilse reichte ihm die Hand und stand nun einem wirklichen Kuenstler gegenueber. Ob sie ihn "reizend" fand? - Als sie ihn ansah, den mittelgrossen, etwas breitschultrigen Mann, in der Samtjoppe, die mehr bequem als elegant sass, mit dem breitkrempigen Hute, der ein braun gebranntes, etwas verwittertes Gesicht tief beschattete, da draengte sich unwillkuerlich ein andrer in ihre Gedanken und sie verglich. "Die Juristen gefallen mir doch besser als die Kuenstler," - so meinte sie still in ihrem Herzen. Ehe Ilse in den Wagen stieg, wurde sie von Johann feierlich begruesst. Zur besonderen Ueberraschung hatte er Bob mitgebracht, der nun in toller, ausgelassener Freude seine Herrin begruesste. Johann vergass dabei seine Empfangsrede, die er sich muehsam zurechtgedacht hatte. Verlegen drehte er seine Muetze und sein breiter Mund zog sich von einem Ohre zum andern. "Da ist der Hund, Fraeulein Ilschen," sagte er. "Das unvernuenftige Vieh hat das Fraeulein gewissermassen gleich erkannt. Ich auch, wenn auch das Fraeulein gewissermassen schoen und stattlich geworden sind, wie ein Kuerassier." - Diesen wunderlichen Vergleich gebrauchte Johann nur bei ganz aussergewoehnlichen Gelegenheiten, er galt fuer ihn als hoechster Ausdruck des Vollkommnen. Alle lachten und Ilse reichte dem Freunde ihrer Kindheit die Hand. "Es ist gut, Johann," sagte der Oberamtmann, "du hast eine schoene Rede gehalten. Nun aber steige auf und lasse die Pferde tuechtig zugreifen, in einer halben Stunde muessen wir in Moosdorf sein." Im Vaterhause war alles festlich bereitet. Fahnen, Kraenze, Blumen, sogar eine Ehrenpforte mit einem maechtigen "Willkommen!" begruessten die heimkehrende Tochter. - Aber sie hatte nur einen fluechtigen Blick fuer alle Herrlichkeiten, ihre Ungeduld trieb sie hinein in das Haus, sie musste zuerst das Bruederchen sehen. Frau Anne, die vor ihr hineingegangen war, trat ihr schon mit demselben entgegen. "Du suesser, suesser Junge!" rief Ilse im hoechsten Entzuecken und der praechtige Knabe streckte ihr jauchzend seine Aermchen entgegen. "Er will zu mir, Mama, darf ich ihn nehmen?" Gluecklich laechelnd reichte die Frau ihr den Kleinen. Und Ilse tanzte mit ihm im Zimmer herum und kuesste und herzte ihn, bis er zu weinen anfing. Die Mutter nahm ihr den kleinen Schreihals ab. "War ich zu wild, Mama?" fragte Ilse bedauernd, "sei mir nicht boese darum! Ich freue mich ja zu furchtbar ueber ihn! - Was er fuer dicke Aermchen hat," fuhr sie zaertlich fort und kuesste dieselben. "Ach, und die lieben, schoenen Guckaeuglein schwimmen in Thraenen! Daran ist nur die boese, boese Schwester schuld, mein kleines Herz!" So plauderte Ilse bunt durcheinander und war so gluecklich wie ein Kind am Weihnachtsabend, wenn es seine neue Puppe begruesst. Sie mochte sich gar nicht von dem Kinde entfernen, bis endlich die Mama dasselbe der Waerterin uebergab. "Nun ist es genug, Kind," scherzte Frau Anne, "du verwoehnst mir sonst den Jungen, auch vergisst du uns andre darueber. Sieh! Papa und der Onkel stehen schon wartend da, sie wuenschen, dass du sie in das Speisezimmer hinueber begleitest. Oder moechtest du erst einmal hinauf in dein Zimmer gehn?" Sie ergriff Ilses Arm und fuehrte sie in die obere Etage, die beiden Herren folgten ihnen, und Ilse musste darueber lachen, sie ahnte ja nicht, weshalb sie es thaten. Es war eine grossartige Ueberraschung, die ihrer wartete. Als sie ihr Zimmer betrat, blieb sie sprachlos an der Thuere stehen. Sie erkannte die frueheren Raeume nicht wieder. Wohn- und Schlafgemach hatten die Eltern im altdeutschen Stil eingerichtet. Nichts war vergessen. Vom Schreibtisch bis auf die kleine Schmucktruhe, die vor dem Spiegel auf einem Schraenkchen stand. Sogar eine Staffelei war am Fenster aufgestellt. Ilses Freude war unbeschreiblich, die Eltern hatten ja ihre kuehnsten Wuensche erfuellt. - Etwas befangen betrachtete sie Staffelei und Maltisch. "O, Papa," sagte sie schuechtern, "das ist zu schoen fuer mich, ich kann ja noch gar nicht malen." "Bedanke dich bei dem Onkel dafuer, er ist der Anstifter davon!" entgegnete der Oberamtmann. "Er hat versprochen, dein Lehrmeister zu sein, das heisst: solange der Wandervogel bei uns aushalten wird." Nach dem Essen schlich sich Ilse hinaus in den Hof, sie musste es fast heimlich thun, denn der Papa konnte sich heute nicht von ihr trennen. Johann hatte auf diesen Augenblick laengst gewartet und stand schon bereit, das Fraeulein zu fuehren. Zuerst musste sie ihm in den Pferdestall folgen, und als sie die Runde durch saemtliche andre Staelle gemacht, alle Kuehe, Hunde u. s. w. begruesst hatte, da wollte er ihr auch noch den neuen Schweinestall zeigen, diesen Besuch aber schob Ilse bis auf eine andre Zeit auf. "Schade, schade," meinte Johann und machte ein niedergeschlagenes Gesicht, "ich haette dem Fraeulein so gern das neue Schweinehaus gezeigt. Es ist gewissermassen schoen drin, man koennte selbst drin wohnen." "Morgen, Johann," entgegnete Ilse, "heute habe ich keine Zeit mehr dazu, ich muss zu den Eltern." Kopfschuettelnd blickte der Kutscher ihr nach. "Frueher haette sie das nicht gesagt," sprach er fuer sich und bedenklich setzte er hinzu: "Sollte sie vornehm geworden sein?" Als der Tag zu Ende war, als Ilse allein in ihrem Zimmer sass, um zur Ruhe zu gehen, hielt sie zuvor noch eine Einkehr in ihr Herz. Der heutige Tag war so reich an wechselvollen und freudigen Eindruecken gewesen, was lag nicht alles zwischen Abend und Morgen! Trennung und Wiedersehn! War sie wirklich erst heute frueh von Lindenhof abgefahren, und hatte sie erst gestern morgen die Pension verlassen? Der Abschied von dort schien schon so weit hinter ihr zu liegen. - Es war so suess, mit wachen Augen noch etwas zu traeumen, und sie mochte noch nicht an den Schlaf denken. Ihr Blick fiel auf den geoeffneten Reisekoffer und sie bekam Lust, denselben auszupacken. Sie fing auch an, einige Sachen herauszunehmen und in die herrlich geschnitzte Kommode zu raeumen, dabei musste sie sich an Nellie erinnern; es fiel ihr ein, wie treu und lustig sie ihr geholfen hatte, damals, am ersten Tage in der Pension. Die gute, geduldige Nellie! Waere sie doch gleich bei ihr! Als sie ihr Tagebuch aus dem Koffer nahm, behielt sie es sinnend in der Hand. Was es enthielt, waren nur weisse Blaetter, denn nie hatte sie das Beduerfnis gefuehlt, ihm etwas anzuvertrauen. Wie in halber Zerstreuung schloss sie es auf und legte es geoeffnet auf den Schreibtisch. Sie griff nach der Feder, tauchte sie ein und ploetzlich - wie von einer inneren Macht getrieben, schrieb sie die Worte nieder: "Seit ich ihn gesehen -" Weiter kam sie nicht. Sie warf die Feder weit von sich und hielt beide Haende vor ihr heissergluehtes Gesicht. Eine tiefe Beschaemung presste ihr die Brust zusammen. Was hatte sie geschrieben, wessen Bild hatte ihr die Worte diktiert? Als ob sie sich auf einem schweren Unrecht ertappt, so schnell schloss sie das Buch und barg es in einem versteckten Fach ihres neuen Schreibtisches. Fort mit den thoerichten Gedanken, die ihr Unruhe machten und an denen nur Chamissos Lieder die Schuld trugen! Sie wollte sie niemals wieder lesen - niemals! - Drei Wochen waren Ilse im elterlichen Hause vergangen und sie fuehlte sich so gluecklich und wohl darin, wie nie zuvor. Gleich in den ersten Tagen hatte sie ihre Zeit nuetzlich eingeteilt. Auf ihren Wunsch gab ihr der Prediger noch einige Nachhilfestunden in verschiedenen wissenschaftlichen Faechern. Er war ueberrascht ueber die Fortschritte seiner frueheren Schuelerin, besonders aber freute er sich ueber ihren Ernst, ihre Bestaendigkeit beim Lernen. Er hatte sich nicht geirrt, als er die Pension einen Segen fuer Ilse genannt. Auch Frau Anne segnete das Institut, das aus dem wilden Kinde eine liebliche, sinnende Jungfrau geschaffen hatte. Eine solche Umwandlung hatte sie vor Jahr und Tag kaum fuer moeglich gehalten. An Ilses gutem Herzen hatte sie niemals gezweifelt, aber sie war ueberrascht von der geduldigen Liebe, die sie dem kleinen Bruder entgegenbrachte. Nur der Amtsrat konnte sich noch nicht in sein veraendertes Kind finden. Manchmal sah er es pruefend von der Seite an, als ob er fragen wollte: "Ist sie es, oder ist sie es nicht?" "Ich weiss nicht," sagte er eines Tages zu seiner Gattin, "Ilse ist mir zu zahm geworden. Ich kann mir nicht helfen, aber mein unbaendiges Kind mit dem Loch im Kleide gefiel mir besser, als die junge Dame im modischen Anzuge." "Aber Ilse ist jetzt wirklich eine junge Dame, lieber Richard," lachte Frau Anne, "sie ist kein Kind mehr und du musst dich daran gewoehnen, sie nicht mehr als solches anzusehn. Uebrigens ist sie so heiter und ausgelassen wie frueher, nur hat sie gelernt, ihren Uebermut zu zuegeln. Ich bin sehr zufrieden, wie sie ist, und bin ganz stolz auf mein Toechterchen." "Du magst ja recht haben," entgegnete Herr Macket, ohne indes von der Wahrheit ihrer Worte ueberzeugt zu sein, "und mit der Zeit werde ich mich auch an das erwachsene Maedchen gewoehnen, aber ich glaube, es wird noch mancher Tag darueber hingehn." "Wer weiss! Wer weiss! Ilse reisst dich vielleicht, ehe du es denkst, aus deiner Taeuschung und giebt dir den Beweis, dass sie kein Kind mehr ist." "Ich verstehe dich nicht, liebe Anne," sagte der Oberamtmann und sah seine Frau fragend an, "du sprichst so geheimnisvoll und machst mich neugierig." "Ich habe eine Beobachtung gemacht und glaube nicht, dass ich mich taeusche. Der junge Gontrau ist Ilse nicht gleichgueltig geblieben." Sprachlos blickte Herr Macket seine Frau an. Eine solche Moeglichkeit zu fassen, war er nicht im stande, sie war ihm noch niemals in den Sinn gekommen. "Du irrst, Anne," sprach er endlich, "das ist geradezu unmoeglich. Oder," fuegte er besorgt hinzu, "hat sie dir etwa ein Gestaendnis abgelegt?" "Behuete Gott," wehrte Frau Anne ab, "wo denkst du hin? Ilses Herz ist wie eine Sinnpflanze, die ihre Blaetter schliesst bei der leisesten Beruehrung. Noch weiss und ahnt sie selbst nichts von ihren Gefuehlen, in ihrer kindlichen Unbefangenheit hat sie mir ihr Geheimnis verraten. Sie spricht gern und oft von Gontraus und weilt am liebsten in ihrer Erinnerung bei dem Sohne, von dem sie ausfuehrlich jede Kleinigkeit erzaehlt. Du muesstest sie hoeren, wenn sie die Erkennungsszene am Bahnhof in Lindenhof erzaehlt, und sehen, wie ihre Augen dabei strahlen." "Nun ja," fiel er ihr ins Wort, "das war romantisch! Du bist eine so kluge Frau, mein Annchen, weisst du denn nicht, dass alle Backfischchen gern schwaermen?" "Hoere nur weiter zu, Richard. Neulich fragte sie mich ganz aus dem Stegreife, ob ich den Namen {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Leo{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} schoen faende, und ob Juristen kluge Menschen waeren? Den Rosenstrauss, den sie bei ihrem Abschied erhielt, hat sie aufbewahrt. Als neulich die Hausmagd denselben wegwerfen wollte, ward sie fast aergerlich. Sie nahm ihr denselben aus der Hand und steckte die vertrockneten Blumen in eine Vase, die heute noch auf ihrem Schreibtische steht." "Ist das alles, was du weisst?" lachte der Oberamtmann vergnuegt und auch sehr erleichtert, "dann muss ich dir sagen, liebes Kind, dass deine Beobachtungen auf sehr wacklichen Fuessen stehen. Ich kenne meinen Wildfang besser und weiss, dass er noch fern von solchen Allotrias ist. Ilschen verliebt! Ha, ha, ha! Vergieb, Frauchen, dass ich dich auslache, aber ich kann nicht anders!" Sie mochte nicht weiter seine sichere Unbefangenheit stoeren und brach das Gespraech ab. "Was kommen soll, kommt doch," dachte sie, "und wer kann sagen, wie bald!" - Wenige Tage nach diesem Gespraeche fand das Erntefest statt. Frau Macket und Ilse befanden sich am Morgen dieses Tages in dem grossen Gartensaale. Sie ordneten noch hier und da einiges an der gedeckten Tafel, die festlich geschmueckt und zum Empfange vieler Gaeste bereit stand. Ilse beschaeftigte sich damit, die Vasen mit Blumen zu fuellen. Es war ihr so vergnuegt und froh um das Herz und singend und traellernd verrichtete sie ihre Arbeit. "Mama," unterbrach sie sich ploetzlich, "weisst du, dass ich eigentlich recht betruebt heute bin?" "Nein," entgegnete die Angeredete laechelnd, "davon habe ich noch nichts gemerkt. Weshalb wolltest du auch betruebt sein?" "Weil Nellie mir nicht geschrieben hat. Ich habe sie so herzlich zu unsrem Erntefeste eingeladen und sie hat mir keine Antwort darauf gegeben. Heute sind es sechs Tage, dass ich ihr schrieb." "Sie wird keine Erlaubnis erhalten haben, Kind. Du zweifeltest selbst daran, hast du das vergessen? Es wird ihr sehr schwer werden, dir der Vorsteherin abschlaegige Antwort mitzuteilen. Oder sollte sie dich heute unangemeldet ueberraschen?" "Das waere famos, himmlisch! Gontraus und Nellie hier - dann waeren alle meine Wuensche erfuellt! Aber daran ist nicht zu denken, Fraeulein Raimar erlaubt das auf keinen Fall. Nellie muss immer lernen und immer lernen. Ach Mama! Es muss furchtbar schrecklich sein, eine Gouvernante zu werden! Findest du nicht auch?" Frau Anne versuchte, Ilse von ihrem Vorurteile zu heilen, aber vergeblich. Sie blieb dabei, Gouvernanten koennten nur alte Maedchen werden und ihre Nellie passe gar nicht dazu. Plaudernd und singend hatte Ilse endlich saemtliche Vasen gefuellt und auf der Tafel verteilt. Sie stand noch bewundernd vor ihrem Werke, als die Mutter sie antrieb, sich anzukleiden. "Es ist hohe Zeit, Ilse, wir muessen uns eilen, in einer Stunde wird Papa mit Gontraus zurueck sein." Wie ein Vogel flog Ilse die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Kaum hatte sie indessen mit ihrer Toilette begonnen, als ihr die Magd einen Brief ueberbrachte, den der Brieftraeger soeben fuer sie abgegeben hatte. Er war von Nellie. Sie erbrach ihn sofort und las. Die ersten Worte schon brachten sie in eine lebhafte Aufregung, kaum vermochte sie weiter zu lesen. Mit stockendem Atem ueberflog sie die Zeilen, und als sie zu Ende war, eilte sie mit dem Briefe hinunter in der Mutter Gemach. Sie haette es nicht ausgehalten, die wichtige Neuigkeit, die sie eben erhalten, laenger fuer sich zu behalten. "Mama!" rief sie ganz atemlos, "ein Brief von Nellie! Ich muss ihn dir vorlesen!" - Und sie begann: "Mein suess Ilschen! "Ich bin eine Braut! O! und ein sehr glueckliches Braut! Erraetst Du, mit wem? Ja? O Ilse, Doktor Althoff ist meiner liebe, liebe Schatz! Ich moechte gleich Deine liebes Gesicht schauen, wenn Du diese gross Ereignis liest, ich sehe, wie Du Dein braun Lockenkopf schuettelst und hoere Dir rufen: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nellie will mir pfoppen!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Aber nein, sie pfoppt Dir nicht, alles, was sie heute schreibt, ist wahr. Du sollst alles wissen, meine liebe Freundin, ich will erzaehlen, wie es kam. O, es ist ein schwer' Aufgabe fuer mich, - ich bin so zerwirrt vom Glueck und ich finde mir so schlecht zurecht mit der deutsch Sprache. Du musst Geduld mit Dein Nellie haben, die eigentlich sehr dumm ist! Ich schaem' mir, Ilse, wenn ich denke an mein furchtbaren Dummheit. Es ist mir ein Raetsel, wie Alfred mir lieb haben kann. - Doch still darueber. - Hoere weiter. "Mit Dein lieber Brief, den Du mir schriebst, wo Du mir zu Dein Erntefest einladest, kam ein andern Brief an Fraeulein Raimar. Als ich nun begriffen war, in ihr Zimmer zu steigen, um sie recht fuer die Erlaubnis zu bitten, tritt sie ganz ploetzlich - ohne Anmeldung bei mir ein. Das war ein Wunder, denn sie macht uns niemals ein Visite, immer laesst sie uns rufen, wenn sie einiges von uns will. Ich erroetete vor Schreck, Du kannst denken. {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Nellie,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} spricht sie und haelt ein offner Brief in ihr Hand, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}dieses Schreiben hier enthaelt die Anfrage an mir, ob ich nicht ein junge Englaenderin zu sofortiger Antritt empfehlen kann. Vollkommen deutsch braucht diese nicht zu sprechen, sie soll nur die drei Kinder englisch beibringen. Ich denke Dir vorzuschlagen, Nellie, bist Du einverstanden? Die Dame bietet hohe Gehalt.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ich glaube, dass ich ein sehr traurig Gesicht machte zu ihr Vorschlag und ich konnte auch gar nix sagen. Dein Brief hielt ich noch in die Hand, aber ich habe nicht gewagt, Fraeulein Raimar zu sprechen, sie haette doch mein Bitten abgeschlagen. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Du hast wohl keine Lust,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} fragte sie, weil ich schweigend war. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}O, gar keine Lust,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} dacht' ich, aber ich durft' nicht sagen, wie furchtbar schrecklich mich der Gedanke war, ein Vierteldutzend Kinder zu unterrichten. Immer so weise und artig sein, - immer so mit der guten Beispiel vorangehn - nein, das macht mir gar nicht Spass. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Bestimmen Sie fuer mir, Fraeulein,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte ich, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ich werde thun, wie Sie denken. Werde ich aber klug genug sein, zu ein' so grosser Aufgabe?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Lass das meine Sorgen sein,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte Fraeulein Raimar sehr bestimmend, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ich wuerde Dich nicht empfehlen, wenn ich nicht wuesste, dass Du diese Stellung vollkommen erfuellen kannst.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Damit verliess sie mir und ich blieb tief betruebt zurueck. "Die Zubereitung fuer mein Abreise wurde gemacht und ich hatte viel zu thun, o - und viel zu hoeren! "Miss Lead hielt langen, strengen Predigten und vorbereitete mich zu eine wuerdige Gouvernante. Fraeulein Raimar mahnte mir taeglich zu Ernst und Gediegenheit, nur Fraeulein Guessow sah mir oft mit ein lang traurigen Blick an, der zu mich sprach: Thust mich leid, Darling, dass Du unter fremde Leute dienen musst. "Der ernste Abschiedstag war da. Es war der achtundzwanzigste September, morgens 11 Uhr, ein Stunde vor meine Abreise. Ich sass in mein Zimmer auf mein Reisekoffer und weinte. Ich war so gefuellt von Kummer, das Herz drueckte mir so schwer wie ein Muehlstein in der Brust. Kannst Du Dich das vorstellen? Nein, suess Ilschen, Du kannst nicht. Als Du von uns gingst, weintest Du auch und warst sehr betruebt, aber Du kehrtest in ein liebe Vaterhaus heim und Deine Eltern trocknete Deine Thraene, - wer trocknet meine? Niemand. Ich ging fort in die Fremde und {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ka Katzerl, ka Hunderl{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} kuemmert sich um mir. Ich wuenschte mir tot zu liegen, wie unsre suesse Lilli. "Wie ich mir so ganz verlassen fuehle und laut schluchze, steht ploetzlich Doktor Althoff, mein Doktor Althoff vor mir. Ich hatte ihn nicht gehoert, als er anklopfte und die Thuer oeffnete. Du kannst mein Schreck denken! Ich spring' von mein Reisekoffer und halt' das Tuch vor mein weinend Gesicht, ich schaemte mir so. "Leise zog er es fort und fragte mich mit seiner schoener, tiefer Organ: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Warum weinen Sie, Miss Nellie? Thut Sie es weh, aus dem Institut zu scheiden, moechten Sie hier bleiben!{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ich sagte gar nix, weil ich nicht konnte vor lautes Schluchzen. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Sehen Sie mich an, Miss Nellie,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} bat er, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}ich moechte gern in Ihr Auge sehen bei das, was ich Sie fragen will.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ich versuchte ihn anzublicken, aber ich musst' mein Auge niederschlagen, er hatte ein so sonderlicher Blick, niemals hat er mir so angesehen. O, ich ward so angst und es lief mich ganz heiss ueber mein Gesicht. Er griff mein' Hand und hielt sie fest und dann - ich weiss nicht, wie es kam - mit einem Male hatte er mir in seinen Arm genommen und fragte: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Haben Sie mich lieb, Nellie?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "Ilse, kannst Du Dich denken, was ich empfand bei diese Frage? Es war, als ob der Himmel ploetzlich offen war und alle Seligkeit auf mein Haupt schuettelte. Im Wachen und im Traeumen immer hoer' ich dieser Wort in mein Ohr und zuweilen denk' ich, es ist alles nicht wahr! Doch hoere weiter. Du bist mein best' Freundin und nichts soll dir verborgen sein. "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Hast Du mich lieb?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} fragte er noch einmal, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}willst Du mein kleines Frau sein?{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}O ja - herzlich gern,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte ich und ich weiss nicht, ob es sehr geschickt (schicklich) vor mich war, dass ich so schnell und ohne Besinnen mein Jawort gab, aber ich konnte nicht anders, ich hatte ja mein Alfred schon lange still in mein tiefster Herz geliebt. "Und nun kuesste er mir auf die Stirn und nannte mir seine Braut. Mein Seligkeit war ohne Grenzen, ich war nicht mehr verlassen, hatte mit ein Mal ein wonnige Heimat gefunden. "Als wir uns verlobt hatten, gingen wir sogleich zu Fraeulein Raimar und Alfred stellte mir als seine Braut vor. O, Ilse! Du haettest die erstaunte Gesichter sehen muessen! Es war zu spassig! Fraeulein Raimar weniger, sie weiss immer so gut ihr Gesicht in die gleiche Falte zu legen, man weiss nicht, ob sie Freude oder Trauer hat. Aber ich glaube, diesmal hatte sie Freude, denn sie nahm mich in ihr Arm und kuesste mir. Zu Alfred sagte sie: {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Wie ist das so schnell gekommen, Herr Doktor? Ich habe niemals von Ihr Neigung gemerkt.{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} "{~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Ich bin selbst erst klar geworden, als ich Nellie verlieren sollte,{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} sagte Alfred und bat Fraeulein Raimar, die Gouvernante abzubestellen und mir unter ihr muetterlicher Schutz zu behalten, bis wir heiraten. Sie hat es versprochen. So blieb ich hier und packte meine ganze Siebensachen wieder aus. "Miss Lead glueckwuenschte mir auch, aber wenn sie auch meiner Landsmann ist, war sie doch kalt wie ein Frosch. Ich glaube, sie hat viel Neid. Aber ich mache mir nix davon und strahle voll Wonne. Fraeulein Guessow freut sich furchtbar ueber mein Glueck, ich habe sie so lieb als eine Schwester und bitte jetzt alle Tag der liebe Gott, dass er sie von ihr schwer' Beruf abloese, sie ist zu gut fuer ein streng' Lehrerin. "Unsre Freundinnen waren reizend nett! das heisst nicht alle, denn Melanie und Grete sind schnell abgereist, weil ihr Mutter krank war, sie wissen noch nichts. Orla beschenkte mir gleich mit ein kostbar Armband zum Andenken und zur Freude ueber unsre Verlobung. Das klein' Lachtaube konnte vor Lachen kein Wort sagen. Rosi sprach {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}artige{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Worte wie immer, und Flora? Sie machte ein lang Gesicht und sah Alfred mit ein schwaermerischer Blick an, dann drueckte sie uns stumm die Haende. Gestern hat sie mir mit ein lang {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}Elegie an ein Braut{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} beglueckt, sie ist sehr schoen wie alle Gedichte von Flora. "Heute frueh ist mein Alfred abgereist zu sein Mutter, das war ein sehr schwer' Abschied! Wir fuehlten uns gegenseitig ein wenig schwanken, doch liesse wir die Kopfe nicht fallen. Ich schluckte die Thraenen tapfer hinter, Fraeulein Raimar sollte mir nicht schwaechlich sehen. Alfred kommt ja auch bald zurueck, nur acht Tage ist er fort. "Nun leb' wohl, _dear_ Ilschen. Ich habe Dir ein langer, langer Brief geschrieben, nun antworte mich gleich, bitte, bitte! Ich freu' mir furchtbar auf Dein Brief, Du kommst doch zu mein Hochzeit? Neujahr werden wir getraut. Tausend Kuesse, mein Herzkind, und gruesse Deine lieber Eltern und das klein Babi von Dein seligste Nellie." "Nellie Doktor Althoffs Braut!" rief Ilse jubelnd. "Nun wird sie keine Gouvernante, Mama!" "Nein, nun hat sie die beste Heimat gefunden!" entgegnete Frau Macket, die zuweilen ueber Nellies komische Ausdruecke gelacht, zuweilen aber auch eine Thraene der Ruehrung nicht zu unterdruecken vermocht hatte, "sie ist dem alleinstehenden Kinde von Herzen zu goennen. Es muss ein liebes, drolliges Geschoepfchen sein, ihr Brief giebt ein sprechendes Zeugnis davon." Wenn Ilse auf dieses Kapitel kam, war sie unerschoepflich. Frau Anne musste sie ernstlich mahnen, sich anzukleiden. [Illustration] "Gleich, Mama, gleich! Ich werde mich furchtbar eilen!" Aber zwischen Thuer und Angel wandte sie sich noch einmal, um zu fragen, warum Doktor Althoff sich wohl gerade in Nellie verliebt haben moege. Die Antwort auf diese sonderbare Frage wartete sie indes nicht ab, sondern sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. "Nellie Braut!" Ihre Gedanken konnten sich nicht davon trennen. Sie durchlebte mit der Freundin das wichtige Ereignis von Anfang bis Ende und war so der Gegenwart entrueckt, dass sie lauter Verkehrtheiten machte. Anstatt des weissen Battistkleides hatte sie ihr Morgenkleid uebergezogen, sie merkte es erst, als sie die blassroten Schleifen daran befestigen wollte. Eilig machte sie ihren Fehler gut. Aber ihre Toilette war noch nicht vollstaendig vollendet, als sie dem Verlangen nicht widerstehen konnte, erst noch einmal Nellies Brief zu durchfliegen. "Haben Sie mich lieb?" "Willst Du mein kleine Frau sein?" Diese Stelle war zu schoen, sie musste sie nochmals lesen, dann liess sie den Brief in den Schoss sinken und sann und traeumte, ohne dass sie es wusste, wiederholten ihre Lippen die Worte: "Hast Du mich lieb?" Der Ruf der Mutter, die an die verschlossene Thuer klopfte, schreckte sie auf und brachte sie in die Wirklichkeit zurueck. Da lagen die Schleifen, dort die Blumen, an nichts hatte sie gedacht. "Geh nur hinunter, Mama, ich folge dir gleich!" rief sie und sprang in die Hoehe. Aber Frau Anne liess sich nicht abweisen, "sie muesse erst Ilses Anzug pruefen," rief sie zurueck. "Noch nicht fertig!" schalt sie eintretend. "O, du boese Ilse, was hast du gemacht? Warum liessest du dir nicht von Sofie helfen, wenn du allein nicht fertig werden konntest! Nur schnell, schnell! Jeder Augenblick ist kostbar!" Unter ihren geschickten Haenden stand Ilse bald fertig geschmueckt da. Frau Anne betrachtete sie mit freudigen Blicken, so reizend hatte sie ihr Kind noch niemals gesehen. War der duftige Anzug daran schuld? Oder hatten die Augen einen besonderen Glanz? * * * Kaum zehn Minuten spaeter kam der Wagen vom Bahnhof zurueck und brachte die Gaeste. Der Landrat stieg zuerst aus demselben. Ungeniert nahm er Ilse, die mit ihrer Mama zum Empfange bereit stand, in die Arme und kuesste sie auf die Wange. Leo begruesste die Damen mit einem Handkuss. Ilse wusste jetzt, wie sie sich bei einem so kritischen Falle zu benehmen hatte, sie zog die Hand nicht fort, die Mama hatte es auch nicht gethan. Die Eltern fuehrten Gontraus hinauf in die bereitstehenden Gastzimmer, Leo blieb noch zoegernd auf der Veranda stehen. Er trat zu Ilse, die etwas entfernt von ihm stand. Sie lehnte gegen einen Pfeiler und zupfte sehr eifrig an einer Weinranke. Sein Blick ruhte auf dem reizenden Maedchen, das ihm in den wenigen Wochen, seit er sie nicht gesehen hatte, groesser und schoener geworden schien. "Sie sind so still und so ernst," redete er sie an, "gar nicht wie im Lindenhof. Wo ist Ihr froehlicher Uebermut geblieben? Drueckt Sie ein Kummer?" "Kummer? o nein!" Und ihre Augen lachten ihn mit der alten Froehlichkeit an. "Im Gegenteil, eine grosse, grosse Freude habe ich gehabt!" Und sie verkuendete ihm Nellies Verlobung. Eigentlich wunderte es sie, dass er so wenig darauf zu erwidern hatte. Fast keine Miene hatte er bei dieser hochwichtigen Nachricht verzogen. Sein Blick hing unverwandt an ihren Lippen, und doch schien es, als waeren seine Gedanken in weiter Ferne. "Ist sie sehr gluecklich?" fragte er in halber Zerstreuung. "Gluecklich?" wiederholte Ilse verwundert ueber seine Frage. "Selig ist sie! Sie muessen nur ihren Brief lesen!" "Lesen Sie ihn mir vor," bat er. "Lassen Sie uns die schoene Einsamkeit benutzen, jetzt sind wir ungestoert." "Das geht nicht! Nein, gewiss nicht!" rief sie beinahe aengstlich. Es schreckte sie ploetzlich der Gedanke: Wie kannst du ihm Nellies geheimste Empfindungen offenbaren? - Doch war es dieser Gedanke allein, der sie so seltsam beklommen machte? Entsprang die Furcht, mit ihm allein zu sein, aus derselben Quelle? "Wenn ich Sie sehr darum bitte, auch dann nicht?" Sie war schon halb auf der Flucht, als seine dringende Bitte ihr Ohr beruehrte. "Ich kann nicht! Ich habe im Hause zu thun! Spaeter!" rief sie ihm verwirrt zu, flog ueber die Veranda hinweg durch den Speisesaal bis in die offenstehende Thuer des kleinen Boudoirs der Mama. Er sah ihr nach, bis der Zipfel ihres weissen Kleides entschwunden war. Auf seinem Antlitz spiegelten sich die verschiedensten Gefuehle, sie drueckten Zweifel, Hoffnung und Entzuecken aus. Als Ilse so hastig in das kleine Zimmer trat, atemlos und mit heissen Wangen, erschrak sie fast, als sie den Onkel antraf. "Nun, Backfischchen, was ist dir denn begegnet?" fragte er und legte das Buch, in welchem er gelesen, aus der Hand. "O nichts, nichts, gar nichts!" rief sie schnell. "Ich bin nur so heiss und mein Herz klopft so furchtbar." Ehe er noch nach der Ursache ihrer Erregung fragen konnte, schnitt sie ihm das Wort ab. "Eine furchtbar interessante Neuigkeit, Onkel Curt! Nellie ist Braut!" Wer Nellie war, wusste er laengst, oft genug hatte Ilse ihm in den Malstunden, die sie mit vielem Eifer nahm, von ihr erzaehlt, aber wie sie aussah, wusste er noch nicht, heute konnte sie ihm das Bild derselben zeigen. Es war ihr jetzt das Album nachgesandt, welches Fraeulein Raimar ihr bereits bei der Abreise versprochen hatte. Es enthielt die Bilder der Lehrerinnen und Freundinnen. "Also Nellies Verlobung macht dir Herzklopfen?" meinte er etwas zweifelhaft laechelnd. "So, so! Sag' mal, Fischchen, sind Gontraus schon da?" Diese Frage hatte Ilse ueberhoert. "Hier ist Nellie!" fiel sie dem Onkel in die Rede und reichte ihm das Album. "Sag', ist sie nicht reizend?" "Reizend? Das kann ich nicht finden," entgegnete er etwas gedehnt und nach einigen pruefenden Kennerblicken. "Anmutig, grazioes, ja, der Mund ist lieblich, Augen und Nase aber -" "Ach, Onkel," unterbrach ihn Ilse, "du darfst sie nicht mit so kritischen Blicken ansehen, du kannst mir glauben, Nellie ist reizend! Das Bild ist auch schlecht, in Wirklichkeit ist sie viel huebscher!" Er hatte in dem Album weiter geblaettert und nach dieser oder jener sich erkundigt. Ploetzlich fragte er erregt: "Wie heisst diese Dame hier?" "Das ist meine liebste Lehrerin, Fraeulein Guessow. Wir hatten sie alle furchtbar lieb und schwaermten fuer sie. Du kennst sie wohl?" wandte sie sich fragend an ihn. Es fiel ihr auf, dass er das Bild so starr betrachtete. "Ich kenne sie nicht, nein. Aber es muss mir im Leben ein Maedchen begegnet sein, das diesem Bilde glich. Doch, das ist lange her. Wie alt ist deine Lehrerin?" "Sie ist nicht mehr jung, schon siebenundzwanzig Jahre alt," entgegnete Ilse nach echter Backfischart. "Ja, da ist sie schon ein altes Maedchen," bestaetigte der Onkel. Aber nur seine Lippen scherzten, sein Auge hing mit Ernst und Wehmut an dem getreuen Bilde der Lehrerin. Waere Ilse nicht so jung und allzu sehr mit ihrer eigenen kleinen Person beschaeftigt gewesen, es haette ihr auffallen muessen, wie andaechtig und wie lange er das Bild betrachtete. "Du findest sie wohl huebsch?" fragte sie unbefangen. "Wie heisst sie? Guessow?" fragte er, und jetzt hatte er ihre Frage ueberhoert. "Wie ist ihr Vorname?" "Charlotte." "Lotte," nickte er zustimmend, "ein schoener Name!" Er schloss das Album und nahm sein Buch wieder zur Hand. Ilses Anwesenheit schien er vergessen zu haben. Sie kannte ihn schon als einen Sonderling, darum fiel ihr sein Wesen nicht auf. "Komm mit hinaus auf die Veranda, Onkel," bat sie, "Gontraus sind gekommen." Diese letzten Worte setzte sie mit abgewandtem Gesicht hinzu. "Ja, ja, bald!" entgegnete er zerstreut und liess sich nicht stoeren. "Ich folge dir gleich." Zoegernd und auf den Fussspitzen durchschritt sie den Speisesaal. Mehrmals blieb sie stehen und lauschte. Alles war still. Als sie die geoeffnete Thuere erreicht hatte, bog sie den Kopf etwas vor und spaehte nach beiden Seiten; als sie die Veranda voellig vereinsamt sah, wagte sie sich hinaus. Der Fruehstueckstisch stand bereit, sie machte sich daran zu schaffen, horchte dann wieder, ob die Eltern noch nicht kaemen. Sie blieben recht lange. Wo sie nur verweilten? Wenn sie gewusst haette, dass sie mit dem Landrat und seiner Frau oben im Wohnzimmer waren, wo sie durchaus erst dem kleinen Bruder eine Visite abstatten wollten, wie wuerde sie zu ihnen geeilt sein. Endlich vernahm sie Schritte. War das der Onkel? Es war nicht sein Schritt, auch wuerde er nicht durch die Hausflur und von aussen herum auf die Veranda gekommen sein. Vorsichtig lugte sie durch das Blaetterwerk und erkannte zu ihrem Schrecken - Leo. Das Blut schoss ihr in die Wangen und der Atem stockte ihr in der Brust. Unmoeglich konnte sie ihm jetzt gegenueberstehen! Sie wuerde nicht im stande gewesen sein, ein Wort hervorzubringen, und wenn sie so stumm und dumm vor ihm stand, was sollte er von ihr denken? Flucht! das war das einzige, was sie aus dieser peinlichen Lage befreien konnte, aber es war zu spaet, er hatte sie gesehen, und gerade, als sie ihren eiligen Rueckzug nahm, als sie den Salon bereits halb durchschritten hatte, holte er sie ein. "Jetzt muessen Sie bleiben, gnaediges Fraeulein," sprach er scherzend, "ich lasse Sie nicht fort! Sie haben mich auf {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}spaeter{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} vertroestet und jetzt ist es {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}spaeter{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}, und Sie werden sich allergnaedigst herablassen, mir Miss Nellies Brief vorzulesen! eine Frau - ein Wort!" Nun war sie gefangen! Entfliehen konnte sie ihm nicht mehr, es waere zu einfaeltig gewesen. Sie drueckte die Hand fest auf das stuermisch klopfende Herz und wandte sich um. Scheu, wie eine wilde Taube, die sich im Netze gefangen hat, erhob sie das braune Auge und sah ihn an. Ihre Befangenheit entging ihm nicht, aber mit feinem Gefuehle brachte er sie mit leichtem Scherze darueber hinweg. Er bot ihr den Arm und fuehrte sie zu einer Ecke der Veranda, in welcher ein kleiner eiserner Tisch und zwei Stuehle standen. Die Oktobersonne stahl sich durch das blutrote Weinlaub und neckte das junge Maedchen. Gerade in die Augen blitzte sie ihm ihre Strahlen hinein, so dass sie dieselben schliessen musste. "Die Sonne blendet," bemerkte Ilse und war froh, ein gleichgueltiges Wort gefunden zu haben. "Es ist auch so warm hier," fuhr sie fort und erhob sich. "Die boese Sonne! Wir wollen ihr aus dem Weg gehen!" Und er fuehrte sie auf die entgegengesetzte Seite. Hier war es schattig und kuehl und Ilse hatte keinen Grund mehr, sich zu erheben. Sie war auch nach und nach mehr Herrin ihrer Beklommenheit geworden, und als er noch einmal an den Brief erinnerte, fand sie sogar den frueheren scherzhaften Ton. "Sie sind ein Quaelgeist," sagte sie. "Was kann es Sie interessieren, {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}wie{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} - und {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}was{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Nellie mir schreibt! Sie wollen nur darueber spotten und das duerfen Sie nicht!" "Wie koennen Sie mich in so boesem Verdacht haben!" wehrte er ab. "Sie haben mir Ihre Freundin so liebenswuerdig geschildert, dass mein Wunsch, von ihr zu hoeren, wie sie mit eigenen Worte von ihrem Gluecke schreibt, ganz natuerlich ist." Ilse sah ihn noch etwas unglaeubig an, doch, da sie den spottenden Zug um seinen Mund nicht entdeckte, glaubte sie ihm und zog den Brief aus der Tasche. Sie schlug ihn auf und las ihn fuer sich. "Nun?" fragte er. "Immer Geduld, Herr Assessor! Erst muss ich die Stellen aussuchen, die Sie hoeren duerfen! Der ganze Inhalt ist nicht fuer Ihre Ohren bestimmt!" "Das waere grausam!" protestierte er dagegen, "das ist gerade so, als ob Sie einem Kinde ein Stueckchen Zucker hinhalten und sagen zu ihm: du, lecke mal dran! Den Zucker aber steckten Sie selbst in den Mund." Sie lachte lustig ueber seinen Vergleich, er brachte sie ganz in die alte, froehliche Laune zurueck. "Nun hoeren Sie zu, aber nicht spotten!" drohte sie ihm mit dem Finger. Es war ein anmutiges Bild, das die jungen, schoenen Menschenkinder boten. Dicht nebeneinander sassen sie beide, sie lesend und er aufmerksam ihren Worten lauschend. Er hatte den Arm auf den Tisch gestuetzt und sah auf Ilse herab, die den Kopf etwas vornuebergebeugt hielt. Ploetzlich hielt sie inne. "Lesen Sie weiter, bitte! Warum hoeren Sie auf? Denken Sie an das Stueck Zucker?" Sie schwieg, wie mit sich selbst ueberlegend. Warum eigentlich wollte sie ihm das Schoenste im ganzen Briefe verschweigen? Nellie hatte ihre Verlobung so drollig, so gemuetvoll geschildert, ihre ganze Eigenart sprach sich darin aus. Als er sie noch einmal so dringend bat, fortzufahren, that sie es. Erst etwas zoegernd, dann aber las sie fliessend, ohne nur einmal zu stocken, zu Ende. Warum sass er so stumm? Sein Schweigen musste sie verletzen. Sie hatte so fest erwartet, dass er sein Entzuecken laut aeussern wuerde! Nun sagte er gar nichts. Fast vorwurfsvoll sah sie ihn an, aber wie schnell senkte sie ihr Auge. Es traf sie sein Blick so sonderbar. Sie musste an Doktor Althoffs {~SINGLE RIGHT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~}sonderlicher{~SINGLE LEFT-POINTING ANGLE QUOTATION MARK~} Blick denken. "Ihre Freundin hat ein warmes, tiefes Empfinden," bemerkte er endlich, aber es kam gezwungen heraus. Er fuehlte das selbst und brach ab. "Fraeulein Ilse," fuhr er nach einer kleinen Pause ganz ohne Zusammenhang fort, "was wuerden Sie antworten, wenn - wenn jemand Sie fragen wuerde: Haben Sie mich lieb?" Sie war so verwirrt, so erschrocken bei seiner Frage, die sie wie ein Blitz aus blauem Himmel traf. Ihr heisses Blut wallte auf bei dem Gedanken, dass er sie verspotten koenne. Fast hastig erhob sie sich. "Nein, wuerde ich sagen!" fuhr sie heraus, "ich habe niemand lieb! Niemand!" wiederholte sie, als ob sie erst noch einen Trumpf darauf setzen wollte. Wenn der Brausekopf nur einen Blick auf ihn geworfen haette, wie bald wuerde sie ihn verstanden haben! Sein Auge hing mit Entzuecken an ihr, der Widerstand verlieh ihren Zuegen einen neuen Reiz fuer ihn. "Ilse," sagte er zaertlich und ergriff ihre Hand. "Wenn ich es waere, der Sie fragte: Haben Sie mich lieb, wollen Sie meine kleine Frau sein? Wuerden Sie auch dann so sprechen?" Hastig entzog sie ihm ihre Hand und verhuellte das Gesicht. "Hast du mich lieb, Ilse?" - Seine Stimme klang weich und innig und traf ihr Herz - ein "Ja" aber brachte sie nicht ueber die Lippen. Ihr sproeder Sinn liess es nicht zu, oder regte sich noch einmal der alte Widerspruch in ihr? "Nein! Niemals!" sagte sie schnell und wandte sich heftig ab. "Nein! - niemals?" wiederholte er und sah sie in schmerzlicher Erregung an, "o Ilse! nehmen Sie das Wort zurueck, es haengt das Glueck meines Lebens davon ab! - Ich war zu schnell mit meiner Frage - nicht wahr? Ich habe Sie erschreckt! - Nicht jetzt geben Sie mir die Antwort, erst wenn Sie ruhiger sein werden, dann -" Er sank auf einen Stuhl und bedeckte die Augen mit der Hand. Ilse stand noch immer von ihm abgewandt, in ihr kaempften die widerstreitendsten Gefuehle. Ihr Herz zog sie zu ihm hin, aber sie konnte die Bruecke nicht finden, die ueber den breiten Strom fuehrte, der sie noch von ihm trennte. Da war es ploetzlich, als stiege Lucies Bild vor ihr auf, als vernaehme sie eine Stimme, die ihr warnend zurief: "Willst du ihn verlieren? - Denke an mein Geschick!" "Leo," sagte sie schuechtern und trat ihm einen Schritt naeher, aber erschreckt ueber ihre Kuehnheit blieb sie hocherroetend und mit niedergeschlagenen Augen stehen. [Illustration] Wie ein Hauch fast war sein Name ueber ihre Lippen gekommen, aber er hatte ihn doch vernommen. Jubelnd sprang er auf und sein Auge, das eben noch so verzagt und traurig geblickt hatte, leuchtete in freudigem Glanze. "Nun bist du meine Ilse!" rief er aus und zog sie an sein Herz, doch als er den ersten Kuss auf ihre Lippen druecken wollte, da wendete sie den Kopf zur Seite und die sproede, widerspenstige Ilse meldete sich noch einmal. "Kuessen ist nicht erlaubt," erklaerte sie mit aller Entschiedenheit, "wie koennte ich mich von einem fremden Manne kuessen lassen?" "Aber die Hand," bat er lachend, "die Hand darf ich kuessen!" Das wurde ihm gnaedig bewilligt. Er hielt sie noch in dem Arm, als die beiden Elternpaare auf der Veranda erschienen. Alle hatten sofort begriffen, was hier geschehen war, nur der Oberamtmann stand wie versteinert da. Der Landrat und seine Gattin waren die ersten, die das Brautpaar begruessten, beglueckt nahmen sie Ilse als ihr Toechterchen an ihr Herz. Herr Macket hatte sich noch nicht vom Flecke geruehrt. Frau Anne trat zu ihm und legte die Hand auf seinen Arm. "Siehst du, Richard, aus dem Kinde ist eine Jungfrau geworden, glaubst du es nun?" fragte sie zaertlich. "Ilse! Meine kleine Ilse!" brachte er endlich muehsam hervor und seine Brust hob und senkte sich im heftigen Kampfe. "Ist es wahr? Willst du mich verlassen?" Da flog sie an seinen Hals und kuesste ihn stuermisch, dabei rief sie unter Weinen und Lachen: "Mein kleiner, einziger Herzenspapa, ich habe ihn ja so lieb!" * * * Nun ist eigentlich meine Erzaehlung zu Ende, denn die ueberraschten Gesichter der Gaeste zu schildern ist langweilig, selbst wenn die Ueberraschung ihnen so unerwartet kam, wie Ilses Verlobung am Erntefeste. Eins aber muss ich meinen lieben Leserinnen noch mitteilen, wie naemlich Onkel Curt an demselben Tage ploetzlich verschwunden war. Waehrend alle froehlich bei der Tafel sassen, hatte er sich von Johann still und ohne Aufsehen nach dem Bahnhof fahren lassen. Frau Macket fiel seine Flucht nicht weiter auf, sie kannte ihren Bruder als einen unstaeten Geist, der, wie es ihm einfiel, kam und verschwand. - Drei Wochen vergingen ohne das geringste Lebenszeichen, da endlich langte ein Brief aus Muenchen von ihm an. Sein Inhalt versetzte alle auf Moosdorf in sprachloses Erstaunen. Ilse aber kam darueber ganz ausser Rand und Band. Sie klatschte in die Haende, tanzte im Zimmer umher und rief jubelnd: "Ich bin die Ursache ihres Glueckes, durch mich haben sie sich gefunden! Was wird Leo dazu sagen? Wie freue ich mich!" - Doch ich will nicht vorgreifen, sondern lieber den kurzen Inhalt des Briefes mitteilen. "Wir sind auf der Hochzeitsreise. Lotte und ich wollen den Winter in Italien zubringen. Ihr wundert Euch, nicht wahr? Ist aber gar nichts dabei zu verwundern. Lotte und ich waren schon uralte Brautleute, haben nur niemals davon gesprochen. - Im Fruehjahr kehren wir zurueck, ich werde Euch dann meine junge Frau vorstellen. - Dem Fischchen besonderen Gruss - sie weiss schon warum. Soll uebrigens fleissig weitermalen, wenn der Brautstand ihr die Zeit dazu laesst." - "Nun bin ich Deine Tante, mein Liebling! Wer haette das gedacht!" schrieb seine Frau, ehemals Fraeulein Guessow, unter den Brief. "Wie gern haette ich Dir laengst die ganze wunderbare Geschichte, - und wie alles gekommen ist, mitgeteilt, aber ich durfte es nicht. Onkel Curt wollte erst nach unsrer Verheiratung die Erlaubnis dazu geben. Auch heute kann ich nur wenige Zeilen Dir schreiben, mein Mann steht hinter mir und treibt, dass ich aufhoere. "Denkst Du noch an Lucies Geschichte? - Jene Lucie hiess Lotte und war ich selbst - und der Maler? - Nun, Du erraetst schon, wer es war, ohne dass ich ihn nenne. "Wenn wir zurueckkehren, bist Du am Ende auch eine junge Frau? Wie habe ich mich gefreut ueber dein sonniges Glueck, Herz! Der Himmel erhalte es Dir!" BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. In Antiqua gesetzt sind in ihr roemische Zahlen (in der elektronischen Fassung ohne Hervorhebung wiedergegeben) und einzelne Woerter aus fremden Sprachen, hier durch Unterstrich (_) gekennzeichnet, ebenso wie gesperrt gesetzte Passagen. Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern: Seite 38: Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "nicht," Seite 61: erste Zeile ausgefallen, ergaenzt nach 28. Auflage ("Gruesse nur alle, du einziger Herzenspapa, auch die") Seite 70: doppeltes in einfaches Anfuehrungszeichen geaendert vor und nach "Ich kann nicht," Seite 133: Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "Lubauer." Seite 137: Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "Macket." Seite 153: Punkt ergaenzt hinter "solle" Seite 159: Anfuehrungszeichen ergaenzt vor "Mein" und hinter "Breitner." Seite 191: Anfuehrungszeichen ergaenzt vor "aber" Seite 237: Punkt ergaenzt hinter "langweilig" Seite 250: doppeltes in einfaches Anfuehrungszeichen geaendert hinter "will." und "Nellie?" Seite 252: oeffnendes in schliessendes Anfuehrungszeichen geaendert hinter "gefunden!" Seite 262: "Auge" geaendert in "Augen" Seite 265: "Kurt" geaendert in "Curt" (zweimal) ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER TROTZKOPF*** CREDITS February 17, 2010 Project Gutenberg TEI edition 1 Produced by Anca Sabine Dumitrescu, Jana Srna, Norbert H. Langkau, Stefan Cramme and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net A WORD FROM PROJECT GUTENBERG This file should be named 31309.txt or 31309.zip. This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/dirs/3/1/3/0/31309/ Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE _Please read this before you distribute or use this work._ To protect the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase "Project Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} License (available with this file or online at http://www.gutenberg.org/license). Section 1. General Terms of Use & Redistributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. 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